C U R R I C U LU M Schweiz Med Forum Nr. 6 5. Februar 2003 124 Behandlung der febrilen Neutropenien bei niedrigem Komplikations-Risiko Alain Cometta, Oscar Marchetti, Thierry Calandra Einleitung Patienten, welche wegen einer malignen Blutkrankheit oder eines soliden Tumors chemotherapeutisch behandelt werden, haben ein erhöhtes Infektionsrisiko, wenn sich eine Neutropenie einstellt. In 80–90% tritt bei Leukämien mit Neutropenien eine Infektion auf und in 50% bei soliden Tumoren mit Neutropenie [1–3]. Bis zum Ende der 60er Jahre war das Auftreten einer Infektion bei diesen Patienten mit einer hohen Mortalität verbunden – zumal 80% der Todesfälle von leukämischen Patienten durch Infektionen bedingt waren [4]. Bei neutropenischen Patienten ist ein Status febrilis oft das erste und einzige Zeichen einer Infektion. Schimpff et al. konnten zeigen, dass die empirische Gabe eines breit wirkenden Antibiotikums sofort bei Beginn des Fiebers, d.h. noch vor einem klinischen oder mikrobiologischen Infektionsnachweis, die Mortalität infolge Infektionen signifikant vermindert hat [5]. Mehrere Studien der vergangenen 30 Jahre haben eine bessere Einschätzung der Infektions-Komplikationen bei neutropenischen Patienten gebracht. Während die Behandlung der leukämischen Patienten eine Hospitalisation erfordert, wird die Chemotherapie bei soliden Tumoren öfters ambulant durchgeführt. Diese Behandlungsart hat in den letzten 10 Jahren zugenommen. Deswegen muss der Hausarzt (evtl. Notfallarzt) wissen, wie er bei einem Patienten reagieren soll, bei welchem nach einer Chemotherapie ein Status febrilis auftritt. Ziel dieses Artikels ist die Zusammenstellung der Infektionsbehandlung bei kurzdauernden Neutropenien. Definitionen Korrespondenz: PD Dr Alain Cometta Division des Maladies Infectieuses Département de Médecine Interne Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CH-1011 Lausanne [email protected] Als Neutropenie gilt ein Wert unter 1000 Zellen/mm3 der absoluten Zahl von zirkulierenden Neutrophilen. Zwei Faktoren der Neutropenie bestimmen das Auftreten, die Schwere und die Dauer einer Infektion. Das Infektionsrisiko erhöht sich signifikant bei einer absoluten Zellzahl unter 500/mm3 und wird maximal bei einem Wert unter 100/mm3 [6]. Hinsichtlich der Dauer der Neutropenie wird das Infektionsrisiko signifikant höher bei einer Dauer von mehr als 7–10 Tagen. Man spricht daher von einer kurzdauernden Neutropenie, wenn sie weniger als 7–10 Tage anhält [7]. Als Status febrilis gilt beim neutropenischen Patienten eine Körpertemperatur 38,5 oder 38,0 °C, axillär oder oral, zweimal im Abstand von mindestens einer Stunde gemessen [8]. Beurteilung eines neutropenischen Patienten mit Fieber Die Ursache eines Status febrilis bei Neutropenie kann mikrobiologisch oder klinisch festgestellt werden. In Einzelfällen gelingt der Infektionsnachweis nicht und das Fieber bleibt das einzige Zeichen [9]. Der Nachweis bei einem Status febrilis variiert je nach Art der Tumorerkrankung und vor allem je nach Dauer der Neutropenie. Studien bei akuten Leukämiepatienten und länger dauernder Neutropenie belegen, dass der Status febrilis durch eine mikrobiologisch gesicherte Bakteriämie in 25% der Fälle bedingt ist, in 5% durch eine mikrobiologisch gesicherte Infektion ohne Bakteriämie und in 25–30% der Fälle durch eine nur klinisch dokumentierte Infektion. Eine mögliche Infektion (ohne klinischen oder mikrobiologischen Nachweis) liegt bei 40–45% der Fälle mit Fieber vor [9, 10]. Bei kurzdauernder Neutropenie ist nur in 10% eine Bakteriämie im Status febrilis nachweisbar – während mikrobiologisch gesicherte Infektionen ohne Bakteriämie in 10% der Fälle beobachtet werden. Nur klinisch nachweisbare Infektionen liegen in 20% der Fälle vor; lediglich mögliche Infektionen machen 60% der Fälle aus [11]. Das Auftreten eines Status febrilis bei einem neutropenischen Patienten verlangt eine eingehende klinische Untersuchung. Es ist jedoch zu bedenken, dass das Fehlen von Neutrophilen die Reaktion auf einen Infekt verändert und die klassischen Zeichen der Infektion (Rötung, lokale Überwärmung, Eiteransammlung) so- C U R R I C U LU M wie die klinischen und radiologischen Symptome abgeschwächt sind. Die Infektion ist am häufigsten in der Mundhöhle, im Rachen, in den Lungen und in Hautfalten (Axilla und Leiste) sowie am Anus lokalisiert. Diese Orte sind besonders sorgfältig zu untersuchen. Besonders zu beachten sind Eintrittsstellen von Kathetern und Einstichstellen von Punktionen. Auch Zeichen der Toxizität der Chemotherapie und somit ein erhöhtes Infektionsrisiko durch einen Durchbruch von anatomischen Grenzen (Schleimhaut im oropharyngealen oder analen Bereich, Haut) können klinisch entdeckt werden. Bakteriämien sind bei diesen Patienten häufig; deswegen sind Blutkulturen sofort nach Auftreten eines Fiebers zu entnehmen. Mindestens zwei Blutkulturpaare (ein Paar besteht aus zwei Röhrchen für aerobe und für anaerobe Kulturen) sind notwendig, um bei positivem Befund eine Kontamination mit üblichen Hautkeimen auszuschliessen (wie koagulase-negative Staphylokokken, Propioni-Bakterien und Diphtheroides). Idealerweise sollten die Blutentnahmen an unterschiedlichen Körperstellen entnommen werden – eine aus einem liegenden Venenkatheter und eine andere durch Punktion einer peripheren Vene. Diese Anforderung kann nicht immer erfüllt werden, insbesondere nicht bei Kindern. Wenn ein Katheter mehrere Leitungen hat, sollten getrennte Blutkulturen entnommen werden [7, 12]. Jeder klinisch suspekte Lokalbefund wie eine Rötung einer Punktionsstelle oder eine Schleimhautrötung soll Anlass für eine Kultur des Abstriches sein. Eine bakteriologische Untersuchung des Urins ist immer gerechtfertigt, zumal in 5% fieberhafter Episoden eine Bakteriurie beobachtet wird. Schliesslich soll aus jeder verdächtigen Hautstelle eine Punktion oder eine Biopsie zur mikrobiologischen und histologischen Untersuchung entnommen werden. Obwohl die Symptomatologie einer Pneumonie bei Fieber oft sehr diskret sein kann oder gar fehlt, ist eine Röntgen-Thoraxaufnahme indiziert, auch wenn ihr Wert nicht in einer KostenNutzen-Analyse untersucht wurde. In Anbetracht der ungünstigen Prognose der Lungeninfekte wird die Abklärung und die Behandlung durch das frühzeitige Entdecken eines Lungeninfiltrats beeinflusst [13]. Schliesslich sollen folgende Laborbefunde erhoben werden: Blutbild mit Differenzierung der Leukozyten, Transaminasen, Bilirubin, alkalische Phosphatase, Harnstoff, Kreatinin und Elektrolyte. Diese Werte sollen alle drei Tage erneut bestimmt werden, um den Verlauf der Neutropenie und eine mögliche Toxizität der medikamentösen Behandlungen zu erkennen. Schweiz Med Forum Nr. 6 5. Februar 2003 125 Bestimmung des Infekt-Risikos bei neutropenischen Patienten Die Auswertung des Behandlungserfolges von Antibiotika bei neutropenischen Patienten mit Fieber hat in mehreren Studien gezeigt, dass das Risiko für schwere Komplikationen oder sogar für einen letalen Verlauf nicht bei allen Patienten gleich ist. Es zeigte sich, dass diese Patienten in Gruppen unterteilt werden können aufgrund der zu erwartenden Dauer der Neutropenie und aufgrund von klinischen Zeichen von schwerem Verlauf wie Hypotension, Veränderung des Allgemeinzustandes, Ateminsuffizienz, Niereninsuffizienz, schwere Schleimhautentzündung oder abdominale Erkrankung [14]. Bei Patienten mit hohem KomplikationsRisiko dauert die Neutropenie länger als 10 Tage, sie zeigen ein oder mehrere klinische Kriterien für einen schweren Verlauf oder ihr Tumorleiden wird durch die Behandlung nicht beherrscht. Anderseits weisen eine zu erwartende Neutropeniedauer unter 7–10 Tagen, das Fehlen klinischer Kriterien für einen erhöhten Schweregrad sowie das gute Ansprechen des Tumors auf die Chemotherapie oder eine maligne Blutkrankheit in Remission auf ein geringes Risiko hin. In der Absicht, das Risiko eines Status febrilis besser abzuschätzen, sind mehrere Scores entwickelt worden [15, 16]. Vereinfachte Behandlungsstrategien bei neutropenischen Patienten mit niedrigem Risiko sind aufgestellt worden, insbesondere in Hinblick auf eine ambulante Therapie. Intravenöse antibiotische Behandlung Da das Sterberisiko proportional mit der Zeit zwischen Auftreten des Fiebers und Beginn einer antibiotischen Therapie anwächst – insbesondere bei neutropenischen Patienten mit einer Infektion durch gramnegative Bakterien – ist seit mehr als 30 Jahren die empirische Gabe eines Breitband-Antibiotikums bei allen febrilen neutropenischen Patienten zur Regel geworden [5]. Dasselbe gilt beim Auftreten von Symptomen und Anzeichen einer Infektion ohne Fieber. Verschiedene Antibiotika-Therapien sind in grossen randomisierten Studien geprüft worden. Mehrere Möglichkeiten stehen zur Verfügung (Tabelle 1). Die Wahl des Antibiotikums wird in Abhängigkeit der örtlichen Epidemiologie und des individuellen Risikos für Infekt-Komplikationen getroffen. Pathogene Keime, die vom Blut dieser Patienten isoliert werden, umfassen grampositive Kokken und gramnegative Bakterien, so dass die initiale Antibiotika-Therapie ein breites Spektrum abdecken muss – inklusive Pseudomonas aeru- C U R R I C U LU M Schweiz Med Forum Nr. 6 5. Februar 2003 126 Tabelle 1. Empfohlene Antibiotika zur empirischen Behandlung des Status febrilis bei neutropenischen Patienten im Erwachsenenalter mit normaler Nierenfunktion. Antibiotika-Klasse Antibiotikum Dosierung Cephalosporine der 3. oder 4. Generation Ceftazidim (Fortam) Cefepime (Maxipime) 2 g 3/Tag 2 g 3/Tag Carbapeneme Imipenem-Cilastatin (Tienam) Meropenem (Meronem) 0,5–1 g 4/Tag 1 g 3/Tag Beta-Laktam-Antibiotika mit Beta-Laktamase-Hemmer Piperacillin/Tazobactam 4,5 g 4/Tag Aminoglykoside in Kombination mit einem obgenannten Beta-Laktam-Antibiotikum Amikacin (Amikin) Tobramycin (Obracin) 20 mg/kg 1/Tag 3 mg/kg 1/Tag Antibiotika-Kombination Ceftriaxon (Rocephin) + Amikacin (Amikin) 2 g 1/Tag + 20 mg/kg 1/Tag Amoxicillin/Clavulansäure (Augmentin) + Ciprofloxacin (Ciproxin) 0,625 g 3/Tag + 0,750 g 2/Tag intravenöse Behandlung orale Behandlung Antibiotika-Kombination ginosa. Da die Neutrophilen fehlen, werden Antibiotika mit bakterizider Wirkung gewählt, in erhöhter Dosierung, um hohe Blut- und Gewebespiegel zu erreichen. Während 20 Jahren galt die Kombination eines Beta-Laktam-Antibiotikums mit breitem Wirkungsspektrum mit einem Aminoglykosid als Standard bei einer fieberhaften Neutropenie – unabhängig von der zu erwartenden Dauer der Neutropenie, der Grundkrankheit und der Chemotherapie. Neuerdings haben Monotherapien mit Ceftazidim, Imipenem, Meropenem, Piperacillin/Tazobactam oder Cefepim dieselbe Wirksamkeit bei länger dauernden Neutropenien gezeigt wie die klassische Antibiotika-Kombination eines Beta-Laktams mit einem Aminoglykosid [9, 17–20]. Die selben Antibiotika können auch bei Patienten mit niedrigem Risiko angewandt werden [21]. Die Belastung durch diese Behandlungen mit drei bis vier Antibiotika-Injektionen pro Tag unter stationären Verhältnissen und ihre hohen Kosten haben jedoch die Suche nach vereinfachten Therapien notwendig gemacht. Die parenterale Gabe einer Kombination von Ceftriaxon (2 g/Tag) mit Amikacin (20 mg/kg/Tag) in zwei Injektionen von wenigen Minuten einmal pro Tag hat sich als ebenso wirksam und gut verträglich erwiesen [22]. Orale Antiobiotika-Therapie bei febriler Neutropenie mit niedrigem Komplikations-Risiko Andere, vereinfachte Behandlungs-Schemata sind entworfen worden, wie der Wechsel von der parenteralen zur oralen Therapie 48 bis 72 Stunden nach klinischem Ansprechen und gutem Verlauf. Im Vergleich zur intravenösen Behandlung sind Einfachheit (kein venöser Zugang nötig) und niedrigere Kosten grosse Vorteile einer sofortigen oralen Therapie. Sie ist eine Alternative zur parenteralen Behandlung unter der Voraussetzung, dass der Patient nicht unter einer schweren Schleimhautbeschädigung und nicht unter Übelkeit oder Erbrechen leidet, was die Medikamenteneinnahme behindern würde. Das breite Wirkungsspektrum und die ausgezeichnete Bioverfügbarkeit nach oraler Gabe hat die Fluorochinolone in diesen Situationen zu den Antibiotika erster Wahl werden lassen. In den 90er Jahren hat die geringe Wirkung der damaligen Fluorochinolone auf grampositive Kokken (vergrünende Streptokokken und Pneumokokken) die Kombination mit einem Beta-Laktam-Antibiotikum notwendig gemacht. Zwei grosse Studien haben die Wirksamkeit einer oralen Kombination von Ciprofloxacin und Amoxicillin/Clavulansäure mit einer intravenösen Antibiotika-Therapie verglichen. Die Studie der Gruppe für Antibiotika der EORTC (European Organisation for Research on Treatment of Cancer, International Antimicrobial Therapy Cooperative Group) umfasste neutropenische Patienten mit Fieber, die an einem soliden Tumor oder an einem Lymphom litten: Die zu erwartende Neutropenie war kürzer als 7–10 Tage in Anbetracht der Grundkrankheit und der angewandten Chemotherapie [11]. Ausgeschlossen wurden Patienten mit erheblicher Schleimhautentzündung, die eine orale Gabe verunmöglichte, sowie Patienten im Schockzustand, mit Niereninsuffizienz, einer Infektion des Katheters oder des ZNS. Die orale Antibiotika-Therapie bestand in einer Kombination von Ciprofloxa- C U R R I C U LU M cin (750 mg 2mal täglich) und Amoxicillin/Clavulansäure (625 mg 3mal täglich) – während die intravenöse Behandlung mit einer Kombination von Ceftriaxon (2 g 1mal pro Tag) und Amikacin (20 mg/kg 1mal pro Tag) durchgeführt wurde. Nach Randomisierung erhielten 177 Patienten eine orale Therapie, 176 Patienten wurden intravenös behandelt. In beiden Patientengruppen waren die demographischen Charakteristika ausgeglichen; zwei Drittel litten an einem soliden Tumor und ein Drittel an einer malignen Blutkrankheit, vorwiegend an einem Lymphom. Die Dauer der Neutropenie betrug nach der Randomisierung durchschnittlich vier Tage. Die Erfolgsquote war in beiden Gruppen ähnlich: 80% in der Gruppe mit oraler Behandlung und 77% in der intravenös behandelten Gruppe (Tabelle 2). Die Wirksamkeit war geringer bei Patienten mit Bakteriämie sowie bei jenen mit einer Neutropenie von mehr als 10 Tagen Dauer. Jedoch bestand kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Behandlungsgruppen. 26 Patienten der oral behandelten Gruppe erlitten Durchfälle oder andere gastrointestinale Nebenwirkungen, während in der intravenös behandelten Gruppe 11 Patienten Komplikationen durch den Katheter zeigten, vier Patienten an einer Nephrotoxizität und vier an einer Hypokaliämie litten. Eine amerikanische Studie verglich ebenfalls bei fieberhaften Patienten mit einer Neutropenie von niedrigem Komplikations-Risiko die Wirksamkeit einer oralen Therapie mit Ciprofloxacin (750 mg 3mal täglich) und Amoxicillin/Clavulansäure (500 mg 3mal täglich) mit einer intravenösen Therapie mit Ceftazidim (2 g 3mal täglich) [23]. Es handelte sich um eine Doppelblind-Studie, wobei die Charakteristika Schweiz Med Forum Nr. 6 5. Februar 2003 127 der beiden Gruppen von 116 Patienten nach der Randomisierung vergleichbar waren. Die Erfolgsquote war bei beiden gleich hoch (71% in der oralen Gruppe und 67% in der intravenösen Gruppe). Das Aufkommen von Fluorochinolonen mit besserer Wirksamkeit in vitro auf grampositive Kokken wie Levofloxacin, Moxifloxacin oder Gatifloxacin könnte die Antibiotika-Therapie nochmals vereinfachen, indem die Kombination mit einem Beta-Laktam-Antibiotikum nicht mehr nötig wäre. Eine orale Monotherapie würde sicher besser akzeptiert und würde die Nebenwirkungen vermindern, insbesondere jene im Gastrointestinaltrakt, welche durch die Kombination von Ciprofloxacin mit Amoxicillin/Clavulansäure hervorgerufen werden. Da diese Studien bei hospitalisierten Patienten durchgeführt wurden, sagen sie nichts über die Zuverlässigkeit der Behandlung bei ambulanten Patienten aus. Die Einschlusskriterien der Studie der Antibiotika-Gruppe der EORTC erlaubten es nicht, jene 39 Patienten (11% der randomisierten Patienten) prospektiv zu identifizieren, welche klinisch eine Verschlechterung oder ernsthafte Komplikationen erlitten, die bei der ambulanten Behandlung eine Rehospitalisation nötig gemacht hätten [11]. Andere Studien, welche die Durchführbarkeit einer intravenösen Antibiotika-Behandlung zu Hause prüften, zeigten eine Rehospitalisationsquote von 5– 25% [24]. Verschiedene Scores mit dem Ziel, die Patienten mit niedrigem Risiko zu identifizieren, ergaben keine befriedigende Sensibilität zur Vorhersage von Komplikationen. Zum Beispiel wurde der Score von Talcott, der eine Patienten-Untergruppe mit einem Komplikationsrisiko unter 5% erkennen sollte, Tabelle 2. Resultat der Studie der Antibiotika-Gruppe der EORTC: Vergleich der Wirksamkeit einer empirischen oralen Behandlung (Ciprofloxacin + Amoxicillin/Clavulansäure) mit der empirischen, intravenösen Therapie (Ceftriaxon + Amikacin) bei neutropenischen Patienten mit geringem Komplikations-Risiko [11]. Orale Behandlung (Erfolg %) Intravenöse Therapie (Erfolg %) 141/177 (80%) 135/176 (77%) Bakteriämie 13/24 (50%) 9/18 (50%) mikrobiologisch nachgewiesene Infektion ohne Bakteriämie 11/14 (79%) 7/15 (47%) Erfolgsrate Erfolg je nach Typ der Infektion klinisch nachgewiesene Infektion 24/31 (77%) 21/27 (78%) Infektion unbekannter Ursache 93/108 (86%) 98/116 (84%) 63/74 (85%) 61/71 (86%) Erfolg je nach Dauer der Neutropenie <4 Tage 4–7 Tage 64/76 (84%) 60/78 (77%) >7 Tage 9/19 (47%) 9/18 (50%) C U R R I C U LU M Schweiz Med Forum Nr. 6 5. Februar 2003 an febrilen neutropenischen Patienten zwei Tage nach ambulanter, intravenöser Therapie getestet: Die Komplikationen waren höher als erwartet, zumal die Zahl der stationären Wiederaufnahmen bei 30% lag [25]. Der MASCCScore basiert auf dem Alter des Patienten, dem Schweregrad der Tumor-Krankheit, den Begleitkrankheiten und dem klinischen Zustand. Er ermöglicht die Abgrenzung einer Gruppe mit niedrigem Komplikations-Risiko mit einem positiven Voraussagewert von 90%. Er wurde jedoch nicht an einer Gruppe von ambulant behandelten Patienten angewandt [15]. Bevor eine Behandlung ausserhalb des Spitals geplant wird, muss der Arzt neben dem klinischen Zustand und der Kooperationsbereitschaft des Patienten auch das psychosoziale Umfeld prüfen sowie die zur Verfügung stehende Infrastruktur, d.h. die häusliche Umgebung, wie sicher sich der Patient fühlt, die Distanz des Hausarztes und des behandelnden Spitals, die Präsenz von speziell ausgebildeten Gemeindeschwestern. Quintessenz Jegliches Fieber bei einem Patienten, der eine Chemotherapie erhalten hat, ist ein ärztlicher Notfall: Beim Nachweis einer Neutropenie muss eine klinische Untersuchung, eine mikrobiologische Abklärung und eine sofortige Antibiotika-Therapie mit breitem Spektrum erfolgen. Eine orale antibiotische Kombinations-Behandlung mit Ciprofloxacin und Amoxicillin/Clavulansäure hat sich bei neutropenischen Patienten mit geringem Komplikations-Risiko ebenso wirksam erwiesen wie eine intravenöse Therapie mit breitem Spektrum. Jedoch kann eine systematische ambulante Behandlung der febrilen neutropenischen Patienten trotz niedrigem Komplikations-Risiko zur Zeit nicht empfohlen werden, da die Sicherheit dieses Vorgehens noch nicht nachgewiesen ist. Eine stationäre Beobachtung zu Behandlungsbeginn ermöglicht eine bessere Einschätzung, bei welchen Patienten mit Neutropenie das Komplikations-Risiko am geringsten sein wird. 128 Auch wenn mehrere onkologische Zentren febrile neutropenische Patienten mit geringem Komplikations-Risiko ambulant behandeln, so hat bisher keine grosse, kontrollierte Studie die Sicherheit dieses Vorgehens aufzeigen können [26, 27]. Diese Strategie wird in der nächsten Studie der Antibiotika-Gruppe der EORTC geprüft. Schlussfolgerungen Das bessere Verständnis der Problematik der febrilen Neutropenie und das Aufkommen neuer antimikrobieller Substanzen hat die Prognose der Patienten mit malignen Blutkrankheiten oder soliden Tumoren deutlich verbessert. Die Einführung einer sofortigen, empirischen Antibiotika-Therapie mit breitem Wirkungsspektrum ist der Angelpunkt der Behandlung neutropenischer Patienten mit Fieber. Eine bessere Definition des Infekt-Risikos hat eine Differenzierung und Vereinfachung der Behandlung der Patienten gebracht, die eine Neutropenie von kurzer Dauer und ein niedriges Komplikations-Risiko aufweisen. Die orale Antibiotika-Therapie hat bei günstigen Kosten und einfacher Durchführung (ohne venösen Zugang) ihre Wirksamkeit bei diesen Patienten bewiesen. Aus der Sicht der heutigen Kenntnisse kann eine systematische, ambulante Behandlung neutropenischer Patienten mit geringem Komplikations-Risiko nicht empfohlen werden: Eine kurze, stationäre Beobachtung (einige Stunden) erlaubt, die neutropenischen Patienten mit Fieber zu beurteilen und eine Antibiotika-Therapie einzuleiten. Wenn der klinische Zustand stabil ist und die Antibiotika gut vertragen werden, kann eine Entlassung nach Hause möglich sein – unter der Voraussetzung einer guten psychosozialen Umgebung und vorhandener Infrastruktur. Eine tägliche ärztliche Kontrolle muss organisiert werden. Literatur 1 The EORTC International Antimicrobial Therapy Cooperative Group. Reduction of fever and streptococcal bacteremia in granulocytopenic patients with cancer. JAMA 1994;272: 1183–9. 2 Delarive P, Baumgartner JD, Glauser MP, Cometta A. Evaluation de la prophylaxie antibiotique chez les patients neutropéniques avec hémopathie maligne. Schweiz Med Wochenschr 2000;130:1837–44. 3 Cherpillod A, Pétignat C, Leyvraz S, Bauer J, Francioli P. Infectious complications during chemotherapy for solid tumors. Clin Microbiol Infect 1997;3:329. 4 Chang HY, Rodriguez V, Narboni G, Bodey GP, Luna MA, Freireich EJ. Causes of death in adults with acute leukemia. Medicine (Baltimore) 1976;55:259–68. 5 Schimpff SC, Satterlee W, Young VM, Serpick A. Empiric therapy with carbenicillin and gentamicin for febrile patients with cancer and granulocytopenia. N Engl J Med 1971;284:1061–5. 6 Bodey GP, Buckley M, Sathe YS, Freirich EJ. Quantitative relationships between circulating leukocytes and infection in patients with acute leukemia. Ann Intern Med 1966; 64:328–40. 7 Hughes WT, Armstrong D, Bodey GP, Bow EJ, Brown AE, Calandra T et al. 2002 guidelines for the use of antimicrobial agents in neutropenic patients with cancer. Clin Infect Dis 2002;34:730–51. 8 Report of a Consensus Panel. The design, analysis, and reporting of clinical trials on the empirical antibiotic management of the neutropenic patient. J Infect Dis 1990; 161:397–401. 9 Cometta A, Calandra T, Gaya H, Zinner SH, de Bock R, et al. Monotherapy with meropenem versus combination therapy with ceftazidime plus amikacin as empiric therapy for fever in granulocytopenic patients with cancer. Antimicrob Agents Chemother 1996; 40:1108–15. 10 Cometta A, Zinner SH, de Bock R, Calandra T, Gaya H, et al. Piperacil- C U R R I C U LU M 11 12 13 14 15 16 lin-tazobactam plus amikacin versus ceftazidime plus amikacin as empiric therapy for fever in granulocytopenic patients with cancer. Antimicrob Agents Chemother 1995;39:445–52. Kern WV, Cometta A, de Bock R, Langenaeken J, Paesmans M, et al. Oral versus intravenous empirical antimicrobial therapy for fever in patients with granulocytopenia who are receiving cancer chemotherapy. N Engl J Med 1999;341: 312–8. Blanc-Vincent MP, Biron P. Standards, options et recommandations pour la prise en charge des neutropénies courtes. Paris: John Libbey Eurotext;1999. Eich G, Cometta A, Glauser MP. Pneumonia in neutropenic patients. 7th European Congress of Clinical Microbiology and Infectious Diseases, Vienna 1995;Session 8:Poster 41. Talcott JA, Siegel RD, Finberg R, Goldman L. Risk assessment in cancer patients with fever and neutropenia: a prospective, two-center validation of a prediction rule. J Clin Oncol 1992;10:316–22. Klastersky J, Paesmans M, Rubenstein EB, Bayer M, Elting L, et al. The Multinational Association for Supporting Care in Cancer risk index: a multinational scoring system for identifying low-risk febrile neutropenic cancer patients. J Clin Oncol 2000;18:3038–51. Aoun M, Crokaert F, Paesmans M, Autier P, Klastersky J. Imipenem Schweiz Med Forum Nr. 6 5. Februar 2003 17 18 19 20 21 22 versus targeted therapy in cancer patients. Int J Antimicrob Agents 1998;10:263–70. De Pauw BE, Deresinsky SC, Feld R, Lane-Allman EF, Donnelly JP, The intercontinental antimicrobial study group. Ceftazidime compared with piperacillin and tobramycin for the empiric treatment of fever in neutropenic patients with cancer. Ann Intern Med 1994;120:834–44. Deaney NB, Tate H. A meta-analysis of clinical studies of imipenemcilastatin for empirically treating febrile neutropenic patients. J Antimicrob Chemother 1996;37:975– 86. Del Favero A, Menichetti F, Martino P, Bucaneve G, Micozzi A, et al. A multicenter, double-blind, placebocontrolled trial comparing piperacillin-tazobactam with and without amikacin as empiric therapy for febrile neutropenia. Clin Infect Dis 2001;33:1295–301. Ramphal R. Is monotherapy for febrile neutropenia still a viable alternative? Clin Infect Dis 1999; 29:508–14. Biron P, Fuhrmann C, Cure H, Viens P, Lefebvre D, et al. Cefepime versus imipenem-cilastatin as empirical monotherapy in 400 febrile patients with short duration neutropenia. J Antimicrob Chemother 1998;42:511–8. The EORTC International Antimicrobial Therapy Cooperative Group. Efficacy and toxicity of single daily doses of amikacin and ceftriaxone versus multiple daily 23 24 25 26 27 129 doses of amikacin and ceftazidime for infection in patients with cancer and granulocytopenia. Ann Intern Med 1993;119:584–93. Freifeld AG, Marchigiani D, Walsh T, Chanock S, Lewis L, et al. A double-blind comparison of empirical oral and intravenous antibiotic therapy for low-risk febrile patients with neutropenia during cancer chemotherapy. N Engl J Med 1999; 341:305–11. Kern WV. Risk assessment and riskbased therapeutic strategies in febrile neutropenia. Curr Opin Infect Dis 2001;14:415–22. Talcott JA, Whalen A, Clark J, Rieker PP, Finberg R. Home antibiotic therapy for low-risk cancer patients with fever and neutropenia: a pilot study of 30 patients based on a validated prediction rule. J Clin Oncol 1994;12:107–14. Rubenstein EB, Rolston K, Benjamin RS, Loewy J, Escalante C, et al. Outpatient treatment of febrile episodes in low-risk neutropenic patients with cancer. Cancer 1993; 71:3640–6. Hidalgo M, Hornedo J, Lumbreras C, Trigo JM, Colomer R, et al. Outpatient therapy with oral ofloxacin for patients with low risk neutropenia and fever: a prospective, randomized clinical trial. Cancer 1999; 85:213–9.