UniNews Irak – „Wiege der Zivilisation“ Im Irak herrscht Krieg. Seit 20. März. Der Boden, auf dem amerikanische und britische Panzer rollen und Marschflugkörper einschlagen, ist uraltes Kulturland, in dem die reichhaltigsten bekannten archäologischen Stätten der Welt beheimatet sind. Jahrtausendelang im Zeitalter der Sumerer, Babylonier und Assyrer und noch einmal für mehrere Jahrhunderte unter dem Kalifat der Abbassiden bildete der Irak den Mittelpunkt der zivilisierten Alten Welt. Die erste Hochkultur im Vorderen Orient entsteht auf irakischem Boden. Als die „neolithische Revolution“ – die Domestizierung von Tieren und die Züchtung von Kulturpflanzen vor über 10 000 Jahren – die Sesshaftwerdung der Menschen zur Folge hat, finden diese in Mesopotamien ideale natürliche Voraussetzungen: nahezu unbegrenzt vorhandenen fruchtbaren Boden und ausreichende, ganzjährig verfügbare Wasserressourcen. Die Gegebenheiten erlauben eine fast uneingeschränkte Vermehrung der Siedler, verlangen aber gleichzeitig kollektive, organisierte Anstrengungen, um Bewässerungssysteme anzulegen, Landwirtschaft und Viehzucht im Großmaßstab zu betreiben und Städte aufzubauen: Die Hochkultur der Sumerer entsteht. Erfindung der Schrift Eine Glanzleistung besteht in der Erfindung der Schrift (um 3200 v. Chr.), auf der die über 3000-jährige Geschichte der Keilschriftliteratur aufbaute. Die hochentwickelte Arbeitsteilung und der weitreichende Handelsaustausch vom Mittelmeerraum bis Indien verschaffen der „Wiege der Zivilisation“ immense Vorteile, so dass sich das Alte Mesopotamien jahrtausendelang als Mittelpunkt der zivilisierten Welt behaupten kann. Die Metropole der sumerischen Kultur ist die Stadt Uruk, Heimat des legendären Königs Gilgamesch. Schon vor über 5000 Jahren ist Uruk die mit Abstand größte Stadt der damaligen Welt – mit etwa 600 Hektar Stadtfläche, einer neun Kilometer langen Stadtmauer und ungefähr 50 000 Einwohnern zehnmal größer als jede andere zeitgenössische Stadt und erst 2500 Jahre spä4 Foto: dpa Wo derzeit gekämpft wird, bestand über viele Jahrhunderte ein Zentrum von Hochkulturen Kadhimiyah-Moschee in Bagdad – einige der wichtigsten schiitischen Moscheen im Irak ter, in der Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr., übertroffen von Babylon. Nachdem um 2000 v. Chr. der sumerische Süden Mesopotamiens unter großen Umweltproblemen leidet (Nahrungsmittelknappheit durch Flussbettverlagerungen und Bodenversalzung), wandert die Bevölkerung ab, und die Sumerer werden im Laufe der Zeit von Völkerwanderungen absorbiert. Der Mittelpunkt des Landes verschiebt sich in den Zentralirak: Zuerst ist für 200 Jahre Isin die Hauptstadt, ab ca. 1800 wird dann Babylon für 1500 Jahre das Zentrum. Im Norden des heutigen Irak setzen sich die semitischen Assyrer durch, in der Mitte und im Süden die Babylonier; sie werden später „Chaldäer“ genannt. Sie entwickeln die Naturwissenschaften (vor allem Mathematik, Astronomie, Medizin), schaffen viele neuartige Technologien (z. B. erfinden die Assyrer 2700 Jahre vor Gutenberg den Druck mit beweglichen Lettern, der allerdings bald wieder aufgegeben wurde) und bauen komplexe Sozialund Rechtssysteme auf, unter denen das erste kodifizierte Recht des Königs Hammurabi (1792–1750) berühmt geworden ist. Auch verschrif- ten sie ihr gesamtes Wissen und sammeln es in Bibliotheken. 10 000 Ruinenhügel zeugen von der Blüte dieser Hochkulturen Im 1. Jahrtausend v. Chr. schaffen die Assyrer (883–612) und danach der Babylonier Nebukadnezar (604–562) erstmalig Imperien, die überwiegende Teile der damals bekannten Welt kontrollieren. Nebukadnezar setzt die Ressourcen seines Weltreichs ein, um dessen Hauptstadt Babylon zur glanzvollen Metropole mit schätzungsweise einer Million Einwohnern aufzubauen. Er vollendet den über 100 Meter hohen „Turm von Babel“ (den Hochtempel des Landesgottes Marduk), baut das bekannte Ischtar-Tor (jetzt im Pergamon-Museum in Berlin) und verschafft der Stadt einen unvergänglichen Mythos. Auch die legendären Hängenden Gärten der Königin Semiramis, eines der Sieben Weltwunder der Antike, haben zusammen mit den Berichten der Bibel bis heute für den Ruhm der Stadt gesorgt, die wie kaum eine andere in der Welt Macht und Reichtum verkörpert – aber auch Größenwahn und Verfall. Etwa 10 000 registrierte, zum allergrößten Teil noch nicht ausgegrabene Ruinenhügel im heutigen Irak zeugen von der langen Blütezeit dieser vergangenen Hochkulturen. Als in der Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. neue Völker und Kulturen aufstreben – im benachbarten Iran die indogermanischen Meder (aus denen die späteren Kurden hervorgehen) und die Perser sowie im Mittelmeerraum die Griechen –, ist Mesopotamien nicht wandlungsfähig genug, um ein selbständiges und gleichwertiges Gegengewicht bilden zu können, und so wird es von den konkurrierenden Mächten vereinnahmt. Weisheit aus dem Morgenland Den letzten Höhepunkt von Bedeutung erlebt Mesopotamien unter Alexander dem Großen, der Babylon zur Hauptstadt seines Weltreichs machen will, wo er 323 stirbt. Alexander führt in seinem Begleittross zahlreiche griechische Experten mit, die die sprichwörtliche Gelehrsamkeit der Chaldäer – der „Weisen aus dem Morgenland“ – aufnehmen und nach UniNews Fotos: Sommerfeld Literatur blühen und regen nachhaltig auch die abendländische Zivilisation an. In beispiellos zerstörerischen Eroberungsfeldzügen dringen die Mongolen aus Zentralasien bis in den Vorderen Orient vor. 1258 erobern sie Bagdad, töten den letzten abbassidischen Kalifen und die gesamte gelehrte, künstlerische und religiöse Elite. Sie zerstören die Infrastruktur – vor allem die Städte und Kanalsysteme – so vollständig, dass das Gebiet des heutigen Irak sich davon über Jahrhunderte nicht erholen kann und zu einer wirtschaftlich schwachen und politisch unbedeutenden Region herabsinkt. Erst im 20. Jahrhundert kann der Irak – begünstigt durch die reichen Öleinnahmen – die Entwicklung forcieren und zu einer wichtigen Macht im Vorderen Orient aufsteigen. Deutsche Forschungen im Irak Ausgrabung im Bereich des Haupttempels von Isin 1988 Die Kulturen der Sumerer, Babylonier und Assyrer zu erforschen, ist früh die Grabungslizenzen für einige der wichtigsten antiken Städte Mesopotamiens. Bekannt wurden die Ausgrabungen von Robert Koldewey in Babylon (1898–1917), von Walter Andrae in Assur (1903–1914) und diejenigen des Deutschen Archäologischen Instituts in Uruk (seit 1912). In Assur und Uruk konnten deutsche Expeditionen die Forschungen in den letzten Jahren begrenzt wieder aufnehmen, wenn auch nur unter großen Schwierigkeiten, mit denen aufgrund des 1990 verhängten Wirtschaftsembargos jede praktische Organisation im Irak zu kämpfen hat. In Assyrien befinden sich die Ausgräber in einem Wettlauf mit der Zeit, denn als Reaktion auf einen dramatischen Wassermangel – bedingt durch die zahlreichen Staudammprojekte in der Osttürkei – wird ein im Bau befindlicher Großstaudamm in wenigen Jahren die ganze Region überfluten und Assur mitsamt etwa 70 weiteren noch unerforschten antiken Stätten unter sich begraben. Eine weitere wichtige deutsche Grabung wurde 1973 in Isin unter Leitung des Münchener Archäologen Professor Barthel Hrouda begonnen. In den letzten Kampagnen habe ich selbst dort als Epigraphist mitgearbeitet, und nach der Pensionierung von Professor Hrouda ist die Lizenz auf mich übergegangen. Nach langwierigen Vorbereitungen und mühsamen Verhandlungen sieht die Planung vor, zusammen mit dem Team des Archäologen Professor Dietrich Sürenhagen (Universität Konstanz) die Ausgrabungen im Herbst 2003 wieder aufzunehmen. Ob dies tatsächlich zu realisieren ist, ist allerdings gegenwärtig völlig offen. Edition unveröffentlichter Keilschriften Heute ist die Gegend um Isin von Raubgräbern wie eine Mondlandschaft durchpflügt – mit bis zu zehn Meter tiefen Löchern Europa transportieren, wo sie die abendländischen Wissenschaften inspiriert und in sie einfließt. Mesopotamien verliert den Rang als führende Kulturnation und bleibt unter der Vorherrschaft der Perser (539–331), Griechen (330–127), Parther (126 v. – 227 n. Chr.) und der iranischen Sassaniden (227– 636) eine unselbständige, an Einfluss und Wohlstand stark reduzierte Provinz. Erster Niedergang durch die Feldzüge der Mongolen Die islamische Kultur erreicht ihren Höhepunkt unter dem Kalifat der Abbassiden (750–1258), die Bagdad zum Zentrum ihres Weltreiches machen. In dieser zweiten großen Ära seiner langen Geschichte ist der Irak wiederum für Jahrhunderte die führende Kulturnation der Alten Welt. Wissenschaften, Philosophie und zentrale Aufgabe der Altorientalistik, einer Disziplin, die in Deutschland mit etwa einem Dutzend Instituten an fast allen Traditionsuniversitäten gut etabliert ist, die allerdings durch eine Hochschulpolitik, die sich zunehmend an kurzfristigen Planungsdaten und oberflächlichen Effizienzkriterien orientiert, auch akut bedroht ist. Bedingt durch die Orientbegeisterung von Kaiser Wilhelm II. sicherte sich die deutsche Wissenschaft Während die Feldarchäologie im Irak vor großen Hindernissen steht, waren Projekte in der Hauptstadt Bagdad bislang leichter zu verwirklichen. Ich habe in den letzten beiden Jahrzehnten eine enge Kooperation mit dem Department of Archaeology der dortigen Universität und mit dem Iraq Museum, das eine der reichsten Kollektionen weltweit besitzt, aufgebaut. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Edition von unveröffentlichten Keilschrifttexten, von denen das Iraq Museum Zehntausende hütet. In der antiken Stadt Sippar, die – ca. 40 km westlich von Bagdad gelegen – jahrtausendelang ein wichtiges Kulturzentrum des Alten Orients war, gelang 1988 den irakischen Archäologen ein „Jahrhundertfund“: Sie fanden die einzige unversehrt er5 UniNews Verwaltung geschwächt hat, seit 1992 eine beispiellose Konjunktur erfahren. Bewaffnete und mit moderner Technik ausgestattete Banden organisieren die Raubgrabungen vom Ausland aus, die ortsansässigen Bauern werden als Arbeitskräfte angeheuert und die Funde dann nach Übersee verschoben. Unersetzbares Kulturgut wird unwiederbringlich zerstört Jahrhundertfund von 1988: In den insgesamt 30 Fächern dieser unversehrt erhaltenen Bibliothek wurden fast 400 zweieinhalbtausend Jahre alte Keilschrifttafeln im Originalzustand entdeckt haltene Bibliothek des Altertums in ihrem Originalzustand auf; die fast 400 Keilschrifttafeln standen noch nach 2500 Jahren in der ursprünglichen Anordnung in den Regalen. Die Bibliothek enthält zahlreiche Werke der Literatur, darunter Mythen, die bislang nicht bekannt waren, und einen Querschnitt altorientalischer Wissenschaft – vor allem Medizin und Astronomie – wie auch viele zweisprachige sumerisch-babylonische Wörterbücher. Diese Bibliothek wird jetzt in Zusammenarbeit zwischen der Universität Bagdad und der Marburger Altorientalistik herausgegeben. Insgesamt konnte ich in den letzten 15 Jahren im Iraq Museum Tausende Tontafeln dokumentieren, die als Grundlage für die in Marburg durchgeführte Forschung dienen und auch von den Doktoranden und Habilitanden ausgewertet werden. Weltweit führend in der Bearbeitung aller Keilschrifttexte des 3. Jahrtausends v. Chr. – ein Korpus von ungefähr 120 000 Inschriften – ist die University of California in Los Angeles mit ihrem Projekt „Cuneiform Digital Library Initiative“ (CDLI). Im November 2002 hat deren Team meine Fotosammlung eingescannt, die jetzt im Internet zugänglich gemacht und von einer internationalen Forschergruppe bearbeitet werden soll (http://www. cdli.ucla.edu). Aus der langen Tradition der Keilschriftliteratur sind annähernd eine Million Inschriften wieder aufge6 funden wurden, von denen erst etwa ein Viertel für die Forschung erschlossen ist. Jedes Jahr kommen zahllose neue Quellen hinzu. Die vollständige Edition wird noch Generationen von Forschern beschäftigen und Jahrhunderte in Anspruch nehmen. Schätzungen besagen, dass im Boden des Vorderen Orients noch bis zu 100 Millionen Keilschrifttexte liegen könnten, die auf ihre Wiederentdeckung harren. Das Schreibmaterial – also Ton – war sehr billig und leicht zu beschreiben; also wurde die Keilschrift für eine große Bandbreite von Dokumenten angewandt, die fast alle Aspekte des Alltagslebens ebenso wie die Welt der Künste und der Wissenschaften erfassen. Das Erbe der Keilschrifttafeln umfasst eine riesige Zahl von Wirtschafts- und Verwaltungsurkunden, Briefe, Königsinschriften und Literatur jeder Art, aber auch Witze, Kochrezepte, Musiknoten oder Anweisungen zur Pferdezucht. 800 Jahre lang hat die Sternwarte von Babylon Tag für Tag systematische Beobachtungen über die Wetterlage und astronomische Phänomene angefertigt. Diese Tagebücher liefern so exakte Daten, wie sie erst von der modernen Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert wieder ermittelt werden konnten. Die Verfügbarkeit einer solchen Fülle von höchst detaillierten Informationen über die Welt des Alten Orients macht die Altorientalistik zu einer Kulturwissenschaft im breites- ten Sinne: Sie behandelt alle Bereiche der Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft, Religion, Wissenschaften und Schönen Künste des Alten Mesopotamien. Eldorado für Raubgräber Welche Bedingungen treffen Ausgräber im Irak heute an? Anfang Januar 2003 fuhr ich zuletzt nach Isin, um mir ein Bild der aktuellen Verhältnisse zu verschaffen. Isin liegt etwa 200 Kilometer südlich von Bagdad, mitten im ländlichen Stammesgebiet, 40 Kilometer von der nächsten Stadt Diwaniyah entfernt, und ist nur von Ortskundigen mit geländegängigen Fahrzeugen auf schlechten Pisten zu erreichen. Der Kommandeur der Garnison von Diwaniyah gab mir einige Soldaten mit, die mit ihren Kalaschnikows in der Hand auf dem Pick-up vorneweg fuhren und den Weg sicherten zum Schutz vor Überfällen und Entführungen. Die Wiege der Zivilisation ist inzwischen ein Eldorado für Raubgräber, und der internationale Antikenhandel betreibt weltweit ein blühendes Geschäft mit illegal erworbenen Kulturgütern. Während in den letzten Jahrzehnten vor dem Krieg von 1990 die Raubgrabungen im Irak fast völlig unterbunden werden konnten, haben sie unter dem Embargo, das die Bevölkerung des Landes ins Elend gebracht und die staatliche In Isin rücken nach Auskunft der Bevölkerung Nacht für Nacht mehr als 20 Autos an, und die Räuber nehmen mit Baumaschinen die Ruine auseinander. Die Schäden haben meine schlimmsten Befürchtungen übertroffen – die Stätte ist wie eine Mondlandschaft durchpflügt von zahllosen großen Baugruben, die bis zu zehn Meter tief reichen, und zusätzlich werden mit Tunneln die tiefen Schichten durchwühlt. So wie Isin sind im gesamten Irak zahllose antike Städte von Raubgrabungen betroffen. Jahrtausendealte unersetzbare Kulturgüter werden unwiederbringlich zerstört. Der irakische Antikendienst kann dieser Raubgrabungen kaum Herr werden, dazu ist das Land zu groß und auch zu unwegsam, die Zahl der historischen Orte zu hoch, die inneren Probleme sind in der allgemein kritischen Lage insgesamt kaum beherrschbar. Je schwächer die staatliche Verwaltung ist, desto einfacher haben es die Raubgräber. Folglich ist es sehr leicht, sich traumhafte Sammlungen von Fundstücken auf dem Antikenmarkt zusammenzukaufen, da dieser seit 1991 mit Antiquitäten, die aus dem Irak geraubt wurden, geradezu überschwemmt wird. Hochburgen dieses Marktes sind London und die USA. Einige Privatsammler besitzen inzwischen Kollektionen, die mit denen großer öffentlicher Museen mithalten können. Auch Folgendes ist möglich: Ein bekannter amerikanischer Sammler kauft en gros mesopotamische Antiquitäten zu Großmarktpreisen auf und stellt Fachleute an, die einen detaillierten Katalog mit Taxierung jedes Einzelstückes erstellen; auf diese Weise wird der Buchwert deutlich gesteigert, die Kollektion dann einer Universität gestiftet, die voll Dankbarkeit eine steuerlich abzugsfähige Quittung ausstellt, die den Ankaufspreis um ein Mehrfaches übertrifft – ein herrliches Geschäft zur großen Befriedigung aller Beteiligten. Die internationale Gemeinschaft unternimmt so gut wie nichts, um den illegalen Antikenhandel zu unterbinden, UniNews da der Irak als der „Schurkenstaat“ schlechthin keine Lobby hat. Handelssanktionen haben dem Kulturerbe sehr geschadet 4000 Jahre alte Königsinschrift aus Isin. Texte dieser Art werden in der Marburger Altorientalistik ausgewertet. waren im ersten Irakkrieg nicht übermäßig. Zwar wurde 1991 auch das Iraq Museum in Bagdad – es liegt in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof und zu wichtigen Kommunikationseinrichtungen – getroffen und ein Teil der Objekte beschädigt. In den Aufständen und Wirren nach Kriegsende wurden mehrere Provinzmuseen zerstört und einige tausend Exponate geplündert, die dann ins Ausland verschoben wurden oder verschollen sind. Die eigentlichen Schäden, deren Umfang dramatische Dimensionen hat, sind indirekt entstanden: durch den ungehinderten Handel mit Antiquitäten und die so finanzierten großflächigen Raubgrabungen sowie durch den allgemeinen Verfall des Landes unter dem 13-jährigen Embargoregime. Perspektive der Marburger Altorientalistik Wie andere „kleine Fächer“ muss sich auch die Altorientalistik angesichts veränderter Koordinaten in der Bildungspolitik neu orientieren. In Anbetracht des außerordentlich reichhaltigen Erbes, das das Alte Mesopotamien hinterlassen hat, sind die Forschungsaufgaben immens und prägen den Berufsalltag des Altorientalisten. Die Herausforderung, neue Wege zu gehen, ist allerdings unübersehbar. Im Sinne eines interdisziplinären Innovationsprojekts ist an der Philipps-Universität deshalb der Aufbau eines geoarchäologischen Forschungsverbundes geplant, in dem Methoden und Inhalte der Fächer Alte Geschichte, Klassische Archäologie, Altorientalistik, Vor- und Frühgeschichte mit modernen geowissenschaftlichen, physisch-geographischen sowie kulturgeographischen Arbeitsweisen zusammenfinden. In Addition kultur- und naturwissenschaftlicher Quellen und Methoden soll zunächst die Entwicklung von Foto: Graßmann Auch die strikten Handelssanktionen, die den Import jeder Art von Dualuse-Gütern unterbinden, haben dem Kulturerbe insgesamt sehr geschadet. Was ist in der heutigen Welt nicht alles Dual-use? Beispielsweise die Klimaanlage des Iraq Museum, die 1990 gekauft und bezahlt wurde und seitdem verpackt in einem japanischen Hafen lagert, aber nicht ausgeliefert werden darf, da sie auch zur Kühlung von militärischen Anlagen verwendet werden könnte. Die Folge ist, dass in dem nicht klimatisierten Museum empfindliche wertvolle Funde schwere Schäden erleiden bis hin zum völligen Zerfall. Die großen Schwankungen zwischen kühlen Temperaturen im Winter und extremer Hitze im Sommer sind der sichere Ruin für viele Objekte. Ich habe selber viele Inschriften in der Hand gehabt, die zum Zeitpunkt ihrer Ausgrabung in einem guten Zustand waren, aber nach einigen Jahren solcher unsachgemäßer Lagerung zu Staub zerfallen sind. Die Möglichkeiten des Antikendienstes zur Konservierung sind gering. Zerstörung und Verfall des Kulturerbes im Irak sind nur ein Aspekt des allgemeinen Niedergangs. Dem Office of the Humanitarian Coordinator in Iraq sind diese Probleme wohlbekannt. Das von ihm verwaltete humanitäre Oil-for-Food-Programm hat beispielsweise im Zeitraum von 1996 bis 2002 von den Beträgen, die durch irakische Ölverkäufe auf ein Treuhandkonto der UNO eingezahlt wurden, für den Sektor Education (dazu gehört auch der Kulturbereich) insgesamt 810 Millionen Dollar reserviert, davon hat der Sanktionsausschuss allerdings nur 46,7 Millionen Dollar (5,8 %) freigegeben, der Rest wurde von den USA blockiert. Fachzeitschriften zum Beispiel für Physik, Biologie oder Chemie sind untersagt, denn Kenntnisse in diesen Bereichen könnten – so die Begründung – auch für die Entwicklung von ABC-Waffen nützlich sein. Früher verfügte der Irak über ein ausgezeichnetes Bildungswesen, inzwischen ist durch diese Auszehrung die Alphabetisierungsrate um 15 bis 20 Prozent gesunken, und der Standard in den Universitäten ist infolge der internationalen Isolation und des Mangels an Ausstattung tief gefallen. Die Schäden am kulturellen Erbe durch direkte Kriegseinwirkungen Stadt und Umland unter sich wandelnden Umweltbedingungen bearbeitet werden. Der hier beteiligte Geograph Professor Helmut Brückner ist ebenfalls im Irak tätig: Er hat vor einem Jahr in Uruk Bohrungen durchgeführt, um tiefe Schichten, die durch Grabungen bisher nicht erreicht werden konnten, zu explorieren. Spannendste Fragestellung ist dabei, ob meterdicke Schwemmschichten, die an manchen Stellen des Irak gefunden wurden, nur punktuell oder großflächig verbreitet sind, welchen realen Hintergrund also die Berichte von der „Sintflut“ haben. In der Lehre wird die Marburger Altorientalistik gemeinsam mit benachbarten Fächern wie beispielsweise der Semitistik, der Vergleichenden Sprachwissenschaft, der Religionsgeschichte und der Ägyptologie einen neuen Studiengang Orientwissenschaften aufbauen, dessen Ziel es ist, neben der Kompetenz in mindestens einer orientalischen Sprache einen breiten Überblick zu vermitteln über Geschichte, Kultur und Religion des Orients von der frühen Hochkultur bis zur Moderne. Obwohl gerade aktuell die Defizite deutlich werden, die im Westen an Kenntnissen über die orientalische Welt bestehen, gibt es einen Studiengang dieser Art in Deutschland bisher nicht. Er soll den Absolventen ermöglichen, sich auf der Basis eines breiten Hintergrundwissens schnell in ein vielfältiges Spektrum von Fragestellungen einzuarbeiten und deren Zusammenhänge zu verstehen – praxisnahe Kenntnisse, wie sie bei vielen Institutionen, insbesondere auch den Medien, nur von Vorteil sein können. Mit diesem Fach sollte es gelingen, vermehrtes Interesse an der Welt des Orients zu erwecken, somit die Studierendenzahlen zu steigern und zur Attraktivität des Studienortes Marburg beizutragen. Walter Sommerfeld Der Autor ist Vorsitzender der Deutsch-Irakischen Gesellschaft Prof. Dr. Walter Sommerfeld Fachgebiet Altorientalistik Fachbereich Fremdsprachliche Philologien Wilhelm-Röpke-Straße 6 F 35032 Marburg Tel.: (0 64 21) 28-2 46 16 E-Mail: [email protected] 7