Prof. Dr. Johannes Heinrichs Theosophie und Philosophie – ihre gemeinsame Zukunft Ein hartnäckiges Vorurteil Die folgenden Ausführungen wollen auf etwas sehr Konstruktives hinaus: auf ein positives Verhältnis von moderner, auch zeitgenössischer Philosophie und Theosophie. Wobei ich die Bedeutung der letzteren im Rahmen dieser Zeitschrift nicht zu erklären brauche. Beginnen muss ich jedoch mit Kritik an einem hartnäckigen Vorurteil, das da lautet: Die Philosophie des Ostens ist eine spirituelle und auf die Innerlichkeit des Menschen konzentrierte, die des Westens dagegen objektzugewandt und materialistisch. 1 Dieses Vorurteil hört man leichtsinnig ausgesprochen, etwa bei Yogalehrern und -schülern, bei solchen (im Grunde nur exoterischen) Esoterikern, die das Denken ohnehin verabscheuen, in geschriebener Form auch bei vielen populären Autoren in Ost und West.1 Ich werde demgegenüber im ersten Teil aufzeigen, dass die Spaltung zwischen Materialismus und Spiritualismus (Idealismus) mitten durch die Philosophie des Westens erst seit etwa 170 Jahren geht, dass in ihr selbst ein weltgeschichtlich bedeutsamer Kampf ausgetragen wird, dass es sich also bei jenem Ausspruch um eine bequeme Vergröberung und um ein Vorurteil handelt, das manchen zu nützen scheint. Die Frage: Wer macht es sich auf solchem Vorurteil bequem und aus welcher Interessenlage heraus, die über bloße geistige Bequemlichkeit hinausgeht? Sind auch Täuschungsinteressen im Spiel und wer verfolgt sie? Sind auch theosophisch Denkende von dieser Täuschung betroffen und fliehen sie vor der westlichen, „weltlichen“ und angeblich seit langem materialistischen Philosophie, vielleicht zu ihrem eigenen großen Nachteil? 1. Ein kurzer Gang durch die abendländische Philosophiegeschichte Im Hinblick auf die antike Philosophie und ihre größten Vertreter wie Platon und Aristoteles, aber auch die nachchristlichen Neuplatoniker wie Philo von Alexandrien und Plotin, desgleichen für die mittelalterliche Philosophie, etwa des besonders wirkungsmächtigen Thomas von Aquin, wäre es offensichtlich völlig abwegig, von einer materialistischen oder einer anti-spirituellen Tendenz zu sprechen – wenngleich Platons Lehrer Sokrates bezeichnenderweise wegen seiner Vernunftkritik an den religiösen Konventionen hingerichtet wurde. Doch die neuzeitliche Philosophie steht zunehmend unter dem Verdacht, prinzipiell religionskritisch und antispirituell zu sein – was keineswegs dasselbe bedeutet. Manche Religionskritik kommt bekanntlich gerade aus spirituellen Wurzeln, nicht zuletzt auch theosophische 2 Religionskritik die – um des lieben Friedens mit tonangebenden Konfessionen gern sogar verschwiegen wird. Kleiner aktueller Exkurs zur Religionskritik Gerade während ich dies schreibe, fällt mir ein Brief des Mahatma Koot’ Hoomi2 in die Hände, der in der von Hank Troemel herausgegebenen Aus1 | Ich muss für fachlich näher Interessierte auf mein zusammenfassendes Buch verweisen: Integrale Philosophie. Wie das Leben Denken lernt – gelebte und ausdrückliche Reflexion, Sankt Augustin 2014. 2 | Mahatma Koot’ Hoomi in: H.P. Blavatsky, Die Geheimlehre, zus.-gestellt, u. hg. von Hank Troemel, Hamburg 2003, Nachdruck o. J. im Aquamarin Verlag Grafing, 537f. Das Datum der Abschrift dieses Briefes an A.O. Hume durch A.P. Sinnett lautet: 28. Sept. 1882. Vgl. The Mahatma Letters, hg. von A. T. Barker 3. Aufl., Madras 1962, Brief Nr. 10, S. 57-58; vgl. auch Die Mahatma-Briefe, übers. u. hg. von N. Lauppert, Satteldorf, 2. Aufl.1994, Bd. II, S. 213-214. – Vgl. auch S. 2 dieses Heftes. gabe von H. P. Blavatkys „Geheimlehre“ im Anhang abgedruckt ist. Da findet sich aus berufenem Munde und aus spiritueller Motivation die schärfste Religionskritik, die man überhaupt lesen kann: Nachdem er den negativen Gebrauch der Freiheit des Individuums als Ursache für „ein Drittel aller Übel“, thematisiert hat, fährt er fort: „Wenn ich nun von den Übeln absehe, die naturgegeben und unvermeidlich sind (…), will ich nun die verhängnisvollste, die hauptsächliche Ursache für etwa zwei Drittel aller Übel aufzeigen, von denen die Menschheit heimgesucht wird, seit diese Ursache Macht erlangt hat. Es ist die Religion, in welcher Form und in welchem Volk auch immer sie auftritt. Es sind die Kaste der Priester, der Klerus und die Kirchen. In dieser Institution der Illusionen, die der Mensch als geheiligt betrachtet, muss er die Quelle suchen für die Vielfalt von Übeln, die der Fluch der Menschheit sind und sie fast ersticken. (…) Es ist nur der Glaube an Gott oder Götter, der zwei Drittel der Menschheit zu Sklaven einer Handvoll von Leuten macht, die sie mit falschen Versprechen, ihr Seelenheil zu erwirken, betrügt. Ist der Mensch nicht jederzeit zu jeder Schlechtigkeit bereit, wenn ihm gesagt wird, sein Gott oder seine Götter verlangten diese oder jene verbrecherische Tat von ihn? Ist er nicht das willige Opfer eines illusionären Gottes und der unterwürfige Sklave einer cleveren Priesterkaste? (…) Seit zweitausend Jahren lastet auf Indien das Kastenwesen, und nur die Brahmanen ziehen Nutzen aus dem Reichtum des Landes, die Anhänger Jesu und Mohammeds bringen sich heutzutage gegenseitig um jeweils im Namen und zum größeren Ruhm ihrer eigenen Mythen. Denken Sie immer daran, dass die Summe allen menschlichen Leidens sich so lange nicht verringern wird, bis der größere Teil der Menschheit die Altäre der falschen Götter im Namen der Wahrheit, der Moral und allumfassender Wohltätigkeit niederreißen wird.“ Ich sah es für notwendig an, zu prüfen, ob diese überraschend scharfen Worte über Religion tatsächlich vom Mahatma Koot’ Hoomi stammen und sich auch in der dreibändigen Ausgabe der Mahatma-Briefe von Norbert Lauppert finden. Da dies der Fall ist, muss man sich die Frage stellen, ob die theosophischen Gesellschaften gut daran tun, solche Kritik um der Wahrheit und echter Spiritualität willen zurückzuhalten, auch da, wo sie angebracht und notwendig ist, wovon ich am Schluss ein markantes Beispiel bringe, wenngleich das zitierte Beispiel in Zeiten von islamistischen Anschlägen wie in Paris und von Pegida-Demonstrationen an Aktualität gar nicht zu überbieten ist. 3 Neuzeitliche Philosophie von Descartes bis Hegel Die gesamte neuzeitliche Philosophie kann als „Selbstentfaltung der methodischen Reflexion“ charakterisiert werden. Mit dieser scheinbar einfachen Formel ist viel mehr gesagt, als hier in Kürze dargelegt und vom philosophischen Laien auf die Schnelle erfasst werden kann. Es handelt sich darum, dass das Wesen des Bewusstseins (wie weniger vollkommen schon des pflanzlichen und tierischen Lebens) Selbstbezüglichkeit ist, und dass unsere ausdrückliche philosophisch-theoretische Reflexion die Aufgabe hat, der vorhergehenden gelebten Reflexion geordneten und allgemein akzeptablen Ausdruck zu verschaffen. Dieser Prozess der Selbsterfassung der Reflexion (der Selbstreferenz oder Rückbezüglichkeit des Bewusstseins), einfach gesprochen der Philosophie als methodische Selbstbesinnung, wurde bis heute noch keineswegs zu Ende geführt. Er fing in bewusster Weise erst bei Descartes an. 4 Descartes (1596-1650): Selbstgewissheit als methodischer Ausgangspunkt – ohne Thematisierung des Reflexionsvorgangs selbst René Descartes` berühmter Neuanfang beim cogitans sum, das heißt allgemein beim Bewusstseinsvollzug des selbstbewussten Subjekts als des ersten unbezweifelbaren Zugangs zu Realität, weist durch das Partizip cogitans darauf hin, dass es sich um eine Vollzugserkenntnis handelt. Wenn es standardmäßig heißt, das Subjekt (der Denkende) werde bei Descartes erstmals zum Ausgangspunkt des Philosophierens, deshalb beginne mit ihm die Philosophie der Neuzeit, dann ist das zwar nicht falsch. Es lenkt jedoch leicht den Blick auf das scheinbar Dingliche des Subjekts und weg vom eigentlich methodischen Neuanfang. Doch der Discours de la méthode, wie Descartes seine Frühschrift von 1637 bezeichnenderweise betitelte, ist ihm das Wichtigste. Er ist etwas scheinbar nur Formales, keine bestimmte materiale Lehre: Erste Philosophie als Reflexion auf den unbezweifelbaren Selbstvollzug des Denkenden, was es inhaltlich schon mal bei Augustinus gab („ich kann nicht daran zweifeln, dass ich zweifle“), nicht aber in methodologisch grundlegender Hinsicht, im Sinne einer Theorie der Selbstreflexion. Jene Vollzugserkenntnis des cogitans (des Denkendem im Gegensatz zu seinen ausgedehnten Objekten: res extensae) ist aber jedem selbstbewussten Wesen von Natur aus gegeben. Was den Philosophen auszeichnet, ist „nur“ die ausdrückliche, methodische Reflexion auf diesen Sachverhalt. Reflexion heißt hier Rückbesinnung: Explizieren (Ausdrücklichmachen) des Impliziten. Was Descartes noch nicht thematisiert, ist das Verhältnis des impliziten Bewusstseins (cogitans) zur ausdrücklichen cogitatio des Nachdenkenden. Er stellt sich noch nicht die Frage: Ist das implizite Bewusstsein selbst auch schon als Reflexion zu verstehen? Wäre die explizite Reflexion dann etwa „nur“ die Nachbildung einer impliziten? Wir sind hier mit wenigen Schritten bei der ganz entscheidenden, bis heute umstrittenen bzw. vernachlässigten Frage angelangt. Sie kann geradezu die Leitfrage unserer Charakterisierung der neuzeitlichen Philosophie als Reflexionstheorie bilden: Was ergibt sich aus der expliziten Reflexion über die Natur des Bewusstseins? Ist dieses selbst schon implizite Reflexion, das heißt dann Selbstbezüglichkeit, im Unterschied zu einer differenzlosen Helle? Lassen sich Bewusstsein (auch tierisches) und das Selbstbewusstsein des Menschen geradezu von der Selbstbezüglichkeit her definieren, so dass ein nicht-reflexives Bewusstsein geradezu ein hölzernes Eisen wäre? Diese Frage wird Zündstoff selbst noch für unsere Zukunft bilden, auch wenn sie derzeit von der akademischen Philosophie verdrängt wird, indem diese erst bei der ausdrücklichnachträglichen Reflexion ansetzt. 5 » » Exkurs zu Thomas von Aquin (1224-1274): eine Reflexionsstufenlehre In inhaltlicher, vormethodologischer Hinsicht hat diese Frage nach dem Subjekt paradoxerweise bereits in der mittelalterlichen, genauer der thomanischen Philosophie eine Antwort gefunden. Thomas von Aquin spricht von conscientia concomitans, vom „begleitenden Bewusstsein“. Darüber hinaus entfaltet der Aquinate an mindestens einer genialen Stelle3 seines Werkes eine Stufenlehre des Seienden unter dem Gesichtspunkt ihrer Selbstbezüglichkeit: Das Reich des Unbelebten, ein Stein beispielswese, hat nur unreflektierte Äußerlichkeit, was sich darin zeige, dass Dinge nur nach Außen wirken können. Die Pflanzen seien bereits durch eine erste Stufe der Innerlichkeit oder Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet, was sich in ihrer von Innen wirkenden Lebendigkeit und Entwicklung äußere. » Die Tiere zeichneten sich bereits durch eine „reflexio incompleta“ eigener Erlebnisfähigkeit (Sensivität) aus. » Der Mensch erst erreiche die Stufe der „reflexio completa“, der vollständigen Selbstreflexion, des Selbstbewusstseins. Thomas gibt hier im Grunde uralte, theosophische Weisheit wieder, die bei ihm aber noch nicht methodisch systematisch als Reflexionstheorie ausgeschöpft wird. Das ist Sache des neuzeitlichen Denkens. Dieser kurze Exkurs in die mittelalterliche Philosophie sollte gerade verdeutlichen, was es heißt, dass mit Descartes zunächst ein methodischer Neuanfang eingesetzt hat und was 3 | Thomas von Aquin, Summa philosophica (Summe wider die Heiden) liber IV, caput 11 . 6 moderne Philosophie sehr grundsätzlich von allen antiken und mittelalterlichen, zunächst auch von allen altüberlieferten theosophischen Weisheiten unterscheidet. ‚ Descartes inhaltliche, materiale Lehre entfaltete bei weitem noch nicht den Reichtum der mittelalterlichen mit ihrem antiken und vielleicht „zeitlosen“ Erbe. Es ging ihm um eine unumkehrbare methodologische Wende in der Philosophie: die Wende zur Erkenntnistheorie. Nicht die inhaltlichen Wissensschätze als solche zählen künftig, denn mit vorgeblichen Wissensschätzen war schon allzu viel Missbrauch im Verein von kirchlichen und weltlichen Herren getrieben worden. Was nun vor allem zählte, war die Frage: Was lässt sich wirklich beweisen oder zumindest plausibel begründen? Dennoch liegt in seinem suchenden und Zweifel überwindenden Praktizieren der Selbstreflexion als Ausgangspunkt schon das Revolutionäre, das ihm und künftig automatisch allen kritisch Denkenden die „Dogmatiker“ und Traditionalisten zu Feinden machte. Descartes versuchte sich sein ganzes Leben, doch am Ende vergeblich, zu verbergen. Am Hofe der schwedischen Königin Christina wurde er, wie man heute ziemlich sicher erforscht hat, im Jahre 1650 vergiftet, vermutlich mit Hilfe der heiligen Hostie als Mordinstrument!4 Vier Jahre später konvertiert die Königin zurück zum Katholizismus. Es muss sich, ganz kurz nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, an ihrem Hofe heimlich ein heftiger Konfessionskampf zugetragen haben. Während Philosophie das ganze Mittelalter hindurch ganz offiziell als ancilla theologiae, als Magd der Theologie, galt, blieb sie fortan die Disziplin des Zweifels, ohne die es keine wirkliche Gewissheit und anerkannte Wahrheit mehr geben konnte. Bis heute gilt fürs Abendland, dass eine Philosophie, welche die erkenntnistheoretischen Fragen außen vor lässt und nicht von den Fundamenten her begründen kann, im Kreis der Wissenschaften nicht mehr ernst genommen wird. Ohne diese erkenntnistheoretische und begründende Komponente kommen höchstens Weisheitslehren aus, die der moderne Mensch – ähnlich wie die Glaubenstheologie – sich zur Erbauung anhören kann, doch nicht wirklich ernst nimmt. Dass allerdings der philosophische Weg des (zu überwindenden!) Zweifels in unseren Tagen oft ein Sichsuhlen im Zweifel, ja ein Weg der Verzweiflung an aller Wahrheit wurde, dies war ein notwendiges Risiko, keineswegs jedoch ein notwendiges Resultat. 7 wurde.Für Spinoza gibt es nur eine „Substanz“ alles Wirklichen, das Göttliche. Es hat die beiden Attribute oder Aspekte „Denken“ und „Ausgedehntes“, also Materie. Baruch Benedikt Spinoza (1632 – 1677) Nach Descartes verzweigt sich die abendländische Philosophie in einen empiristischen Zweig, der den aufkommenden Naturwissenschaften und ihrem zumindest methodischen Materialismus immer näher rückte und stärker im englischen Sprachgebiet beheimatet war, und einen sogenannten „rationalistischen“ und idealistischen Zweig auf dem europäischen Kontintent. Der letztere Zweig wurde maßgeblich weitergeführt von Baruch Benedikt Spinoza, der wenig später für Lessing, Herder, Goethe und die Denker des deutschen Idealismus wesentlich 8 Was bei Descartes noch methodologischer Ausgangspunkt war, die Doppelheit von denkendem Subjekt und ausgedehnten Objekten, bekommt bei ihm eine ontologische, seinsmäßige Bedeutung. Ganz in Übereinstimmung mit dem oben schon zitierten Mahatma-Brief (a.a.O. 535) gibt es nichts als diese Doppelheit der universalen Substanz der Gottheit als Materie und deren denkende, geisterfüllte Bewegung. Man hat das Pantheismus genannt, auf welche Bezeichnung ich zurückkommen werde. Es blieb nicht aus, dass Spinoza aus seiner jüdischen Gemeinde – seine Vorfahren waren jüdische Immigranten aus Portugal – verbannt wurde. 4 | Vgl. näher, mit Literaturangaben: Doppelmord an Descartes – Geist und Körper. www.johannesheinrichs.de/media/155/ cms_4fa8d544e5483.pdf Leibniz (1646 – 1716) und Wolff (1679 – 1754) Nur wegen des stereotypen, bequemen Vorwurfs des Materialismus an die westliche Philosophie seien zwei große Köpfe zwischen Descartes/Spinoza und Kant wenigstens erwähnt: Gottfried Wilhelm Leibniz, aus dessen metaphysischer Monadenlehre der theosophische Ausdruck „Monade“ entlehnt ist. Die maßgebende Monade ist für Leibniz das individuelle Selbstbewusstsein, die Seele, in der sich die gesamte Wirklichkeit spiegelt (reflektiert). In Christian Wolffs reichhaltigem, logisch ausgebautem Lehrgebäude (in Fortführung von Leibniz wie der protestantischen Scholastik, erstmals auf Deutsch vorgetragen) spielen die philosophische Gotteslehre und die Lehre von Menschen als Seelenlehre eine hervorragende Rolle vor der Naturphilosophie (cosmologia). Auch er musste zeitweise vor der theologischen Orthodoxie von seinem Lehrstuhl in Halle fliehen. Immanuel Kant (1724 – 1804) Bei aller Achtung vor dem reichhaltigen Stoff der Leibniz-Wolffischen Philosophie, die Immanuel Kant – neben Mathematik, Logik usw. seine lange Zeit als Dozent und Professor hindurch offiziell lehrte, bezeichnet er deren Lehrstücke als „dogmatisch“. Bei ihm gewinnt das Wort „Dogmatismus“ einen nicht-religiösen, einen rein methodologischen Sinn, insofern neu an Descartes anknüpfend: Dogmatismus ist vollmundige Theorie ohne „Kritik“ im Sinne der kritischen Prüfung unserer Erkenntnisvermögen. „Transzendental“ meint genau diese reflexive und zugleich vollzugstheoretische (im weiteren Sinne handlungstheoretische, auf „Handlungen des Verstandes“ bezogene) Wendung: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“ (Kritik der reinen Vernunft, B 25). Warum wählte Kant das Wort „transzendental“, das fortan auch zur Erzeugung von viel blauem Dunst missbraucht wurde, das damals wie heute für die Uneingeweihten allzu sehr an „transzendent“ anklingt und sich als 9 Passwort einer philosophischen ScheinEinweihung missbrauchen lässt (wer von „transzendental“ und „transzendentalphilosophisch“ spricht, scheint fortan philosophischer Insider)? Warum sprach er nicht gleich von reflexiver Erkenntnis? Die erstaunliche Antwort lautet: Weil selbst Kant die überragende methodische Vorzugsstellung des Reflexionsproblems noch nicht voll erkannte. Ein Ausdruck muss noch herangezogenen werden, der für Kants transzendentale Methode charakteristisch ist: „Bedingung der Möglichkeit“. Bedingungen der Möglichkeit sind notwendige (und als notwendig aufzuweisende) Sinn-Implikate in einem gegebenen, zugestandenen empirischen Bewusst10 seinsvollzug, in einer „Handlung des Verstandes“, wie diese Vollzüge des Ich bei Kant heißen. So ist die Bedingung der Möglichkeit für eine analytische, nachträgliche Selbsterkenntnis – eine vorgängige, noch nicht analytische Selbsterkenntnis: „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können“ (KrV, B 131 f). Eine nicht weniger prominente Bedingung der Möglichkeit für all unser Erkennen und Urteilen ist ferner der Gedanke des Unbedingten. Der Mensch hat den Gedanken „Alles“, und dieser spielt als „Horizont“ in all unserem alltäglichen Erkennen, Reden und Tun eine verborgene Rolle! Dieses All-Bewusstsein ist die Alltagsform von Gottesbewusstsein, wobei die Gottheit für Kant zwar eines theoretischen Beweises nicht zugänglich ist, wohl aber ein Postulat der praktischen (ethischen) Vernunft darstellt. Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814) Während Kant von seinen teils empiristischen, d.h. auf die Objekterkenntnis gerichteten Voraussetzungen her nur eine formale, keine inhaltliche Selbsterkenntnis des Ich-Vollzuges anerkannte, war diese inhaltliche Erkenntnis des Ich für seinen Nachfolger Johann Gottlieb Fichte schlechthin grundlegend. Die Halbheiten, die sich aus Kants schwankender Position in Bezug auf die Selbstreflexion ergaben, konnten einem Genie der Selbstbesinnung und Konzentration, wie Johann Gottlieb Fichte es war, trotz all seiner positiven Anknüpfung an Kant nicht verborgen bleiben. Fichte ist es, der zum ersten Mal Philosophie als Selbst-Besinnung und SinnBesinnung, das heißt als Reflexionsprozess, geradezu definiert. Er hat die Notwendigkeit einer echten Selbsterkenntnis und eines Zugangs zum „Sein“ aus der Ichgewissheit erkannt. Die begleitende Selbsterkenntnis heißt bei ihm und seit ihm intellektuelle Anschauung. Eine besondere Stufe dieser intellektuellen Anschauung ist bei ihm die mystische Erkenntnis, der er durchaus fähig war, auch wenn er sie nicht ausdrücklich so nennt und auch noch nicht als solche strukturell zu analysieren vermochte. Obwohl er wegen AtheismusVorwürfen im Jahre 1800 von seiner ersten Wirkungsstätte Jena weggehen musste (auch der liberale Herr Minister Goethe konnte den Trotzkopf nicht länger halten), heißt es wenig später in seiner Religionsschrift „Anweisung zum seligen Leben“: „Die Wissenschaft hebt allen Glauben auf und verwandelt ihn in Schauen“, – ein ungeheuer provokativer Satz, der sich 2012, anlässlich von Fichtes 250. Geburtstag, auf der 70er Briefmarke der Deutschen Post fand. Fichte ist der Philosoph der Innerlichkeit schlechthin. Deshalb sein unvergleichlicher Einfluss auf die frühen deutschen Romantiker. Sein philosophischer Schüler, der Dichter Novalis formulierte: „Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft“ (Blüthenstaub). 11 Spätestens hier wird deutlich, wie haltlos es ist, das abendländische Denken pauschal als extravertiert und bloß objektzugewandt zu charakterisieren. Fichte war ein notwendiges Verbindungsglied zu Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1853), seinem direkten Schüler, der später unter anderem eine umfangreiche „Philosophie der Mythologie und Offenbarung“ verfasste. Ungleich wirkmächtiger aber wurde Hegel, dessen Jenaer Habilitationsschrift vom Unterschied zwischen Fichtes und Schellings System handelte. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) Hegel hat sich von den „Reflexionsphilosophien“ seiner Vorgänger (Kant, Fichte, Schelling und anderer) abgesetzt, sosehr er deren Erbe und vorläufiger Vollender war. Er wollte die „Reflexion in Ich“, also die Subjektivität der Reflexion, die er bei Fichte vorwalten sah, überwinden zugunsten des „reinen Zusehens“ zur „eigenen, immanenten Entwicklung der Sache selbst“, in der vorhin eingeführten Sprache: Er wollte die theoretische Reflexion ganz in den Dienst der gelebten Reflexion oder der Reflexivität des Lebens und der Gesellschaft selbst stellen. Es geht an dieser Stelle nicht darum, wieweit ihm dies gelungen ist, 12 m. E. gerade in seiner „Wissenschaft der Logik“ weniger als in der „Phänomenologie des Geistes“ und seinen großen Berliner Vorlesungszyklen. Vielmehr ist es darum zu tun, das durchgehende Grundanliegen Hegels und seine spezifische Stellung in der Geschichte der philosophischen Reflexion bis heute zu erfassen: Die Reflexion konstituiert bei ihm das innere Leben sowohl der Naturdinge wie die Geistesgeschichte, die er als einen Prozess der fortschreitenden Selbstreflexion der Menschheit deutet. Religion ist in Hegels Sicht das Selbstbewusstsein des Absoluten, Gottes. Er entäußert sich als „Sohn Gottes“ in Natur und Menschengeschichte. Der antwortende Geist der religiösen Gemeinde, letztlich der ganzen Menschengemeinschaft ist der „Heilige Geist“ – womit Hegel eine gewagte Interpretation der göttlichen Dreifaltigkeit gibt, die jedoch dem Urchristentum näher steht als das welttranszendente göttliche Dreierkollegium der kirchlichen Orthodoxie. Die große Zweideutigkeit in Hegels philosophischer Interpretation der christlichen Theologie (welche Interpretation übrigens frühe Anregungen dem schwäbischen Theosophen Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) und rosenkreuzerischem Schrifttum verdankt) liegt in folgender Frage: Hat die Gottheit ein Selbstbewusst- sein vor aller Entäußerung in die Menschengeschichte – oder gewinnt sie dieses Selbstbewusstsein erst im religiösen bzw. philosophisch denkenden Menschen, der sich seiner eigenen Göttlichkeit, d.h. seiner Unendlichkeitskomponente, bewusst ist? An dieser Frage schieden sich nach Hegels frühem Tod (1831, ein Jahr vor Goethe, doch im Unterschied zu diesem bereits mit 61 Jahren!) die christlichen Rechtshegelianer von den atheistischen Linkshegelianern, zu denen bald Ludwig Feuerbach und Karl Marx zählten. Der Pantheismus Meister Koot’ Hoomis Dieselbe Frage aber stellt sich im oben zitierten Mahatma-Brief. Der Meister Koot’ Hoomi gibt darin sogar eine unverblümt pantheistisch klingende Antwort: „Und was nun Gott betrifft – wir können ihn (oder es) weder als ewig oder unendlich noch gar als selbstexistent betrachten, da niemand ihn (oder es) jemals gesehen hat – es sei denn, man verstehe unter der Bezeichnung ‚Gott‘ nichts anderes als das eigentliche Wesen, die Natur dieser grenzenlosen, ewigen Materie, ihre Energie und ihre Bewegung. (…) 13 Mit Verachtung lehnen wir nicht nur die theistische Theorie ab, sondern auch die des Automatismus, nach der Bewusstseinszustände durch die Anordnung von Gehirnmolekülen hervorgerufen werden“ (a. a. O. 534 f). In dieser Ablehnung des Theismus, eines Gottes außerhalb des materiellen Universums also, wie gleichermaßen des Materialismus, weist der Mahatma einen Weg, den die Menschheit nach dem sogenannten „Zusammenbruch des deutschen Idealismus“, nach Hegels Tod, nicht mehr aus eigenem Nachdenken weitergegangen ist. Der naturwissenschaftliche Materialismus trat an die Stelle einer Philosophie vom menschlichen Selbstbewusstsein, indem er die erkenntnistheoretische Kluft zwischen erkennendem Subjekt und den materiellen Objekten der Forschung einfach ignorierte. Mit dieser unphilosophisch-pragmatischen Einstellung kamen die Naturwissenschaften allerdings sehr weit. Erst Werner Heisenberg erinnerte daran, dass die Möglichkeit der Messung von Impuls oder Masse von Elementarteilchen vom untersuchenden Subjekt abhängt. Hiermit klopfte die sonst verleugnete erkenntnistheoretische Problematik auch wieder an den Pforten der Naturwissenschaften, obwohl deren Vertreter bis heute nicht nur allgemein einen methodologischen, sondern mehrheit- 14 lich auch einen dogmatischen NurMaterialismus vertreten, bis hinein in die Leugnung der Willensfreiheit durch einen Teil Hirnforscher – auch wenn diese in den letzten Jahren wieder bescheidener und besonnener werden. Eigentümlicherweise folgt dem materialistischen Trend unter dem abschwächenden Titel „Naturalismus“ – ein Großteil der zeitgenössischen Philosophie, soweit diese überhaupt noch systematische Positionen vertritt und sich nicht in der Philologie früherer philosophischer Schriften erschöpft. Die Grundhaltung hinter der philologisch-historischen Philosophie unserer Tage ist ein Agnostizismus, d.h. ein heimliches Aufgeben der Wahrheitsidee. Dagegen wendet sich unser Mahatma im selben, so wichtigen Brief mit erfrischender Vehemenz: „Man mag uns als Pantheisten bezeichnen, aber Agnostiker? NIEMALS.“ (a.a.O. 531) Das Verständnis der Gottheit als „Selbstbewusstsein des Universums“ Der Verfasser ist einer der wenigen in der zeitgenössischen philosophischen Szene, die diesem uneingestandenen Agnostizismus des philologisierenden Mainstreams in der Philosophie die Stirn bieten. Und zwar durch systematische Weiterentwicklung der Reflexionstheorie des menschlichen Selbstbewusstseins, die den logischen, aber verleugneten Kern des deutschen Idealismus ausmacht. Es ist hier nicht der Ort, länger auszuführen, worin diese Weiterentwicklungen liegen, welche Autoren ihm dabei behilflich waren und auf welche großen Gebiete der Philosophie sich das auswirkt. Allein zu dem vorhin genannten Problem der philosophischen Theologie nach Hegel wie zugleich im Brief des Mahatma sei ein wichtiger Punkt benannt: Versteht man „Person“ in einem nicht vorstellungsmäßigen und verdinglichenden Sinne, sondern reflexionstheoretisch, so lässt sich sagen, dass das Wesen der Person die Struktur der Selbstbezüglichkeit sei. Person ist ein selbstbewusstes, weil voll selbstbezügliches Wesen, gleich mit welcher Form von Leiblichkeit. In diesem nicht vorstellungsmäßigen, sondern rein logischen Sinne darf gefragt werden, ob das Universum als ganzes in einem Selbstbewusstsein zentriert sei, Selbstbewusstsein habe. Mein Verständnis der Gottheit weicht nicht von dem vehementen, sozusagen spirituellen Materialismus Koot’ Hoomis ab, wenn ich diese Gottheit als „Selbstbewusstsein des Universums“ verstehe. In dieser Formel liegt der Abweis irgendeines Dualismus von Universum und Gottheit, zugleich von Spiritualismus und Materialismus, ohne jedoch die Unterschiede zwischen diesen Begriffspaaren zu leugnen. Das Universum kann als Leib der in einem eminenten, unser Begreifen übersteigenden Sinn selbstbewussten Gottheit verstanden werden. „Praktische“ und ethisch orientierte Menschen, die dergleichen vielleicht als folgenlose Spekulation anzusehen geneigt sind, seien wenigstens kurz darauf hingewiesen, dass diese Sicht Folgen hat, zum Beispiel für die Einheit und Unterschiedlichkeit der Stufen von Liebe, allgemein (mit Platon) verstanden als Streben der Individuen zur Einheit, als da sind: 1. Sexualität als körperliche Einheit, 2. Eros als Spiel der Schönheit in der je-subjektiven Vorstellung, 3. Freundschaftsliebe (philia), und 4. spirituelle Liebe, deren Einheit durch das göttliche Sinn-Medium vermittelt ist.5 Diese Liebesarten sind verschieden und dürfen zwar nicht vermischt, aber auch nicht länger gegeneinander ausgespielt werden. 5 | Vgl. zu diesen vier Hauptstufen der Liebe vorläufig v. Verf.: Die Liebe buchstabieren, 2. Aufl. Weinheim 1994 15 2. Theosophie als Philosophie oder als Glaubenstheologie? Die Gottesfrage ist ein besonders markantes Beispiel für die Erkenntnisse einer spirituellen Philosophie, die mit Theosophie identisch sind. (Sonst würde Meister Koot’ Hoomi in seinem Brief auch nicht philosophisch argumentieren.) Wie weit reicht nun diese Identität? Ist Theosophie nicht eher eine Glaubenssache, die auf Offenbarung durch die Meister der Weisheit an Madame Blavatsky und andere beruht? Wie steht es mit der Lehre von der vielfachen Wiedergeburt (Reinkarnation) des Menschen? Wie mit der Lehre von der siebenfältigen Konstitution des Menschen? Wie mit der Erkenntnis der Existenz der Meister selbst? Wie mit den Lehren von der Geistigen Hie- 16 rarchie, vom planetaren Logos, vom Sonnenlogos und anderen Logoi? [...] Bedeutungen von „Glauben“ Um die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und philosophischem Denken zu beantworten, müssen zunächst verschiedene Glaubensformen und -begriffe im philosophischen und religiösen Zusammenhang unterschieden werden: 1. Glaube als Für-wahr-halten einer religiösen Lehre, die man zwar nicht selbst einsieht, die man jedoch aufgrund einer religiösen Autorität akzeptiert. Zweifellos wurde der religiöse, besonders der christkatholische Glaube, jahrtausendelang meist so verstanden. Doch wir sehen, dass es sich im Grunde um einen Autoritätsglauben handelt: Ich akzeptiere Wahrheiten, weil die Autorität sie lehrt. Vorausgesetzt ist dabei der Glaube an diese Autorität der „heiligen katholischen Kirche“. Ihr vertraut der Gläubige primär, nicht primär dem Göttlichen. Wenn solcher Glaube etwas Religiöses gegenüber anderem Autoritätsglauben hat, dann nicht allein wegen der Inhalte, die meine zeitliche und ewige Existenz betreffen, sondern weil die Kirche selbst als heilige Gemeinschaft selbst geglaubt wird. Ähnlich glaubt ein Kind seinen Eltern, weil es sie als stark und fast „allwissend“ erlebt. 2. Gegenüber solchem katholischen Glauben als Fürwahrhalten dessen, was ich selbst nicht einsehe, betonte Luther die Komponente des Vertrauens auf Gott. Die kirchliche Vermittlung solchen Vertrauens blieb bei diesem teilweise mystisch, also selbst erlebenden Reformator ausgeblendet. Nach evangelischer Lehre ist es allein diese vertrauende Selbstauslieferung des Gläubigen an Gott, die den Menschen „rechtfertigt“, sogar unabhängig von allen guten Werken, die allenfalls daraus folgen. Die Inhalte des Glaubens treten zunächst zurück, werden aber doch als Glaubensbekenntnis und dessen konfessionelle Interpretation (z.B. die Augsburger Konfession von 1530) bedeutsam. 3. Glaube als Offenheit und Zutrauen zu einer Botschaft, die als Vorgabe für fortschreitende eigene Einsicht dient. In diesem Sinn formulierte der Apostel Paulus (nach H.P. Blavatsky ein hoher Initiierter): „Der Glaube kommt vom Hören“ (Römerbrief 10, 17). Dieses Wort, das auf die allgemeine dialogische Struktur des menschlichen Erkennens abhebt, kann offensichtlich leicht für den bloßen Autoritätsglauben im Sinne von 1 missbraucht werden, muss aber nicht. Dialogische Vorgaben, also Botschaften von Seiten höherer Eingeweihter für eigene Erfahrung und eigenes Denken spielen auch in der Theosophie eine wesentliche Rolle. Das unterscheidet sie zunächst von „bloßer Philosophie“. Doch verdirbt ein Mathematiklehrer durch seine Anleitung notwendig die „reine Mathematik“, also deren eigenes Begreifen durch den Schüler? Verdirbt ein Klavierlehrer durch seine Anleitung das eigene Können der Schüler? Botschaften und Anleitungen der Meister können freilich leicht mit dem dauerhaften Verzicht auf eigene Einsicht bzw. Erfahrung verwechselt werden. Offensichtlich wollen uns jedoch die Meister aus dieser eigenen Verantwortung für unsere Erkenntnis für Erfahrung und Denken nicht entlassen. 17 Der Tibetische Meister schickt seinen an A. Bailey übermittelten Büchern regelmäßig voran: „Wenn die dargebotene Lehre in dem erleuchteten Denken des Welten-Arbeiters ein Echo findet und in ihm blitzartig Erkenntnisse auslöst, dann möge die Lehre angenommen werden. Sonst nicht. Wenn sich die in der Lehre aufgestellten Behauptungen schließlich und endlich mit den gefundenen Bestätigungen decken, oder wenn sich das anfänglich gutgläubig als wahr Hingenommene nach dem Gesetz der Analogie als wahr herausstellt, dann ist es recht und gut. Sollte das aber bei einem Studierenden nicht der Fall sein, dann nehme er das in den Büchern Gesagte nicht an.“ Die persönliche Verifizierung der Meister-Botschaften kann und braucht – wohlgemerkt – nicht allein über das logisch-philosophisch geschulte Denken geschehen. Sie kann auch durch eigene spirituelle Lebenserfahrung und durch Intuition (eine Form der im Zusammenhang mit Fichte erwähnten intellektuellen Anschauung) erfolgen. Jedenfalls liegt darin eine persönliche wie gemeinschaftliche Aufgabe – im Unterschied zur Bequemlichkeit des bloßen Autoritätsglaubens. Eine Alltagsform von Offenbarung sind intuitive oder sogar mystische Einsichten: plötzliche Erkenntnisse und Ahnungen, für die wir keine rationalen Gründe haben, aber auch 18 mediale Botschaften, deren Seriosität geprüft ist. Wenn oben für sorgfältiges Denken plädiert wurde, wird damit keineswegs die Alleinzuständigkeit des rationalen Denkens behauptet. Außerdem weiß jeder selbstständig philosophisch Denkende um den intuitiven Einschlag sogar im Denken selbst, das sich ja ausdrücklich auf die intellektuelle Anschauung in all ihren Formen stützt. 4. Sinnglaube. Eine vierte Form des Glaubens besteht in der Treue zu sich selbst und zu seinen eigenen, einmal erlangten Einsichten. Der stark philosophisch geprägte, eher untypische evangelische Theologe Paul Tillich (1886-1965), der 1933 in die USA auswanderte, definiert Religion in einer nicht-fundamentalistischen Weise als „Verhältnis zu dem, was uns unbedingt angeht“ (Systematische Theologie in 3 Bänden, engl. Original 1963) und Glaube als ein mutiges Festhalten an den diesbezüglich erkannten „ultimate values“. Eine andere Schrift Tillichs heißt Mut zum Sein (Courage to be). Dieser „Mut zum Sein“, die grundlegende Daseinsbejahung aufgrund des Festhaltens an den eigenen diesbezüglichen Einsichten und Werterfahrungen (die erfahrungsgemäß verdunkelt werden können wie die Sonne von den Wolken), dies kann sinnvoll der Glaube eines Menschen Fazit Welches Fazit ergibt sich aus diesen Unterscheidungen am Glaubensbegriff für die oben gestellten Fragen und für das Verhältnis von Theosophie und Philosophie? Ich möchte meine Antwortversuche in folgenden Thesen zusammenfassen: Paul Tillich genannt werden, wie vorsichtig auch immer dieser Glaube sich inhaltlich ausartikulieren, in den wechselnden Herausforderungen des Lebens ausbuchstabieren mag. Wir sind mit diesem vierten Glaubensbegriff natürlich weit von Glauben als bloßem Fürwahrhalten aufgrund einer aus irgendwelchen Gründen akzeptierten Autorität entfernt, auch von dem noch recht kindlich und patriarchalisch geprägten Gottesvertrauen Luthers. Eingeschlossen ist jedoch in diesem Sinnglauben die dialogische Offenheit für Botschaften oder für persönliche Zeugnisse (3.). Denn auch Sinnglaube oder „Mut zum Sein“ ist kein bloß selbstbezogener Monolog, sondern ein dialogisches Geschehen. 1.hDie Theosophie als Lehre ist einerseits mit einer spirituellen Philosophie identisch. Eine moderne spirituelle Philosophie ist keineswegs, wie die christlichscholastische Philosophie, bloß die Magd einer Theosophie als neuer . Glaubenstheologie.6 2. Dies anzuerkennen, bedeutet auch zu begreifen, dass philosophisches Denken nicht bloß etwas fürs Ober stübchen ist, sondern den ganzen Menschen verändert. Der erwähnte J. G. Fichte sagt irgendwo: „Was für eine Philosophie man hat, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Denn Philosophie ist nicht ein toter Hausrat.“ Umgekehrt: Wenn man, gestützt auf die intellektuelle Anschauung des Selbstbewusstseins, selbst zu denken bzw. solche Gedanken nachzuvollziehen vermag, wird man ein anderer Mensch. Das gelebte „Sein“ selbst (die gelebte Selbstrefle xion) verändert sich durch solche methodische Selbst-Besinnung. Und 19 diesem Sein folgt das Handeln, also auch die Wertqualität des Handelns, die Ethik.7 Wer Theosophie aber zu schnell auf eine Ethik reduziert, schließt sich den kraftlosen Priestern an, die seit zweitausend Jahren „Nächstenliebe“ predigen, mit höchst geringem Erfolg, sofern das Sein der Gläubigen durch ihren „Glauben“ nicht verändert wird. Eine Lehre, die sich zu einer bloßen Ethiklehre bescheidet, gibt sich als den Menschen verändernde Erkenntnis selbst auf, macht sich überflüssig. Wo hauptsächlich und voreilig moralisiert wird, ist dies ein deutliches Anzeichen dafür, dass eine Gruppe nicht (mehr) wirklich aus dem Fundus des Erkennens sowie des Staunens und Meditierens über die erkannten „offenbaren Geheimnisse“ (Goethe) schöpft. Es gilt also, die verwandelnde Kraft des Erkennens (Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Intuition!) ernst zu nehmen. Gutes Handeln ist – den guten Willen vorausgesetzt – die Frucht guten Erkennens. 3..Das bedeutet aber nicht, dass philosophisches Denken samt eigenem Intuieren alles ist. Es verbindet sich mit dem Hinhören auf die Botschaften Fortgeschrittener, auch auf die medialen8 Botschaften dazu besonders Begabter. Diese Botschaften betreffen zum Teil Erkenntnisse, 20 die wir uns aus eigenem Denken noch nicht anzueignen vermögen. (Ich möchte in diesem bemessenen Rahmen nicht den Versuch unternehmen, hier eine bestimmte Grenzlinie zu ziehen.) Zum andern Teil betreffen diese Botschaften konkrete Handlungsentscheidungen, die wir ständig treffen müssen. Vieles an unseren Entscheidungen ist nicht Sache der ethischen Gewissensabwägung, sondern der Klugheit, des Erkennens. “Im Dunkeln leben, im Dunkel tun, was wir können“ (Gottfried Benn), das ist Teil der menschlichen Grundsituation. Und darin bedürfen wir oft der Hilfe und des Rats, sei es von Gleichgestellten, sei es von Höheren, auch ehemals sogenannter „okkulter“9 , d.h. medialer Fähigkeiten. 4. Wenn der Leser aus dem Vorhergehenden einen gewissen Enthusiasmus und sogar Optimismus für philosophische Strukturerkenntnis herausgelesen hat, auch für die in der Neuzeit mit Recht so betonte erkenntniskritische Frage nach der Herkunft und Begründung von Erkenntnissen, so hat er richtig gelesen. Der Autor ist jedoch realistisch genug, die Grenzen der philosophisch-allgemeinen Erkenntnis anzuerkennen. Für alles Erkennen aber, auch für das spezifisch spirituelle Erkennen, auch für das unmittelbar handlungsbezogene Ringen um Licht auf dem Weg behält diese erkenntniskritische Forderung ihr Recht, über die immer strukturellallgemeine Erkenntnis der Philosophie hinaus: Worauf stützt sich diese Erkenntnis, wem verdanken wir, wem verdanke ich persönlich sie? Ist sie echt und fruchtbar? In dieser Form ist die Frage nicht neu. Der (in H.P. Blavatskys Sicht) Gnostiker Paulus zum Beispiel ermahnt seine von „esoterischen“ Geistesgaben trunkenen Korinther zur „Unterscheidung der Geister“ und zeigt den Weg der erleuchteten Liebe als über alle Gnosis (Erkenntnis) hinausführend auf (1 Kor. 12 u. 13). Wer aber nicht weiß, was wesentliche Erkenntnis ist, sollte auch nur ganz bescheiden von Liebe reden. Die in manchen „esoterischen“ Kreisen beliebte Entgegensetzung von „Kopf “ und „Herz“ ist alles andere als ganzheitlich, nämlich platt – jedenfalls nicht theosophisch. Da war der „Atheist“ Nietzsche, der just zur Zeit der Gründung der Theosophischen Gesellschaft (1875) ahnungsvoll vom „Übermenschen“ sprach, schon weiter: „Ich liebe den, der freien Geistes und freien Herzens ist: so ist sein Kopf nur das Eingeweide seines Herzens, sein Herz aber treibt ihn zum Untergang“ (Also sprach Zarathustra, Vorrede 4). Es ist der Untergang in das Übermenschliche, ohne Achtung für die Todesgrenze, mit dem die Religionen des Bürgertums so wirkungsvoll drohen. H. P. Blavatskys Geheimlehre trägt den Untertitel „Die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie“. Eine erschöpfendere, zeitgemäße Interpretation dieses Titels würde nochmals neue Gedankengänge herausfordern. Es ging hier zunächst um das Verhältnis der Theosophie zu einer Philosophie, die selbst wissenschaftlich und keine bloße Weisheitslehre sein will. 6 | In diesem Punkt weiche ich – auch wegen der nach mehr als einem Jahrhundert stark veränderten geistesgeschichtlichen Situation - ab von Franz Hartmanns Ausführungen in Was ist Theosophie, Wien 1902. Hartmann stand unter dem Eindruck einer dekadent werdenden abendländischen Philosophie sowie einer starken kirchlichen Glaubenstheologie, welche die Philosophie als „Magd“ in ihren Dienst nahm. 7 | Dazu näher v. Verf., Integrale Philosophie, Kap. 9. 8 | Die theosophischen Lehren unterscheiden dabei zwischen passivem Mediumismus und aktivem wachen Klarblick 9 | Das Wort „okkult“ scheint mir inzwischen – zumindest im deutschen Sprachgebrauch– nicht nur verbraucht, sondern geradezu verbrannt zu sein. Okkultismus wird in der Öffentlichkeit unwillkürlich mit Obskurantismus gleichgesetzt. M.E. sollte man nicht durch Festhalten an alten Wörtern die Akzeptanz der zeitlosen und doch stets neu zu erarbeitenden Weisheit gefährden. 21 Zur Frage vom Anfang: Wem nützt die Spaltung und Verwirrung? Anfangs wurde die Frage gestellt: Wem nützen die schiefen Entgegensetzungen wie Kopf und Herz, Ost und West, Materialismus und Idealismus, Empirismus und Rationalismus? Wie aufgezeigt, ist die Kennzeichnung der ganzen abendländischen Philosophie als bloß objektzugewandt und materialistisch ein tendenziöser Unsinn, der nur durch Ignoranz fortdauern kann. Er dient der Verweigerung ganzheitlichen Denkens. Kirchen und Naturwissenschaften haben sich im 19. Jahrhundert zwar heftigst bekämpft, in Sachen Evolutionstheorie, Bibelverständnis, Glauben und Wissen, Gott oder Materie und allem. In einem waren sie sich jedoch einig und sind es geblieben: in der Abwehr jenes selbständigen Denkens, das auf Besinnung auf die Innerlichkeit des Menschen beruht und in solcher Konzentration zugleich Meditation ist. Die Denker seit Hegel standen zwischen Kirche und technischem Fortschrittsrausch für ein Denken aus der Innerlichkeit, zwischen einer Bourgeoisie, die werktags Geld und das soziale Unrecht vermehrte und sonntags in die Kirche ihrer Religionspartei ging. Unbequeme Leute wurden scharenweise ins soziale, kirchliche, wissenschaftliche Abseits gestellt, teils in Tod und Wahnsinn getrieben. 22 Die neuere Theosophie mit ihrer Lehre von den Meistern im Hintergrund des Weltgeschehens entstand mitten in diesen Kämpfen der zweiten Hälfte des – wie auch immer – unerhört fortschrittlichen 19. Jahrhunderts. Die universitäre Philosophie aber erlebte – trotz vieler gelehrter Historiker und Philologen ihres Faches – einen Niedergang, von dem sie sich bis heute bei Weitem nicht erholt hat. Eine Erholung vom nationalsozialistischen Heidegger und vom rationalistischen und gleichzeitig die Sprache fetischisierenden Wittgenstein hin zu einem ganzheitlichen Denken, in welchem Tiefe und Klarheit eine Einheit bilden, ist noch schwerer als die äußere Erholung von den Weltkriegen. Ludwig Wittgenstein schließt seinen hochrationalistischen Tractatus logicophilosophicus (1921), den er selbst später zugunsten seiner nicht minder fehlerhaften und hochmütigen Philosophischen Untersuchungen (1953) widerrufen hat, mit diesen Sätzen: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“ (6.522). – „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ (6.54). Dies ist viel verwendetes, scheinwissenschaftliches Wasser auf die Mühlen aller Obskurantisten, die Denken und „Glauben“ trennen wollen, um beide der Willkür auszuliefern! Heidegger, Ludwig Wittgenstein Hitler und Wittgenstein gehören alle dem Jahrgang 1889 an, der für Irrationalismus offenbar besonders anfällig war. Ein anderer Satz aus dem frühem Werk Wittgensteins hat den sogenannten Linguistic Turn ausgelöst: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Tractatus 5.6). Mit diesem schön klingenden, populistischen Satz wurde der unendliche Sinn-Horizont des Menschen auf die Zufälligkeiten der sprachlichen Ausdrucksweisen eingeschränkt und die Möglichkeit einer wirklichen Rekonstruktion der Sprache(n) aus den allgemeinen, sozusagen heiligen Sinnstrukturen bis heute verbaut10. Erst allmählich wird die Unhaltbarkeit jenes Satzes (im strengeren Verständnis!) von Wittgenstein und der damit verbundenen Haltung vereinzelt und widerstrebend zugegeben. Dem für die Unendlichkeit des Sinnes (Logos) offenen Menschen dient die Sprache als wunderbares, wenn auch unzulängliches Ausdrucksinstrument, nicht etwa als LinguaKäfig, in welchem er eingesperrt bleibt. Der zeitweilige Erfolg solcher Strömungen von der angeblichen „Unhintergehbarkeit der Sprache“ muss, ebenso wie die Pseudomystik des Heideggerschen Seinsdenkens und der Erfolg Hitlers, energetische, im Astralbereich verwurzelte Gründe haben! Nur dass Wittgenstein im Bereich des angelsächsischen Kapitalismus und der ihm entsprechenden, heute dominierenden, oberflächlichen „Sprachanalyse“ ungleich nachhaltiger wirkmächtig wurde. Denn das akademische Mittelmaß ist ebenso autoritätshörig, unselbständig wie das religiöse und politische „Fußvolk“. Nur treten bei den durchschnittlichen Universitätsleuten materielles Sicherheitsbedürfnis, Ehr10 | Wovon die Rede ist, hat der Verf. in seinem 5-bändigen Werk „Sprache“, München 2008/9 ausführlich dargelegt. Dergleichen findet jedoch, trotz oder wegen sorgfältiger reflexionslogischer Begründung, erst bei wenigen universitären Wahrheitssuchern Beachtung. 23 geiz und Prestigedenken hinzu, die mindestens so wahrheitsfremd und geisttötend sind wie der Traditionalismus und das Herrschaftsgebaren im Religiösen. Es handelt sich aber um kommunizierende Röhren des die echte Wahrheitssuche verratenden Mitläufertums, des akademischen, des religiösen wie des politischen. Heute fristet die Universitätsphilosophie in den deutschsprachigen Ländern ihre eher philologisch-historisierende Existenz neben den theologischen Fakultäten beider Konfessionen. Abgesehen davon, dass ihre Freiheit auch intern durch „Konkordatslehrstühle“ in den Fachbereichen Philosophie (in sorgfältig verschleierter Nachfolge des Konkordats zwischen Hitler und Papst Pius XI. von 1933!) heimlich untergraben wird, kommt eine verhängnisvolle Arbeitsteilung zustande: indem spirituelle Philosophie fast nur innerhalb der theologischen Fakultäten, ja direkt als konfessionelle Theologie überlebt, Philosophie damit in diesem zentralen Bereich für die Freiheit des Denkens verloren ist. Der Missstand, dass Glaubensdisziplinen, also die konfessionellen Theologien, das Privileg genießen, an staatlichen Universitäten als Wissenschaften finanziert zu werden, wird m..E. nicht mehr lange aufrecht zu erhalten sein. Die Zeichen dafür mehren sich, auch wenn 24 man derzeit noch bemüht ist, aus Paritätsgründen zusätzlich Lehrstühle für jüdische und islamische Theologie einzurichten. Theosophisch Strebende sollten derartige Zustände und die Spaltung der Philosophie bzw. ihr scheinbares Einverständnis mit konfessionellem Autoritätsglauben nicht länger völlig stillschweigend und verängstigt mittragen, weil sie sich selbst in Gesellschaft und Akademie nur geduldet fühlen. Wir sollten daher aber auch die Theosophie selbst nicht einfach als eine weniger privilegierte Glaubenstheologie neben der christlichen verstehen! Sie ist eine konfessionsunabhängige spirituelle Philosophie! Der zitierte Meister Koot Hoomi spricht eine solche, eine argumentativ-philosophische Sprache.