XERXES - Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden

Werbung
Hochschule für Musik
Carl Maria von Weber Dresden
XERXES
Georg Friedrich
Händel
Georg Friedrich Händel
Xerxes
Oper in drei Akten nach einem Libretto von Niccolò Minato und Silvio Stampiglia.
Deutsche Übersetzung von Eberhard Schmidt
Koproduktion der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden,
des Staatsschauspiels Dresden und der Hochschule für Bildende Künste Dresden
im Rahmen der Feierlichkeiten des 250-jährigen Bestehens der HfBK Dresden
Musikalische Leitung Franz Brochhagen
Inszenierung Jasmin Solfaghari
Bühne/Kostüme Maira Bieler1 und Romina Kaap1
Regieassistenz
Studienleitung
Choreinstudierung
Chorassistenz
Choreographische Mitarbeit
Inspizienz
Susanne Hardt
Alexandre Balzamo
Elena Beer
Sunyoung Jin
Katja Erfurth
Tobias Mäthger, Michael Käppler
Bühnenbildassistenz Ariane Stamatescu1
Kostümassistenz Mara Scheibinger1
Musikalische Assistenz Alexandre Balzamo, Andrea Barizza, Beatrice Carraro,
Wolfgang Drescher, Ioanna Ismyridi, Yosuke Osada
Mentor: Prof. Franz Brochhagen
Theatermaler Friederike Brück, Frederike Deharde, Laura Heider,
Anika Hilbert, Kathrin Kobinger, Theresa Thomann,
alle Studiengang Theatermalerei der HfBK,
Mentoren: Prof. Michael Münch, Tom Böhm
Theaterplastik Ruth Adams, Alina Illgen, Hanna Kriegleder, Kathrin
Müller, Martin Rudelt, Liesbeth-Marie Rülke
alle Studiengang Theaterplastik der HfBK, Mentor: Prof. Ulrich Eißner
Maske Julika Leiendecker, Sarah Poser, Carolina Schorr,
Annika Titzmann, Lydia Zänisch
alle Studiengang Maskenbild der HfBK, Mentorin: Kerstin Scholz
Herstellung der Kostüme Janina Fischer, Sebastian Helminger, Anne-Sophie
Lohmann, Anna Lutz, Mareike Müller, Gunda
Noseleit, Nora Scheve, Olga Schulz
alle Studiengang Kostümgestaltung der HfBK
Mentorin: Prof. Gabriele Schoß-Jansen
Kostümatelier MEDINA/Beate Ficker
Herstellung der Dekoration Werkstätten der Sächsischen Staatsoper Dresden/
Staatsschauspiel Dresden
2
Gesamtleitung Technik
Produktionsleitung
Theatermeister
Beleuchtungsmeister/Licht
Beleuchtung
Ton
Requisite
Pyrotechnik
Konstruktion
Bodo Garske2
Magnus Freudling2
Jens Kelm2
Rolf Pazek 2
Carola Dregely2
Uwe Lahmann2, Ulrich Berg2
Heike Jordan2, Heike Böhme2, Ramon Stage2
Ramon Stage2
Daniel Wolski2
Aufführungsrechte Bärenreiter-Verlag, Kassel
Besetzung
Xerxes, König von Persien
Romilda, Tochter des Ariodates
Atalanta, Tochter des Ariodates
Amastris, Braut des Xerxes
Arsamenes, Bruder des Xerxes
Ariodates, Feldhauptmann des Xerxes
Elviro, Diener des Arsamenes
Patricia Osei-Kofi, Eva Schuster a. G.3
Maria König, Natalia Rubis4
Marie Hänsel, Teresa Suschke
Leandra Johne, Monika Zens
Eszter Forgò, Sungwhan Sa
Pawel Kolodziej4, Felix Schwandtke
Philipp Schreyer, Carl Thiemt
Doppelbesetzung in alphabetischer Reihenfolge
Bitte beachten Sie die Tagesaushänge im Theaterfoyer.
Continuo Alexandre Balzamo/Yosuke Osada Cembalo
Tabea Brode Theorbe/Barockgitarre
Sophia Dimitrow/Lisa Rößeler Violoncello
3
4 Erasmus-Studierende
2 Staatsschauspiel Dresden
1 HfBK Dresden
Pause nach ca. 90 Minuten
3 Hochschule für Musik und Theater Leipzig
Chor der Studienrichtung Gesang
Hochschulsinfonieorchester
Handlung
1. Akt
Der Perserkönig Xerxes hat seine Verlobte und Königstochter Amastris verlassen und
bereitet sich auf seinen Feldzug gegen die Griechen vor. Bevor diese Aktion durchgeführt
wird, sucht Xerxes Ruhe in der Natur und findet sie bei einer Platane (im alten Orient ein
heiliger Baum).
Die Stimme von Romilda, Tochter seines Feldherrn Ariodates, erweckt seine Aufmerksamkeit und Leidenschaft, ohne dass er auch nur ahnt, dass sie die Geliebte seines Bruders
Arsamenes ist. Dieser ist mit seinem Diener Elviro angereist und bereits auf der Suche nach
Romilda, streitet jedoch dem Bruder gegenüber ab, sie auch nur zu kennen. Arsamenes
Lüge fliegt auf, Xerxes verjagt seinen Bruder und macht der Schönen selbst einen Heiratsantrag. Romilda bleibt aber den Avancen des Königs gegenüber standhaft.
Atalanta taucht auf. Sie ist Romildas unliebsame Schwester, die ihr Arsamenes gezielt
ausspannen möchte. Unterdessen hat sich Xerxesʼ eigentliche Verlobte Amastris als Soldat
getarnt, um Xerxes nah zu sein.
Soldatenchor. Dem verdienstvollen Feldherren Ariodates verspricht Xerxes einen Mann „aus
dem Stamm wie Xerxes“ als Gatten seiner Tochter Romilda. Ariodates fühlt sich geehrt.
Arsamenes möchte den Kontakt zu Romilda nicht verlieren und gibt Elviro den Auftrag,
einen Brief an sie zu überbringen. Atalanta entschließt sich dazu, mit ihren Verführungskünsten ab jetzt in die Vollen zu gehen.
2. Akt
Elviro verkauft vermeintlich Blumen, in der Hoffnung, so unerkannt Romilda den Brief
zuzustecken. Gegenüber Amastris (Soldat) verplappert er sich und berichtet von Xerxesʼ
Heiratsplänen mit Romilda und ihrer Verbindung zu Arsamenes.
Atalanta schafft es, Elviro das Briefchen abzuluchsen, im vorgetäuschten Versprechen, es an
ihre Schwester weiterzugeben. Nun beginnt Atalantas Intrige: vor Xerxes behauptet sie, der
Brief sei an sie selbst. Xerxes spielt das Spiel mit und konfrontiert Romilda mit der vermeintlichen Untreue von Arsamenes. Romilda hält dennoch treu zu ihrem Geliebten.
Zweiter Soldatenchor. Unterdessen hat der König eine Brücke über die Meerenge bauen
lassen, die Asien mit Europa verbindet (Hellespont) und begutachtet das Ereignis mit seiner
Truppe. Dort trifft er auf seinen Bruder Arsamenes. Xerxes gibt sich zahm, da er ja annimmt,
sein Bruder liebe Atalanta. Dieser Irrtum klärt sich auf.
Elviro hat seinen Herrn verloren, versteht die Welt nicht mehr und entdeckt seine Liebe für
den Weingott Bacchus.
Xerxes will nun rasch Romilda heiraten, das vereitelt Amastris, die sie vor dem König warnt.
Romilda rettet den vermeintlichen Soldaten vor Xerxesʼ Strafe und sieht die Liebe als
treibende Kraft in ihrem Leben.
4
3. Akt
Arsamenes und Romilda konfrontieren Atalanta mit ihrer Lüge und versöhnen sich.
Feldherr Ariodates geht davon aus, dass Xerxes Arsamenes für Romilda ausgesucht hat, da
ein König nur eine Frau aus königlichem Geschlecht heiraten kann, und ist mit der Hochzeit
einverstanden.
Xerxes will nun die Heirat mit Romilda endgültig erzwingen. Sie gesteht dem König einen
Kuss mit Arsamenes, woraufhin Xerxes seinen Bruder töten lassen will. Nun ist Romilda
bereit eher Xerxes zu heiraten, als den Tod ihres Geliebten in Kauf zu nehmen.
Amastris quält sich in ihrer Abhängigkeit von Xerxes. Sie will um ihre Liebe kämpfen und
verfasst ein Schreiben an den König.
Priesterchor. Ariodates vermählt Romilda und Arsamenes ohne das Wissen des Königs.
Xerxes erhält einen Brief, den er von Ariodates vorlesen lässt, da er annimmt, er sei von
Romilda. Es stellt sich jedoch Amastris als Verfasserin heraus. Xerxes ist zutiefst verstört.
Amastris gibt sich zu erkennen und droht, Xerxes und sich selbst zu töten. Der König bereut,
Amastris erzwingt Xerxesʼ Zuneigung, Romilda und Arsamenes sind glücklich, Elviro versteht
die Welt nicht mehr und Atalanta will sich einen neuen Mann suchen – woanders.
Zusammenfassung: Jasmin Solfaghari
5
Georg Friedrich Händel – Bilder seiner Zeit
Abb. 1: Georg Friedrich Händel
Georg Friedrich Händel (geb. 1685 in Halle, gest. 1759 in London) wurde als Sohn eines
bedeutenden Hofchirurgen geboren. Seine frühere Zuneigung zur Musik soll anfänglich
von seinem Vater nicht gebilligt worden sein, der für ihn wohl eine juristische Laufbahn
vorgesehen hatte. Dies habe sich nach einem schicksalhaften Besuch beim Herzog von
Sachsen-Weißenfels geändert. Nachdem er Händels Orgelspiel bewunderte, konnte der
Herzog die Bedenken des Vaters teilweise zerstreuen. Händels erste musikalische Ausbildung fand in Halle statt. Sein Lehrer Friedrich Wilhelm Zachow bereitete ihn hauptsächlich
auf eine kirchenmusikalische Laufbahn vor. Die Oper lernte Händel zuerst von dem vier
Jahre älteren Georg Philipp Telemann kennen, der im nahen Leipzig sein Jurastudium
absolvierte und ab 1703 in Hamburg, wo er eine wechselhafte Bekanntschaft mit Johann
Mattheson machte (Mattheson behauptet einerseits Händel die Tür zur Oper geöffnet zu
haben und erzählt andererseits, dass er Händel beinah im Duell erschlagen hätte). 1706
reiste Händel vier Jahre durch Italien, wo er an den wichtigen Höfen Station machte und in
Rom u. a. dem großen italienischen Meister Arcangelo Corelli begegnete. 1710 reiste Händel
nach London, wo er sich vor allem dem Ausbau der Opera seria (dramma per musica) und
später der Komposition von Oratorien widmete. Während Händel für seine großen
Orchesterwerke (etwa Music for the Royal Fireworks oder Water Music) und vor allem
für sein Oratorium The Messiah im allgemeinen Bewusstsein präsent ist, rückt langsam
aber stetig seine große Leidenschaft wieder in den Fokus des gegenwärtigen musikalischen
Repertoires – seine Opern.
6
Abb. 2: London: The South East Prospect of Westminster Bridge (Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto, 1747)
London war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine der bedeutendsten Metropolen
der Welt. Die englische Marine dominierte weite Strecken der Weltmeere, und die dadurch
gesicherten Handelsrouten erlaubten einen regen Handel mit seinen Handelspartnern und
Kolonien, was zu immer größerem Reichtum des Inselvolkes beitrug. Im Zuge dieses Wohlstandes entstand eine florierende Kulturlandschaft: Schon im ausgehenden 17. Jahrhundert
erscheinen John Lockes A Treatise on Human Understanding und Second Treatise on Civil
Gouvernment (beides 1690), die als Vorreiter der Aufklärung angesehen werden, 1719
erscheint Daniel Defoes Robinson Crusoe, der als erster realistischer Roman der Weltliteratur gilt, 1728 wird John Gays und Johann Christoph Pepuschs ballad opera The Beggars
Opera uraufgeführt, und 1739 wird der Grundstein zur neuen Westminster Bridge nach
Plänen von Charles Labelye gelegt. In dieses lebendige und inspirierende Umfeld tauchte
der damals 25-jährige Händel im Jahre 1710 ein. Schon im Februar 1711 feierte er mit
Rinaldo im Queen’s Theatre (später King’s Theatre) seine erste erfolgreiche Londoner
Opernerstaufführung.
7
Abb. 3: The King‘s Theatre (William Capon, 1783)
Ursprünglich im Jahre 1705 als Queen’s Theatre eröffnet, wurde das Theater am Haymarket
in London im Jahre 1714 bei der Thronbesteigung Georg I. in The King’s Theatre umbenannt.
Hier begann Händels Karriere als Opernkomponist in London mit der Uraufführung seiner
Oper Rinaldo. Zwischen 1719 und 1728 agierte Händel im King’s Theatre als musikalischer
Direktor der Royal Academy of Music (auch als erste Opernakademie bekannt) und gründete
nach deren Auflösung eine zweite, die für weitere fünf Jahre das King’s Theatre mietete.
1733 entstand ein zweites konkurrierendes Opernunternehmen, die Adelsoper, die zuerst
im Lincoln Fields Inn Theatre spielte (mit dem berühmten Sänger-Kastraten Farinelli als
Aushängeschild) und ab 1734 das King‘s Theatre übernahm. Händel zog daraufhin mit
seiner nun dritten Opernakademie in das Covent Garden Theatre um. Nach Zusammenbruch
der beiden Opernunternehmen kehrte Händel erst 1738 mit den Uraufführungen seiner
Opern Faramondo und Xerxes in das King’s Theatre zurück.
8
Abb. 4: Kurpark Burtscheid (F. J. Jansen, 1796)
Nach einem Zusammenbruch im April des Jahres 1737, der als „Paraletick Disorder“
diagnostiziert wurde, musste sich Händel für sechs Wochen einem Kuraufenthalt in
Burtscheid bei Aachen unterziehen. Die genauen Ursachen für diesen Zusammenbruch sind
in der medizinischen Forschung nicht restlos geklärt, die Symptome sollen allerdings
ähnlich wie ein Schlaganfall gewesen sein. Unmittelbar nach seiner Genesung begann er
die Arbeit an den Opern Faramondo und Xerxes.
9
Abb. 5: Die Auspeitschung des Meeres
(Darstellung um 1909)
Xerxes I., König von Persien (519–465 v. Chr.), regierte das persische Reich von 486–465 v.
Chr. Einer von Herodot überlieferten Anekdote zur Folge habe Xerxes tatsächlich das Meer
auspeitschen lassen, nachdem ein Sturm eine von ihm erbaute Brücke über die Dardanellen
zerstört hat. Herodot berichtet auch über eine Platane, die vom König verehrt wurde, was
später als Beispiel für königlichen Frevel angeführt worden ist. Zudem berichtet Herodot
von Xerxes‘ Zuneigung zur Frau seines Bruders. Ansonsten dürften die Hofintrigen der Oper
Xerxes frei erfunden sein.
10
Abb. 6: Autograph der Ouvertüre zu „Xerxes“
(Quelle: SLUB Dresden)
Händel komponierte die Oper Xerxes zwischen dem 26. Dezember 1737 und dem 6. Februar
1738. Xerxes gehört somit zu seinen letzten Opern und zeugt von der kompositorischen
Reife des damals schon in ganz Europa berühmten Komponisten. Das Libretto basiert auf
Vorlagen von Nicolò Minato und Silvio Stampiglia. Eine musikalische Vorlage Giovanni
Battista Bononcinis diente Händel als Orientierung (Bononcini setzte Stampiglias Libretto
1694 in Musik). Nicht nur die überraschende erste Arie des Xerxes („Ombra mai fù“) gilt als
dramatische Erneuerung in der Opernkomposition, sondern auch der weitgehende Verzicht
auf Da-capo-Formen bei den Arien (die Wiederaufnahme des ersten Teils nach einem kontrastierenden zweiten Teil) und der schnelle Wechsel zwischen kurzen Rezitativen und Arien
bzw. Ariosi. Somit gewinnt der Verlauf der Oper an „Tempo“, und es entstehen plastische
Übergänge zwischen dem Instrumentalen, dem Rezitativischen und den zum Teil auch
handlungstragenden Arien. Seine empfindsame Handhabung der Affekte und tonkünstlerisch vielschichtige Charakterisierungen ebnen den Weg zu den Opern Glucks und Mozarts.
11
Abb. 7: Gaetano Majorano, genannt „Caffarelli“ (1710–1783)
Gaetano Majorano war einer der berühmtesten Kastraten des 18. Jahrhunderts. In Bitonto
1710 geboren, besuchte er mit zehn Jahren das Konservatorium in Neapel. Im Rom des
Jahres 1726 begann seine brillante Karriere als Opernsänger; Händel engagierte ihn für die
Aufführungen von Xerxes und Faramondo im Jahre 1738. Der Überlieferung nach soll es
zu heftigen Streitigkeiten zwischen dem großen italienischen Star-Sänger und dem „deutschen“ Komponisten gekommen sein, unter anderem weil Caffarelli mit der Eingangsarie
von Xerxes nicht einverstanden war. Nach Meinung Caffarellis wäre sein erster Auftritt viel
zu früh im Drama platziert und würde wegen seiner schlichten Gesangsführung seine
sängerischen Künste nicht genügend zur Geltung bringen. Die ersten Aufführungen der
Oper Xerxes dürfte mit ihrem bescheidenen Erfolg Caffarelli zuerst recht gegeben haben –
die Arie „Ombra mai fu“ avancierte aber im Laufe der Musikgeschichte zu einer der berühmtesten Arien aller Zeiten.
Bilder zusammengestellt von John Leigh
12
Im Schatten der Platane – Ein Interview mit der Regisseurin Jasmin
Solfaghari zu Händels Oper „Xerxes“
Der folgende Beitrag ist ein Ausschnitt aus einem Werkstattgespräch, das im Rahmen der
Ringvorlesung „Händels Oper Xerxes“ an der Hochschule für Musik im Januar 2014 stattfand. Die Gesprächspartnerin Jasmin Solfaghari wird mit den Initialen JS, der Moderator
John Leigh mit JL abgekürzt.
JL: Wie läuft eigentlich eine Opernproduktion ab? Wer bringt z. B. den Vorschlag für eine
Produktion in die Diskussion ein, was sind dann die Arbeitsschritte? Wie verläuft die
Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Institutionen (Regie, musikalische
Leitung, Bühnenbild/Kostüme …)?
JS: Größtenteils wird man als freier Regisseur direkt angefragt, ob man dieses oder jenes
Stück machen möchte. Wenn der Auftraggeber selbst noch schwankt, kann man Vorschläge
machen. Das ist natürlich als festangestellter Regisseur an einem Theater, z. B. als Oberspielleiter anders.
Wir Regisseure schlagen meist das Ausstattungsteam vor, das Haus meist den Dirigenten
und dann beginnt die Stückanalyse und die gemeinsame Konzeptionsfindung. Das findet
normalerweise mindestens ein Jahr vor dem Premierentermin statt. Es folgen gemeinsame
Meetings, das Sinnieren jedes Einzelnen, bis man alle Ideen in ein Konzept zusammenfügt.
Circa ein halbes Jahr vor Probenbeginn gibt es eine Bauprobe, bei der man das Bühnenbild
aus Versatzstücken schon einmal in der Originalproportion auf der Bühne nach Vorbild des
Bühnenbildmodells aufbaut, das spart im Ernstfall viel Geld. Anschließend gehen die
Kostümentwürfe in die Werkstätten. Das alles zusammen (dazu mit Maske und Licht) sehen
wir erst bei der Klavierhauptprobe, meist wenige Tage vor der Premiere. Nicht gerade viel
Zeit für so viele Parameter einer Aufführung, und nicht selten für eine Überraschung gut!
JL: Wie würden Sie Ihre Regieästhetik charakterisieren?
JS: Das lässt sich über einen selbst schwer beantworten. Vielleicht eines: mir ist nicht daran
gelegen, jedem Stück dieselbe optische Ästhetik zu verpassen. Jede Musik, Epoche, Struktur
des Werks braucht nach meiner Meinung eine individuelle Findung. Von daher versuche ich
den Besonderheiten des Stücks nachzugehen und dem Publikum eine Umsetzung dessen
anzubieten. Aus diesem Grund habe ich auch immer mit verschiedenen Ausstattern zusammen gearbeitet.
JL: Wie sehen Sie im Allgemeinen und speziell bei der Oper Xerxes die Beziehung zwischen Text, Bild, Musik und Dramaturgie in einer Opernproduktion? Gibt es bei Ihnen eine
besondere Gewichtung, oder für Ihre Regieästhetik besondere Verhältnisse?
JS: Den Ausstatterinnen Romina Kaap und Maira Bieler und mir gefiel die Auseinandersetzung mit persischen Miniaturen mit ihren Details und die mögliche Übertragung auf
einzelne Bildelemente an unserem Abend. Das Stück fokussiert ja sehr die zwischen13
menschliche Komponente. Ein Herrscher, der gegen die Griechen gewinnen will, aber
zugleich oder am besten vorher noch Romildas Herz erobern möchte. Die Verwicklungen,
Lügen und Verwechslungen sind teils komisch, teils poetisch angelegt, außerdem tritt
Militär auf.
Wir brauchten bei der Bildfindung einen Grundraum, der die Massivität einer Festung und
zugleich „luftige“ Elemente ausstrahlt, die das Spielerische im Stück räumlich ermöglichen.
Muster und Farben haben auch eine große Wichtigkeit für uns, um eine persische
Atmosphäre zaubern zu können.
JL: Wie viel von einer Charakterdarstellung steht bei Ihnen vor dem Probenanfang fest?
Ändert sich diese Vorstellung nach der Probenarbeit mit den Sängern/Schauspielern? Gibt
es hier Unterschiede bei einer Hochschulproduktion – vielleicht etwas wie ein „pädagogischer Auftrag“?
JS: Durch das Stück sind ja viele Charakterzüge der Rollen vorgezeichnet und die Musik
bekräftigt sie ebenfalls oder zeigt eine eigene Haltung dazu. Diese Voraussetzungen vermischen sich mit meiner eigenen Interpretation des Werks. Nach dem Vorsingen weiß man,
wer die Rollen auch in der Doppelbesetzung verkörpern wird und das habe ich bei der
Konzeption der Figuren auch immer ein wenig im Kopf. Wenn die szenischen Proben beginnen, steht der spannende Prozess an, diese Vorstellungen in Realität zu verwandeln.
Dabei gibt es meist viele Überraschungen, weil man sich bei der Arbeit näher kennenlernt.
Natürlich ist man als Regisseur zwar gefordert seinen Überzeugungen zu folgen, aber den
Sänger mit seinen Möglichkeiten und Fragen auch ernst zu nehmen. In unserem Fall Xerxes
kenne ich zahlreiche Studierende bereits aus meinem Jahr des dramatischen Unterrichts,
was die Sache enorm erleichtert. Natürlich muss es an einer Hochschule einen pädagogischen Auftrag geben, allerdings weniger aus interpretatorischer, sondern mehr aus handwerklicher Sicht. Bei solch einer Produktion gilt es für die jungen Sänger das szenische
Handwerk zu erlernen und/oder zu verfeinern, Nerven werden anders belastet als bei
einem Szenenabend im kleinen Raum und die Kombination aus Regie, Kostüm, Maske,
Orchester, Licht, Dirigat, Publikum und einer abendfüllenden Rolle fordert den jungen
Sängern viel ab. Da ist viel Unterstützung gefragt. Meine Vorgehensweise bei den Proben
ist allerdings in der Hochschule sowie an den Theatern draußen die gleiche.
JL: In einer von der Romantik beherrschten Opernwelt (mit Ausnahme der Opern Mozarts)
ist die Aufführung einer barocken Oper immer noch etwas besonderes. Stellt die Barockoper
im Allgemeinen und die von Händel insbesondere andere Herausforderungen an die Regie
als neuere Opern?
JS: Das ist sicher richtig. Gerade wurde ja wieder einmal sehr erfolgreich zum Beispiel bei
den Händelfestspielen in Karlsruhe mit barocker Gestik gearbeitet, wie andernorts auch. Mir
persönlich fehlt – bei allem Charme dieser Aufführungen – die heutige Erkennbarkeit der
Charaktere. Bei einer realistischeren Spielweise ist der junge Sänger darstellerisch etwas
„näher dran“ und nicht sehr in den Bewegungsmustern eingeengt. In unserer Aufführung
14
gibt es keine Verlegung in eine bestimmte Zeit, so dass wir eine eigene Theaterrealität
schaffen, in der wir die Konflikte darstellen.
JL: Xerxes finde ich für eine Opera seria (Dramma per musica) etwas besonderes. Nicht nur
Elviros und zu einem gewissen Grad auch Atalantas Rollen sind eher im komischen Bereich
angesiedelt, sondern es wurde auch in der Vergangenheit vieles vom dramatischen Ablauf
insgesamt in einer Grauzone zwischen Komödie und ernstem Drama inszeniert. Wie „ernst“
und wie „komisch“ ist für Sie Händels Oper Xerxes?
JS: Die Oper Xerxes ist immer da ernst, wo es um ehrliche Gefühle geht. Bei unserem
Hauptdarsteller wird aus Ernst manchmal Komik, wenn er cholerische Anfälle bekommt,
absurde Forderungen stellt, despotisch ohne Rücksicht auf Verluste agiert. Er ist seinen
Emotionen komplett ausgeliefert und hat sich nicht wirklich immer im Griff. Insofern
verstehe ich das Bild der Grauzone sehr gut. Seine Unberechenbarkeit macht ihn auch
gefährlich.
Die komischen Figuren Elviro und Atalanta sind klar gezeichnet. Elviro ist mental einfach
gestrickt, der gute Mensch und macht uns deshalb Freude. Atalanta intrigiert und strotzt vor
Selbstbewusstsein und wirkt dadurch überzogen. Beide können dennoch viele charakterliche Farben entwickeln. Die Vielfalt der Begegnungen, die auch jederzeit kippen können
(der als Soldat getarnte Amastris) lassen immer Tragik und Komik fast gleichermaßen zu
und sind auszuloten.
JL: Von unserem Standpunkt aus gesehen bietet Xerxes eine Verflechtung kultureller Momente: Die Oper spielt in Persien etwa im Jahr 500 vor Christus, und handelt von der
historischen Person Xerxes I., König von Persien. Die Handlung wird mit ihrer typischen
„Komödie der Irrungen“ aber der europäischen barocken Opernpraxis angepasst. Diese
Anpassung an die damals gängige Praxis erfolgt aber so, dass bei der Figur des Königs
wenig Heldenhaftes übrigbleibt (im Sinne einer Helden-Saga). Schließlich geht es in Xerxes
auch um die ewige Frage von Mann und Frau, Macht und Liebe. Wie gehen Sie als Regisseurin mit diesen unterschiedlichen Kontexten um? Inwieweit bleibt Xerxes für Sie historisch
und inwieweit gibt es dort für Sie auch Momente der Aktualisierung?
JS: Zunächst einmal – ob historischer Held oder nicht – ist Xerxes zwar ein mächtiger
Herrscher, wir erleben ihn jedoch als ganz normalen Mann, der die schöne Romilda einfach
haben will, ungeachtet der Tatsache, dass er mit der Königstochter Amastris bereits verbunden ist. Romilda ist die Geliebte seines Bruders Arsamenes, was Xerxes vor Beginn
der Oper noch nicht weiß. Es handelt sich hier oft um ein psychologisches Kammerspiel,
deshalb steht bei mir die historische Figur tatsächlich nicht wirklich im Vordergrund. Xerxesʼ
sprunghafte Emotionen müssen wir fassen und widerspiegeln. Die Tatsache, dass Männer
mit Geld und Einfluss gewohnt sind, schöne Frauen leichter zu bekommen als andere, ist ein
internationales und epochenübergreifendes Phänomen, ob man das gut findet oder nicht.
Romilda ist im Stück – Gott sei Dank – eine Frau mit Rückgrat, die ihre konträre Meinung
dem Herrscher gegenüber frei äußert – auch wenn sie sich im 3. Akt fast zur Hochzeit mit
15
ihm bereit erklärt, um Arsamenesʼ Leben zu retten. Das macht das Ganze für mich natürlich
spannend. Für mich ist Persien als Spielort dennoch sehr wichtig, da mich persönlich durch
meine ersten sechs Lebensjahre mit dem Iran sehr viel verbindet. Ich empfinde an der Figur
Xerxes als sehr „persisch“, wie er sich gegenüber Romilda öffnet und zu seinen Emotionen
steht. Und natürlich lernt der Held in unserem Stück, dass seine Zeit, sich als solcher künstlich aufzuführen, vielleicht auch ein Stück weit vorbei ist.
JL: Es wird viel gesprochen und geschrieben über den Charakter von Xerxes und Romilda.
Wie sehen Sie eigentlich den Charakter Arsemenes? Mir scheint seine Rolle besonders
spannend zu sein, denn, erdrückt von seiner Stelle als zweiter Mann im Staat und allen
Umständen, die hieraus resultieren, agiert er zwischen den Höhen der Liebe zu Romilda
und den Abgründen des Exils.
JS: Schauen Sie, die Frage ist ja auch: Was findet Romilda an Arsamenes? Die Gefahr, dass
Arsamenes als männliche Figur und eigentlich Kontrahent zu sehr in die Passivität abrutscht, ist groß. Vielleicht ist er einfach der Diplomat, der sich im Unterschied zu seinem
Bruder nicht wie ein verwöhnter Königssohn aufführt? Vielleicht ist Romildas Wahl deshalb
eindeutig auf ihn gefallen? Ist er ihr nach dem Erlebnis mit der Leidenschaft von Xerxes
fremder geworden? Wir machen uns auf den Weg, um das alles herauszufinden.
JL: Ich bedanke mich für das Gespräch.
Jasmin Solfaghari ist Regisseurin für die Produktion von Händels „Xerxes“ an der Hochschule für Musik Carl Maria
von Weber Dresden. Im Studienjahr 2012/13 hatte sie einen Lehrauftrag für Dramatischen Unterricht in der
Opernklasse der Hochschule. Zu ihren zahlreichen und vielfältigen Opernproduktionen (die von Claudio Monteverdi
bis Hans Werner Henze reichen) zählen eine Inszenierung von Händels „Xerxes“ (Volkstheater Rostock, 1992) und
seine „Alcina“ (Hochschule für Musik und Theater Leipzig, 2006).
16
Was ist „Historisch informierte Aufführungspraxis“?
Franz Brochhagen
Seit Beginn des Wintersemesters 2013/14 erarbeiten Studierende der Dirigier- und Korrepetitionsklasse mit den Solistinnen und Solisten unserer nächsten Hochschulproduktion die
Gesangspartien im Rahmen des Gruppenunterrichtes „Musikalische Einstudierung Projekte“. Nähere Absprachen mit der Regisseurin Jasmin Solfaghari, beziehen sich zunächst
nur auf die Strichfassung und auf textliche Anpassungen in den deutsch gesungenen
Rezitativen. Welche Probleme müssen während der musikalischen Probenphase – neben
dem genauen Einstudieren des Notentextes – gelöst werden? Welche künstlerischen Entscheidungen müssen getroffen werden?
Stets sieht man sich bei der Erarbeitung von Alter Musik mit den übermächtigen Vorbildern
der letzten Jahrzehnte konfrontiert: Interpreten wie die des Concentus Musicus Wien unter
Nikolaus Harnoncourt haben seit den 60er Jahren Maßstäbe in der Interpretation des vorromantischen Repertoires gesetzt, die in ihrer nachhaltigen Wirkung auf eine ganze Generation von Musikern nicht überschätzt werden können. Wir verdanken diesen Künstlern, die
sich wissenschaftlich mit historischen Gegebenheiten, Instrumenten und Spielgewohnheiten beschäftigten, die kreative Einbeziehung musikologischer Erkenntnisse auf ihr eigenes
Spiel. Man muss diesen Vorgang als Glücksfall der Interpretationsgeschichte betrachten.
In der Musikkritik wird nun seit geraumer Zeit der Begriff der „Historisch informierten Aufführungspraxis“ verwendet. Zumeist versucht man Aufführungen von herkömmlichen
Orchestern unter der Leitung engagierter Kapellmeister, die sich nicht nur auf das Barockrepertoire konzentrieren können oder wollen, mit dieser Formel zu beschreiben – meist mit
einem leicht despektierlichen Unterton, will man ihre Ergebnisse doch von „korrekter“
historischer Interpretation unterscheiden.
Bei einer neuerlichen Einstudierung einer Händel-Oper sollte man jedoch nicht vergessen,
dass Musiker der Vergangenheit zu allen Zeiten eigene Wege zu Händels Musik gefunden
haben. Schon kurz nach seinem Tod fanden in England Aufführungen seiner Oratorien mit
hunderten Mitwirkenden statt, die sicher nicht das enge Kriterium der „historischen Aufführungspraxis“ erfüllten. Mozart erwies dem Meister durch Bearbeitungen des Messias
und des Alexanderfests seine Reverenz, und in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts
ging die Wiederentdeckung des Händelschen Opernschaffens durch Oskar Hagen im Rahmen der Göttinger Händelfestspiele mit drastischen Eingriffen in die Substanz der Werke
einher. In den 1960er Jahren wurden bei den Hallischen Händelfestspielen die Arien auf
deutsch durchtextiert, d. h. der Reprisenteil des da capos wurde mit einem neuen Text
versehen, um – ganz im Sinne des Felsensteinschen Musiktheaters – dramatische Handlungsverläufe zu erzeugen.
Und heute? Die Versuche zur Freilegung des Originalzustandes Händelscher Opern erfassen
nun auch die Bühne: In den letzten Jahrzehnten wurde eine Anzahl bemerkenswerter historisierender Inszenierungen realisiert, etwa von der Choreografin und Tänzerin Sigrid t’Hooft.
17
Im musikalischen Bereich scheint die Notwendigkeit, die Werke des Barock mit allseits greifbaren Originalinstrumenten aufzuführen, übermächtig. Wir staunen über die Flexibilität
dieser Instrumente, die Transparenz des Gesamtklangs und besonders über die kammermusikalische Freiheit des Musizierens und die elementare Spielfreude eingespielter Barockensembles; eine Spielfreude, der wir heute sonst wohl nur noch in Jazzensembles begegnen.
Trotzdem wollen wir in unserer Produktion einen Weg finden, Händels Musik lebendig und
sprechend auch auf unseren modernen Instrumenten und mit postbarocker Gesangstechnik darzubieten, einen Weg, der selbstverständlich das Wissen um zentrale Grundsätze
barocken Musizierens voraussetzt. Gleichzeitig aber soll das Ergebnis auch unserer heutigen Sicht auf das Musiktheater entsprechen und nicht zuletzt uns selbst als Ausführende
zufriedenstellen.
„O voi che penate“ – Romildas rätselhaftes Auftrittslied
In unserer Hochschulaufführung werden wir nicht so weit gehen, in die Substanz des Werkes
so stark einzugreifen wie in den genannten Beispielen. Allerdings erwarten wir umgekehrt
von einer zeitgemäßen Interpretation ein genaues Wissen um das gesungene Wort – auch
und gerade im Italienischen – und dessen Reflexion in der musikalischen Interpretation.
Bsp. 1: Arioso der Romilda, Einleitung
Instrumentation, Metrum, Tonart, Harmonik, „pizzicato“ – Bässe, Menuettcharakter: all dies
deutet auf ein lyrisch-melancholisches, pastorales Intermezzo hin. Es erklingt eine Hirtenmusik mit simulierter Lautenbegleitung. In der Sprachregelung der opera seria wäre nun
etwa der Auftritt einer elegisch leidenden Dame zu erwarten, die uns – begleitet von
musizierenden Gefährtinnen – in ländlicher Einsamkeit an ihrem wohligen Schmerz um
den treulosen Geliebten teilhaben lässt.
Es erscheint Romilda; sie singt folgenden Text:
O voi che penate
Per cruda beltà,
Un Serse mirate
Che d’un ruvido tronco acceso stà;
18
O ihr, die ihr leidet
An reiner Schönheit,
Bewundert einen Xerxes,
Der sich von einem groben Baumstamm
entflammt zeigt;
E pur non corrisponde
Und doch, nichts antwortet
Altro al suo amor che mormorio di fronde. Auf seine Liebe als das Murmeln der Laubwerks.
Offensichtlich hat sie Xerxes’ Laudatio auf den Platanenbaum (im berühmten „Largo“)
aufmerksam gelauscht und macht sich nun mit gewählten, aber deutlichen Worten im
musikalischen Kleid einer Pastorale über den Feldherrn und Herrscher lustig. Was diese
Äußerung Romildas über eine mögliche Vorgeschichte der beiden aussagt, mag der
Phantasie des Hörers überlassen bleiben.
Natürlich hat umgekehrt keiner der anwesenden Männer Romilda richtig zugehört, am
wenigsten Xerxes: seine Ambitionen auf die Sängerin – weniger auf die (ihm unbekannte?)
Frau – geben ihn vollends der Lächerlichkeit preis:
Recitativo: Xerxes
Quel canto a un bel amor l’anima sforza,
Per mia dama la scelgo
Dieser Gesang ermutigt das Herz zu einer
schönen Liebschaft,
Als Geliebte erwähle ich sie.
Am Anfang dieser Oper steht also eine Szene, die an subtiler Komik schwer zu überbieten
ist: Der sinnierende Kriegsherr wird von Romilda delikat auf den Arm genommen, dazu
lauern Arsamenes und sein Faktotum Elviro im Gebüsch und geben ihre Kommentare ab.
Wie lässt sich nun diese komplexe Situation in der musikalischen Interpretation reflektieren?
Übermächtig scheint das elegische Pastoralmodell die Situation zu definieren und den
Affekt zu bestimmen.
Bsp. 2: Arioso der Romilda
Die überdeutliche Phrasierung der Zweierbindungen („Seufzer“), die Verstärkung des Spottcharakters durch deutliche, ironisierende Artikulation und Stimmfärbung, besonders bei
Textwiederholungen, verschärfte Deklamation und angemessene Verzierungen werden hier
einzusetzen sein, um der Doppelbödigkeit des Ariosos gerecht zu werden. Dabei muss eine
klare interpretatorische Absicht erkennbar sein: Ein rein kantables legato espressivo würde
der Situation nicht entsprechen und den Zuhörer in die Irre führen, vielmehr muss die
pointierte Wiedergabe mit unmissverständlicher Klarheit erfolgen, um die Situation eindeutig zu charakterisieren.
19
Ferner ist es angebracht, sich für eine inégale Ausführung der Achtelbewegung in diesem
Stück zu entscheiden. Die Inégalité ist ein bestens dokumentiertes und europaweit bekanntes Phänomen der französischen Musizierpraxis des Barock und war dem Kosmopoliten
Händel sicher und sehr wahrscheinlich auch den ausführenden Londoner Musikern bekannt.
Ein Menuettsatz wie das vorliegende Stück muss stilgerecht mit leicht punktierter Rhythmisierung ausgeführt werden; in unserer Aufführung wollen wir uns insbesondere zur
Steigerung des spöttischen, tändelnden Affektes auf diese Praxis beziehen, auch wenn
einschlägige Aufnahmen verdienstvoller Interpreten diese Entscheidung erstaunlicher
Weise nicht nahelegen. Es lässt sich wohl nicht nachweisen, dass Händel mit der inégalen
Ausführung seiner zahlreichen nach französischen Tanzmodellen geformten Arien gerechnet
hat – ebensowenig allerdings das Gegenteil. Immerhin beginnen seine Opern normalerweise mit einer Ouvertüre des französischen Typus mit ihrer differenzierten Rhythmik. In
diesen wird ohne Weiteres von einer „französischen“ doppelt punktierten Ausführung
ausgegangen, die ihrerseits in der inégalité wurzelt. – Auch die Allemande, die den dritten
Akt einleitet, erhält durch inégale Ausführung einen unverwechselbaren Charme, der die
Präsenz des europaweit einflussreichen französischen Stiles glaubhaft spiegelt und erlebbar
macht.
„Historisch informierte Aufführungspraxis“: Dieser Begriff bezeichnet präzise eine zeitgemäße Interpretationshaltung, die zwischen historischer Musizierpraxis und heutiger
Musikausübung vermitteln und sich auch unkonventionellen szenischen Lesarten nicht
verschließen will.
Prof. Franz Brochhagen ist als Musikalischer Leiter der Opernklasse verantwortlich für die diesjährige Einstudierung von
Händels „Xerxes“ an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Er realisierte als Theaterkapellmeister
zahlreiche Produktionen des gesamten Opernrepertoires vom Barock bis zur Moderne; dazu zählen „Alcina“ von Händel
und „Dardanus“ von Jean Philippe Rameau sowie „Die Krönung der Poppea“ von Claudio Monteverdi (HfM Dresden
2008).
20
Das Bühnen- und Kostümbild zu „Xerxes“
Maira Bieler/Romina Kaap
Händels Oper Xerxes (1738) ist im antiken Persien (480 v. Chr.) angesiedelt. Obwohl der
Held des Stücks, der historische Großkönig Xerxes I., ein berühmter Feldherr und Architekt
ist, setzt er sich in der gleichnamigen Oper mit privaten, zwischenmenschlichen Problemen
auseinander. Während Xerxes den Feldzug gegen Europa vorbereitet, verliebt er sich unsterblich in Romilda, die Geliebte seines Bruders, und umwirbt sie mit allen Mitteln. Dabei
ignoriert er Familienbande und sogar das Eheversprechen an seine rechtmäßige Verlobte
Amastris. Die Oper endet mit der Niederlage des Königs im Kampf um die Frau seines
Herzens. Die unterschwellige Moral ist klar: der große Kriegsfürst wird von seinen unkontrollierten Gefühlen (Affekten) zu Fall gebracht.
Dieser im Stück dargebotene Begriff der „Liebe“ (Verständnis von Liebe und Ehe) kann in
Frage gestellt werden. So steht Xerxes´ besitzergreifende, rasende Verliebtheit im Kontrast
zu Arsamenes´ und Romildas zarter, unschuldiger Liebe.
Ist der „Xerxes“-Stoff noch aktuell?
Im 17./18. Jahrhundert bevorzugten Librettisten gern royale Stoffe und Figuren aus der
Antike (Giulio Cesare, Rodelinda u. a.) um zwischenmenschliche Themen wie Liebe und
Verrat zu behandeln. Der historische Kontext spielte dabei meist eine nachrangige Rolle.
Neben der europäischen Geschichte übte die Historie des Morgenlandes mit seinen Sinnlichkeiten und Verführungen einen besonderen Reiz auf das Publikum aus. Die Menschen
waren fasziniert vom „Fremden“, der Einfluss des Orients auf die Entwicklung Europas war
immanent (Kunst, Schrift etc).
Gleichzeitig stehen beide Kulturen im Kontrast zu unserer heutigen Weltanschauung. Zum
einen die konträre, oft oberflächliche Sichtweise auf den nahen Osten: 3000 Jahre persische
Hochkultur treffen auf den gegenwärtigen Iran.
Zum anderen hat sich das Geschlechterkonzept dort radikal gewandelt. Im liberalen Persien
existierte beispielsweise kein Kleiderkodex für die Frau, heute gilt sie als Eigentum des
Mannes und ist gezwungen sich bis zum Verlust der Individualität zu verhüllen.
Die ambivalente Rezeption von Persien/Iran und die veränderte frauenrechtliche Situation
haben zu der Entscheidung geführt, die Ausstattung für Xerxes in einer persisch-iranisch
anmutenden Welt spielen zu lassen.
Händels kunstfertiger, überschwänglicher Barockmusik wird so eine persische Bildsprache
gegenübergestellt. Daraus resultiert ein Szenario, in dem sich persische Figuren mit dem
barocken Affekt-Kanon auseinander setzen müssen.
21
Inspiration
Ausgangspunkt der Bühne ist eine durch persische Miniaturmalerei inspirierte, abstrakte,
künstliche Welt. Die persische Buchillustrationskunst entwickelte sich im 10. Jahrhundert
nach Christus. als Teil der persischen Literatur (bekanntestes Beispiel ist das „SchāhnāmeEpos“).
Dabei handelte es sich um mehr als reine Illustrationen – sie waren selbst visuell lesbare
Geschichten. Als künstlerische Ergänzung der Poesie machten sie die niedergeschriebene
Handlung leichter verständlich. Thematisch bezog sich die Miniaturmalerei meist auf persische Mythologie und Dichtung. Aber auch Aktivitäten am Hof des jeweiligen Herrschers
sowie Jagd- und Schlachtszenen wurden dargestellt. Als Teil der Kulturpolitik dienten sie
der Selbstdarstellung eines Herrschers. Die Miniaturen sind keinesfalls als verbürgte Geschichtsschreibung zu verstehen. Viel mehr zeigen sie eine idealisierte Welt, die sich an
Fakten orientiert mit dem Zweck, die Größe und Macht des Königreiches zu demonstrieren.
Die Faszination der Miniaturen liegt in ihrer kraftvollen Farbigkeit, dem freien künstlerischen Umgang mit Perspektiven und Mustern, ihrer Komplexität und der verwirrenden
Simultanität der gezeigten Geschichten. Dadurch lässt sich keine lineare Lesart festlegen:
verschiedene Zeiten, Orte und Fokusse existieren parallel nebeneinander. Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft sind in derselben Zeichnung zugegen, es gibt kein Zentrum des
Geschehens. Haupt- und Nebenspielorte lassen sich nicht von einander unterscheiden. Die
Bilder sollen beobachtet werden, sie gleichen Suchbildern, die nur durch längere Betrachtung in ihrer Gänze erfasst werden können.
Diese Beobachter-Perspektive, welche die LeserInnen einnehmen, findet sich auch in den
Miniaturen selbst wieder. Sie sind voll von Figuren, die von Balkonen, aus Nischen und
hinter Vorhängen spähend das Geschehen beobachten und sich so partielles Wissen aneignen. Ein und dieselbe Situation wird den BetrachterInnen simultan aus verschiedenen
Blickwinkeln gezeigt, woraus sich das gleichzeitige Vorhandensein von Aufsicht, Vorder- und
Seitenansicht eines Objekts (z. B. eines Turmes) ergibt.
Die an eine, aus dem Barock stammende, Tiefenperspektive gewöhnten RezipientInnen
werden mit der auf Schichten und Zweidimensionalität beruhenden Malweise der Miniaturen konfrontiert. Auf den zweiten Blick wird die Unwirklichkeit dieser perspektivischen
Behauptungen erkennbar.
Bühne
Das Bühnenbild zeigt eine abstrakte, verfremdete Welt. Aus architektonischen Bruchstücken,
persischer Ornamentik und Schleiern entsteht eine eigene 3D-Miniatur.
Im Stück kommt es durch falsche oder manipulierte Darstellung von angeblichen Fakten zu
Missverständnissen und Täuschung. Die perspektivischen Ungereimtheiten in den flexiblen
Kulissenbauten sind Ausdruck der seelischen Unruhen, in denen sich die Charaktere befinden. Es herrscht ein ständiges Wechselspiel der Gefühle zwischen Vertrauen und Misstrauen.
22
Die Figuren sind gezwungen, ihre Gefühle vor anderen zu verbergen. Kommunikation findet
meist hinter vorgehaltener Hand oder über Dritte statt, wodurch die Wahrhaftigkeit der
Gefühle verschwimmt. Raumgreifende Schleier schaffen eine diffuse Atmosphäre, die die
emotionale Zerrüttung der Charaktere wiederspiegelt.
Gegen diese sich andauernd wandelnden Bilder erhebt sich statisch eine unüberwindbare,
martialische Lehmmauer.
Typisch für die Barockoper war das Dogma der Abwechslung. Das bedeutete möglichst
regelmäßige Bühnenumbauten und Effekte. Kein Ort im Stück sollte ein 2. Mal aufgesucht
werden, so auch bei Xerxes.
Die Entwicklung der Bühne gleicht einer Reise von prächtigen Palastgärten und Basaren,
über stürmische Meeresstrände und öde Wildnis zu einem gloriosen Hochzeitsfest. Dort
finden die Konfrontation der Helden und Heldinnen sowie das (scheinbar) glücklichen Finale
statt. Wirkt das Bühnenbild zu Beginn wie eine farbenprächtige, fremdartige „Märchenwelt“, so vollzieht sich im Laufe der Vorstellung eine stetige Dekonstruktion. Bühnenelemente entkleiden sich, verschwinden nach und nach bis zur (fast) leeren Bühne.
Kostüm
Bei der Konfrontation von historischer und moderner persischer Kleidung ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Verschleierung naheliegend.
Zu Xerxes´ Regierungszeit herrschte eine weitreichende Liberalität, was die Gleichheit der
Geschlechter und der Religionen betraf. Für die Frau im heutigen Iran ist die Verschleierung
des Gesichts bzw. des ganzen Körpers dagegen Pflicht. Das bedeutet die Verhüllung aller
weiblichen Reize (Haare, Hände, Körperformen etc.), teilweise bis zur vollkommenen
Unkenntlichkeit. Andererseits tragen vor allem junge Musliminnen unter dieser dogmatischen Hülle „westliche“ Kleidung (Hosen, Absatzschuhe und Makeup).
Auf diese Ambivalenz wird auch im Kostüm eingegangen. Klassische Schnitte (Kurta,
Kaftan, traditionelle Verschleierung) treffen auf aktuelle Modeeinflüsse. Die Frauen im
Stück gehen unterschiedlich mit Kleiderdoktrinen um: So verkleidet sich Amastris bewusst
als Mann. Die kokette Atalanta wechselt spielerisch zwischen engen Kostümen mit modernen Accessoires und der traditionellen Verschleierung. Ihre melancholische Schwester
Romilda hingegen wird von den Männern als Projektionsfläche (der treuen Geliebten, der
devoten Gattin, der glanzvollen Königin) ausgenutzt. Im Laufe des Stücks wird sie mit mehr
und mehr Stoffschichten überhäuft bis sie zu einer regungslosen, steifen Puppe geworden
ist. Ihr Hochzeitskleid gleicht einem Käfig und beraubt sie gänzlich ihrer Weiblichkeit.
Die Tragikomik der Oper entsteht durch die vielen Missverständnisse, denen die Figuren
ausgesetzt sind oder die sie (un)wissentlich selbst herbeiführen. Zu diesen Wirrungen
gehört auch das Problem der nicht immer eindeutigen Geschlechterfrage!
23
Prinz Arsamenes wird sowohl von einem Mann als auch einer Frau (Hosenrolle) dargestellt.
Xerxes wäre im Barock eine Kastratenrolle gewesen wird aber von einer Frau gesungen.
Kostüme und Maske der DarstellerInnen evozieren keine eindeutige Männlichkeit oder
Weiblichkeit. Es gibt z. B. keine Kurzhaarperücken oder angeklebten Bärte für die Hosenrollen. Fast alle Figuren tragen somit Züge beider Geschlechter (Parallelen zur heutigen
Gesellschaft: Androgynität, Emanzipation, Metrosexualität).
Maira Bieler und Romina Kaap studieren Bühnen- und Kostümbild an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Diese
Ausstattung ist ihr Diplom-Projekt unter der Betreuung von Prof. Barbara Ehnes und Prof. Kattrin Michel.
Abbildung rechte Seite: Persische Miniaturmalerei
Die Abbildungen auf den folgenden Seiten zeigen die
Kostümentwürfe sowie einen Bühnenbildentwurf
von Maira Bieler und Romina Kaap
24
25
26
27
28
29
30
31
32
Händel und seine Zeit
Manuel Gervink
Das Bemühen, das Werk eines „großen“ Komponisten in seiner Zeit zu sehen, dieses also
nicht als unbegreifbare Schöpfung eines Genius zu betrachten, sondern in seiner Abhängigkeit von geistes-, kultur- und sozialgeschichtlichen und ökonomischen Prozessen zu sehen,
kam erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auf, mithin erst lange nach Händels Tod.
Biographen, die noch Zeitgenossen Händels waren, sahen sein Leben, besonders aber sein
Werk unter wesentlich anderen Umständen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, doch müssen wir
uns heute darüber im Klaren sein, dass unser Bild von Händel wie auch von seiner Zeit
durch die Überlieferungslage bestimmt wird. Das wiederum bedeutet, dass Zeugnissen von
Zeitgenossen nicht unbedingt eine objektive Wahrheit zukommt, nur weil ihre Urheber
zufällig zur gleichen Zeit wie Händel lebten; der Interpretation bedürfen sie alle, ob es sich
nun um scheinbar objektives Material wie Amtsakten handelt, oder ob wir es mit Briefzeugnissen unmittelbar Beteiligter zu tun haben: Fast immer müssen wir uns über die
Zeitumstände informieren, die dazu geführt haben mögen, dass etwa bestimmte Formulierungen von unserem heutigen Sprachgebrauch abweichen, wodurch Aussagen missverständlich werden. Vor allem aber müssen wir dabei berücksichtigen, dass wir unsererseits
gleichfalls geprägt sind durch kulturelle und gesellschaftliche Vorgänge, Prozesse, Einflüsse,
Kausalitäten, die ebenso zeitbedingt und damit einer Erkenntnis von „Händel und seiner
Zeit“ gewissermaßen „vorgeschaltet“ sind und diese beeinflussen. Somit ist die Erkenntnis,
dass es „die“ Geschichte gar nicht gibt, mittlerweile schon zum Allgemeinplatz geworden,
und konsequent erscheint es, den geschichtlichen Blickwinkel insgesamt so zu erweitern,
dass einzelne überlieferte Phänomene in einem Gesamtsystem ihren Platz finden, das uns
erst in die Lage versetzt, diese in ihrer singulären Bedeutung wie in ihrem systemischen
Zusammenhang beurteilen zu können.
In diesen Zusammenhang gehört – um nur ein Beispiel zu nennen – die demographische
Situation der Städte im 17. Jahrhundert. Kriege und Seuchen veränderten in der ersten
Jahrhunderthälfte diese Situation in den europäischen Ländern erheblich, und zwar so erheblich, dass erst in den 50er bis 70er Jahren des 18. Jahrhunderts der Bevölkerungsstand
von um 1600 wieder erreicht wurde.
In ihrer Gesamtheit führten diese Prozesse zu einer Verlagerung der großstädtischen
Konzentration: Während die alten Städte in süd- und mitteleuropäischer Lage ihre Machtposition einbüßten, wuchs in den weiter nördlich gelegenen Kapitalen wie Paris, London
und Amsterdam die Bevölkerung. Londons Einwohner zahl war am Ende des 17. Jahrhunderts auf das Zehnfache angewachsen; es war mit 400.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt Europas, gefolgt von Paris, Konstantinopel und Neapel. London, die Stadt, in
der Händels Schaffen seine größte zeitgeschichtliche Wirk samkeit entfaltete, wird vorerst
Europas größte Metropole bleiben. Das wiederum bleibt nicht ohne Einfluss auch auf die
kulturelle Bedeutung dieser Stadt.
33
Ludger Rémy hat im letzten, 2013 erschienenen Jahrbuch der Hochschule für Musik den
Zustand Londons zur Zeit Joseph Haydns anhand zeitgenössischer Quellen rekonstruiert. Es
ergibt sich eine atemberaubende Darstellung einer Metropole, die in Anlehnung an Fritz
Langs berühmten Stummfilm Metropolis nicht anders denn als „Moloch“ bezeichnet
werden kann:
„In London ist um 1775, als Frankreich langsam seiner Großen Revolution entgegentaumelt, das kommende 19., in mancher Beziehung gar das 20. Jahrhundert bereits alltägliche Gegenwart, die Stadt ist mit keiner anderen europäischen Großstadt zu vergleichen. London ist die größte und ungewöhnlichste, kontrastreichste, chaotischste,
schnellste, lebendigste, lauteste, spannendste, grausamste, schönste und dreckigste
Stadt der Welt. Parks und Lustgärten, Theater, Bordelle, Vergnügungsviertel, Opernhäuser, Hochöfen, Werften, Häfen, Leicht- und Schwerindustrie – all das existiert nebeneinander, angetrieben vom Geld, vom Kapital und menschenersetzenden und -verachtenden Dampfmaschinen als anscheinend unerschöpfliche Energiequellen für alles.
Metropolis schluckt und frisst das Land, auf das der Moloch Vororte, Industrieanlagen,
Werften gebiert, neue Stadtteile, wohlbelüftete für Reiche im Westen, idyllisch an den
lieblich-grünen Ufern der noch jungfräulich-sauberen Themse gelegen: im Osten bei
den Häfen schafft man im inzwischen durch die Stadt verdreckten Fluss neuen
Baugrund mit Müll- und Abfallbergen für enge Slums. Platz fürs Proletariat gibt es
kaum, die Stadt ist eng, nach dem großen Brand von 1666 musste der Wiederaufbau
schnell gehen, so dass man die Straßen nicht verbreitert hatte. London frisst vor allem
Energie für die Industrie […]. Das bleibt nicht ohne Folgen für Umwelt und Menschen.
[…] Aus Millionen Schloten hustet Ruß in den Nebel, der Smog macht die Menschen
trübsinnig und depressiv.“
Das also ist aus der Stadt geworden, in der Händel ein halbes Jahrhundert gelebt und
gearbeitet hat!? Wie verhielt es sich zu Händels Zeit, was wissen wir überhaupt über
Händels Leben?
Das biographische Schrifttum, so wie wir es heute kennen und wie es sich in Titeln nach
dem Muster: „[Künstler] und seine Zeit“ oder „[Künstler] – Leben und Werk“ zu erkennen
gibt, existiert, es wurde bereits gesagt, erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. So war
es die sog. „Göttinger Historikerschule“, in der die Überzeugung zum Ausdruck und Ansporn
für zeitgeschichtlich relevante Darstellungen aufkam, dass nämlich das Streben nach historisch korrekter Darstellung nur in Ansehung sämtlicher Zeitumstände, auch der vermeintlich
unbedeutenden, erfolgen könne und dürfe. Für die sich so etablierende musikhistorische
Forschung gilt heute allgemein der Göttinger Universitäts-Musikdirektor Johann Nikolaus
Forkel (1749–1818) als Begründer; dessen Allgemeine Geschichte der Musik (Leipzig
1788–1801), reichte von der Antike bis 1550. Danach hatte diese mit einer Ausnahme für
den Verfasser kaum noch Wert; diese war Johann Sebastian Bach. In seinem Buch Ueber
Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (Leipzig 1802), die auch als Werbe34
schrift für die gerade in Angriff genommene erste Gesamtausgabe der Werke des Thomaskantors gedacht war, schildert Forkel Bach – hierin noch ganz dem 18. Jahrhundert und
insbesondere der Genieästhetik des (literarischen) Sturm und Drang verpflichtet – als das
Genie, das unabhängig vom Beifall (oder Missfallen) der Zeitgenossen schafft. Diese Gedankenrichtung entwickelte sich in den Jahren um Händels Lebensende in England, besonders
befördert durch die Schriften von Edward Young (Conjectures on Original Composition,
1759) und Robert Wood (Essays on the Original Genius and Writings of Homer, 1769).
Das „Originalgenie“ des Sturm und Drang erweist sich bereits und gerade in der – biographisch oft weniger dokumentierten – Jugend des Künstlers, besonders in anekdotischen
Begebenheiten wie denen, die auch von Händel überliefert sind und in denen seine künstlerische Begabung zweifelsfrei erkennbar wird, sowie in seiner früh ausgeprägten Persönlichkeit und weitgehenden Unabhängigkeit von Zeitgeschmack und Moden.
Der englische Musikhistoriker Charles Burney (1726–1814) hat in seiner Nachricht von
Georg Friedrich Händel's Lebensumständen, die 1785 in der Übersetzung von Johann
Joachim Eschenburg erschien, die Bedeutung der frühen Biographie von Künstlern betont,
die es erst ermöglicht, die gesamte Entwicklung des Genies von seinen ersten Manifestationen an nachzuvollziehen. Auch beim jungen Händel finden sich in diesen Quellen solche ins
Anekdotische gekleidete Wesenszüge: Der Knabe, der seine Begleitung zu einer Reise des
Vaters ertrotzt, der den festen Willen des Vaters, dass der Sohn Jurist werden solle, beharrlich unterläuft, sowie die zunehmende Reputation des jungen Händel, dessen Begabung
sich schließlich auch in Italien Bahn bricht, wo er als der „caro Sassone“ gefeiert wird.
Händel war ein Komponist, der vergleichsweise viel „herumgekommen“ ist, ein (wie man
heute sagen würde) europäischer Künstler, der von den Metropolen, die er besuchte und in
denen er jeweils eine bestimmte Zeit lebte, unterschiedlich geprägt wurde. Seine Geburtsstadt Halle erlebte er nicht mehr als Residenzstadt, die sie als Sitz der Erzbischöfe von
Magdeburg von 1503 bis 1680 gewesen war und in der unter der Regentschaft des Herzogs
August von Sachsen-Weißenfels seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eine rege Opernpflege
erwuchs. Mit dem Tod des Herzogs 1680 fiel Halle an das Kurfürstentum Brandenburg, der
Hof, an dem Komponisten wie Samuel Scheidt und Johann Philipp Krieger wirkten, siedelte
nach Weißenfels um, was de facto das Ende der höfischen Musikpflege der Stadt bedeutete.
Friedrich Wilhelm Zachow (1663–1712), der spätere Lehrer Händels, stieg in seiner Funktion
als Stadtorganist an der Marienkirche und Leiter der zunehmend an Autonomie und Bedeutung wachsenden Stadtmusik zur wichtigsten Persönlichkeit im Musikleben der Stadt auf.
Händels Reisetätigkeit – sie mag auch eine Flucht aus seiner vom aktuellen Musikleben
abgekoppelten Heimatstadt gewesen sein – war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
nahezu einzigartig. Früh unternahm er Reisen in die nähere und weitere Umgebung von
Halle, was wesentlich zu seiner künstlerischen Persönlichkeitsbildung beitrug: Denn nicht
zuletzt lernte er, sich in der höfischen Welt einzuführen und zu behaupten; auch darin war
er das völlige Gegenteil des gleichaltrigen Johann Sebastian Bach.
35
So gelang es ihm bald, Zugang zu den europäischen Höfen zwischen Neapel und London zu
erhalten, und zwar in der Regel nicht durch subalterne Chargen, sondern von „ganz oben“,
durch die Monarchen selbst. Sobald er einen Fürsten oder Monarchen durch sein Cembalooder Orgelspiel für sich gewonnen hatte, bat er ihn um ein Empfehlungsschreiben für den
nächsten Herrscher (H. J. Marx). Nach frühen Reisen nach Weißenfels und Berlin zog er 1703
nach Hamburg, das mit seinen fünf Hauptkirchen und dem Opernhaus am Gänsemarkt ein
einzigartiges Zentrum der musikalischen Zeitkultur war und wo Händel den italienischen
Opernstil kennenlernte, dessen europaweite Dominanz ihn zu einem absoluten Muss für
jeden jungen, auf Erfolg bedachten Komponisten machte. Und ein solcher scheint der junge
Händel gewesen zu sein. Er unternahm von Hamburg aus Reisen zusammen mit Johann
Mattheson (1681–1764), Sänger an der Gänsemarkt-Oper und Komponist, den Händel 1703
hier kennenlernt hatte und mit dem ihn eine durchaus komplizierte, nicht ungetrübte
Freundschaft verband. So besuchten sie 1703 Lübeck, wo sie sich beide für die Nachfolge
Dietrich Buxtehudes interessierten, dessen Organistenstelle an St. Marien zu besetzen war.
Den Anstoß zur ersten Italienreise Händels gab vermutlich Gian Gastone de‘ Medici (Bruder
des Großherzogs der Toskana), der sich 1703 in Hamburg aufhielt. Er sagte dem Achtzehnjährigen die Übernahme sämtlicher Kosten zu, was dieser ablehnte; er wollte die Kosten
selbst tragen. So kann er diese für jeden aufstrebenden Musiker hochbegehrte Reise wohl
erst 1706 antreten, die ihn in alle kulturell wesentlichen Städte führt: Trient, Venedig,
Padua, Ferrara Bologna, Florenz, Rom, Neapel. Als Händel vier Jahre später zurück kehrt,
um in Hannover seine Stelle als Hofkapellmeister unter König Georg Ludwig (dem späteren
englischen König George I.) anzutreten, ist er jenseits der Alpen nicht nur berühmt, sondern
auch ein intimer Kenner italienischer Musik und Stilistik.
Von Hannover aus durfte Händel nur reisen, wenn der Fürst auf die Jagd ging. Diese Regel
schien ihn wenig zu beeindrucken, denn gleich seinen ersten Aufenthalt in London 1710
dehnte er auf die Dauer von einem halben Jahr aus. Kein König verbrachte soviel Zeit mit
der Jagd, und so musste er seinen Dienstherren um Entschuldigung bitten, die dieser offenbar gewährt hat, denn Händels Gehalt wurde fortgezahlt. Von London aus, wohin er 1712
übersiedelt war, ist er vermutlich erst 1716, im Gefolge seines ehemaligen und neuen
Dienstherrn, dem jetzigen König George I. wieder auf den Kontinent gereist; 1719 besuchte
er Dresden, wo er im Auftrag der neu gegründeten Royal Academy of Music die besten
Sänger der vom kursächsischen Hof etablierten italienischen Oper engagieren sollte. Zehn
Jahre später, die Royal Academy ist mittlerweile aufgelöst, und Händel betreibt selbst das
Haymarket Theatre, reist er – wiederum zum Zweck der Sängerakquise – über Venedig und
Parma nach Rom und wahrscheinlich auch Neapel, wo er Johann Adolf Hasse kennenlernt.
Fragen wir uns, wie greifbar Person und Werk Händels durch die Darstellung der Zeitumstände werden, kann die Antwort kaum eindeutig ausfallen. Betrachten wir ihn als Person
innerhalb des dokumentierten gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Gefüges, dann
36
kommt es uns vor, als näherten wir uns Händel. Für sein Werk aber gilt dies wohl eher
nicht, da es zunächst in musikhistorischen, -ästhetischen und kompositionstechnischen
Kontexten interpretierbar erscheint, die aber ihrerseits nicht außerhalb einer gesamtkulturellen Entwicklung denkbar sind; sie existieren nicht „für sich“ und werden so indirekt
wieder wirksam. Damit kehren wir zurück zu den – kaum je erreichten und nach wie vor
aktuellen – Idealen der „Göttinger Historikerschule“. Von der Vorstellung eines dem Genie
zugebilligten „Sonderwegs“ sollten wir uns jedoch verabschieden.
Prof. Dr. Manuel Gervink ist Professor für Musikwissenschaft und Leiter des Instituts für Musikwissenschaft an der
Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Unter seinen zahlreichen Publikationen ist er Mitherausgeber
des „Händel-Lexikons“ (Laaber Verlag, 2010).
37
Der alternde Händel
oder: Über die Liebe zu Bäumen
Michael Heinemann
I.
Xerxes’ Hymne an einen Baum, mit der Händel eine seiner letzten Opern eröffnet, ist so
populär wie rätselhaft: Dass ein Herrscher ein Liebeslied an eine Platane richtet und eine
sehnsuchtsvolle Melodie entfaltet, die als „Largo“ zum Inbegriff von Funeralmusik wurde,
widerspricht allen Konventionen der Opera seria, musikalisch wie dramaturgisch. Kein
Protagonist von Rang wäre mit einer solchen Nummer eingeführt worden, die es weder
erlaubt, sängerische Virtuosität zu demonstrieren, noch ermöglicht, Eigenschaften eines
charakterstarken Helden zu präsentieren. Vielmehr zeigt sich der König sentimental, nicht
zur Tat entschlossen, sondern in die Natur entfliehend, der Kriegskunst die ars amatoria
vorziehend; doch unsicher, nachgerade schüchtern im Umgang mit dem andern Geschlecht,
wendet er sich werbend an einen Baum, in dessen Schatten er sich eher geborgen wähnt
als bei einer Geliebten.
Was allerdings nur die Ausgangsposition ist. Denn am Ende der Oper ist Xerxes nicht mehr
allein und hat nach vergeblichen Versuchen, Romilda für sich gewinnen, zu Amastris zurückgefunden. Doch dass der Regent als gescheiterter Liebhaber eingeführt wird, der Bäume als
Beziehungsobjekte adressieren muss, wäre nichts als schiere Parodie, Herrscherkritik in
Zeiten brüchig gewordenen Absolutismus, zeichneten sich denn in der Musik Untertöne ab,
die Verfremdung signalisieren könnten. Die lyrische Emphase aber wird nirgends unterlaufen, Kolportage ist nicht im Ansatz zu erkennen, und selbst vom Aroma des Kitsches, das
dreihundert Jahre Popularisierung fast unvermeidlich hinterlassen haben, erweist sich das
originale „Larghetto“ noch frei. Xerxes’ Emotion ist echt und der König, der Bäume liebt,
nichts weniger als lächerlich und ganz gewiss kein dendrophiler Clown.
Der Gegenentwurf dieses anfangs gynäphob und zugleich pflanzenaffin sich gerierenden
Regenten aber ist Programm: Der König wird als lernfähig präsentiert und nimmt, vom
Eskapismus kuriert und durch die unerschütterliche Zuneigung von Amastris bestärkt, jene
Aufgaben an, die seines Amtes sind. Insofern fügt sich das Profil eines Herrschers in eine
Tendenz von Aufklärung, die etwa Metastasios Opern-Libretti allenfalls als Ferment erkennen ließen. Denn vormals hatte der Regent aus Staatsraison stets nachsichtig zu sein
und seine Autonomie erschien durch die Pflicht zur Gnade limitiert. Händel aber entfaltet
in seinem „Larghetto“ ein Konzept von Liebe, das nicht schon im personalen Gegenüber
sein Telos findet, sondern tiefer begründet ist und populär wurde, weil es ungewöhnlich
plakativ zu Beginn einer Opera seria exponiert wurde: eine Idee von dauerhafter, „ewiger“
Liebe, das den Moment erotischer Verzückung transzendiert und das Pathos eines allzu
emphatisch proklamierten amourösen Bekenntnisses als Phrase decouvriert. Die Pose, die
das barocke Theater so schätzte, erscheint nun so unwahrhaftig wie die Manieren der
Kastraten.
38
II.
Xerxes’ Largo ist ein Bekenntnis zur Nachhaltigkeit. Nicht das schnelle Liebesglück artikuliert sein Text, sondern jene stille Freude, die sich durch eine dauerhafte Beziehung einstellt. Dafür ist der schattenspendende Baum ein sinnenfälliges Zeichen.
Denn Bäumen eignet, wie Alain Corbin in seinem jüngsten Buch (La Douceur de l’Ombre,
Paris 2013) ausführt, insbesondere die Eigenschaft, dass sie hinsichtlich ihrer Lebensdauer
den Menschen weit überragen; sie sind jene Lebewesen, die am leichtesten die Erkenntnis
der Begrenztheit menschlichen Lebens vermitteln. Sie signalisieren Beständigkeit und Verlässlichkeit, allein durch die Erfahrung, dass sie Jahrhunderte überdauern können. Insofern
kommt ihnen ein hieratisches Moment zu: Bäume scheinen Himmel und Erde verbinden
zu können, sie werden zu auratischen Orten von Kult und Ritus, exemplarisch gefasst in der
Eiche, unter der Recht gesprochen wurde, oder der Linde, deren Duft als Aphrodisiakum
schon der Minnesang erinnert und die mit einem Tanzpodest zu umbauen bis in die jüngste
Gegenwart hinein gebräuchlich war.
Zugleich ist der Baum eine Metapher von Standhaftigkeit und Unbeugsamkeit. Er bietet Zuflucht vor Unbilden der Witterung, deren Anfechtungen er sich dauerhaft widersetzt. Seine
Unbeugsamkeit wird zum Zeichen einer Dignität, die menschliches Maß überschreitet:
(umgangs-)sprachliche Wendungen, zu „stehen“ oder zu „fallen“ wie ein Baum, illustrieren
die Intensität einer Beziehung, deren Unmittelbarkeit mythenstiftend wirkt. Dieser vielfältige Bedeutungshorizont, von Corbin eindrucksvoll historisch aufgefächert, ist in Xerxes’
Gesang allenthalben präsent: nicht bloß eskapistische Apostrophierung einer Idylle, sondern
der Versuch, im Schatten des Baumes eine „reale Utopie“ (Ernst Bloch) zu konstituieren.
Zugleich indiziert die Platane, die Xerxes als Objekt sucht, ein Moment nicht nur solcher
Sakralität, sondern als Metapher völliger Nutzlosigkeit, die dieser Spezies botanisch eignet,
eine Evokation zweckfreier Schönheit. Natur erscheint weder als Gefährdung noch als Ort
betriebswirtschaftlichen Kalküls, sondern eröffnet die Möglichkeit interesselosen Wohlgefallens und zweckfreier Bindung: auch dies ein Grund, warum der Herrscher, der selbst in
Liebesdingen Rücksichten zu wahren hat, sich an einen Baum wendet. Die Verweigerung
von Verantwortung, die seine Zuflucht scheinbar meint, wird zum Ausweis einer Suche nach
Glück, das sich erst jenseits aller Berechnung im menschlichen Miteinander einstellt.
III.
Xerxes’ Projektion gewinnt ihre eindrückliche Intensität durch ihre Artikulation in einem
krisenhaften Moment, die mit einer kritischen Phase im Leben des Komponisten konvergiert. 1737 hatte Händel einen „stroke“ erlitten, mutmaßlich einen Schlaganfall, von dessen
Folgen er sich in Aachen erholte; zu den ersten Stücken, denen er sich nach seiner Rückkehr
widmete, gehörte Xerxes, an dessen Anfang das berühmte „Ombra mai fu“ steht. Die
gespannte Erwartung, die das neue Werk beim städtischen Publikum hervorrief, nutzte
Händel, um eine persönliche Position vorzutragen, vielleicht auch im Bewusstsein, nach
jenem Zusammenbruch nur noch wenige Gelegenheiten zu erhalten, Musik zu präsentieren,
die als Vermächtnis gelten könnte.
39
Mit der Voraussetzung, dass Händel sich bei der Konzeption des Xerxes in einer Krisensituation befunden habe, die sich auch im Werk manifestierte, und mit Blick auf jüngere
Ergebnisse der Alternsforschung, die Andreas Kruse am Beispiel Bachs vorgelegt hat (Die
Grenzgänge des Johann Sebastian Bach, Heidelberg 2013), wäre zunächst zu bedenken,
dass Situationen, in denen die Begrenztheit des eigenen Lebens bewusst wird, außerordentliche Kräfte freisetzen können; gesundheitliche Krise bergen demnach ein Potential zur
Entfaltung von Kreativität, das sich vorzugsweise in drei Momenten ausweist: 1. der Frage,
was an eine künftige Generation weitergegeben werden soll, materiell wie insbesondere
immateriell, als Erfahrungswissen oder „Lebensweisheit“; 2. dem Versuch der Integrierungen von Belastungen und Geschichte(n), auch summativ als Zusammenfassung eigener
Lebensleistungen, sowie 3. einer „Gero-Transzendenz“, eines über sich selbst Hinausweisen
auch in spiritueller Hinsicht, einer Sublimation der eigenen Individualität in einer als
„göttlich“ verstandenen oder kosmischen Harmonie, doch auch mit der Perspektive einer
Signalwirkung an die Nachkommen.
Die Übertragung dieser Momente auf die Situation Händels in den Jahren 1737/38 erleichtert nun zunächst das Verständnis für etliche kompositorische Entscheidungen bei der
Ausarbeitung des Xerxes :
1. erweist sich mit Blick auf die Entwicklung der Oper, aber auch von Wissenssystemen
und Handlungsstrategien Händels seine Konzentration in der Musik auf einige wenige
Motive als ein Moment, das vielleicht am deutlichsten durch Beethovens bekanntes
Diktum „Händel ist der unerreichte Meister! Geht hin und lernt, mit wenigen Mitteln
so große Wirkungen hervorzubringen!“ illustriert wird und vielleicht sogar als ein Indiz
für ein „Spätwerk“ zu werten wäre;
2. zeigt sich die Integration der (Schaffens-)Biographie Händels in zahlreichen scheinbar
längst überholten oder obsoleten Details der Dramaturgie wie der Formanlage, die auf
(Venezianer) Opernkonventionen aus der Zeit der Jahrhundertwende, mithin
Jugenderfahrungen des Komponisten rekurrieren; zudem indiziert die Kompensation
amouröser Erfahrungen durch einen umfassenderen Agape-Begriff eine Annahme der
eigenen Ehelosigkeit, auch mit der Intention, Resilienz auszuprägen und eine weiterhin tragfähige Lebensperspektive zu schaffen, als „restitutio ad integritatem“;
3. zielt gerade das „Largo“ auf den Versuch, eine „perfekte“ Musik vorzulegen, eine
vollkommene Melodie in größtmöglicher Schönheit: der Ausweis einer Sozioemotionalität und nicht bloß eines künstlerischen Ethos’; dabei wird der christliche
Horizont bewusst ausgeblendet zugunsten einer Orientierung an der Antike, die für
das aufkommende Bildungsbürgertum, dem Händel zweifellos zuzurechnen ist, das
Leitmedium von Bibel und konfessionell gebundener Dogmatik substituiert.
IV.
Xerxes’ Eröffnung wird damit zugleich zum künstlerischen Testament. Sich selbst in einer
Krisensituation aktualisierend, in der sich berufliche und gesundheitliche Aspekte verschränken, formuliert Händel eine Komposition, die das Motiv von Initiative, von bewusster
40
Gestaltung des Augenblicks, mit einer nur zu deutlich empfundenen Vulnerabilität verbindet. Der Anspruch von Generativität, also Erkenntnisse einer folgenden Generation weiterzugeben, ließe sich nicht nur hinsichtlich der Gattungsentwicklung wie auch kompositorischer Details belegen, sondern vielleicht mehr noch einer Kreativität, die auf eine Optimierung ausdrucksstarker Gestaltungsmittel zielt. Und der Gehalt des „Largo“, die Evokation
einer Erkenntnis interessefreier Schönheit, bezeichnet ein Moment von Klassizität wie auch
einer gelungenen Integrierung der eigenen Biographie, die zugleich die Perspektive auf
eine – glaubwürdiger Überlieferung zufolge – für Händel „göttliche“ Ordnung eröffnet, doch
getragen bleibt von einer Verantwortlichkeit für Mit- und Nachwelt.
Eine solche Aussage aber war prägnant an den Anfang einer Oper zu stellen und gewiss
nicht möglich als Liebesduett zu gestalten, das im Blick auf die Paarbeziehung jene
transzendentale Perspektive sogleich wieder verstellt hätte, die Händel insinuierte. Der
Preis ist die Ambivalenz eines Largos, das, als Liebeslied intendiert, auch als Funeralmusik
rezipiert werden kann. Was letztlich nicht einmal einen Widerspruch meint: Liebe, so die
Quintessenz des alternden Händel, funktioniert dauerhaft nur im Modus von Treue, die sich
einfacher in Bezug auf Bäume abbilden lässt als in der Beziehung zum Mitmenschen. Und
die Etymologie, die „Baum“ über das englische Wort „tree“ mit dem deutschen Begriff
„Treue“ verbindet, wird zur willkommenen Instanz, einen Gedanken zu verdeutlichen, den
Händel ungleich leichter, sinnenfälliger und nachhaltiger in seinem Metier, musikalisch zu
formulieren wusste.
Prof. Dr. Michael Heinemann ist Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber
Dresden. Unter seinen zahlreichen Publikationen ist eine Biographie „Georg Friedrich Händel“ (Rowohlt
Taschenbuchverlag, 2004).
41
„Xerxes“ – politisch abwegig und emotional verwirrt
Friederike Wißmann
In Händels Oper Xerxes begehren zwei Brüder dieselbe Frau (Romilda); der eine ist König
(Xerxes), der andere ihr Liebhaber (Arsamenes). Xerxes beruft sich auf seine überlegene
Position, denn als König wähnt er sich unantastbar und bewertet sein Begehren als
vorrangig. Das Verhältnis zwischen Xerxes und Arsamenes ist deshalb nicht nur ungleich,
sondern auch äußerst konfliktreich. Der höfische Kodex macht Arsamenes befangen, denn
als Bruder hätte er seine Ansprüche geltend machen können, als Untertan aber hüllt er sich
in Schweigen und verneint sogar, die von ihm geliebte Romilda überhaupt zu kennen.
Aufschlussreich ist, dass jene Lüge die Handlung vorantreibt: Weil Arsamenes die von ihm
behauptete Affektkontrolle nicht aufrechterhalten kann, verrät er sich in dem Moment, in
dem er Romildas Stimme erkennt.
Serse: Eh! mi diceste
non conoscerla. Or come?
Arsamene: Sol la conosco al nome.
Serse: E al canto ancora.
Xerxes: Ach! Ihr sagtet mir,
dass Ihr sie nicht kennt. Wie das?
Arsamenes: Ich kenne sie nur vom Namen her.
Xerxes: Und außerdem vom Gesang.
Nicht nur Arsamenes hört Romilda, auch Xerxes vernimmt ihren Gesang, worauf er von der
Platane ablässt und sich in Romilda verliebt („Quel canto a un bel’amor l’anima sforza, per
mia dama la scelgo.“ – „Jener Gesang entflammt die Seele zu einer schönen Liebe, ich erwähle sie zu meiner Geliebten“). Ihr Gesang also ist es, der nicht nur Xerxes, sondern auch
Arsamenes im Wortsinn aus der Rolle wirft. An dieser Stelle wird eine Parallele zur 14 Jahre
früher komponierten Erfolgsoper Giulio Cesare insofern offensichtlich, als auch hier die
entscheidende Verführungsszene auditiv, nämlich durch eine Himmelsmusik sich vollzieht.
Wenn Cleopatra die Arie „V’adoro pupille“ singt, kann Cesare nicht länger widerstehen. Auch
die Liebesgeschichte zwischen Cesare und Cleopatra ist eine Geschichte der Verführung
durch Musik. In vielen Inszenierungen tanzt Cleopatra, um Cesare zu verführen; das ist
schön anzusehen, aber nicht nötig, denn Händel macht deutlich, dass es die Musik ist, die
die himmlische Sphäre zu assoziieren vermag. Die Melodie ist herausragend schön, und
Händel interpretiert das Verliebtsein als Ausnahmezustand – musikalisch wie dramaturgisch.
Händel bereitet die Schlüsselarie Cleopatras durch eine Sinfonia vor und lässt sie von einem
Bühnenorchester begleiten, ebenso wie Romildas Auftritt in der zweiten Szene des ersten
Akts eine Sinfonia im Larghetto einleitet. Ein entscheidender Unterschied beider Opern ist,
dass Xerxesʼ Begehren willkürlich erscheint und seine „Liebe“ von Besitzansprüchen und
Machtmissbrauch motiviert ist. Während sich der Opernheld in der Opera seria in der Regel
im Konflikt zwischen Liebe und Pflicht misst, so wird in Händels Xerxes sogar der Zugewinn
an politischer Macht zweitrangig; im Libretto sind die Eroberungspläne nur mehr ein
Randereignis. Herrschaftsposen missbraucht Xerxes zur eigenen Vorteilsnahme, was in der
Verbannungsszene des Bruders besonders deutlich wird. Der Tyrann setzt seine Autorität
42
nicht für politische Strategien ein, sondern missbraucht sie zur Erfüllung seines Begehrens.
In der Inszenierung an der Komischen Oper Berlin (2013) ist Händels Xerxes deshalb
plausibel als REX SEX annonciert.
Robert Braunmüller stellt im Programmheft zur Münchner Xerxes -Inszenierung von 1996
die Heldenfigur Giulio Cesare als positives Gegenbeispiel dem wankelmütigen Xerxes
gegenüber. Cesare wird als tugendhafter Regent charakterisiert, der selbst seinen Feind
nicht ausliefert, während Xerxes ausschließlich Eigeninteressen verfolgt. Doch ist auch hier
die Feinzeichnung der jeweiligen Rolle entscheidend: Cesare erfährt in Händels Oper im
Gegensatz zur komplexen Figur der Cleopatra kaum eine Entwicklung, sondern er ist von
Anfang an janusköpfig angelegt. Während er als Regent in jedem Augenblick überlegen
agiert, lässt er sich von der als Lidia verkleideten Cleopatra nicht nur ver-, sondern auch
vorführen. Sein Entscheidungshorizont in Liebesdingen ist wenig galant und überhaupt
nicht heroisch. Folglich findet sich auch in der Oper Giulio Cesare die Idee der tollwütigen
Liebe, die im Wortsinn blind macht: warum sonst erkennt Cesare nicht in Lidia die schöne
Cleopatra? Xerxes ist meines Erachtens nicht als Gegenbild, wohl aber als Zuspitzung auf
den Macht missbrauchenden Liebhaber interpretierbar. Dessen Herrschaftsattribute sind
marginalisiert und werden einzig zur Eroberung Romildas in Anschlag gebracht. Während
die Figur des Cesare ambivalent agiert, nämlich als Herrscher vernünftig und als Verehrer
der schönen Cleopatra nicht Herr seiner selbst, so ist bei Xerxes die tugendhafte Seite ganz
erloschen.
Nicht nur die Schönheit von Romildas Gesang ist im Operneingang bemerkenswert, auch
ihr selbstbewusster Auftritt im Anschluss an die berühmte Arie „Ombra mai fù“ ist außergewöhnlich. Denn Romilda ist es, die die seltsame Konstellation zwischen Xerxes und dem
geliebten Baum bemerkt und so die Szene durchbricht. Während das Larghetto zunächst
eine pastorale Atmosphäre aufruft, ändert sich die Szene von einem Takt auf den anderen.
Interessant ist in Händels Oper, dass häufig auch den melancholischen Szenen ein ambiguitives Moment eignet. Gleich bei ihrem Auftritt adressiert Romilda Xerxes direkt („O voi che
penate per cruda beltà, un Serse …“ – „Oh ihr, die ihr leidet | unter grausamer Schönheit, |
einen Serse“). Anders als in vielen Opern, in denen die begehrte Frau als anbetungswürdige
Schönheit eine eher passive Rolle einnimmt, wird Romilda eingeführt als eine reflektiert
handelnde Figur. Und sie agiert nicht nur vernünftig, sie benennt auch die Absurdität der
Situation. Corinna Herr hebt in ihrem Artikel „Der Mythos der femme forte in Händels
Alcina“ die durch Händel geförderte positive Konnotation der tatkräftigen Frauengestalt
hervor. Im Sinne der Aufwertung aktiver Frauenpositionen beschreibt sie – eingedenk des
historischen Abstands – die Bradamante-Figur als Gegenbeispiel zum passiven Weiblichkeitsideal, wie es in Opern des 19. Jahrhunderts vorherrschend wird. Herr stellt fest, dass
den Frauenfiguren bei Händel ein weiter emotionaler Radius zukommt, was sie unter die
Formulierung einer ,,allgemein größere[n] Affektlizenz“ fasst (Corinna Herr, „Der Mythos
der femme forte in Händels Alcina“, in: Händel-Jahrbuch 2008, S. 161–182). Dadurch, dass
Romilda den Herrscher ironisch kommentiert, lässt sie, durchaus im Gegensatz zu ihrem
Geliebten Arsamenes, keinen Zweifel an ihrer Ebenbürtigkeit.
43
Während in der Oper Xerxes die Hauptfigur mit einer Summe von Irrungen und Fehlleistungen aufwartet, so fungiert die Romilda-Figur als Gegengewicht. Im Gegensatz zu Xerxes ist
ihre Liebe unerschütterlich – und sie bleibt sich und ihrem Geliebten Arsamenes zu jedem
Zeitpunkt der Oper treu. Damit repräsentiert sie viel eher als die Hauptfigur Xerxes, der
einer exzessiven Gefühls- und Triebsteuerung unterliegt, das „höfische Konversationsideal“,
wie es Silke Leopold in ihrem Beitrag zur formalen Disposition der Da-capo-Arie ausführt.
Udo Bermbach hat in seinen Opernstudien zu Macht und Machtrepräsentation („Die
Verwirrungen der Mächtigen. Herrschertugenden und Politik in Georg Friedrich Händels
Londoner Opern“) wiederholt auf die Diskrepanz zwischen Politik und Opernbühne aufmerksam gemacht und in diesem Kontext das „Durchsetzungsvermögen“ der Händelschen
Frauen-Figuren unterstrichen:
„In Händels Opern freilich sind die Frauen, sofern sie das Spiel um die Macht aktiv
mitbetreiben, und dies tun sie überraschend häufig, selten schwächer als die Männer.
Sie sind von großer Willensstärke und häufig genug auch von entschiedenerem
Durchsetzungsvermögen.“ (Udo Bermbach, Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht.
Politik und Gesellschaft in der Oper, Hamburg 1997, S. 61).
Erkennbar wird die Parallelsetzung von Herzensdingen und Herrschertugend insofern, als
Treue tendenziell mit politischer Integrität in eins gesetzt wird. Händel bringt den durch das
unverhältnismäßige Begehren bedingten Irrsinn in all seinen Facetten zur Darstellung – und
dies in einer Drastik, bei der auch manche ernste Szene ins Komische zu kippen droht.
Prof. Dr. Friederike Wißmann ist Professorin für Musikwissenschaft am Konservatorium Wien. Unter ihren zahlreichen
Publikationen zum Musiktheater ist ihre Habilitationsschrift „Abwechslungsreich. Rollenkonstellationen in den Opern von
Georg Friedrich Händel“ (Druck in Vorbereitung).
44
Barocke Musiksprache – „eine alte Stadt“
Felix Diergarten
„Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und
Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten;
und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen
und mit einförmigen Häusern.“ So schreibt der Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinen
Philosophischen Untersuchungen, die 1953 posthum veröffentlicht wurden. Worauf will
Wittgenstein damit hinaus? Er will zeigen, dass menschliche Sprache kein logisches, streng
gegliedertes und konsistentes System ist, sondern ein buntes Gebilde, das sich über
Jahrhunderte teils durch Planung, teils durch Chaos und Zufall in alle Richtungen entwickelt
hat und weiter entwickelt. Nehmen wir ein konstruiertes, aber der Alltagssprache nachempfundenes Beispiel. Stellen Sie sich vor, jemand spräche folgenden Satz aus: „Ich glaube,
er führt etwas im Schilde; bevor es eine Blamage gibt, rede ich Tacheles und schicke ihm
eine SMS.“ Diese Satz besteht aus mindestens vier verschiedenen historischen Schichten.
„Etwas im Schilde führen“ ist deutlich erkennbar eine mittelalterliche Redewendung aus
dem Kontext des Turnierwesens; das Wort „Blamage“ ist ein pseudofranzösisches Wort der
Studentensprache des 18. Jahrhunderts; „Tacheles reden“ ist eine Entlehnung aus dem
Jiddischen (tachles = Zweck, zweckmäßig Handeln) und kam offenbar im 19. Jahrhundert
verstärkt in Gebrauch; über den historischen Ursprung der Abkürzung „SMS“ bleibt nicht viel
zu sagen außer dem Hinweis auf die angesprochene „unlogische“ Verfasstheit von Sprache,
denn bekanntermaßen steht die Abkürzung für den Service, der die Nachrichten verschickt
(„Short message service“) und nicht für die Nachricht selbst, so dass der Satz „ich schicke
ein SMS“ unlogisch und sinnlos ist. Trotzdem wird er gebraucht, denn Sprache ist – damit
kommen wir auf Wittgenstein zurück – eben kein logisch deduzierbares System, sondern ein
Ergebnis historisch mehr oder weniger zusammengewachsener Konventionen.
Was hat das alles mit Barockmusik, mit Händels Xerxes zu tun? Sehr viel. Auch Musiksprachen sind Sprachen in diesem Sinne. Die barocke Musiksprache (und gleiches ließe sich
über die klassische, romantische und jede andere Musiksprache sagen) ist ein Konglomerat
der verschiedensten historischen Schichten. Eine Ausbildung in dieser Sprache bestand im
18. Jahrhundert im Wesentlichen darin, sich mit diesen Elementen nach und nach vertraut
zu machen, bis man sie fließend sprechen, das heißt: aus ihnen in Echtzeit am Tasteninstrument Musik produzieren konnte. Auch Händels eigene Aufzeichnungen zur Kompositionslehre machen dies deutlich: Schritt für Schritt wird der Schüler in Händels Lehrgang am
Tasteninstrument mit den einzelnen Elementen vertraut gemacht. Ich greife zur Veranschaulichung vier Elemente (man könnte auch von „Satzmodellen“, „Topoi“ oder
„Schemata“) der Händel’schen Musiksprache heraus, wie sie auch in Händels Lehrgang zu
finden sind. Da ist erstens der in Quarten fallende und in Sekunden steigende Bass, der
etwa auch dem berühmten Kanon von Pachelbel zugrunde liegt. Er findet sich bereits im
frühen 15. Jahrhundert, ist also zur Zeit von Xerxes etwa 300 Jahre alt. Im 16. und 17.
Jahrhundert spielte er als „Romanesca“-Bass eine wichtige Rolle.
45
Abb. 1
Dann ist da der konsequent in Quinten aufsteigende (bzw. durch ausgleichende
»Gegenschritte« in Quinten aufsteigende und in Quarten fallende) Bass, der häufig mit
einer Kette von Quartvorhalten harmonisiert wird:
Abb. 2
Er scheint etwas jünger zu sein und dem Zeitalter der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts
zu entstammen, ist also zur Zeit Händels etwa 200 Jahre alt. Aus dem gleichen Zeitalter
stammt die wichtigste Kadenzformel der Barockmusik, die sogenannten „cadenza doppia“.
Abb. 3
Als ein deutlich jüngeres Element (wenige Jahrzehnte alt) könnte man die barocke Tanzsatzidiomatik mit ihren zahlreichen Verzierungen und barocken Dissonanzfiguren anführen,
in der Allemande z. B. typischerweise eine auftaktige Kette von Sechzehntelfiguren in
mäßigem Tempo.
Versuchen wir, aus allen diesen Elementen einige Takte barocke Musik zu entwerfen und
erfinden wir den Anfang einer Allemande! Der erste Teil soll aus zwei Viertaktern bestehen
(Abb. 4a). Zu Beginn ist als typisches Anfangsmodell der oben in Abb. 1 wiedergegebene
„Romanesca“-Bass geeignet, den wir sogleich mit einer kleinen Kadenz abschließen (Abb.
4b). Wie lässt sich nun weiterverfahren? Vielleicht als Antwort auf den fallenden Bass mit
dem oben beschriebenen aufsteigenden Bass (Abb. 2)? Ebenfalls wieder mit einer kleinen
46
Kadenz abgeschlossen ergibt sich die in Abb. 4c wiedergegebene Phrase. Nun, das klingt
erstens rhythmisch arg einförmig und zweitens ziemlich zusammengestückelt. Die rhythmische Einfältigkeit ließe sich beheben, indem wir das zweite Satzmodell auf einer anderen
metrischen Ebene stattfinden lassen (Abb. 4d). Hieraus resultiert aber ein Problem, denn
die Phrase ragt nun über den ersten Viertakter hinaus. Außerdem besteht noch immer das
Problem der deutlichen Zäsur zwischen den beiden Satzmodellen. Die in Abb. 4e suggerierte Lösung schafft etwas Abhilfe für beide Probleme: Die Endnote des ersten Satzmodells
und die Anfangsnote des zweiten fallen jetzt zusammen. Noch immer ragt die Phrase aber
über den Viertakter hinaus. Eine weitere Komprimierung ist nötig und lässt sich leicht durch
Beschleunigung der Kadenz bewerkstelligen (Abb. 4f).
Ein erster Viertakter wäre damit fertig. Wie geht es weiter? Am Ende des Achttakters, beim
Wiederholungszeichen, soll (dem Formmodell „Suitensatz“ gemäß) die Modulation in die
Tonart der fünften Stufe stehen. Besonders schön und farbig wirkt diese, wenn ihr voraus
eine kleine Ausweichung nach Moll – in die Tonart der sechsten Stufe – geht, so dass insgesamt in den Takten 5 bis 8 ein Teil einer Fonte-Sequenz (Quintfall) mit den Stufen H-E-A-D
entsteht (Abb. 4g). Es bleiben noch zwei Takte zu füllen. Am Ende verdoppeln wir einfach
(um den Schluss zu stärken) die Kadenz nach D (Abb. 4h). Bleibt noch ein halber Takt. Es
fehlt ein Zwischenglied zwischen G-Dur und e-moll. Man könnte z. B. C und a setzen (Abb. i).
Das Resultat ist nun ein schlichter Bass, dem natürlich für eine barocke Allemande noch
etwas ganz Entscheidendes fehlt: die Figuration. Hierfür stehen Standard-Floskeln zur
Verfügung, die wir nun über diese Zeile verteilen (Abb. 4j).
47
Abb. 4
Könnte ein derartig zusammengebastelter Bass Grundlage für eine barocke Allemande sein?
Ja, er könnte. Er ist es sogar. Es ist der Bass der Allemande, die dem dritten Akt von Händels
Xerxes vorangeht.
Abb. 5
„Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und
Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten;
und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen
und mit einförmigen Häusern.“ Wir können nun vielleicht deutlicher sehen, welche Relevanz Wittgensteins Bild von der Sprache als einer alten Stadt auch für barocke Musiksprache
hat. So einheitlich und kohärent uns diese Sprache auf Anhieb auch erscheinen mag (und
ob sie für Händels Zeitgenossen so einheitlich klang, bleibe hier dahin gestellt), sie ist ein
Gewinkel aus verschiedenen historischen Schichten, aus alten und neuen Satzmodellen, aus
Satzmodellen mit Erweiterungen aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer
Menge neuer Figurationen und Ornamenten.
Dass Musiksprache nicht mit einem musiktheoretischen System erfasst werden kann, ist
eine feste Überzeugung im Dresdner Zentrum für Musiktheorie. Der Grund dafür ist, wie wir
hier sehen, nicht einfach postmoderner Methodenpluralismus, sondern von der Sache selbst
48
gefordert. Eine musikalische Partitur ist überhaupt kein einheitlicher Gegenstand und kann
deswegen auch nicht mit einer einheitlichen Methode erfasst werden. Um das plausibel zu
machen, könnte man sehr einfach auf „Intermedialität“ als eine „Grundbestimmung der
Kunst“ (Georg W. Bertram, Kunst. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2005, S. 107)
verweisen und die Oper als offensichtliches Beispiel anführen, bei dem vielschichtige
theatralische und literarische Phänomene mit völlig unterschiedlichen musikalischen Parametern wie Textdeklamation, Instrumentation, Rhythmus und Klang zusammentreffen.
Des Pudels Kern liegt aber anderswo. Schon für das vermeintlich nackte musikalische
Material, wie es sich in den verschiedenen Epochen zeigt, gilt das, was Wittgenstein in
seinem Bild von der alten Stadt zu fassen versucht hat. „Die Sprache ist ein Labyrinth von
Wegen“, so Wittgenstein. „Du kommst von einer Seite und kennst dich nicht mehr aus; du
kommst von einer anderen zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus.“
PS. Die Anregung zu der hier praktizierten Darstellungsmethode, bei der man aus den
Einzelteilen ein Stück entstehen lässt (und nicht „analytisch“ das Stück in seine Einzelteile
zerlegt), verdanke ich meinem Lehrer Clemens Kühn („Das Unerhörte erleben“, in:
Diskussion Musikpädagogik 26 [2005], S. 38–40). Ihm ist dieser Beitrag deswegen in
Dankbarkeit gewidmet.
Prof. Dr. Felix Diergarten ist Dozent für Historische Satzlehre und Theorie der Alten Musik an der Schola Cantorum
Basiliensis. Neben zahlreichen anderen Publikationen hat er mit Ludwig Holtmeier und Johannes Menke „Georg
Friedrich Händel: Aufzeichnungen zur Kompositionslehre“ (Noetzel Verlag 2010) herausgegeben.
49
Warum ist Händels „Largo“ ein Hit?
Johannes Menke
Schon im 19. Jh. erfreute sich das fälschlicherweise meist als „Largo“ titulierte Stück großer
Beliebtheit, nicht zuletzt als Instrumentalstück, als welches es bis heute – vorwiegend auf
Hochzeiten und Beerdigungen – gerne gespielt wird. Auch die Schallplattenindustrie nahm
sich früh der Arie an: sie wurde 1909 von Clara Butt, 1930 von Caruso und 1939 von Tauber
eingespielt, eine Suchanfrage auf Youtube ergibt heute mehr als 100.000 Treffer und die
Arie fehlt auf keiner „Best-of-Baroque“-CD.
Eine Arie hat schon per se die Tendenz zum Populären: sie will das Publikum unmittelbar
berühren und wird dazu noch von den schon zu Barockzeiten bestbezahlten Musikern,
nämlich den Gesangstars, dargeboten. Zu einfach macht es sich aber derjenige, der meint,
das Populäre beruhe nur darauf, dass es einfach gestrickt sei. Zum einen ist vieles einfach
gestrickt ohne gleich populär zu werden, zum anderen ist vieles Populäre gar nicht einfach
gestrickt, was sich jedoch oft erst auf den zweiten Blick herausstellt. Ein Hit ist nicht einfach
zu komponieren!
Bekanntlich wurde das Drama Il Xerse des Librettisten Nicolò Minato, auf dem Händels
Libretto beruht, im 17. Jahrhundert von Francesco Cavalli und später von Giovanni Bononcini
vertont. Und so haben wir zwei frühere Vertonungen von „Ombra mai fù“, deren letzte
Händel auch kannte. Bei Cavalli singt Xerxes seine Ode an die Platane recht unbefangen
und fröhlich in einem 3-Halbe-Takt in einem duralen D-Modus. Bei Bononcini sind wir in
B-Dur und der Gestus scheint die Händelsche Arie schon ein wenig vorwegzunehmen.
Tatsächlich übernahm Händel einige Gesten, so etwa die erste Akkordfolge B-Dur, F-Dur,
g-Moll, die bei ihm, nach F-Dur transponiert, an der Stelle kommt, wo die Singstimme
einsetzt. Freilich ist diese Akkordfolge nichts Singuläres, sie ist ein Standard und findet sich
genauso im Pachelbel-Kanon. In Verbindung mit dem Text kommt ihr zwar ein gewisser
Wiedererkennungswert zu, übertrieben wäre es allerdings zu sagen, Händel würde hier
Bononcini zitieren. Wenn Händel das tut, hat er normalerweise keine Hemmungen,
wesentlich direkter zu zitieren. Neben der anfänglichen Akkordfolge sind es aber auch die
langgezogenen absteigenden Linien, die Händel übernimmt, aber noch viel mehr steigert.
Bononcinis Arie ist trotz ihres weich-melancholischen Charakters noch weit entfernt von
Händels großräumigem und eindringlichem Duktus.
Beim Hören von Händels „Ombra mai fù“ hat man unweigerlich das Gefühl, das ganze Stück
stehe unter einem großen Spannungsbogen. Man kann es schwer abbrechen oder ausblenden. Im Film Dangerous Liaisons (Gefährliche Liebschaften), wird in einer Szene das
komplette Stück ohne Unterbrechung gespielt. Die Handlung steht dabei scheinbar still.
Gezeigt wird zwei Minuten lang nur, wie die Protagonisten (gespielt von Glenn Close und
John Malkovich) der Musik lauschen und dabei Blicke austauschen.
Der Grund für diese sozusagen musikimmanente narrative Dichte der Musik ist nicht nur das
Fehlen der Da-capo-Form oder die relative Kürze. Vielmehr versucht Händel auf mehreren
Parametern seine Musik so zu komponieren, dass die Spannung bis zuletzt anhält.
50
Dies wird schon deutlich, wenn man sich nur die Oberstimme ansieht:
Bsp. 1
Wir können fünf Phrasen unterscheiden, die hier untereinander abgedruckt sind:
1. Eine instrumentale Einleitung, 15 Takte, deren letzter Takt mit dem Einsatz der
Singstimme überlappt.
2. Erster Textdurchgang, mit kurzer instrumentaler Unterbrechung, Dauer 11 Takte, Ende
mit einer schwachen Kadenz auf der Terz von F-Dur.
3. Zweiter Textdurchgang, 8 Takte, Kadenz auf der sechsten Stufe d-Moll, die allerdings
im Bass zu einem Trugschluss wird, der in der zeitgenössischen italienischen Theorie
auch cadenza inganno oder cadenza finta genannt wurde. Die Zeile „cara ed amabile“
wird als Anhang wiederholt.
4. Dritter Textdurchgang, wiederum 8 Takte, Kadenz auf F, die wiederum durch die
Begleitung zu einem Trugschluss auf der sechsten Stufe wird, also wieder eine
cadenza finta. Die letzten Worte, „soave più“, werden wiederholt.
5. Ein instrumentales Nachspiel, 6 Takte, welches die zweite Hälfte der Einleitung wieder
aufgreift.
Ganz offensichtlich werden die Phrasen kürzer: 15-11-8-8-6, wobei der Verkürzungsprozess
durch die zweitaktigen Anhänge der beiden Achttakter etwas aufgehalten wird. Quer zu
diesem Verkürzungsprozess steht eine andere Proportionierung, die in vielen Kompositionen, zumal des Barockzeitalters, eine Rolle spielt: Mitte und Goldener Schnitt. Die Mitte des
Stückes ist T. 26, also exakt nach dem Ende der zweiten Phrase. Der Goldene Schnitt liegt
nach T. 32, also dort, wo die Singstimme etwas abstürzt, um zu einer Kadenz nach d-Moll
anzusetzen, die dann trugschlüssig abgebogen wird.
Überhaupt: die Kadenzen! Wer sich viel mit Händel beschäftigt, merkt, welch ein Meister
der Kadenzvermeidung er ist. Händel schafft es oft über Seiten hinweg, Kadenzbildungen
zu umgehen oder abzuschwächen, manchmal schweißt er ganze Satzfolgen zusammen,
51
indem er eine wirklich schlusskräftige Kadenz vorenthält. Die Großzügigkeit und der lange
Atem seiner Musik rührt von dieser Technik her, so auch in unserem Stück.
Für eine schlusskräftige Kadenz brauchen wir einen Quintfall im Bass und eine Sopran- oder
Tenorklausel in der Oberstimme, so dass es zu einer Oktave in den Außenstimmen auf dem
Schlussklang kommt. Dies geschieht zum ersten Mal in T. 46, also wenn der Sänger aufhört!
Die Kadenz der ersten Phrase wird durch die Überlappung, also den Einsatz der Singstimme
auf der Quinte aufgehoben. Die Kadenz der zweiten Phrase endet auf einer Terz, somit
offen, die Kadenz der dritten Phrase ist ein Trugschluss (sechste statt erwartete erste Stufe
von d-Moll), die erste Kadenz der vierten Phrase ist wieder ein Trugschluss auf der sechsten
Stufe, diesmal sogar mit 7-6-Vorhalt, erst dann kommt es zu einer wirklich abschließenden
Kadenz. Wir sehen also: Mit seiner Kadenzvermeidungsstrategie hält Händel die Spannung
bis kurz vor Schluss aufrecht. Kombiniert mit der Verkürzung der Phrasen führt dies zu einer
zeitlichen Verdichtung, die dem Stück eine gewisse Sogwirkung verleiht. Zur formalen
Organisation gehört aber auch das motivische Gefüge.
Es lassen sich sechs Motive unterscheiden, die allesamt in der Einleitung vorgestellt werden:
a) Der Quartabstieg mit Überbindung, mit dem alle Phrasen, bis auf die fünfte, beginnen.
b) Ein Quartaufstieg mit Sechzehntelfigur, der zur Quinte der Dominante führt.
c) Ein langgezogener Quartabstieg von der sechsten zur dritten Stufe, der im Bass mit
Dezimen unterlegt ist.
d) Ein Quartabstieg mit Tonrepetition und Anticipatio von der ersten zur fünften Stufe.
e) Eine verzierte Sopranklausel mit Leitton zur fünften Stufe.
f) Eine Schlussfigur mit Transitus und Anticipatio, ebenfalls eine absteigende Quarte.
Bsp. 2
Bis auf das Motiv e) beruhen alle Motive auf einer ausgefüllten Quarte. Durch rhythmische
Figuren und Skalenbezug unterscheiden sie sich jedoch auf charakteristische Weise. Ihre
Anordnung ist alles andere als einheitlich, abgesehen von der ersten Figur, mit der immer
begonnen wird: So hören wir in der zweiten Phrase nur die ersten drei, wobei das Motiv a)
wiederholt und die anderen leicht variiert werden. In der dritten Phrase wird das Motiv d)
direkt hinter das erste gesetzt, wiederholt und variiert. Danach findet sich ein weißer Fleck,
in dem sich zwar Bestandteile verschiedener Motive finden, jedoch keine eindeutige Zuordnung möglich ist. Dies ist genau die Zone des Goldenen Schnittes, wo das Stück nach d-Moll
moduliert! In der vierten Phrase werden die drei letzten Motive direkt an das erste gefügt,
ein Rest des zweiten Motivs findet sich im Anhang. Das Nachspiel schließlich zitiert nochmals
die letzten drei Motive. Somit wird deutlich, dass den Motiven unterschiedliche Funktion
zukommt: Das erste Motiv hat Signalcharakter und ist verbunden mit „Ombra mai fù“. Alle
52
anderen Motive sind nicht an eine bestimmte Textpassage gebunden. In der ersten Hälfte
dominieren die Motive b) und c), in der zweiten die letzten drei. Man hat so das Gefühl, zwar
immer das Gleiche zu hören, jedoch nie in derselben Abfolge. Wiederholung und Abwechslung, Wiedererkennung und Überraschung halten sich auf elegante Weise die Balance.
Abwechslungsreichtum zeigt sich auch bei der harmonischen Behandlung der Motive.
Betrachten wir allein das erste Motiv: Am Anfang sitzt es auf einer aufsteigenden Skala im
Bass: Wir hören dort die Bassstufen 1.-2.-3. Beim zweiten Mal (T. 16–20) wird das Motiv mit
der Bassfolge kombiniert, die wir aus Bononcinis Arie und aus dem Pachelbel-Kanon
kennen: terzweise versetzte Quartfälle: f-c-d-A-B-F. Beim dritten Mal (T. 27/28) ist es wie
am Anfang und beim vierten Mal (T. 37/38) geht der Bass in parallelen Dezimen mit der
Oberstimme. Es wird somit allmählich deutlich, dass die ganze Arie ein Gefüge motivischer
Bezüge und Varianten darstellt, ohne irgendeinem eindeutigen Prinzip zu folgen.
Fast alle Grundgedanken – bis auf den Pachelbel-Bass – werden in der Einleitung präsentiert. Die auffällig lange Passage, die mehr als ein Viertel der ganzen Länge ausmacht, ist
für die Wirkung der Arie von entscheidender Bedeutung. Die Musik spricht zunächst wortlos
zu uns. Gemeinsam mit Xerxes wird der Zuhörer von der Atmosphäre des „bellissimo giardino“, wie es in der Regieanweisung heißt, also des „überaus schönen Gartens“, gefangen
genommen. Die Wirkung muss auf Anhieb sitzen. Dies gilt für die dramaturgische Situation
und es gilt für jeden Hit. Betrachten wir daher genauer diese Einleitung.
Tonale Klangfolgen, vor allem in der Barockzeit, werden durch die Außenstimmen definiert,
also durch deren Kontrapunkt.
Bsp. 3
Die drei Teilphrasen unterscheiden sich auf einer ganz prinzipiellen Ebene: Die erste Teilphrase geht von der Oktave auf der ersten Stufe aus, erreicht in sich zusammenziehender
Gegenbewegung die dritte Stufe im Bass mit einer Terz und geht wiederum in Gegenbewegung auseinander, um auf der fünften Stufe auf einer Quinte innezuhalten. Die zweite
Teilphrase geht schlicht in parallelen Dezimen abwärts, im Bass von der vierten zur ersten
53
Stufe, und verharrt dort mit einer sogenannten cadenza di grado, also einer Kadenz mit
Tenorklausel im Bass. Wegen der Terzlage und der schwachen Wirkung dieses Kadenztypus
kann hier nur von einer Zäsur, gleich einem Komma, gesprochen werden. Die letzte Teilphrase schließlich ist wiederum ganz im Modus der Gegenbewegung gehalten, mit einer
kurzen Passage in der Seitenbewegung, und schließt auf der Oktave, die, wie wir gesehen
haben, von der auf der Quinte einsetzenden Singstimme übertönt wird.
Kontrapunkt und Intervallsatz artikulieren die Form dieser Einleitung also recht profiliert.
Die Klarheit des Kontrapunkts trägt maßgeblich bei zur Fasslichkeit dieses Anfangs.
Wie ist es nun um die Harmonik bestellt? In einer weitverbreiteten Händel-Monographie
heißt es:
„Auch ohne seinen Text […] wurde das ‚Largo‘, der Eröffnungssatz des Serse, zu einer
von Händels bekanntesten Einzelnummern, die alle auch gegenwärtig noch aktuellen
Kategorien für populäre Musik erfüllt: ruhig-beruhigender Grundduktus, taktweise
wechselnde Grundakkorde einfachster Kadenzharmonik, schlichte, unmittelbar nachvollziehbare und häufig wiederholte melodische Gesten.“
Auf den ersten Blick scheint es sich so zu verhalten: Die Einleitung ist reines F-Dur, abgesehen vom doppeldominantischen Leitton h. Bei genauerem Hinsehen bzw. Hinhören jedoch
können wir einige harmonische Details entdecken, denen dieses Stück seinen Reiz ganz
maßgeblich verdankt.
Seit dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts war die in unzähligen Traktaten überlieferte
Oktavregel der Maßstab harmonischer Normalität. Kirnberger spricht von der „natürlichen
Bezifferung“ der Skala, in italienischen Traktaten ist die Oktavregel schlicht „la scala“, selbst
für Rameau hatte die Oktavregel ein normative Gültigkeit, was sich vor allem dann zeigt,
wenn er über Generalbasspraxis schreibt.
Der Bass der Einleitung müsste laut Oktavregel folgende Akkorde haben:
Bsp. 4
Händel hat nun einige bemerkenswerte Abweichungen und Zusätze eingebaut:
54
Bsp. 5
Dies betrifft schon den Anfang. Der Septimvorhalt ist zwar eine ganz typische Verzierung,
die Sexte auf der zweiten Stufe ist der Leitton, der sich nach oben auflösen müsste, so wie
es alle Oktavregelschulen zeigen. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein Sextakkord auf der
dritten Stufe. Händel geht aber nach dieser Sexte abwärts weiter über die Quinte in die Terz
der dritten Stufe. Der Leitton wird nicht aufgelöst und die Quinte tritt als Transitus zum
Akkord hinzu. Diese Variante freilich ist nicht völlig singulär, wir finden sie auf einprägsame
Weise z. B. in Bachs großartiger Fantasie in G für Orgel. Besonders auffällig ist weniger die
nicht erfolgende Auflösung des Leittons, sondern vielmehr der melancholisch anmutende
Quintsextakkord, der auf dem dritten Schlag entsteht. Dass Händel diesen Klang nicht nur
als Durchgang verstanden haben wollte, zeigt die Stimmführung: Die Viola springt ins e,
womit der Klang eine Akzentuierung erfährt.
Der nächste spezielle Klang ist der Terzquartakkord zu Beginn der zweiten Teilphrase. Normalerweise steht hier ein Sekundakkord; weil Händel aber in Dezimen in den Außenstimmen fortschreiten will, muss die Sekunde durch die Terz ersetzt werden und es kommt
eben zum Terzquartakkord: Aus 2-4-6 wird 3-4-6. Die Wirkung ist phänomenal.
Die allerschönste Stelle aber ist die erste Hälfte der dritten Teilphrase: Die Gegenbewegung
über den Stufen 1.-2.-3. im Bass, führt zu einem Septakkord auf der zweiten und einem
Quintsextakkord auf der dritten Stufe. Letzterer ist ein recht dissonanter Klang, da er eine
kleine Sekunde bzw. große Septime zwischen Quinte und Sexte aufweist. Auch hier akzentuiert Händel den Klang durch einen Sprung in der Viola. Und es ist wieder die Viola, die im
nächsten Takt auf dem dritten Schlag eine Sexte bringt. Wir sind hier auf der fünften Stufe,
der Dominante, dort hat eine Sexte eigentlich nichts zu suchen! Es scheint, als würde hier
die Stimmführung der Bratsche über den erwarteten Klang triumphieren; die klare Kontur
der Tonalität wird wie aufgeweicht durch die unstabile Sexte. Dieser Hit, mit dem Händels
späte Oper beginnt, ist also zugleich fasslich (der Kontrapunkt und die klare Linienführung),
vielschichtig (Form und Motivik) und raffiniert (Harmonik) komponiert. Dargestellt wird
immerhin ein recht komplexer Gemütszustand: die Liebe zu einem Baum, hinter der der
Wunsch nach Liebe zu einem Menschen steht. Diese Arie ist nicht deshalb zu einem Hit geworden, weil sie so schlicht ist, sondern weil wir ihre ganz eigentümliche und wundervolle
Musik, die eine durchaus ungewöhnliche Szene einfangen will, immer wieder hören wollen.
Prof. Dr. Johannes Menke ist Professor für Historische Satzlehre an der Schola Cantorum Basiliensis. Unter seinen
zahlreichen Publikation hat er mit Felix Diergarten und Ludwig Holtmeier „Georg Friedrich Händel: Aufzeichnungen
zur Kompositionslehre“ (Noetzel Verlag 2010) herausgegeben.
55
Nachwort
Georg Friedrich Händels Oper Xerxes hat nicht nur für das Opernpublikum in den letzten
Jahren an Popularität gewonnen. Die Oper ist wegen ihres Stellenwertes als eine der letzten
Opern von Händel auch zunehmend von Interesse für die musikwissenschaftliche und
-theoretische Forschung geworden. Die Idee dieses erweiterten Programmheftes ist es,
Gedanken aus unterschiedlichen Blickwinkeln zum Thema Xerxes sowohl für das Opernpublikum als auch für die wissenschaftliche Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Die
Beiträge entstammen der vom Zentrum für Musiktheorie durchgeführten Ringvorlesung
„Händels Oper Xerxes“, die von Oktober 2013 bis Januar 2014 an der Hochschule für Musik
Carl Maria von Weber Dresden stattfand. Zu diesen Ringvorlesungen wurden Spezialisten
aus der musikalischen Praxis und Wissenschaft aus dem gesamten deutschsprachigen Raum
eingeladen, um, besonders für die Studenten der Dresdner Opernklasse, Kenntnisse dieser
Oper zu vermitteln. Insofern dient dieses Heft auch als Dokumentation dieser Vorlesungsreihe. Besonders freuen wir uns darüber, dass im Rahmen der Feierlichkeiten zum 250-jähigen Bestehen der Hochschule für bildende Künste Dresden, zwei Künstlerinnen aus der
Abteilung Bühnen- und Kostümbild sowohl bei der Vorlesungsreihe, als auch bei diesem
Heft mitgewirkt haben.
An dieser Stelle möchte ich mich herzlich beim Rektorat der Hochschule für Musik Carl Maria
von Weber Dresden (insbesondere bei Herrn Prof. Andreas Baumann und bei Frau Judith
Schinker) für ihre Unterstützung des Projekts bedanken. Auch Frau Dr. Katrin Bauer und Frau
Konstanze Kremtz möchte ich einen großen Dank für die redaktionelle Unterstützung aussprechen. Und schließlich sind wir allen Autoren des Heftes bzw. Vortragenden der Reihe
für ihr Engagement sehr zum Dank verpflichtet.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Besuch der Dresdner Hochschulproduktion von
Händels Oper Xerxes und hoffe sehr, dass dieses Heft Ihren Opernbesuch bereichert.
John Leigh
Leiter des Zentrums für Musiktheorie
an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber
56
abzugelten.
Hier ist der Herausgeber bereit, nach Anforderung rechtmäßige Ansprüche
In einigen Fällen konnten die Rechteinhaber nicht ermittelt werden.
Wir danken den Rechteinhabern für die Reproduktionsgenehmigung.
Preis: 3,00 Euro
Druck: Elbtal Druck & Kartonagen GmbH
Layout: Grafikbüro unverblümt
Satz: Konstanze Kremtz
Redaktion: Prof. Dr. John Leigh
Umschlaggestaltung: Grafikbüro unverblümt
Titelbild: Maira Bieler und Romina Kaap
Internet: www.hfmdd.de
Rektor: Prof. Ekkehard Klemm
Fon 0351/4923-660, Fax 0351/4923-657
Wettiner Platz 13, 01067 Dresden
Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden
Impressum
Herunterladen