Giuseppe Verdi Macbeth

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Giuseppe Verdi
Macbeth
Heute Abend stehen wir an einem Wendepunkt in der Operngeschichte. Ich möchte
die heutige Einführung in Verdis Macbeth wieder mit ein wenig Operngeschichte
beginnen. Man kann Opern auf viele Arten geniessen, aber zwei davon stehen im
Mittelpunkt: Man kann sie geniessen als Musik, als schöne Form, als dramatische
Erscheinung, einfach als Kunstwerk per se und ohne nach den Hintergründen zu
fragen. Man kann sie aber auch geniessen gerade auf der Folie dieser Hintergründe,
unter Einbezug des historischen Kontexts, eben der Operngeschichte. Beide Arten
sind gleichwertig, es liegt mir fern, die eine gegen die andere auszuspielen, es liegt
mir fern, die Arten, zu geniessen, irgendwie zu bewerten. Aber da Sie nun mal da
sind, meine Damen und Herren, nehme ich an, dass Sie sich für Hintergründe und
Operngeschichte interessieren. Diese gibt uns einen Einblick in die Gesellschaft des
19. Jahrhunderts in Italien, wie kaum eine andere Erscheinung.
Verdis Macbeth wurde 1847 in Florenz uraufgeführt. Er ist zwar bereits Verdis zehnte
Oper, aber seit seiner ersten Oper – Oberto – sind erst acht Jahre vergangen. Wir
können also den Macbeth in gewisser Weise immer noch dem frühen Verdi zurechnen. Verdi hat den Macbeth 1865 für das Théatre lyrique in Paris umgearbeitet.
Heute spielt man in der Regel diese Fassung, nicht mehr die Fassung der Uraufführung in Florenz. Die Änderungen, die Verdi vorgenommen hat, sind zwar bedeutend,
aber sie bleiben für unsere Belange heute Abend ausser Acht. Im dritten Akt hat
Verdi zwei Ballette eingefügt. Eine Aufführung einer Oper in Paris ohne Ballett war
völlig undenkbar. Verdi hat unter diesem Zwang sehr gelitten. Es ist ihm erst in der
Aida gelungen, ein Ballett harmonisch einzufügen. Heute werden diese Ballette
meist weggelassen. Es würde sich zwar lohnen, die Florentiner Fassung auch wieder
zu spielen. Sie ist musikalisch noch kompromissloser als die Fassung für Paris.
Der junge Verdi ist stark eingebunden in die Operntradition seiner Zeit, also in die
erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dies ist die Zeit des Belcanto.
Der Begriff „belcanto“ wird ein wenig uneinheitlich verwendet. Er bedeutet natürlich „schönen Gesang“ und meint ursprünglich einen Gesangsstil, der aus der
Opera seria des 17. Jahrhunderts stammt. Ursprünglich meint belcanto also einen
Gesangsstil, der das Schwergewicht legt auf die Augeglichenheit, auf den schönen
Klang der Stimme. Auch auf die Virtuosität in den Verzierungen und Koloraturen.
Die Kastraten der Opera seria waren die berühmtesten Belcanto-Sänger. Die
Schönheit von Klang und Stimme kommt vor der Deutlichkeit und Wahrheit in der
dramatischen Darstellung der Handlung.
Zum zweiten ist „belcanto“ auch ein Epochenbegriff für die Oper der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, also die Oper von Rossini, Donizetti und Bellini. Wir haben
im Januar hier im Hause eines der bedeutenden Werke dieser Epoche gehört, Sie
erinnern sich, Bellinis „Somnambula“. Aber natürlich hängt der Epochenbegriff mit
der ursprünglichen Bedeutung zusammen. Die Bezeichnung „belcanto“ für die italienische Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts meint eben auch, dass in
dieser Zeit der „schöne Gesang“ vor der dramatischen Wahrheit kommt. Der Wohlklang und die Virtuosität des Gesanges sind im Vordergrund. Musik führt damit
gleichsam ein Eigenleben, das wenig Zusammenhang hat mit der Handlung der
Oper. Ich weiss, dass das jetzt ein wenig plakativ ist, was ich hier sage. Aber wir
kennen heute aus dieser Zeit eben in der Regel nur noch die Meisterwerke, Rossinis
„Barbier“, den „Otello“ oder den „Wilhelm Tell“, Donizettis „Lucia di Lammermoor“.
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Es ist immer gefährlich, die Qualität einer Kunstepoche an den Meisterwerken zu
messen. Donizetti etwa hat über 60 Opern geschrieben, aufgeführt werden heute
noch drei bis vier. Für den täglichen Opernbetrieb in Italien, der in der Stagione
immer neue Werke verlangte, stimmt der Satz durchaus: Die Musik der BelcantoOper führt ein Eigenleben, das wenig Zusammenhang hat mit der Handlung der
Oper. Es liegt mir fern, die Belcanto-Oper gering zu achten und ihren musikalischen
Wert herabzumindern. Wir dürfen nie vergessen, dass die italienische Oper in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesellschaftlich eine ganz andere Funktion
hatte, als heute.
Das Opernhaus war eine Art „Freizeitcenter“, wo Musik gemacht wurde zur Unterhaltung. Man suchte einander in den Logen und in den Bars auf, machte Geschäfte,
es ging auch um Zerstreuung auf einem hohen Niveau. Die Opern wurden meistens
nicht am Stück gespielt, sondern zwischen den Akten wurde noch ein Ballett eingeschoben, das mit der dramatischen Handlung natürlich nichts zu tun hatte. Die
Aufführungen dauerten damit viele Stunden, was aber nichts ausmachte, man war
ja nicht an seinen Platz gebunden. Sie sehen, Oper hatte viel mehr als heute eine
Unterhaltungsfunktion. Man wollte sich zerstreuen, und man zerstreut sich wohl
am besten bei Wohlklang und schöner Musik, bei Belcanto eben. Die Handlung
einer Oper war eher sekundär und gab einfach Gelegenheit, schöne Musik zu machen. Die Sängerin oder der Sänger traten denn auch, wenn sie eine Arie zu singen
hatten, an die Rampe und machen eben Belcanto, die Handlung kam zum Stillstand.
Nach der Arie mussten sie sich dann wieder irgendwie in die Handlung hineinfinden,
was gar nicht einfach war. Die Oper diese Zeit musste schematische Formen entwickeln, um Arie und Handlung zu verknüpfen, wir haben in der letzten Saison
beim Nabucco ausführlich davon gesprochen.
Der Komponist war in dieser Zeit nicht der Künstler. Er war bloss der Musiklieferant,
die Künstler waren die Sänger und nur sie. Der Komponist bekam einen Auftrag
vom Impresario, dem Unternehmer des Opernhauses, den hatte er zu erfüllen, die
Musik termingerecht abzuliefern zu einem fixen Honorar. Vor allem hatte er aber
in der Opernkomposition auf die Bedürfnisse der Sängerinnen und Sänger zu achten, denn diese wollten Arien, sie wollten Musik, mit der sie eben ihre BelcantoFähigkeiten zeigen konnten, sie waren kaum daran interessiert, Träger zu sein
eines dramatischen Gedankens.
Der Bedarf an Opern in den „Freizeitcentern“ war gross. Er war nur zu decken,
wenn die Oper einem gewissen Schema folgt. Die Belcanto-Oper ist zum grössten
Teil Gattungswerk, nicht Individualwerk, sie läuft ab nach dem Grundschema Rezitativ – Arie. Auch das Personal ist festgelegt, es richtet sich nach der starren
Besetzung der Operntruppen, mit der Primadonna, dem Primouomo, den Sekundariern und den Triariern, welche alle eine klar umrissene Funktion haben. Die Anzahl
der Arien für die Primadonna war festgelegt.
Der Maestro hatte auch wenig Zeit, eine neue Oper einzustudieren. Proben sind
teuer! Rossini hatte für die Uraufführung des „Barbiers“ gerade mal sechs Proben,
mehr nicht. Dann musste die Sache klappen. Da blieb gerade Zeit, die Oper musikalisch einigermassen einzustudieren, ein Spielleiter konnte den Sängerinnen und
Sängern etwa gerade noch sagen, von welcher Seite sie wann auftreten sollten,
mehr war nicht möglich, dann musste gespielt werden. Man vertraute auf die
Macht des Belcanto. Die fanatischen Anhänger der historischen Aufführungspraxis
sollten sich dessen auch bewusst sein.
Sie haben vielleicht jetzt den Eindruck erhalten, ich würde die Oper des frühen 19.
Jahrhunderts gering achten. Das meine ich nicht. Es war eine andere Zeit. Und ich
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Giuseppe Verdi: Macbeth
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erzähle Ihnen davon, weil es für den heutigen Abend wichtig ist. Ich habe zu Beginn gesagt, dass Verdis Macbeth ein Wendepunkt sei in der Geschichte der Oper.
Damit wir diesen Wendepunkt auch richtig einschätzen können, müssen wir uns
im klaren sein, in welcher Umgebung das Werk entsteht.
Giuseppe Verdi kommt nun als Opernkomponist in diese Welt der Belcanto Oper.
Seine ersten Werke erfüllen alle die Anforderungen, wie ich sie beschrieben habe.
Aber Verdi ist von Anfang an nicht zufrieden mit einer Opernmusik, die einfach
schön ist und sich nicht wirklich um die Handlung kümmert. Schon seine dritte
Oper, der Nabucco, schlägt innerhalb der Belcanto-Oper einen neuen Ton an. Mit
Verdi endet die Belcanto-Oper und mit Macbeth beginnt eine neue Epoche der italienischen Opernmusik.
Was aber ist das „teatro verdiano?“
Macbeth ist ein grosser Stoff der Weltliteratur. Schon das ist neu für die Oper
dieser Zeit. Verdi wendet sich der Weltliteratur zu, die Beschäftigung mit Shakespeare wird sein ganzes Leben lang anhalten. Seine beiden letzten Opern „Otello“ und „Falstaff“ sind Shakespeare Opern, vierzig Jahre nach dem Macbeth entstanden. Ein Leben lang trägt sich Verdi mit dem Plan, den „König Lear“ zu vertonen. Einen Plan, den er aber nie ausführt. Übrigens, meine Damen und Herren,
wenn Sie mehr von Verdi und seiner Person erfahren wollen, lesen Sie Franz Werfels genialen Roman „Verdi – Roman der Oper“. Er schildert darin einen fiktiven
gleichzeitigen Aufenthalt Verdis und Wagners in Venedig. Doch dies nur „beiseite“,
wie man im Theater sagt.
Schiller ist der zweite grosse Dramatiker, dem Verdi sich auch zuwenden wird, mit
der „Luisa Miller“ (Kabale und Liebe), den Räubern, der Jungfrau von Orléans und
vor allem dem „Don Carlos“.
Darin zeigt sich bereits eine der wichtigsten Kriterien des „teatro verdiano“. Es
geht Verdi um dramatische Situationen, Schiller und Shakespeare sind wohl die
grössten Dramatiker der Weltliteratur, mit einem geradezu phänomenalen Sinn für
die Bühne. Ich kenne kaum andere Dramatiker, denen es in dieser Schärfe und
Eindeutigkeit gelingt, menschliche Grundsituationen, Glück und Abgründe, auf der
Bühne sichtbar zu machen. Und das ist nun genau das, was Verdi in seinen Opern
darstellen will: Menschliche Grundsituationen, Verzweiflung, glückliche, unglückliche Liebe, Schmerz, Trauer, Ausweglosigkeit und grenzenloses Glück. Darauf
kommt es ihm an und nur darauf. Um solche Grundsituationen auf der Bühne in
Musik sichtbar zu machen, ist er manchmal sogar bereit, die unmittelbare Nachvollziehbarkeit der Handlung hintan zu stellen. Denken Sie an den „Trovatore“ oder
die „Macht des Schicksals“; man kann der Handlung dort immer nur ansatzweise
folgen. Aber beide Opern sind voll von höchst eindrücklichen Bildern menschlicher
Dramatik.
Damit haben Sie eigentlich die Antwort auf die Frage, was denn das „teatro verdiano“ sei: Darstellung dramatischer menschlicher Grundsituationen in Musik. Das sucht Verdi immer wieder, das findet er bei Shakespeare und Schiller. In
seiner Villa in Sant’Agata in Oberitalien steht über der Türe der berühmte Satz des
Terenz: „Homo sum, humani nihil a me alienum puto - Ich bin ein Mensch, drum
gilt nichts Menschliches mir fremd“. Und darum geht es heute Abend. Die Grundsituation im Macbeth aber heisst: Der ehrgeizige Mensch ist zu allem fähig, um
Macht zu gewinnen.
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Erster Akt: Über der abendlichen Heide Schottlands toben Gewitterstürme.
Macbeth und Banquo stossen nach siegreicher Schlacht auf eine Schar von weiblichen Gestalten mit struppigen Bärten. Es sind Hexen, die Macbeth weissagen, dass
er bald zum „Edlen von Cawdor“ und dann zum schottischen König ernannt werde.
Dem Banquo sagen die Hexen voraus, dass er Vater von schottischen Königen sein
werde. Es sind Hexen, die weissagen! Ihrem Spruch blind zu glauben, ist gefährlich!
Alles, was sie sagen, ist wahr, aber nicht so, wie es Macbeth gerne verstünde! Die
Hexen verschwinden und es erscheinen Abgeordnete des Königs, die Macbeth verkünden er sei zum „Edlen von Cawdor“ ernannt worden. Der erste Teil der Prophezeiung ist damit schon erfüllt. Macbeth wird dadurch in seinem Ehrgeiz angestachelt, dass sich auch die zweite Voraussage rasch erfüllen möge. Seine noch ehrgeizigere Frau, die Lady Macbeth, erfährt von der Prophezeiung durch einen Brief;
sofort beschliesst sie, ihren Mann anzustacheln, die Weissagung sofort mit allen
Mitteln selbst zu erfüllen und auch vor einem Verbrechen nicht zurückzuschrecken.
Als bald darauf der König Duncan im Schloss übernachtet, ermordet ihn Macbeth
hinterrücks im Schlaf. Macbeth erkennt, dass dieser Mord auch sein Verderben sein
wird, dass er keine Ruhe mehr finden kann. Er bereut die Tat unmittelbar. Doch
Lady Macbeth schilt ihn einen Hasenfuss, sagt, er sei kein Mann! Sie lenkt den
Mordverdacht eigenhändig auf des Königs Sohn Malcolm und auf die Dienerschaft.
Malcolm gelingt die Flucht nach England. Macduff und Banquo entdecken die
Schreckenstat. Macbeth reisst die Krone an sich.
Zweiter Akt: Macbeth erinnert sich nun der Prophezeiung der Hexen, dass sein
Gefährte Banquo Vater von Königen sein werde. Dies lässt ihm keine Ruhe. Lady
Macbeth stiftet ihn in ihrer grenzenlosen Machtgier an, eine Mörderbande zu dingen, um Banquo und vor allem dessen Sohn auch zu ermorden. Der Anschlag gelingt nicht ganz. Banquo wird ermordet, sein Sohn aber entgeht der Tat.
Am Abend bei einem Gelage erkundigt sich Macbeth heuchlerisch nach dem Verbleib von Banquo. Da erscheint ihm dessen Geist, nur ihm sichtbar. Zu Tode erschrocken, belastet sich Macbeth in wirren Worten vor der Gesellschaft selbst. Nur
mit grösster Mühe kann die Lady ihn wieder zur Besinnung bringen. Der Geist
erscheint ihm abermals und nun verliert Macbeth endgültig die Fassung. Das Fest
nimmt ein jähes Ende, Schauder erfasst die Gäste. Macbeth stürzt davon.
Dritter Akt: Dies ist der Akt der Hexen und der trügerischen Weissagungen. In
seiner Todesangst begibt sich Macbeth wieder zu den Hexen. Sie rufen auf seinen
Wunsch die mächtigen Luftgeister herbei, die Macbeth folgende Weissagung machen. Er solle sich vor dem schottischen Edlen Macduff hüten; dann beruhigen sie
ihn aber und sagen ihm, dass ihm von keinem, den eine Frau geboren habe, Gefahr
drohe. Er sei unbesiegbar bis der Wald von Birnam wie ein Heer von Soldaten
gegen ihn vorrücke. Macbeth fragt, ob sein Thron nicht von Banquos Nachkommen
bedroht sei, wie es in der ersten Weissagung geheissen habe. Da erscheinen acht
Könige vor ihm, der letzte, in der Gestalt Banquos, hält ihm einen Spiegel vor, in
dem wieder eine lange Reihe von Königen sichtbar wird. Macbeth sinkt in Ohnmacht. Als er erwacht, steht seine Gattin vor ihm und stachelt ihn dazu an, alle,
die ihm irgend gefährlich werden könnten, gnadenlos aus dem Weg zu räumen.
Macduff und seine Leute und alle schottischen Edlen sollen ausgerottet werden.
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Vierter Akt: Die ungeheure Last der Verbrechen ist nun auch für Lady Macbeth
untragbar geworden. Macduffs ganze Familie ist hingemordet. Der Geist der Lady
beginnt sich zu verwirren, schlafwandelnd mit irren Reden irrt sich durch das
Schloss. Sie versucht im Wahnsinn, ihre Hände vom Blut zu reinigen, doch die
Flecken kommen immer wieder. Der Irrsinn martert sie schliesslich zu Tode.
Unterdessen haben Malcolm und Macduff in England Soldaten angeworben und
ziehen gegen Schottland. Malcolm erteilt den Befehl, dass jeder Soldat sich mit
einem Ast aus dem Wald von Birnam tarnen soll, um gegen das Schloss von
Macbeth vorzurücken. Erschrocken melden Macbeths Leute ihm, dass der Wald
von Birnam gegen das Schloss vorrücke. Macbeth erkennt die Prophezeiung.
Macduff stellt ihn zum Zweikampf. Als Macbeth ihm sagt, die Hexen hätten ihm
geweissagt, er könne nur von einem überwunden werden, der nicht von einer Frau
geboren worden sei, ruft ihm Macduff zu, dass er nicht auf natürlichem Wege geboren worden sei, sondern dass die Ärzte ihn aus dem Mutterleib haben herausschneiden müssen. Macduff erschlägt Macbeth und Malcolm wir rechtmässiger König von Schottland!
Diese entsetzliche Handlung bricht nun hinein in die Belcanto-Welt der italienischen
Oper. Wenn sie vor zwei Monaten die Somnabula von Bellini gesehen haben hier
im Hause, können sie ermessen, welche einen Bruch Verdis Macbeth mit der
Operntradition darstellt! Mit den Mitteln des Belcanto-Stils sind diese Ungeheuerlichkeiten schlicht nicht mehr darzustellen. Der „schöne Gesang“ ist dem in keiner
Weise mehr gewachsen. Dazu bedarf es anderer musikalischer Mittel als schönen
Gesang.
Schon die Wahl des Stoffes ist ein Schlag ins Gesicht der Belcanto-Tradition: Es
gibt kein Liebesdrama, kein Liebespaar, das sich nach vielen Liebeswirren zum
endlichen Glück findet. Liebe ist völlig pervertiert zu einer Sucht nach Macht und
wird von der Lady missbraucht, um ihren Mann zu jeder Untat anzustacheln.
Das Personal der Oper entspricht in keiner Weise mehr der üblichen Besetzung der
Belacanto – Oper. Es gibt zwar eine Primadonna – aber was für eine. Einen
Primouomo gibt es nicht. Also gibt es eben auch kein Liebespaar. Dafür wird die
Oper von einem Hexenchor eröffnet! Auch wenn die Handlung und die Figuren
durch Shakespaere vorgegeben sind, so ist das für die italienische Oper eine Revolution.
Verdi schreibt an den Intendanten von Neapel, der den Macbeth aufführen will:
„Mach darauf aufmerksam, dass die Hauptstücke der Oper diese beiden sind: das
Duett zwischen der Lady und ihrem Mann und die Nachtwandlerszene. Wenn diese
Stücke untergehen, ist die Oper erledigt; und diese Stücke dürfen absolut nicht
gesungen werden. Man muss sie mit einer recht hohlen und verschleierten
Stimme darstellen und deklamieren. […] Ich möchte für die Lady eine raue, erstickte, hohle Stimme haben.“ Das hat nun mit Belcanto überhaupt nichts zu mehr
zu tun und muss ein Schock gewesen sein für das melodieselige Publikum. Nicht
mehr um Schönheit geht es, sondern um Expressivität um jeden Preis. Verdi war
auch nicht mehr zufrieden mit der üblichen geringen Zahl an Proben. Er leitete die
Einstudierung in Florenz selber und setzte über hundert Proben durch, vor allem
Klavierproben, bevor er einigermassen zufrieden war.
Eines wird deutlich: Um schöne Musik geht es nicht mehr! Verdi will das dramatische Bild, den dramatischen Ausdruck menschlicher Schwächen und Stärken. Dem
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hat sich die Musik unterzuordnen oder vielmehr, dem hat sie zu dienen ohne Kompromisse und Abstriche. Die vom Ehrgeiz zerfressene und zu jedem Verbrechen
bereite Lady Macbeth kann nicht „schön“ singen. Es wird nicht mehr „schön“ über
menschliche Leidenschaften gesungen. Sie kommen direkt, unmittelbar und ungeschminkt auf die Bühne.
Mit welchen musikalischen Mitteln erreicht nun Verdi dies? Was charakterisiert
„dramatische Musik“? Wie wird Opernsprache dramatisch? Verdi löst sich nicht
ganz von der Belcanto-Tradition. Aber Belcanto-Formen werden kombiniert mit
freien musikalischen Elementen und Abschnitten, die er fugenlos in die BelcantoNummern einbaut und diese damit verbindet. Verdi gelingt im Macbeth zum ersten
Mal wirkliche Personencharakterisierung durch Musik. Im ersten Akt unüberhörbar:
Die Auftrittsarie der Lady Macbeth beginnt nicht durch Gesang. Die Lady liest –
gesprochen – einen Brief vor. Den Brief nämlich, in dem Macbeth ihr von den
Weissagungen der Hexen erzählt. Die Arie selbst aber ist dann wieder formal konventionell, es ist eine zweiteilige Cavatine, nicht aber musikalisch. Verdi gelingt es,
in dieser Arie die Gestalt der Lady eindeutig zu umreissen und uns vor Augen zu
stellen, die Arie entwickelt auch die ganze notwendige Exposition. Es zeigt sich:
der Plan, den König zu ermorden, ist bereits ausgereift. In ihrem krankhaften Ehrgeiz ist die Lady von allem Anfang an die treibende Kraft zu Mord und Verbrechen.
Auch die Motivik der Arie und der folgenden Duett-Szene mit Macbeth ist klar von
der dramatischen Notwendigkeit bestimmt. Immer wieder erklingt eine Art „Seufzermotiv“, betont – sinkend – unbetont. Ein starkes Gefühlsmotiv, man könnte
sogar bereits an Leitmotivik denken.
Ein Diener kündigt nun an, dass der König ins Schloss komme, um zu übernachten.
Die Lady Macbeth erkennt, dass die Stunde des Mordes bereits gekommen ist und
sie zieht nun alle Belcanto-Register, um der Mordlust und dem Ehrgeiz freien Lauf
zu lassen. Aber die Belkanto-Koloraturen sind jetzt nicht nur „schön“, sondern sie
erfüllen eine dramatische Funktion, sie sind Ausdruck der höchsten Begeisterung
für das Verbrechen.
Nahtlos geht die Szene jetzt über in das Duett Macbeth – Lady Macbeth. Macbeth
tritt auf und seine Frau beginnt, ihn zum Mord anzustacheln. Aber da kommt der
König. Er ist eine stumme Rolle, er zieht nur vorbei. Der musikalische Kontrast
könnte nicht grösser sein. Die Marschmelodie, die den König begleitet, ist wohl das
Banalste, was Verdi je auf die Bühne gebracht hat. Man mag rätseln, warum er
dem König diese banale Melodie zueignet. Achten Sie darauf. Die Szene ist musikalisch hochkomplex und das Duett zwischen den beiden Eheleuten gehört zum
Gewaltigsten was die italienische Oper zu bieten hat. Dazwischen aber eine höchst
simple, banale Musik. Man mag rätseln, was Verdi damit gemeint hat. Vielleicht
wirkt sie gerade durch ihre kontrastierende Banalität verstörend.
Nun folgt das grossartige Duett Macbeth – Lady Macbeth. Nur ein paar Takte Rezitativ genügen, Macbeths Vision der Folgen zu zeichnen, als er den Dolch erblickt.
Es folgt nun eine ungeheure Steigerung durch eine Art deklamierten Gesang, die
Steigerung wird erreicht, gerade nicht durch Melodie, sondern durch Dynamik,
durch ein Anschwellen der Lautstärke. Macbeth schreitet zum Mord. Da erscheint
die Lady – im Orchester erklingt zwei Mal das Seufzermotiv. Macbeth hat den König
erstochen. „Tutto è finito“ sagt er, gleichsam die Folgen des Mordes auch für ihn
voraus nehmend. Das Duett, das nun folgt, gehört zum Grössten, was die Opernliteratur kennt, der späte Verdi schliesst hier wieder an. Musik und dramatische
Situation, Macbeths Angst und sein Grauen einerseits, die wilde Gier und der Ehrgeiz der Lady andererseits sind hier zu einer unübertrefflichen Einheit verschmolzen. Gleich ist die grosse Nachtwandlerszene im vierten Akt zu charakterisieren:
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Der grosse Eindruck wird nicht durch die Melodik und das Belcanto erreicht, sondern durch deklamatorischen Gesang.
Verdi will immer menschliche Grundsituationen auf der Bühne sichtbar machen.
Im Macbeth ist es die Grundsituation der unbegrenzten Machtgier. Das absolute
Böse, das nur noch durch ein irrationales Machtstreben, welches über keine Folgen
mehr nachdenkt, erklärt werden kann, kommt hier auf die Bühne.
Wie ich sehe, ist der Macbeth die erste Oper, die es wagt, das absolute Böse so
ungeschminkt und ungefiltert auf die Bühne zu bringen. Das Böse ist natürlich
immer da in der Oper, es wird gebraucht, damit auch Handlung entsteht. Aber
meist wird es überwunden, geläutert; böse Menschen sehen ihre bösen Handlungen ein und bessern sich, sie werden begnadigt oder bestraft, damit ist die sittliche
Ordnung wieder hergestellt. Im Macbeth ist das Böse absolut in der Lady Macbeth.
Lady Macbeth ist konsequent böse bis zum Schluss. Sie stirbt an ihrer Bosheit,
ohne Reue; kein guter Zug ihres Wesens wird sichtbar. Sie stirbt im Wahnsinn als
höchster Form ihrer Bosheit. Diese Absolutheit in der Oper ist neu und revolutionär.
Aber es ist interessant zu sehen, dass Verdi in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht
allein dasteht. Aus Gründen, die noch kurz darzustellen sein werden, beginnt das
Böse in seiner absoluten Form im 19. Jahrhundert in die Literatur und die Oper
einzufliessen. Wir müssen nicht weit suchen: Kurz vor dem Macbeth in Florenz
erscheint Gotthelfs „Bauernspiegel.“ Er ist der Roman der vernetzten, durchorganisierten Bosheit in der Gesellschaft, einer Gesellschaft, die einen jungen Mann
organisiert vernichtet. Das ist auch in der Literatur völlig neu.
In Beethovens „Fidelio“ gibt es bereits eine Figur, die absolut böse und machtgierig
ist. Das ist „Pizarro“, der Florestan unter menschenunwürdigen Bedingungen im
Kerker festhält. Aber Pizarro wird von Leonore überwunden und am Schluss vom
Minister zur Rechenschaft gezogen und bestraft. Hier wird das absolute Böse noch
überwunden.
Das 19. Jahrhundert führt das absolute Böse in die Kunst ein. Warum ist das so?
Meine Antwort ist jetzt vielleicht ein wenig plakativ, aber deswegen nicht falsch.
Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Romantik. Die Romantik blickt in das
Innere des Menschen. „Nach innen geht unser Weg“, heisst es bei Novalis und
Rilke wird noch im 20. Jahrhundert dichten: „Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als
innen.“ Der Blick nach innen öffnet die Welt des Gefühls, des Glücks, der seligen
Einsamkeit, der Liebesnacht. Aber der Blick nach innen ist auch der Blick in das
Chaos, in die Triebe, in die Angst und den Schrecken. Die Nacht ist nicht nur die
selige Liebesnacht, sie ist auch die Dunkelheit, Ort der Angst, der Gefahr, der Bedrohung und des Wahnsinns. Diese dunkle Seite der Romantik fliesst ein in die
Oper, bei Verdi im Macbeth zum ersten Mal konsequent und kompromisslos. Interessant ist, dass Verdis Pariser Fassung des Macbeth ins Jahr der Uraufführung
von Wagners „Tristan und Isolde“ fällt. Die Belcanto Oper ist zwar bereits voll von
Gespenstern und Schlafwandlern, vor allem Schlafwandlerinnen. Aber da ist die
Sache noch harmlos. Denken Sie an die Somnambula von Bellini. In der Literatur
spricht man von Schauerromantik, „Frankenstein“, „Dracula“ und zum Teil auch
die Romane von E.T.A. Hoffmann sind Exponenten der Schauerromantik.
Verdi gelingt es nun hier fast abschliessend, die schreckliche, pathologische und
tödliche Innenwelt des Menschen auf die Bühne zu bringen. Die ganze Oper findet
in gewissem Sinne im Innern Macbeths statt. Die äussere Handlung ist minimal,
es sind die Innenwelten, die auf der Bühne sichtbar und hörbar werden. Macbeth
öffnet die Innenwelt krankhaft machtgieriger Menschen. Die Hexen, die Geister
von Ermordeten, die erscheinen, sind Visionen und Projektionen des machtkranken
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Macbeth, eindrücklich vor allem in der Bankettszene, in der Macbeth vom Geist
Banquos heimgesucht wird, den er hat ermorden lassen. Am eindrücklichsten aber
in der Szene, in welcher die Hexen Macbeth die Zukunft in einer langen Reihe von
schottischen Königen zeigen. Wir können auch Lady Macbeth als Projektion der
Machtgelüste Macbeths deuten.
Die Nachtseite der Romantik und die Öffnung der Innenwelt auf der Bühne wird
zum Gegenstand der Oper. Sie wird die Oper des 20. Jahrhunderts weitgehend
bestimmen. Im „Otello“, der zweitletzten Oper von Verdi ist das absolute Böse in
der Figur des Jago wieder da, wird aber nicht mehr überwunden, Jago zerstört
Othello. Denken Sie auch an den „Freischütz“, vor allem aber dann an Opern wie
„Wozzeck“ von Alban Berg oder an Schönbergs „Glückliche Hand“ und „Die Erwartung“, in der die Nacht nur noch traumatische Angst auslöst. Sigmund Freud wird
am Ende des 19. Jahrhunderts die Nachtseiten des Menschen wissenschaftlich –
medizinisch zu erforschen beginnen.
Verdi ist ein gewaltiger Neuerer der italienischen Oper. Macbeth gehört noch zum
frühen Verdi. Er selbst hat die Zeit seiner Entwicklung „anni di galera“ – „Galeerenjahre“ genannt. Die Zeit der Entwicklung ist aber bei Verdi weit weniger eine
notwendige Ausformung der eigenen Fähigkeiten und des eigenen Könnens. Die
Entwicklung ist vielmehr ein Kampf gegen die Operntradition oder Opernkonvention seiner Zeit. Verdi muss sich weniger entwickeln, als dass er seine Sicht der
Oper gegen die Konvention verteidigen muss, die seinem Genie nicht freien Lauf
lassen will. Und deswegen steht der Macbeth auch wieder stark in der Tradition
seiner Zeit, auch wenn er ein Wendepunkt ist. Verdi hat ihn für Florenz geschrieben.
Er hatte drei Stoffe zur Auswahl und in Planung. Schillers „Räuber“, Grillparzers
Stück „Die Ahnfrau“ – ein schreckliches Schauerstück – und eben den Macbeth. Er
musste sich für den Macbeth entscheiden, da die zur Verfügung stehende Operntruppe keinen guten Tenor, als Primouomo besass. Im Macbeth konnte er die
Hauptrolle einem Bariton zuschreiben. Sie sehen, auch bei Verdi spielt das Umfeld,
die mögliche Besetzung immer noch eine konstituierende Rolle. Verdi wird später
übrigens immer wieder den Bariton zum Träger der Haupthandlung machen. `
Es ist keine Musik zum Schwelgen heute Abend, meine Damen und Herren, wie sie
Ihnen bei der letzten grossen Oper hier im Haus hat angekündigt werden können.
Sie werden mit menschlichen Abgründen konfrontiert werden. Aber die Musik ist
deswegen nicht minder grossartig.
Ich wünsche Ihnen einen guten Abend!
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Giuseppe Verdi: Macbeth
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26. März 2011
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