1 Wohltemperiert in guter Stimmung Grundlagen zu Mathematik und Musik Johannes B. Huber Weshalb klingen Oktaven völlig rein und können Quinten beim Stimmen von Streichinstrumenten absolut richtig austariert werden? Weshalb werden kleine Sekunden oder das Drei–Ganzton–Intervall (Tritonus) in der Musik als Dissonanzen wahrgenommen? Sind das nur subjektive, beim Hören abendländischer Musik erlernte Empfindungen oder stecken dahinter allgemeine Prinzipien? In diesem Beitrag soll verdeutlicht werden, dass anhand der natürlichen Obertonreihe mathematisch begründet ist, weshalb wir Intervalle musikalisch als konsonant oder dissonant empfinden, weshalb Dur– und Moll–Tonleiter gerade so sind, wie sie heute gebräuchlich sind und weshalb im Laufe der Musikgeschichte die Oktave in 12 Halbtonschritte eingeteilt wurde. Die Obertonreihe ist jedoch mit unserer Empfindung der Tonhöhe als Logarithmus der Schwingungsfrequenz nicht in Einklang zu bringen, was dazu führt, dass ein widerspruchsfreies musikalisches Stimmungssystem nicht existieren kann. Einige historische Kompromissvorschläge zur Stimmung von (Tasten–)Instrumenten werden vorgestellt und verglichen. II. F OURIER –A NALYSE VON T ÖNEN , KONSONANZ UND D ISSONANZ Diese Reihenentwicklung hat insofern grundsätzliche Bedeutung, dass einerseits durch unseren Gehörsinn eine solche Zerlegung tatsächlich stattfindet, denn unser Gehör wirkt als Kurzzeit–Spektral–Analysator. Andererseits ergibt die Überlagerung von unterschiedlich großen und wechselseitig verschobenen Cosinus–Schwingungen (z.B. durch Zeitverzögerung, vgl. Reflexionen von Schallwellen in halligen Räumen) gleicher Frequenz aufgrund der Additionstheoreme der Trigonometrie wieder eine Cosinus–Schwingung dieser Frequenz. (Mathematisch ausgedrückt bedeutet dies, dass Cosinus– Schwingungen sog. Eigenfunktionen bzgl. aller linearen, dispersiven Signaltransformationen darstellen.) Das Bild 1 zeigt als Beispiel die Zerlegung einer Rechtecksschwingung in cosinusförmige Grund– und Oberschwingungen. p(t) → I. E INLEITUNG 2 0 A −2 −2,5 0 2,5 5 7,5 10 12,5 15 17,5 0 2,5 5 7,5 10 12,5 15 17,5 2 0 B −2 −2,5 Periodische Luftdruckschwankungen werden durch unser 2 Gehör als ein Ton wahrgenommen, wobei die Tonhöhe durch die Frequenz (= Zahl der Schwingungsperioden je Sekunde, 0 gemessen in Hz(Hertz)) bestimmt wird. Dabei werden jedoch C −2 sehr langsame Schalldruckschwankungen als einzelne Ereig2,5 −2,5 0 5 7,5 10 12,5 15 17,5 nisse zeitlich aufgelöst wahrgenommen, während bei mehr t[ms] → als ca. 15 − 20 Hz sich ein Tonempfinden ergibt. Dieser Übergang zwischen der zeitlich aufgelösten Wahrnehmung Abbildung 1. Approximation einer Rechteckschwingung (A) als Summe von 5 Cosinusschwingungen (B), die in (C) dargestellt sind. und der Empfindung als Ton ist beispielsweise beim Knattern eines Mopedmotors im Standlauf und einer anschließenden Ein einzelner Ton besteht also bereits aus vielen Teiltönen Erhöhung der Drehzahl bei der Abfahrt gut wahrzunehmen. mit den Frequenzen if 0 mit i = 1, 2, 3, . . . Sie wird als die Gemäß der durch Jean Baptist Joseph Fourier (1768–1830) Obertonreihe bezeichnet. entwickelten Fourier–Analyse kann jede periodische Funktion Trägt man die Amplituden–Koeffizienten C i über der Frep(t) mit der Periodendauer T 0 bzw. Frequenz f 0 = 1/T0 quenz der Teilschwingungen auf, so erhält man das sog. (es gilt also p(t) = p(t + kT0 ) für alle ganzen Zahlen k) Spektrum |P (f )| eines Tons p(t), vgl. Bild 2: in eine Reihe von Cosinus–Schwingungen mit Frequenzen, die ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz f 0 darstellen, |P (f )| entwickelt werden: p(t) = ∞ Ci cos (2π(if0 )t + φi ) . f0 i=0 Dabei wird die Teilschwingung C i cos (2π(if0 )t + φi ) als die i-te Oberschwingung des Tons mit der Amplitude C i und der Null–Phase φi bezeichnet. (C0 : Gleichanteil) 2f0 1:2 Oktave Abbildung 2. intervalle. 2:3 Quinte 3f0 3:4 Quarte 4f0 5f0 f 6f0 4:5 5:6 große Terz kleine Terz 6:7 Linienspektrum eines Tons und die darin enthaltenen Grund- 2 Die Form des Spektrums, also der Gehalt von Oberschwingungen in einem Ton, wird als dessen Klangfarbe wahrgenommen. Hierbei stellen sich zwischen den Teiltönen mit den Frequenzen f 0 , 2f0 , 3f0 , usw. die Frequenzverhältnisse 1 : 2, 2 : 3, 3 : 4 ein, welche die musikalischen Grundintervalle Oktave (2 : 1), Quinte (3 : 2), Quarte (4 : 3), große Terz (5 : 4) usw. bilden. Die Grundelemente der musikalischen Harmonie sind also bereits in einem einzigen Ton enthalten und sie folgen unmittelbar aus dem mathematischen Prinzip der Fourier–Analyse, die wie bereits erwähnt, unserem Gehörsinn entspricht. Diese Reihe der Intervalle Oktave, Quinte, Quarte usw. tritt auch in der Naturtonreihe von Blechblasinstrumenten auf (Anregung von unterschiedlichen Schwingungsmoden, d.h. von unterschiedlich vielen stehenden Wellen im Rohr, durch Veränderung der Lippenspannung), oder bei Flageolett–Tönen bei Saiteninstrumenten (Erzeugung von Schwingungsknoten durch leichtes Auflegen eines Fingers bei ganzzahligen Teilen der Saitenlänge). Als dissonant wird die Überlagerung zweier Cosinus– Schwingungen mit nahe beieinander liegenden Frequenzen f1 und f2 empfunden, da gemäß der Additionstheoreme der Trigonometrie gilt: f2 −f1 2 t cos 2π t . cos(2πf1 t)+cos(2πf2 t) = 2 cos 2π f1 +f 2 2 Die rechte Seite dieser Gleichung zeigt, dass sich für das Gehör ein Ton bei einer Tonhöhe einstellt, die der Mittenfrequenz (f 1 + f2 )/2 entspricht. Dieser Ton schwillt mit der Differenzfrequenz (f 2 − f1 ) an und ab. Ist die Differenzfrequenz (f 2 − f1 ) kleiner als ca. 20 Hz, so findet durch unser Gehör eine zeitlich aufgelöste Wahrnehmung statt, was als eine Schwebung empfunden wird. Solche Schwebungen, allgemeiner gesprochen, eine zugleich zeitliche und spektrale Auflösung eines Akkords, werden musikalisch als dissonant empfunden. Erklingen in einem Akkord mehrere Töne gleichzeitig, so entsteht durch die Oberschwingungen zu den einzelnen Tönen ein reichhaltiges Spektrum. Schwebungen werden dann vermieden, wenn alle diese Oberschwingungen entweder genügend weit voneinander entfernt auf der Frequenzachse liegen oder genau direkt aufeinander treffen. Rein gestimmte Intervalle sind durch die Koinzidenz von Oberschwingungen gekennzeichnet. So fallen bei der reinen Oktave (Frequenzverhältnis 2 : 1) Grund– und Oberschwingungen des höheren Tons exakt auf jede zweite Oberschwingung des tieferen Tons. Eine Zuspielung eines um eine oder mehrere Oktaven höheren Tons verändert also nur die Amplituden von Oberschwingungen und damit nur die Klangfarbe, nicht aber die Tonhöhenempfindung. Eine Oktave wird somit nicht als Akkord wahrgenommen und deshalb werden Töne im Oktavabstand als harmonisch gleichwertig betrachtet. Dies wiederum erklärt, weshalb die Tonhöhe als der Logarithmus der Schwingungsfrequenz wahrgenommen wird: Die Frequenz ist jeweils zu verdoppeln, um die Tonhöhe um eine Oktave zu erhöhen. Allgemein gilt: Tonhöhenempfindung ∼ log 2 (Frequenz/Bezugsfrequenz). Um zu einer Tonhöhe ein Intervall (z.B. um eine große Terz) zu addieren, ist also die Schwingungsfrequenz um einen entsprechenden Faktor (im Beispiel mit 5/4) zu multiplizieren. Die Logarithmus–Funktion ist nämlich die einzige Funktion R + → R (R: Menge der reellen Zahlen, R + : Menge der positiven reellen Zahlen), durch die ein Produkt in eine Summe abgebildet wird. Die logarithmische Tonhöhenempfindung gehört zum sog. Weber–Fechnerschen Gesetz der logarithmischen Wahrnehmung des Menschen aus der Psychologie, das in vielen Bereichen gilt (z.B. Lautstärke, Helligkeit, aber auch z.B. bzgl. materiellen Reichtums: Bei einer Lohnerhöhung interessiert meist nicht deren Geldwert, sondern nur der Prozentsatz, also der Faktor der Lohnsteigerung). Bei der reinen Quinte fällt die zweite Oberschwingung 2f2 des höheren Tons mit der Grundfrequenz f 2 genau auf die dritte Oberschwingung 3f 1 des tieferen Tons mit der Grundfrequenz f 1 . Es gilt also: 3f1 = 2f2 bzw. f1 : f2 = 2 : 3. So werden bei Streichinstrumenten Quinten dadurch rein gestimmt, dass darauf geachtet wird, ob eine Schwebung (d.h. eine langsam periodische Veränderung des Höreindrucks) durch nicht genau aufeinander fallende Oberschwingungen wahrzunehmen ist. Bei der Quarte gilt diese Übereinstimmung zwischen der 4. und der 3. Oberschwingung der Einzeltöne, bei der großen Terz bei der 5. und 4. Oberschwingung usw.. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die üblichen musikalischen Intervalle mittelbar aus der Zusammensetzung von periodischen Funktionen aus Grund– und Oberschwingungen in der Fourier–Analyse folgen und durch die Vermeidung von Schwebung durch Koinzidenz von Oberschwingungen gegeben sind. Sie sind somit nicht durch subjektives Empfinden sondern eindeutig mathematisch begründet. Die Konsonanz eines musikalischen Intervalls ist durch eine hohe Kommensurabilität der beiden Schwingungsfrequenzen (bzw. der Saiten– oder Rohrlängen) gegeben, also durch eine Vergleichbarkeit mit Hilfe eines möglichst großen gemeinsamen Massstabes. Im Altertum wurde diese Eigenschaft der musikalischen Harmonie ausschließlich philosophisch ästhetisch begründet. Obertonreihe und Fourier–Analyse bestätigen diesen ästhetischen Anspruch mathematisch. III. M USIKALISCHE S TIMMUNGSSYSTEME A. Das System des Philolaos (ca. 450 v. Chr.) Die Einteilung einer Oktave in Teiltöne, die Tonleiter, erfolgte mathematisch begründet wohl erstmalig in der Philosophenschule der Pythagoräer. Als erstes ist das System des Philolaos (ca. 450 v. Chr.) überliefert. Damals wurden nicht Frequenzverhältnisse sondern Verhältnisse von Saitenlängen betrachtet. Da aber bei gleichen Saitenspannungen (, was z.B. durch gleiche Zuggewichte sichergestellt werden kann,) die Schwingungsfrequenz einer Saite umgekehrt proportional zur Saitenlänge ist, ergibt sich ein Quotient f 2 /f1 zweier Schwingungsfrequenzen als Kehrwert des Quotienten der zugehörigen Saitenlängen l 2 : l1 , d.h. es gilt f2 : f1 = l1 : l2 . Beide Masssysteme sind damit völlig gleichwertig. Aufgrund der größeren Anschaulichkeit und dem näheren Bezug zu Physik werden hier Intervalle ausschließlich durch Frequenzverhältnisse ausgedrückt. Für Saitenlängen–Verhältnisse (oder auch Rohrlängen–Verhältnisse bei Blasinstrumenten) gelten deren Kehrwerte. 3 Philolaos unterteilt die als natürliches Ur–Intervall erkannte Oktave (f2 = 2f1 ) zunächst gemäß dem arithmetischen Mittel der Frequenzen 1 3 (f1 + 2f1 ) = f1 = f2 ⇒ f2 : f1 = 3 : 2 Quinte 2 2 und erhält dadurch die Quinte. Ebenso wird das harmonische Mittel, das als der Kehrwert des arithmetischen Mittels der Kehrwerte definiert ist, aus dem Oktavintervall gebildet: 1 4 = f1 = f2 ⇒ f2 : f1 = 4 : 3 Quarte. 1 1 1 3 + 2 f1 2f1 Es entsteht damit die Quarte zum Grundton. (Dem harmonischen Mittel zweier Schwingungsfrequenzen entspricht das arithmetische Mittel der zugehörigen Saitenlängen und umgekehrt.) Der Abstand (d.h. der Quotient der Frequenzen) zwischen Quinte und Quarte wird als Ganzton definiert: 3 4 9 f0 : f0 = ⇒ f2 : f1 = 9 : 8 Ganzton. 2 3 8 Damit teilt sich die Quarte in 2 Ganztöne und einen sog. Halbton x mit, 256 9 9 def 4 · ·x = ⇒x= ⇒ f2 : f1 = 256 : 243 Halbton 8 8 3 243 die Quinte in 3 Ganztöne und diesen Halbton. Die Dur– Tonleiter ist so durch die Definition von Quinte, Quarte, Ganzton, Halbton eindeutig fixiert. Im System des Philolaos ergeben sich z.B. für C–Dur die in Bild 3 dargestellten Frequenzen (bezogen auf die Frequenz f 0 des Grundtons C (= 264 Hz)). C D E F G A H c 1 9 8 81 64 4 3 3 2 27 16 243 128 2 9 8 Abbildung 3. 9 8 256 243 9 8 9 8 9 8 256 243 Frequenzskala der Dur–Tonleiter nach Philolaos. Da für alle Quinten und Quarten die Frequenzverhältnisse 3 : 2 bzw. 4 : 3 vorliegen, sind somit alle Quinten und Quarten rein im Sinne koinzidierender Obertöne. Hingegen entstehen die große Terzen als zwei Ganztöne mit (9/8) 2 = 81/64 um den Faktor 81/80 zu groß und klingen damit ziemlich unrein (5 : 4 = 80 : 64 < 81/64). Dieser Fehler 81/80 = 1,0125 wird als das syntonische Komma in Stimmungssystemen bezeichnet. Des Weiteren ist der Halbton weit weniger als ein halber Ganzton, da gilt: (256/243) 2 = 1,1099 < 1,125 = 9/8. Insgesamt führt das System des Philolaos aufgrund dieser Schwächen zu einem ziemlich unbefriedigenden Höreindruck. B. Chromatische Erweiterung, Pythagoreisches Komma Im System des Philolaos (bzgl. Grundton C) sind alle einzelnen Quinten in der Folge F–C–G–D–A–E–H rein. Diese Töne (bzw. ihre Schwingungsfrequenzen bzgl. eines Bezugstons (hier F)) sind also durch das Aufeinandertürmen von Quinten (und als selbstverständlich vorausgesetzten Oktavverschiebungen) vorgegeben. Dieses Prinzip kann zur Erzeugung weiterer Töne fortgesetzt werden, wodurch sich nährungsweise die chromatische Halbtonreihe ergibt, denn man trifft nach 12 Quinten knapp neben den Grundton (plus 7 Oktaven): (3/2)12 = 129,746... = 27 = 128. Diese Nähe von 12 Quinten zu 7 Oktaven hat dazu geführt, dass die Oktave bei großzügigem Hinwegsehen über den Fehler in 12 Habtonschritte unterteilt wird, also zur gewohnten chromatischen Tonreihe. Es entsteht jedoch durch fortlaufende reine Quinten kein Quintenzirkel, sondern eine sich niemals schließende Quintenspirale, siehe Bild 4. his 312/219 311/217 eis C1 F 2/3 310/215 59049 32768 19687 16284 g 3/2 ais d 9/8 B 16/9 Es 32/27 dis W olfsquinte a 27/16 As 128/81 D es gis 6561 4096 e 81/64 G es 1024/729 h 243/128 cis 2187 2048 Abbildung 4. fis 729/512 Spirale reiner Quinten (reduziert um Oktaven). Die Abweichung zwischen 12 Quinten und 7 Oktaven, also 12 12 = 3219 = 1,013643, wird als das Pythagoder Faktor (3/2) 27 reische Komma bezeichnet. Schließt man die Quintenspirale an einer Stelle, z.B. zwischen es und gis zwangsweise, so wird diese Quinte“ von 1,5 auf 1,4798 verkleinert und damit ” extrem unrein. Dies wird als Wolfsquinte“ bezeichnet. ” Auch bei vielfachen Umläufen dieser Quintenspirale, also der Definition weiterer Töne zwischen den 12 Tönen der Klaviatur innerhalb einer Oktave, kann der Ausgangston (bzw. Oktavverschiebungen dazu) niemals wieder erreicht werden, denn in der Quinte steckt der Primfaktor 3, während Oktaven als Potenzen von 2 definiert sind: (3/2)k = 2 bzw. 3k = 2+k ∀k, ∈ N. Ein widerspruchsfreies musikalisches Stimmungssystem, das über reinen Quinten definiert ist, kann aufgrund der Eindeutigkeit der Zerlegung von natürlichen Zahlen in Primfaktoren somit prinzipiell nicht existieren! Auch mit der Definition unterschiedlicher Tonhöhen je nach enharmonischer Darstellung, also z.B. eine Unterscheidung zwischen es und dis etc., wird dieses Problem nicht endgültig gelöst. Sogenannte subsemitonische Tasteninstrumente mit mehrfacher Repräsentation der einzelnen Töne innerhalb der chromatischen Skala, mit denen in der Renaissance– und Frühbarockzeit experimentiert wurde (z.B. das sog. Cembalo universale“ mit 32 Tasten je Oktave) ” konnten letztlich keine befriedigende Abhilfe schaffen. Durch professionelle Musiker erfolgt bei nicht fixierter Intonation, 4 also z.B. bei Streichern oder im Chorgesang, eine rein klingende Intonation fortlaufend fließend, also mit einer Variabilität der Höhe für identisch notierte Töne zum Ausgleich von syntonischem und Phytagoreischem Komma. A C 9:8 6:5 groß 1 Abbildung 6. C. Das Stimmungssystem des Archytas H d klein e f 3:2 8:5 groß 4:3 g groß a klein 9:5 2 Frequenzskala einer äolischen Moll–Tonleiter nach Archytas. Archytas (ca. 420–350 v. Chr.) definierte eine sog. reine Stimmung innerhalb einer Tonart, die auch als diatonische Stimmung bezeichnet wird. (Sie wird auch Didymus zugeschrieben; Didymus lebte jedoch erst ca. 300 Jahre später.) Wiederentdeckt und ausführlich diskutiert wurde dieses System durch Gioseffo Zarlino (1517–1590, Markuskantor zu Venedig), dem wohl wichtigsten Kenner und Entwickler von Stimmungssystemen der Musikgeschichte. Im System des Archytas werden Quinte und Quarte wie bei Philolaos über geometrisches und harmonisches Mittel aus der Oktave bestimmt. Davon abweichend werden jedoch große und kleine Terz als arithmetische und harmonische Mittel aus der Quinte definiert. Damit entsprechen diese Terzen exakt der Obertonreihe, das syntonische Komma wird vermieden. einer chromatischen Erweiterung. Diese wurde im Jahr 1739 durch Leonhard Euler (1702–1783), einem der bedeutendsten Mathematiker, anhand der Erkenntnis versucht, dass in der natürlichen Obertonreihe der 7., 11., 13. Oberton und alle weiteren Primzahlen entsprechenden Obertöne nach unserem musikalisch harmonischen Empfinden als sehr fremd klingen. Diese entsprechen nämlich nicht dem harmonischen Grundkonzept der Kadenz, das über die reinen Dreiklänge wiederum unmittelbar aus der diatonischen Stimmung folgt. Deshalb legte Euler fest, dass alle Töne einer chromatischen Tonleiter durch Frequenzen definiert seien, die bzgl. einer Bezugsfrequenz ausschließlich mittels der Primfaktoren 2, 3 und 5 darstellbar sind, also durch 2 α · 3β · 5γ mit α, β, γ ∈ N definiert werden. Damit ergeben sich auch für alle Intervalle Frequenzverhältnisse, bei denen Zähler und Nenner mittels 3 5 f1 + f1 /2 = f1 = f2 ⇒ f2 : f1 = 5 : 4 große Terz dieser ersten drei Primzahlen ausdrückbar sind. Das System 2 4 von Euler ist aus mathematischer Sicht gewiss ästhetisch; 1 6 = f1 = f2 ⇒ f2 : f1 = 6 : 5 kleine Terz. es erweist sich aber für die musikalische Praxis als völlig 1 1 2 5 ungeeignet, da extrem unterschiedlich große Halbtonschritte 2 f1 + 3f1 Es entsteht auf diese Weise die diatonische oder auch rein“ auftreten. ” genannte Skala, für die sich am Beispiel von C–Dur ergibt, siehe Bild 5 D. Die mitteltönige Stimmung c d groß 1 Abbildung 5. e f 5:4 4:3 klein 9:8 g groß a klein 3:2 h c 15:8 2 groß 5:3 Frequenzskala der Dur–Tonleiter nach Archytas. Die Skala zeichnet sich dadurch aus, dass die Dur– Dreiklänge auf den Stufen 1, 4 und 5 (also die Kadenz) rein erklingen (Frequenzverhältnisse 1, 5/4, 3/2), sowie auch die Moll–Dreiklänge der Stufen 3 und 6 (1, 6/5, 3/2). Als gravierende Nachteile sind jedoch anzumerken: Es existieren zweierlei Ganzton–Intervalle 9 : 8 und 10 : 9, was jedoch genau der Obertonreihe entspricht. Die Differenz dieser beider Ganztonschritte (Quotient der Frequenzen) entspricht dem syntonischen Komma 81/80; die Terz 2 dadurch korrigiert. wird = 1,1378 mehr als Außerdem ergeben zwei Halbtöne 16 15 den großen“ Ganzton 98 = 1,125. Die kleine Terz auf der 2. ” Stufe (d–f) ist mit 32 27 = 1,185 anstelle von 1,2 unrein. Auch die Quinte auf der 2. Stufe (d–a) ist mit 40 27 = 1,4815 um das syntonische Komma verkleinert. Der Moll–Dreiklang auf der 2. Stufe (Subdominante in a–Moll) ist damit auch bei der sog. reinen“ Stimmung grob unrein! ” Durch Verschiebung von großen“ und kleinen“ Ganztönen ” ” lässt sich auch eine diatonische, reine“ Stimmung für die ” äolische Moll–Skala erzeugen; siehe Bild 6. Dabei entsteht jedoch nun ein grob unreiner Dur–Dreiklang auf der 7. Stufe (g–Dur bzgl. des Grundtons A)! Der gravierendste Nachteil im System des Archytas ist das Fehlen In der mitteltönigen Stimmung, die wohl erstmalig von Zarlino im Jahr 1539 vorgeschlagen wurde, wird das Problem der um das syntonische Komma zu großen Terzen im System des Philolaos auf Kosten zu kleiner Quinten gelöst. Da vier Quinten eine große Terz (+ zwei Oktaven) ergeben, siehe Bild 4, wird in der mitteltönigen Stimmung die Quinte um den Faktor 4 80/81 zu qm = 4 80/81 · 3 : 2 = 1,495348 < 1,5 verkleinert. Der Fehler für die Quinte ist also auf nur ein Viertel des syntonischen Kommas verringert, weshalb bei der mitteltönigen Stimmung die Dreiklänge der Kadenz als wesentlich angenehmer empfunden werden als im System des Philolaos. Jedoch ergeben 12 mitteltönige Quinten weniger als 7 Oktaven, da gilt: 12 3 1/4 12 80 3 80 3 · = · = 125 < 128 = 27 . 2 81 2 81 Hier entsteht also eine Quintenspirale nach innen mit einer noch gravierenderen Wolfsquinte als im System des Philolaos. Aber solange Wolfsquinten vermieden werden erzeugt die mitteltönige Stimmung ein heute seltsam weich anmutendes Klangbild, das sich insbesondere in der Alten Musik effektvoll einsetzen lässt. Die mitteltönige Stimmung wurde in Deutschland insbesondere durch Michael Praetorius (1571– 1621) propagiert und fand zeitweise große Verbreitung. (In England gibt es angeblich heute noch Kirchenorgeln, die gemäß der mitteltönigen Stimmung intoniert sind.) 5 E. Die gleichschwebende Stimmung Um den Quintenzirkel bei 7 Oktaven exakt zu schließen, liegt es nahe, eine Definition der Quinte gemäß √ 7 12 2 = 1,4983071 < 3/2 q 12 = 27 ⇒ q = vorzunehmen. Dies entspricht zugleich einer √ Einteilung der Oktave in 12 gleiche Halbtöne zu je p = 12 2 = 1,05946. Die Fehler von syntonischem und Pythagoreischem Komma werden gleichmäßig auf alle Intervalle verteilt. Diese als gleichschwebend bezeichnete Stimmung wurde erstmalig ebenfalls durch Gioseffo Zarlino in seinen Sopplimenti musi” cali“ von 1588 vorgeschlagen. In diesem Stimmungssystem ist jedoch kein einziges Intervall außer der Oktave wirklich rein! Die Frequenzverhältnisse sind sogar alle irrational und damit grundsätzlich inkommensurabel. Die ästhetischen Ansprüche der alten Philosophen werden damit in krassester Weise verfehlt. Aus mathematischer Sicht ist jedoch die gleichschwebende Stimmung als interessant zu bezeichnen, da bei Definition einer Identität von Tönen bzgl. Oktavverschiebungen die 12 Halbtöne der Oktave die höchst ästhetische Struktur einer mathematischen Gruppe G mit 12 Elementen bilden, wobei als die Verknüpfung zwischen Elementen die Intervallbildung I dient: I = pa ◦ pb def = p(a−b)mod12 ∈ G; a,b ∈ {0, 1, . . . , 11} , p = √ 2. 12 In mathematischen Gruppen herrscht eine hohe Symmetrie. Ausgehend von einem Element sind die Beziehungen zu allen anderen Elementen unabhängig vom Ausgangselement jeweils gleich. Intervalle sind hier somit in allen Tonarten völlig identisch. Die verschiedenen Tonarten verlieren dadurch jedoch gänzlich ihre musikalischen Eigenarten und speziellen Ausdrucksmöglichkeiten. Die gleichschwebende Stimmung, die heute allen elektronischen Stimmgeräten zugrunde liegt und bei Tasteninstrumenten verwendet wird, ist nicht zu verwechseln mit einer sog. wohltemperierten“ Stimmung. Sie ” ist im Gegenteil eher als kalt und unpersönlich zu charakterisieren. In der musikalischen Praxis wird auch von der gleichschwebenden Stimmung intuitiv abgewichen, sobald die Möglichkeit für eine individuelle Feinintonation besteht, wie bei Sängern, Streichern und Bläsern. Bei guten Interpreten entsteht eine variable Stimmung, die sich jeweils an der aktuellen diatonischen Reihe mit möglichst reinen Quinten, Quarten und Terzen orientiert. F. Weitere Stimmsysteme Die Definition eines widerspruchsfreien musikalischen Stimmungssystems ist aus folgendem Grund prinzipiell unmöglich: Aus dem logarithmischen Zusammenhang zwischen Schwingungsfrequenz und Tonhöhenempfindung entsprechen Tonhöhenschritten Multiplikationen von Frequenzverhältnissen, während in der Obertonreihe der Fourier– Analyse jeweils die Grundfrequenz zu addieren ist, um den nächsten Oberton zu erreichen. Im Laufe der Musikgeschichte wurden neben den bereits erwähnten unüberschaubar viele weitere Kompromisse vorgeschlagen, um dieses grundsätzliche Problem so gut wie möglich vor Musikern und Musikgenießern zu verbergen. Neben zahlreichen großen Mathematikern und Physikern wie Euler, Kepler oder Huygens haben sich auch viele berühmte Instrumentenmacher intensiv mit diesem Problem beschäftigt. So sind mindestens 5 Vorschläge aus der Orgelbauerfamilie Silbermann und zahlreiche weitere Vorschläge von Vorgängern, Zeitgenossen und Schülern von Johann Seb. Bach bekannt. Zum Beispiel hat allein der Musiker und Musiktheoretiker Andreas Werckmeister (1645–1706) mindestens 7 unterschiedliche Stimmungssysteme entwickelt. In der Barockzeit war also das grundsätzliche Stimmungsproblem allgemein bekannt und ein unter Musikern viel diskutiertes Thema. Leider ist nicht überliefert, welchem dieser vielen Stimmungssysteme Johann Seb. Bach den Vorzug gegeben hat, die Zeugnisse seiner Schüler widersprechen sich hierzu. Die Komposition der beiden Bände des wohltemperirten Claviers“ ” von J.S. Bach hat aber sicherlich nicht dazu gedient, ein neues, umfassendes und rund um den Quintenzirkel gleichermaßen einsetzbares Stimmungssystem zu propagieren, sondern es ist eher als ein Kompendium von Referenzstücken zu verstehen, anhand dessen unterschiedliche Stimmungssysteme verglichen werden können. Nach Ansicht des Autors ist das wohltemperirte Clavier“ damit also als eine Art Benchmark– ” ” Test“ zum Vergleich von verschiedenen Stimmungssystemen (, wie man Benchmark–Software für den Leistungsvergleich bei Computern einsetzt). Da die gleichschwebende Stimmung bereits lange vor Werckmeister und Bach etc. bekannt war, darf man wohl mit hoher Gewissheit annehmen, dass diese für die Barockmeister und auch für spätere Musiker keine akzeptable Lösung darstellte. Man strebte eine wärmere, d.h. temperierte“ Stimmung mit Beibehaltung von Eigenarten ” der verschiedenen Tonarten an. Richard Wagner hat wohl hinsichtlich des Einsatzes von Tonarten mit unterschiedlichen charakteristischen Färbungen als höchst effektvolles Stilmittel später die höchste Meisterschaft erreicht. Üblicherweise werden heute Stimmungssysteme anhand ihrer Abweichung von der gleichschwebenden Stimmung charakterisiert, wobei als logarithmisches Maß für die Tonhöhe der hundertste Teil, ein Cent, eines Halbtonschrittes der gleichschwebenden Stimmung verwendet wird: Tonhöhe = 1200 · log 2 f /fBezug [Cent] . Der Oktave entsprechen somit 1200 Cent, der Quarte 700 Cent. In Bild 7 wird die Abweichung mehrerer Stimmungssysteme von der gleichschwebenden Stimmung in Cent für alle Töne der chromatischen Reihe dargestellt, wobei auch eine Rekonstruktion“ der von Bach bevorzugten Stimmung ” gemäß Angaben von Schülern enthalten ist. Diese darf jedoch keineswegs als gesichert betrachtet werden. IV. Z USAMMENFASSUNG In diesem Beitrag wurde versucht zu zeigen, dass musikalisch–ästhetisches Empfinden und mathematische Analyse in sehr enger Beziehung stehen, was übrigens auch für 6 + 30 15, 6 13, 7 0 Philolaos 11, 7 9, 78 7, 82 5, 87 3, 91 1, 96 0 0 -1, 96 -3, 91 -5, 87 - 30 10,3 6,8 mitteltönig 3,4 0 0 -3,4 -6,8 -10,3 -13,7 -17,1 -20,5 -24 Werckmeister III Silbermann II -27,4 0 0 -2 -10 -8 Archytas -4 -8 -10 -8 -12 -12 6 4 2 0 0 -2 -4 -6 -8 0 -10 -12 -14 Ä%DFK³ -4 -6 -16 0 0 0 0 -2 -4 -8 -5 -6 -10 -10 3, 9 -10 2 0 1 Euler 0 -2 -13 -14 3, 9 2 1 0 0 -2 - 10 - 13 - 14 - 13 - 17 - 25 - 29 c Abbildung 7. cis d es e f fis g gis a b h Fµ Stimmungssysteme im Vergleich zur gleichschwebenden Stimmung. andere Kunstformen in gleicher Weise gilt. Eine Beschäftigung mit der Mathematik, die hinter unseren musikalischen Hörgewohnheiten steckt, lohnt sich nicht nur aus generellem Interesse, sondern kann nach Erfahrung des Verfassers auch zu einem gesteigerten Musikgenuss verhelfen. Die musikalischen Intervalle entsprechen rationalen Frequenzverhältnissen mit möglichst kleinen ganzen Zahlen in Zähler und Nenner. Sie sind in der Obertonreihe, also der Folge von Schwingungsfrequenzen, die sich aus der Fourier– Analyse periodischer Zeitverläufe bzw. direkt als Naturtonreihe von (Blech–)Blasinstrumenten ergibt, auf natürliche Weise enthalten. Die Eindeutigkeit der Zerlegung von natürlichen Zahlen in Primfaktoren lässt aber prinzipiell nicht zu, dass mehrere aufeinander gestellte gleiche Intervalle, die selbst keine Oktaven darstellen, sich zu Oktaven addieren. Somit können widerspruchsfreie musikalische Stimmungssysteme, bei denen mehr als eine Tonhöhe je Oktave zugelassen sind, prinzipiell nicht existieren. Die übliche Unterteilung der Oktave in 12 Halbtöne erfolgt daraus, dass sich 12 reine Quinten relativ nahe zu 7 Oktaven ergeben und dadurch im sog. Quintenzirkel, der jedoch eigentlich eine Spirale darstellt, zumindest in sehr grober Näherung ein abgeschlossenes Sys” tem“ entsteht. Im Laufe der Musikgeschichte wurde auf vielfältige Weise versucht, zu Kompromissen zu gelangen, die jeweils mit deutlich unterschiedlichen klanglichen Eigenheiten verbunden sind. Die heute meist als selbstverständlich vorausgesetzte gleichschwebende Stimmung trifft dabei jedoch nicht die Klangvorstellungen von Musikern früherer Epochen. Sie stellt nach Meinung des Verfassers eine Verarmung bzgl. des musikalischen Empfindens dar, da die unterschiedlichen Charakte- ristika verschiedener Tonarten verloren sind. Im Rahmen der heute populären Historischen Auff ührungspraxis sind daher nicht nur Tempi und Klangfarben von Instrumenten an alten Idealen auszurichten, sondern es ist auch insbesondere das ursprünglich verwendete Stimmungssystem einzusetzen, um dem Originalklang möglichst nahe zu kommen. L ITERATUR [1] G. Assayag, H.G. Feichtinger, J.F. Rodrigues: Mathematics and Music – A Diderot Mathematical Forum; Springer–Verlag Berlin Heidelberg 2002 [2] Knut Radbruch: Mathematik in den Geisteswissenschaften, Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen, 1989, (Kleine Vandenhoeck–Reihe: 1540) [3] Ambros P. Speiser: Musikalische Akustik; VCH Verlagsgesellschaft mbH, Weinheim; Physik in unserer Zeit, 20. Jahrgang 1989, Nr. 5, S. 138–143 Johannes B. Huber ist Professor für Nachrichtentechnik an der Friedrich–Alexander–Universität Erlangen–Nürnberg und leitet dort den Lehrstuhl für Informationsübertagung (www.LNT.de/LIT). Musikalisch ist er als Amateur aktiv.