214 15 Schilddrüsenfunktionsstörungen 15.1 Definitionen und Häufigkeiten Die wichtigsten Fachbegriffe werden wie folgt definiert: • Primäre Hypothyreose: Schilddrüsen-(SD-)Unterfunktion aufgrund einer unzureichenden SD-Hormonsynthese; 99 % aller Hypothyreosen • Primäre manifeste Hypothyreose: niedriges freies Thyroxin (fT4) und erhöhtes Thyreotropin (TSH) i. S.; Prävalenz 0,1–2 %, in der Schwangerschaft 1–3 ‰ • Primäre subklinische/latente Hypothyreose: normales fT4 und Trijodthyronin (fT3) und erhöhtes TSH i. S.; Prävalenz 4–10 %; Verhältnis Männer zu Frauen 1:5–8 • Zentrale Hypothyreose (selten): SD-Unterfunktion aufgrund einer unzureichenden zerebralen Stimulation der SD mit Differenzierung in sekundäre (hypophysäre) und tertiäre (hypothalamische) Hypothyreose: niedriges fT4 und fT3 und fehlender adäquater TSH-Anstieg • Primäre Hyperthyreose: SD-Überfunktion aufgrund einer gesteigerten SD-Hormonproduktion • Primäre manifeste Hyperthyreose: erhöhtes fT4 und fT3 und erniedrigtes Thyreotropin (TSH) i. S. • Primäre subklinische/latente Hyperthyreose: normales fT4 und fT3 und erniedrigtes TSH i. S. • Zentrale Hyperthyreose (selten): SD-Überfunktion aufgrund einer gesteigerten zerebralen Stimulation der SD mit Differenzierung in sekundäre (hypophysäre) und tertiäre (hypothalamische) Hyperthyreose • Thyreoiditis: heterogene Gruppe entzündlicher SD-Erkrankungen; verschiedene Klassifikationen, z. B. nach Ätiologie, Pathogenese oder Klinik (lokale Schmerzen) • Schmerzhafte Thyreoiditis: akute = infektiöse Thyreoiditis (bakteriell), subakute = De-Quervain-Thyreoiditis (vermutlich viral), Strahlenthyreoiditis. • Schmerzlose Thyreoiditis: subakute autoimmune Thyreoiditis, z. B. postpartale Thyreoiditis (Prävalenz 1–20 %), chronische autoimmune (Hashimoto-) Thyreoiditis mit evtl. postpartaler Exazerbation, fibröse = invasive (Riedel-) Thyreoiditis, immunogene Thyreoiditis (M. Basedow) • Struma: morphologische SD-Veränderung unabhängig von der Ursache und der Funktion; Prävalenz in Deutschland 35 %, v. a. aufgrund von Jodmangel • Struma diffusa: SD-Vergrößerung ohne Knoten • Struma nodosa: SD-Veränderung mit Knoten; solide, zystische und gemischte Knoten; funktionell aktive (z. B. autonome Adenome) und inaktive Knoten (z. B. Kolloidknoten, Adenome, SD-Karzinome) • Schilddrüsenautoantikörper: Antikörper, die die Schilddrüsenfunktion durch eine Störung der Hormonsynthese auf verschiedenen Ebenen beeinflussen; Prävalenz siehe Tabelle 15-5 – TSH-Rezeptor-Antikörper (TRAK) Schattauer – Wolff, Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin – Herstellung: Frau Gnädig – 7. Juni 2013 – Druckdaten – Seite 214 15.3 Ätiologie – Thyreoidea-Peroxydase-Antikörper (TPO-AK) = mikrosomale Antikörper (MAK) – Thyreoglobin-Antikörper (TG-AK = TAK) 15.2 Einführung Schilddrüsenerkrankungen zählen zu den häufigen endokrinen Störungen der Frau. Meistens werden sie multidisziplinär behandelt. Der Schwerpunkt der gynäkologischen Endokrinologie liegt auf der (subklinischen/latenten) Hypothyreose. Abbildung 15-1 zeigt das diagnostische Vorgehen bei klinischem Verdacht auf SD-Funktionsstörung oder lokale Veränderung (Struma; Kap. 15.5.1), welches die körperliche Untersuchung (Kap. 15.5.2), Labordiagnostik (Kap. 15.5.3) und bildgebende Verfahren (Kap. 15.5.4) umfasst. Die Therapie richtet sich nach der Ursache (Kap. 15.6). Bei unerfülltem Kinderwunsch und in der Schwangerschaft ist eine Anpassung der Therapie und ein intensiviertes Monitoring (Kap. 15.6.5) indiziert. 15.3 Ätiologie 15.3.1 Schilddrüsenhormonsynthese Für ein besseres Verständnis der verschiedenen Schilddrüsenfunktionsstörungen wird vorab die SD-Hormonsynthese stichpunktartig zusammengefasst: • Stimulation der folgenden Hormonsyntheseschritte durch die Bindung von TSH (Thyreotropin) an den TSH-Rezeptor* • Aufnahme von Jodid (J–) aus dem Serum, Oxidierung von Jodid durch die Peroxydase* zu J2 und Transport durch die Follikelzelle der Schilddrüse ins Kolloid, dort Bildung von T3 und T4 • Speicherung von T3 und T4 im Thyreoglobulin* • Nach Proteolyse des Thyreoglobulins Sekretion von T4 und T3 (Verhältnis 40:1) ins Blut • Im Blut Bindung von T4 (99,97 %) und T3 an thyroxinbindendes Globulin (TBG), thyroxinbindendes Präalbumin (TBPA) und Albumin • Durch Proteolyse Gewinnung der freien Hormone fT4 und fT3 (»bioaktives Hormon«) • 30 % des T4 werden in T3 umgewandelt, das 3-mal so hohe biologische Aktivität besitzt wie T4 (Halbwertszeit T4 = 7 Tage, T3 = 1 Tag) Anmerkung: Gegen die mit * gekennzeichneten Eiweiße sind die in Kap. 15.1 genannten Antikörper gerichtet. Schattauer – Wolff, Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin – Herstellung: Frau Gnädig – 7. Juni 2013 – Druckdaten – Seite 215 215 Zentrale Hypothyreose Zentrale Hypothyreose Entscheidungskriterium Therapie Diagnose Diagnostik MRI Schädel Labordiagnostik Hypophysenhormone fT4 niedrig (Tab. 15-4) Ja Therapie (Kap. 15.6) Nein fT3, TPO-AK, TGAK, Bildgebung (Tab. 15-5) Manifeste primäre Hypothyreose fT4 niedrig (Tab. 15-4) Keine weitere Diagnostik und Therapie Euthyreose fT4 normal (Tab. 15-4) Verlaufskontrolle TSH normal Körperliche Untersuchung und TSH i. S., fT4 i. S. (Kap. 15.5) V.a. Hypothyreose Klinische Symptomatik Anamnestisch erhöhtes Hypothyreoserisiko Hypothalamus- bzw. Hypophysenerkrankung Medikamente (Tab. 15-3) fT4 niedrig (Tab. 15-4) TSH niedrig Sterilität und TSH im oberen Normbereich (ca. 2,5–4,5 mU/l) Therapie: Kap. 22.3.3 Kinderwunsch Schwangerschaft Klinische Symptomatik Anti-TPO-AK positiv etc. TSH ≤ 10 mU/l Subklinische Hypothyreose fT4 normal (Tab. 15-4) TSH > 10 mU/l TSH hoch Schwangerschaft: Diagnostik: Kap. 15.5.6 Therapie: Kap. 15.6.5 216 15 Schilddrüsenfunktionsstörungen Abb. 15-1 Diagnostisches Vorgehen bei klinischem Verdacht auf Hypothyreose Schattauer – Wolff, Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin – Herstellung: Frau Gnädig – 7. Juni 2013 – Druckdaten – Seite 216