Wiss. Mit. Benedikt Quarthal, Maître en Droit Eberhard-Karls-Universität Tübingen Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht, Prof. Dr. Martin Nettesheim Substantielle Legitimation der Entscheidung von Ethikkommissionen Die ethische Fundierung von für den Bürger verbindlichen Entscheidungen des Gesetzgebers oder der Exekutive ist angesichts der starken Pluralisierung der Gesellschaft und einer Vielzahl ethisch-moralischer Lösungsansätzen prekär geworden. Gleichwohl werden gerade im medizinischen und biotechnologischen Bereich häufig ethische Leitlinien in Bezug auf die Entscheidung über Forschungsvorhaben, Diagnostik und Therapiemöglichkeiten gefordert. Ein vom Gesetzgeber verfolgter Lösungsansatz sind so genannte Ethikkommissionen. Sie zeichnen sich durch drei Merkmale aus: Sie sind (1) pluralistisch besetzt, entscheiden (2) in Unabhängigkeit von staatlichen Instanzen und wirken mit dieser Entscheidung (3) in das Außenverhältnis zum Bürger. Ratio derartiger Kommissionen ist es, aufgrund ihrer (vermuteten) stärkeren Sachkompetenz und der damit verbundenen Erwartung eines eher argumentativen Diskurses zu Entscheidungen zu gelangen, die im politisierten Entscheidungsprozess des Parlaments oder der Verwaltung nur schwer zu erreichen wären. Aus Sicht des positiven Verfassungsrechts ist ihre Legitimation allerdings prekär. Das Demokratieprinzip des Art. 20 I, II GG fordert, dass jegliche Ausübung von Staatsgewalt demokratisch legitimiert sein muss. Dies geschieht regelmäßig durch prozedurale Vorgaben (Weisungsrechte, Ernennung durch gewählte Organe, demokratische Verantwortlichkeit u.ä.), die im Falle der Ethikkommissionen gerade ausscheiden. Die fehlende Weisungsgebundenheit und parlamentarische Verantwortlichkeit unterbricht ein zentrales prozedurales Element demokratischer Legitimation. Wenn aber eine prozedurale Legitimation ausscheidet, so stellt sich die Frage, ob dies durch eine verstärkte substantielle Legitimation der Entscheidung ausgeglichen werden kann. Hier bietet sich zunächst ein Rekurs auf die Rechtsgrundlage der jeweiligen Ethikkommission an, die aber oft konturlos bleibt oder nur wenig bis gar keine materiellen Vorgaben hinsichtlich des Entscheidungsmaßstabs gibt. Insbesondere der Verweis auf die „ethische Vertretbarkeit“ (Beispiel aus § 9 StZG) lässt jegliche Festlegungen bezüglich dessen, welche ethischen Kriterien denn zur Vertretbarkeit einer Entscheidung führen, vermissen. Aus Sicht des Verfassungsrechts lassen sich allerdings Entscheidungsmaßstäbe gewinnen, die zur gleichen Zeit Anleitung liefern und Legitimation stiften können. Dieses bietet gerade in seinem Grundrechtsteil normative Maßstäbe, die in der konkreten Entscheidungssituation einer Ethikkommission fruchtbar gemacht werden können. Das bedeutet nicht, dass sich aus der Verfassung konkrete Entscheidungen im Wege der Deduktion ableiten ließen. Das Gegenteil ist der Fall. Mehr als einen Rahmen kann die Verfassung der Einzelentscheidung einer Kommission nicht verleihen. Dieser Rahmen wird allerdings in der bisherigen Diskussion viel zu wenig in den Blick genommen. Eine Eingrenzung des „ethischen“ Bewertungsmaßstabes und damit eine substantielle Legitimationsleistung können die Grundrechte insbesondere auf zwei Ebenen liefern: 1 Wiss. Mit. Benedikt Quarthal, Maître en Droit Eberhard-Karls-Universität Tübingen Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht, Prof. Dr. Martin Nettesheim Die Grundrechte sind Grenze zumindest jeder bindenden Entscheidung. Dies gilt sowohl für das gefundene Ergebnis als auch für dessen Begründung. Die Begründbarkeit einer Entscheidung im ethischen Sinne ist keine hinreichende Voraussetzung für ihre verfassungsrechtliche Legitimation. Vielmehr müssen sich die angeführten Gründe in die Grenzen des geltenden Verfassungsrechts einfügen. Bei aller begrifflichen Unbestimmtheit sind die Grundrechte hierfür in Rechtsprechung und Lehre ausreichend konkretisiert, um zumindest im Hinblick auf ihre Verletzung klare Grenzen aufstellen zu können. So wäre beispielsweise die Begründung einer Entscheidung aus rein utilitaristischen Erwägungen nicht mit dem aus der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) abgeleiteten Menschenbild des Grundgesetzes vereinbar. Dieses sieht den Menschen als Zweck an sich selbst. Die bloße Begründbarkeit mit dem positiven Gesamtnutzen erlaubt es daher nicht, die Wirkung einer Entscheidung auf den Einzelnen außer Acht zu lassen. Die Grundrechte können eine ethisch begründete Entscheidung aber nicht nur begrenzen, sondern auch in einem bestimmten Sinne legitimieren. Die oben erwähnte nähere Konturierung des Entscheidungsmaßstabs lässt sich dadurch erreichen, dass ethisch begründete Entscheidungen verfassungsdogmatisch rekonstruierbar sein müssen. Die Verfassung entscheidet sich nicht für einen bestimmten Ansatz, der innerhalb der angewandten Ethik vertreten wird. Sie erlaubt aber, diese Ansätze in die Verfassungsordnung einzupassen und anschließend auf ihre Vereinbarkeit mit den übrigen verfassungsrechtlichen Wertungen abzugleichen. So lässt sich das Argument der moralischen Autonomie des einzelnen als Ausdruck seiner aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Selbstbestimmung rekonstruieren. Aus dieser Einordnung folgt aber auch, dass es sich um kein absolutes Argument handeln kann, sondern dass Argumente, die diese Autonomie beschränken sich eventuell aus anderen verfassungsrechtlichen Rechtsgütern rechtfertigen lassen, ohne dabei dem Vorwurf eines „ethischen Paternalismus“ ausgesetzt zu sein. Die Kombination dieser beiden Forderungen – Begrenzung ethischer Begründungen durch die Verfassung und Rekonstruierbarkeit ethischer Begründungen aus der Verfassung – hat eine wichtige Konsequenz für ethisch begründete Entscheidungen von Ethikkommissionen: Diese sind nicht mehr in dem Sinne „ethische“ Entscheidungen, dass sie auf einen außerrechtlichen oder überrechtlichen Bewertungsmaßstab verweisen. Vielmehr wird die eigentlich ethische Begründung durch ihre rechtliche Rekonstruktion rechtlich vereinnahmt, sie wird zu einer rechtlichen Begründung. Dies ist allerdings nur konsequent. Scheidet eine prozedurale Legitimation aus den oben genannten Gründen aus, so muss das Recht substantielle Kriterien vorgeben. Diese können als rechtlich vorgegebene Kriterien allerdings auch nur rechtliche Kriterien sein. Die rein ethische Begründung einer Entscheidung scheidet damit, zumindest für den Fall der oben skizzierten Ethikkommission, aus. 2