Sooke Dittbrenner Soziale Arbeit (B.A.) Arbeit und Einkommen nach der Vollbeschäftigung. Über den Fetisch Erwerbsarbeit und den Mythos Vollbeschäftigung Politik und Gewerkschaften fordern und versprechen sie, das Kapital fürchtet sie und Unternehmer begnügen sich mit dem leeren Versprechen für sie. Vollbeschäftigung – ein aus der Zeit geratener Mythos. Vollbeschäftigung ist eine historische Ausnahme, trotzdem soll sie, glaubt man der Politik, unser aller Seelenheil bringen. Doch ist dies überhaupt möglich, allen einen Arbeitsplatz zu verschaffen? Und welche Art von Arbeit könnte das sein, wäre sie gut bezahlt? Die Vollbeschäftigung der späten 1960'er und der frühen 1970'er Jahre wird wohl nicht wieder Einzug in die deutsche Gesellschaft halten. Vollbeschäftigung ist auf der politischen Agenda der Bundesrepublik ebenso ein Thema wie Arbeitslosigkeit es ist, stellt doch Vollbeschäftigung das Gegenteil der Massenarbeitslosigkeit dar. In der Politik wie auch im wissenschaftlichen Diskurs ist dieses Thema höchst umstritten. Weder herrscht Einheitlichkeit bezüglich der Definition, noch darüber wie und ob dieses Ziel überhaupt erreicht werden kann. In jedem Fall war der Begriff 'Vollbeschäftigung' lange Zeit fester Bestandteil der politischen Rhetorik und diente eher dem Wahlkampf, denn als realistisches, sozialpolitisches Ziel. Zwar hat die Bedeutung für die politische Rhetorik leicht abgenommen, das Thema aber ist brisanter geworden und hat sich in Richtung „mehr Beschäftigung“ gewandelt. Doch gibt es noch diesbezügliche Versprechungen; so versichert im November 2011 der SPD Fraktionschef Frank Walter Steinmeier bis 2020 Vollbeschäftigung hergestellt haben zu wollen (http://www.spd.de/aktuelles/News/8178/20110114_spdfraktion_klausur_ziele.html; Download am 24.04.2012). Eine kühne Behauptung oder unlauterer Stimmenfang? Der Titel dieses Aufsatzes impliziert, dass es mit der Vollbeschäftigung vorbei sei. Im Folgenden werde ich daher darlegen, dass Vollbeschäftigung nicht nur seit Langem bestenfalls die Geschichtsbücher schmückt, sondern darüber hinaus Interessenlagen an der Vollbeschäftigung beleuchten. Wer will überhaupt Vollbeschäftigung? Anknüpfend daran wird diskutiert werden, wie Vollbeschäftigung herzustellen ist und wie die Chancen für eine zeitnahe Erreichung dieses Ziels stehen. Wenn Vollbeschäftigung nicht zu haben ist, stellen sich für den deutschen Sozialstaat fundamentale Fragen. Wie kann es mit der sozialen Sicherung weitergehen, wenn unsere Gesellschaft sich vom Ziel der Vollbeschäftigung verabschiedet, bzw. den Fakten ins Auge sieht? Die Fakten, das sind ein wachsender Niedriglohnsektor, zunehmende Teilzeitbeschäftigung, die zunehmende Bedeutung von Werkverträgen, die „neue“ Selbstständigkeit, kurz: prekäre und sozial schwach abgesicherte Arbeitsverhältnisse. Die Struktur von Erwerbsarbeit verändert sich, das Normalarbeitsverhältnis schwindet und mit ihm die Grundlage des deutschen Sozialstaates. Wie kann es nach der Vollbeschäftigung weitergehen? I. Die Vollbeschäftigung und ihr Ende Es gibt verschiedene Wege sich dem Phänomen der Vollbeschäftigung zu nähern. Alltagssprachlich bedeutet das Wort Vollbeschäftigung, dass es keine nennenswerte Arbeitslosigkeit gibt. Alle, die können und wollen, gehen einer Erwerbsarbeit nach. Aufgrund einer jedoch stets vorhandenen sog. friktionellen- oder Sucharbeitslosigkeit oder aber freiwilliger Arbeitslosigkeit sei von Vollbeschäftigung die Rede, wenn die Arbeitslosenquote nicht über drei Prozent liege, die sog. Beveridge-Definition. Andere schlagen vor von Vollbeschäftigung zu sprechen, wenn die Zahl der offenen Stellen das Arbeitsangebot übersteige. Eine weitere Definition fasst Vollbeschäftigung als das zu den gegebenen institutionellen Bedingungen beobachtbare Beschäftigungsmaximum zusammen. Dieses Maximum wird als Gleichgewichtsarbeitslosigkeit bezeichnet (vgl. Promberger 2012, S. 31). Vollbeschäftigung ist eine historische Ausnahmeerscheinung. Zu Zeiten der Nationalsozialisten herrschte in Deutschland aufgrund der massiven militärischen Aufrüstung und Kriegsvorbereitung Vollbeschäftigung, ja sogar ein Mangel an Arbeitskräften, der mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern kompensiert wurde. Im Nachkriegsdeutschland gab es eine Periode der Vollbeschäftigung in den Jahren zwischen 1958 und 1974. Die Arbeitslosigkeit war damals aufgrund der historischen Umstände weit unter die Drei-Prozent-Marke gefallen. Der nachholende Konsum nach den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre, die Massenmotorisierung und der Einzug von immer mehr technischen Geräten in die deutschen Haushalte machte diese Vollbeschäftigung möglich. Der Staat griff in dieser Zeit gemäß der keynesianischen Theorie nachfragestärkend ein und ermöglichte so das damalige Wirtschaftswachstum. Ein jähes Ende fand diese Periode Mitte der 1970'er Jahre, ausgelöst durch die Ölkrise. Diese führte zu einem Anstieg der Erwerbslosenzahlen und Vollbeschäftigung im Sinne von Beveridge wurde seither nie wieder erreicht. Die Gründe dafür liegen im Übergang von einer Industrie- in eine Dienstleistungswirtschaft wie in Rationalisierungen und der globalen Arbeitsteilung (vgl. Promberger 2012, S. 33f.). Seitdem hat sich die Arbeitslosigkeit stetig nach oben entwickelt und erreichte im Jahr 2005 ihren bisherigen Höhepunkt. Die damals eingeleiteten Reformen, im Rahmen der Agenda 2010, brachten die Zahlen zwar deutlich zum Sinken, jedoch ist Deutschland auch heute mit einer Arbeitslosenquote von 8,6 Prozent noch weit von einer Situation der Vollbeschäftigung entfernt (vgl. Asef; Wingerter 2011, S. 106). Die folgende Grafik veranschaulicht zum einen die stetig steigende Sockelarbeitslosigkeit, zum anderen die kurze Periode der Vollbeschäftigung Ende der 1960'er Jahre: Arbeitslosigkeit und offene Stellen im Jahresdurchschnitt in Deutschland 3500 3000 in Tsd. 2500 2000 1500 1000 500 0 Eigene Darstellung nach Asef; Wingerter 2011, S. 105f. registrierte Arbeitslose offene Stellen Es ist zu erwarten, dass die Arbeitslosenquote auch in den folgenden Jahrzehnten auf diesem Niveau bleiben wird, da zum einen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die sog. Stille Reserve und die Gruppe der Unterbeschäftigten nicht mitgerechnet werden und zum anderen heute etwa zwei Drittel der Arbeitslosen Empfänger von Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch, den sog. „Hartz IV Leistungen“ sind, unter denen sich überproportional viele Personen mit Bildungsnachteilen, Langzeitarbeitslose und Menschen mit schlechtem Gesundheitszustand befinden, die auch ohne konjunkturelle Schwächen Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt haben. Vollbeschäftigung ist in der deutschen Geschichte entweder mit großer Not und prekären Lebenslagen verbunden gewesen oder aber mit der Vorbereitung von Kriegen sowie Nachkriegsfolgen und steht damit gewissermaßen als deren Folge mit Katastrophen in Zusammenhang (vgl. Promberger 2012, S. 34f.). Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, wer überhaupt Vollbeschäftigung will, denn die Interessen der verschiedenen Arbeitsmarktakteure stimmen durchaus nicht überein und werden daher im folgenden Abschnitt näher beleuchtet. Wer will Vollbeschäftigung? Vollbeschäftigung ist, wie bereits angeführt, fester Bestandteil politischer Rhetorik, wird jedoch zunehmend, wahrscheinlich aufgrund der Unwahrscheinlichkeit sie tatsächlich zu erreichen, durch die Forderung nach „mehr Beschäftigung“ ersetzt. Die Politik in Deutschland scheint sich damit abgefunden zu haben, dass Arbeitslosigkeit vorhanden ist und dass dies auch weiterhin der Fall sein wird. In regelmäßigen Abständen von etwa vier Jahren werden die politischen Stimmen nach mehr Beschäftigung lauter, da dies nach wie vor ein Argument ist, mit dem man Wahlen für sich entscheiden kann. Die Frage, die sich für Politiker stellt, ist also, ob Massenarbeitslosigkeit eine Gefahr für den Gewinn bzw. Erhalt der Regierungsmacht darstellt. In diesem Kontext sind zwei Faktoren von besonderer Bedeutung, zum einen die Arbeitslosenquote zum anderen die Inflationsrate, also die Geldwertstabilität. Die Arbeitslosenquote betrifft, zumindest auf den ersten Blick, nur diejenigen Menschen, die unmittelbar davon betroffen sind, eine Minderheit im Vergleich zu allen abhängig Beschäftigten. Die Inflationsrate hingegen betrifft die gesamte Bevölkerung und dementsprechend wird ihr ein politisch besonders großer Wert beigemessen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle eine Messgröße für die inflationsstabile, und damit notwendige und akzeptable, Arbeitslosigkeit, die NAIRU (non-accelerating inflation rate of unemployment). Hiermit wird das Maß an Arbeitslosen angegeben, das für einen stabilen Geldwert sorgt und Inflation verhindert. Erstaunlicherweise ist die NAIRU keine feststehende Größe, wie zu vermuten wäre, sondern die Schätzungen der Experten bezüglich der erforderlichen Höhe korrespondieren mit den tatsächlichen Arbeitslosenzahlen, weshalb zuvor von „akzeptabler Arbeitslosigkeit“ die Rede war (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 15ff.; Vobruba 2000, S. 43ff.). Dementsprechend ist die NAIRU ein Indikator für etwas, womit sich ökonomische Theorien und Politik abgefunden haben. Wenn sich jedoch die Politik mit der immer weiter steigenden Arbeitslosigkeit abgefunden hat, warum dann die Forderung nach einem Mehr an Beschäftigung, oder gar Vollbeschäftigung? Welchen Sinn verfolgt die Aufrechterhaltung des Primats der Vollbeschäftigung? Wie ist es also um die Interessen der Akteure am Arbeitsmarkt, der Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, der Arbeitgeber und deren jeweiligen Vertretungen sowie des Staates bestellt? Die Positionen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sind keinesfalls eindeutig und um der Frage nachzugehen, werden nun Kosten und Nutzen von Vollbeschäftigung oder vollbeschäftigungsorientierter Politik näher betrachtet. Die Interessenlage des Staates oder besser gesagt der Regierungspartei bzw. -koalition wurde im oben Dargestellten umrissen – weil Arbeitslosigkeit und Inflationsrate eng zusammenhängen, sind sie von großer politischer Bedeutung für die Regierungsparteien. Ferner hat der Staat ein Interesse am Abbau von Arbeitslosigkeit, da Arbeitslosigkeit hohe Kosten für die ohnehin gebeutelte Staatskasse bedeutet. Auf der einen Seite ist die Leistung von Transferzahlungen mit hohen Kosten verbunden, auf der anderen Seite schlagen sich die Mindereinnahmen durch entgangene Steuern und Abgaben stark nieder (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 15ff.). Eine hohe Arbeitslosigkeit bedeutet Vertrauensverlust in der Bevölkerung und stellt ein sozialpolitisches Problem dar, einer niedrigen Arbeitslosigkeit jedoch folgt eine höhere Inflationsrate. Die Regierung steht einer Vollbeschäftigung damit in gewisser Weise ambivalent gegenüber. Als nächstes werden die Interessenlagen der übrigen Arbeitsmarktparteien betrachtet. Auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes werden zwei Gruppen unterschieden, nämlich die Unternehmer, die darauf angewiesen sind Kapital von den Kapitaleignern zu erhalten, um wirtschaftlich handlungsfähig zu sein. Die Position der Kapitaleigner ist in diesem Kontext relativ klar. Vollbeschäftigung bedeutet für diese Gruppe, dass die Position von Arbeitskraftanbietern gestärkt würde, Lohnsteigerungen leichter durchsetzbar wären und infolgedessen. für die Kapitaleigner Kostensteigerungen entständen. Kostensteigerungen wiederum wirken sich auf das allgemeine Preisniveau aus und damit auch auf das Zinsniveau der Notenbanken und schließlich können sich höhere Preise auf den globalisierten Absatzmärkten nachfrageschwächend auswirken. Für Kapitaleigner wären also ihre Gewinne in Gefahr und sie würden sich deshalb klar gegen Vollbeschäftigung positionieren (vgl. Vobruba 2000, S. 48). Für Unternehmer stellt sich die Lage anders dar. Unternehmer sind im Gegensatz zu ihren Kapitalgebern viel stärker lokal gebunden (Kapitaleigner können ihr Geld weltweit anlegen) und erheblich auf den sozialen Frieden angewiesen. Eine hohe Arbeitslosigkeit und hohe soziale Desintegration ist damit konträr zu ihren Interessen. Allerdings bedeutet Vollbeschäftigung auch für sie Kostensteigerung. Diese Kostensteigerung, die in der Folge zinssteigernd wirkt, hätte auch Auswirkungen auf die Unternehmen, die ja auf das Kapital der Kapitaleigner angewiesen und daran interessiert sind, dieses möglichst günstig erhalten. Die gestärkte Position der Arbeitnehmer würde nicht nur für leichtere Durchsetzbarkeit von Lohnsteigerungen sorgen, sondern auch die Machtposition der Arbeitgeber untergraben. Disziplinierende Maßnahmen in Form von Kündigungen beispielsweise verlören im Zustand der Vollbeschäftigung ihre Wirkung. Arbeitgeber profitieren also auch von Arbeitslosigkeit. Dazu kommt, dass die Kosten für Arbeitslosigkeit nicht von den Unternehmen direkt getragen werden. Zwar zahlen die Unternehmen einen Teil der Arbeitslosenversicherung und auch Steuern, die u.a. für die Finanzierung von Arbeitslosigkeit verwendet werden. Diese Kosten gehen jedoch durch die Kostenrechnung direkt in die Preiskalkulation ein und so könnte Vollbeschäftigung für Arbeitgeber auch bedeuten, dass die Abgabenlast des Unternehmens sänke, was wiederum preissenkende Wirkung haben könnte. Auch die Unternehmerverbände sehen die zwei Seiten der Vollbeschäftigung. Auf der einen Seite lassen sich die Interessen ihrer Mitglieder in Kontexten wie etwa Verkehrs-, Umwelt-, oder Technologiepolitik bei relativ hoher Arbeitslosigkeit viel besser durchsetzen, da sie der Politik gegenüber ein starkes Argument haben, nämlich das des drohenden Stellenabbaus. Auf der anderen Seite darf das Ziel der Erreichung von Vollbeschäftigung nicht gänzlich erfolglos bleiben, da dieses sonst aufgegeben werden könnte und die positiven Wirkungen, wie etwa die gestärkte Machtposition, dieses Ziels hinfällig würden (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 15f; Vobruba 2000, S. 49f.). Unternehmerverbände sind daher eher an vollbeschäftigungsorientierter Politik interessiert als an der Erreichung des Ziels. Dies gilt zumindest bei preisstabiler Arbeitslosigkeit. Gewerkschaften sind grundsätzlich an Vollbeschäftigung und vollbeschäftigungsorientierter Politik interessiert, schließlich wird dadurch ihre Position massiv gestärkt und damit steigt auch die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften. Dies dürfte zu mehr Zufriedenheit der Mitglieder führen, was eine stärkere Bindung dieser an die Gewerkschaft nach sich zieht. Allerdings sei gesagt, dass vollbeschäftigungsorientierte Politik – also Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage – für Gewerkschaften auch Grenzen hat. Maßnahmen, die zwar der Gesamtbeschäftigungslage dienlich sind, den einzelnen Mitgliedern aber Zugeständnisse abverlangen, könnte ebendiese Bindung brüchig werden lassen. Beispielweise könnten Arbeitszeitverkürzungen auf der einen Seite zwar mehr Beschäftigte bedeuten, geschieht dies jedoch ohne Lohnausgleich, sinkt das Vertrauen der Mitglieder. Dieser Umstand sorgt dafür, dass Gewerkschaftsinteressen, ohne das es explizit gewollt wäre, den Interessen der Unternehmer und deren Verbände entsprechen (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 19; Vobruba 2000, S. 50). Schließlich bleibt noch die Gruppe der Empfänger von Arbeitslosengeld II. Welche Interessen haben diese? Hier ist die Situation nicht so eindeutig wie vielleicht angenommen. Menschen, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind, ihre Chancen auf eine Beschäftigung jedoch positiv einschätzen, haben ein klares Interesse an Vollbeschäftigung, denn auch sie würden von der verbesserten Position profitieren. Die Gruppe derer, die ihre Chancen auf Beschäftigung dagegen eher pessimistisch einschätzen, gehören nicht zu den Profiteuren. Da sich Vollbeschäftigung wahrscheinlich lohnsteigernd auswirken und dieses sich wiederum auf das allgemeine Preisniveau niederschlagen würde, gehörten sie zu den Verlierern einer Vollbeschäftigungsgesellschaft. Für sie bedeutet dieser Umstand, dass ihre Kaufkraft sinkt und die gesellschaftliche Integration erneut erschwert würde (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 19; Vobruba 2000, S. 50). Die Interessen der Arbeitsmarktakteure sind also keinesfalls identisch. Aufgrund ihrer Auswirkung auf die Inflationsrate erfährt Arbeitslosigkeit großes politisches Interesse und ist ihre Bedeutung als Wahlkampfthema enorm hoch. Unter dem Strich bleibt: Unternehmer, deren Verbände und Finanziers sehen das Primat Vollbeschäftigung gerne, da sich ihre Interessen dadurch deutlich besser formulieren und durchsetzen lassen. Realisiert werden sollte sie aber trotz einiger gesamtfiskalischer Vorteile nicht, da sie die Machtposition gegenüber den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen untergraben würde. Auf der Arbeitnehmerseite ist das Interesse an Vollbeschäftigung deutlich höher, jedoch fehlt es an Macht. Die Gewerkschaften sind in einer Gemengelage von Interessen be- und gefangen. Die Interessenverfolgung in Richtung Vollbeschäftigung könnte sogar zum Verlust der Mitglieder führen, ginge diese mit Einkommenseinbußen einher. Insgesamt stellt sich Vollbeschäftigung für die Arbeitsmarktakteure als wenig attraktiv dar. Als inhaltsleeres Postulat scheint sie dagegen willkommen, da sie die Durchsetzung anderer Interessen erleichtert, wobei auch gelegentliche Erfolgsmeldungen nicht ausbleiben sollten. Die Erreichung von Vollbeschäftigung jedoch würde die Machtposition der Akteure auf der Nachfrageseite schwächen und die Position der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen stärken. Dies sinnvoll und wünschenswert, jedoch zeigt sich hier die Machtasymmetrie auf dem Arbeitsmarkt deutlich. Im folgenden Abschnitt werde ich der Frage nachgehen, ob und wie Vollbeschäftigung trotz der widrigen Umstände erreichbar ist. Ist Vollbeschäftigung möglich? Der Arbeitsmarkt besteht aus zwei sich bedingenden Faktoren, der Nachfrageseite, also den Arbeitgebern und der Angebotsseite, den Arbeitnehmern. Auf beiden Seiten kann nach Lösungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gesucht werden. Grundsätzlich wird der Arbeitsmarkt durch drei Einflussgrößen bestimmt. Das ist zum ersten das Erwerbspersonenangebot, zum zweiten die Nachfrage nach Arbeitskraft und zum dritten die Arbeitsproduktivität. Welche Möglichkeiten hat unsere Gesellschaft Arbeitslosigkeit zu überwinden bzw. Vollbeschäftigung herzustellen? Das Arbeitskräfteangebot Zunächst kann sich dem Problem statistisch genähert werden. Die Zahl derer, die auf den Arbeitsmarkt streben, ist politisch beeinflussbar. So kann beispielsweise die Grenze für das Renteneintrittsalter angehoben oder abgesenkt werden. Auch auf das Erwerbseintrittsalter kann die Politik Einfluss nehmen, etwa durch Bildungszeiten. Die Politik kann also die Zahl der Erwerbspersonen mitgestalten, Veränderungen am Arbeitsmarkt herbeiführen und so das Arbeitsangebot senken oder steigern (vgl. Asef; Wingerter 2011, S. 107f; Pilz 2009, S. 111). Die Bildungszeiten sind seitens der Politik in der jüngeren Vergangenheit nach unten korrigiert worden, das Renteneintrittsalter hingegen nach oben. Des Weiteren ist in diesem Kontext auch auf die Gruppe der ausländischen ArbeitnehmerInnen hinzuweisen, deren Zahl wie auch Erwerbsorientierung anhand entsprechender Gesetze beeinflusst werden kann. Durch die gestiegene Mobilität innerhalb der EU ist solche Regulierung jedoch nicht mehr besonders aussichtsreich. Auch ist fraglich, wie es um die Bereitschaft der ausländischen Arbeitssuchenden bestellt ist, bei sinkendem Arbeitsbedarf in ihre Heimat zurückzukehren. Auch die Erwerbsbeteiligung der Frauen wird als wiederkehrende Größe in der Literatur immer wieder genannt. Schließlich hat sich die gestiegene weibliche Erwerbsbeteiligung deutlich auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt. Diese jedoch in die tradierten Bahnen zu lenken ist gesellschaftlich nicht wünschenswert. Ansonsten unterliegt die Situation auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes demografischen Gesichtspunkten, also arbeitsmarktfernen Kalkülen. Sie ist abhängig davon, wie sich die generationale Zusammensetzung unserer Gesellschaft entwickelt. Bis 2020, so die Prognosen, soll sich die Zahl der Erwerbspersonen um 1,8 Millionen verringern, was für sich genommen zu einer statistischen Entlastung des Arbeitsmarktes führen könnte. Es bleibt jedoch ebenso abzuwarten wie sich die Nachfragesituation auf dem Arbeitsmarkt 2020 darstellen wird. Eine zahlenmäßige Verkleinerung der Angebotsseite macht noch keine hinreichende Entlastung aus. Die Angebotsseite lässt sich jedoch nicht bloß über die Zahl der Erwerbspersonen steuern. Vielmehr stellt das Arbeitsvolumen eine alternative Steuerungsmöglichkeit dar. Diese Möglichkeit zielt auf die Verteilung der vorhandenen Arbeitszeit, die Arbeitsstunden pro Kopf. Durch Arbeitszeitverkürzung könnte hier ebenfalls eine Entlastung des Arbeitsmarktes herbeigeführt werden, wenn die vorhandene Arbeit auf mehr Menschen verteilt würde. Dies jedoch hätte vermutlich lediglich eine Chance auf Akzeptanz bei den Arbeitnehmern, geschähe dies bei vollem Lohnausgleich (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 26f.). Angesichts der Tatsache, dass die Löhne bereits heute den Unternehmern zu hoch erscheinen, ist eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich unwahrscheinlich. Produktivität und Nachfrage Die Nachfrage nach Arbeit richtet sich nach der Nachfrage nach Gütern und der Produktivität. Werden viele Güter abgesetzt, wird auch viel Arbeit nachgefragt. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft hat sich jedoch durch externe Einflüsse aus anderen Volkswirtschaften – im Rahmen der Globalisierung – verschlechtert und auch in Zukunft ist nicht mit Wachstumsraten zu rechnen, die einen Anstieg der Arbeitskraftnachfrage zur Folge haben werden, sondern maximal beschäftigungssichernd wirken. Prognos sagt ein zukünftiges Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von durchschnittlich zwei Prozent bis 2020 voraus, das deutlich höher ausfallen müsste, wollte man Vollbeschäftigung erreichen (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 21f.). Jeremy Rifkin sieht die Ursache von Arbeitslosigkeit in der fortschreitenden Technologisierung und der daraus folgenden Rationalisierung und Optimierung von Prozessabläufen in der Produktion (vgl. Rifkin 2004). Um dem steigenden internationalen Wettbewerb zu begegnen, sind Unternehmer gezwungen, stets ihren Umsatz zu steigern. Dies geschieht in der Regel durch drei Mechanismen: Zum einen können Unternehmer die Preise ihrer Produkte erhöhen, um so den Umsatz zu steigern. Doch sorgt der heutige Konkurrenzdruck für das Gegenteil und die Preise entwickeln sich eher nach unten als nach oben, denn Preiserhöhungen einzelner Anbieter würden letztere sonst aus dem Markt werfen. Zögen andere Anbieter in puncto Preiserhöhungen mit, wäre dauerhaft Inflation die Folge. Eine andere Möglichkeit stellt die Steigerung der produzierten Stückzahlen dar. Neue Absatzmärkte müssten gefunden und erschlossen werden, was sich positiv auf die Beschäftigung auswirken könnte. Jedoch sind in der heutigen Welt viele Absatzmärkte, z.B. der der Automobilindustrie, weitestgehend gesättigt und die Produktion bzw. der Verkauf von Waren nicht beliebig erweiterbar. Deswegen ist es für Unternehmer wichtig, in Produktinnovationen zu investieren. Dies kann durch Erweiterungsinvestitionen oder Rationalisierungsinvestitionen geschehen. Erweiterungsinvestitionen zielen auf Produktinnovationen ab. Das bedeutet, dass ein Unternehmen versuchen wird, den Lebenszyklus eines Produktes kurz zu halten und ständig neue Varianten eines Produktes auf den Markt zu bringen (im Falle der Automobilindustrie sind das die beinahe jährlich neu entwickelten Modelle). Diese Variante hätte einen positiven Effekt auf die Beschäftigungssituation, da erstens der Forschungs- und Entwicklungssektor der Unternehmen ausgebaut würde und zweitens die Produktion erweitert werden müsste, was mehr Nachfrage nach Arbeit zur Folge hätte. Dies ist jedoch lediglich im Anfangsstadium der Produktion der Fall. Ist die Produktion eines Gutes zum Standard geworden, können auch diese Produktionsabläufe technologisiert werden und Entlassungen wären erneut die Folge. Rationalisierungsinvestitionen sind im Wesentlichen auf Produktionsprozesse gerichtet. Diese wirken sich negativ auf die Beschäftigungssituation aus, da hier Arbeitsschritte optimiert werden und zumeist menschliche Arbeit durch maschinelle ersetzt wird. Die Folge ist die Möglichkeit mit weniger Personal größere Stückzahlen zu produzieren und damit die Lohnstückkosten zu senken. Steigen die Lohnstückkosten schneller als die Produktivität, werden Prozessinnovationen notwendig. Das wirkt sich wiederum positiv auf den Unternehmergewinn aus, was die Bedeutung von Rationalisierungsinvestitionen deutlich macht (vgl. Baur 2001, S. 48ff.). In der Industrie ist die Umstellung von menschlicher auf maschinelle Arbeit seit langem Alltag, für den Dienstleistungssektor wird sich die zunehmende Computerisierung ebenfalls zum Nachteil der Beschäftigten auswirken. So seien die Unternehmer aufgrund der ständig steigenden Lohnkosten bestrebt, neue Informations- und Kommunikationstechnologien zu Ungunsten der Beschäftigten einzusetzen und so dauerhaft Kosten zu sparen, so Rifkin. Weltweit, so argumentiert er weiter, haben neueren Untersuchungen zufolge nicht einmal fünf Prozent der Unternehmen damit begonnen diese neuen Technologien einzuführen, was darauf schließen lasse, welch ungeheures Potenzial noch in weiteren Rationalisierungsprozessen stecke. In den kommenden 20 Jahren, so prophezeit Rifkin, werde die Zahl der Beschäftigten im Industriesektor, die heute noch 35% aller Beschäftigten betrage, auf gerade einmal 15% absinken (vgl. Rifkin 2004, S. 57ff.). Staatliche Strategien Analog zu den Ursachen der Arbeitslosigkeit nach den zwei prominentesten ökonomischen Theorien lassen sich nun zwei grundsätzliche Strategien zur Überwindung der Arbeitslosigkeit finden. Die eine Strategie lässt sich der neoliberalen/neoklassischen Theorie zuordnen. Demnach ist Arbeitslosigkeit als Folge von Tarifverhandlungen und staatlichen Interventionen in das Marktgeschehen eingetreten. Die neoklassische Theorie geht davon aus, dass ein perfekter Markt immer zu einem Gleichgewicht tendiert und ohne staatliche Eingriffe sich die Arbeitslosigkeit mittels Lohnsenkungen einstellen und der Markt geräumt würde. Demnach muss der Staat die Unternehmen von Abgaben und Steuern entlasten und für eine möglichst angebotsorientierte Wachstumspolitik sorgen. Die Stärkung der unternehmerischen Investitionsfähigkeit sorge dann für mehr Beschäftigung. Dem Argument entgegenzuhalten ist die Tatsache, dass Arbeitskraftanbieter auf Einkommensverluste invers reagieren und nicht, wie in diesem Modell angenommen, das geringe Einkommen einfach hinnehmen. Sie werden um den Verlust auszugleichen ihr Angebot erhöhen. In Folge dessen wird sich die Position der Arbeitnehmer weiter schwächen und weitere Lohnsenkungen können das Resultat sein, was die Situation noch verschärft statt sie zu lindern. Dieses Dilemma ist vergleichbar mit dem Gefangenendilemma. Für den einzelnen Arbeitnehmer ist es rational sein Angebot zu erhöhen, für die Gesamtheit der Arbeitnehmer wirkt sich das jedoch am Ende negativ aus (vgl. Vobruba 2000, S. 35; Bleses; Vetterlein 2002, S. 23). Des Weiteren lautet eine Kritik an dieser Strategie, dass es keinesfalls gewiss ist, dass durch Lohnsenkungen mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, da durch die Lohnsenkung das gesamtwirtschaftliche Kostenniveau ebenfalls sinkt, was wiederum die Preise sinken lässt. In diesem Fall sinkt die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen, denn die Kaufkraft der Lohnempfänger lässt nach und die Ersparnisse der Unternehmen durch die Lohnsenkungen verpuffen in Preissenkungen (vgl. Vobruba 2000, S. 34ff.). Eine andere Strategie dagegen verfolgen die Vertreter der keynesianischen Tradition. Arbeitslosigkeit ist demnach die Folge von einer Nachfrageschwäche nach Waren und Dienstleistungen. Diese soll vom Staat behoben werden, indem er durch Schuldenaufnahme die Nachfrage durch öffentliche Ausgaben ankurbelt. Dies führe zu vermehrter Investitionstätigkeit seitens der Unternehmen und sorge so für eine verstärkte Nachfrage nach Arbeitskraft. Insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten solle der Staat also Schulden machen, um diese in konjunkturellen Spitzenzeiten wieder abbauen. Diese Strategie ist insofern problematisch, als dass gerade in der aktuellen Finanzkrise die Neuverschuldung von Staaten keine akzeptable Lösung darstellt und außerdem ist nicht jede Form der Arbeitslosigkeit durch Konjunkturbelebung zu beheben. Beispielsweise die Problematik der sog. Mismatch-Arbeitslosigkeit kann mit solchen Mechanismen nicht gelöst werden. Des Weiteren, so argumentiert Antje Vetterlein, ist das Wissen seitens der Unternehmer um die keynesianische Methode auch ihr Problem. Denn Unternehmer hätten in der Vergangenheit bereits gelernt, dass der Staat trotz wirtschaftlich günstigen Zeiten seine Verschuldung nicht abbaut und daher das Defizit mit Steuererhöhungen auszugleichen versucht. Dies führte dann zu erneuten Erhöhung der Abgabenlast für die Unternehmer und daher hielten sie sich mit Investitionen in Beschäftigung zurück und der Mechanismus greift nicht in der gewünschten Form (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 24f). Beiden Strategien ist also vorzuwerfen, dass keinesfalls die gewünschten Beschäftigungseffekte eintreten müssen, denn zum einen ist nicht klar, dass das erhoffte Wachstum auch eintritt, zum anderen können finanzielle Spielräume seitens der Unternehmen auch in Rationalisierungsinvestitionen aufgehen, welche die Arbeitslosigkeitsproblematik verschärfen würde. Insofern ist die staatliche Steuerung des Arbeitsmarktes auf der Nachfrageseite fragwürdig. Daher werden nun die möglichen Handlungsalternativen der beiden Arbeitsmarktparteien zu untersuchen sein, denn diese sind aufgrund der Tarifautonomie die entscheidenden Verhandlungspartner. Die Akteursebene Wie können nun die beiden Arbeitsmarktparteien, die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände auf die Arbeitslosigkeit einwirken und ihre Interessen durchsetzen? Wie sehen die Verhandlungspositionen aus, besteht Egalität zwischen den Vertragspartnern? Die Macht- und Ressourcenverteilung auf dem Arbeitsmarkt sind höchst ungleich, was die gewerkschaftliche Interessenvertretung deutlich erschwert. Die Anbieter von Arbeitskraft nämlich sind im Gegensatz zu Unternehmern und Kapitaleignern nicht von ihrer Ware Arbeitskraft trennbar. Auch stellt der Preis dieser Ware, der Lohn, die Existenzgrundlage der Arbeitnehmer dar. Demzufolge sind Arbeitnehmer auf den Arbeitsmarkt angewiesen und Arbeit auf Kapital. Die Kapitaleigner hingegen sind räumlich und zeitlich nicht vom Arbeitsmarkt abhängig. Zum einen haben diese mehr Zeit und können eine eventuelle Arbeitszurückhaltung „aussitzen“. Zum anderen können sie durch Rationalisierungsinvestitionen ihr Kapital gänzlich vom Arbeitsmarkt lösen. Die Machtverhältnisse und damit die Möglichkeiten auf den Arbeitsmarkt einzuwirken sind also sehr unterschiedlich und können auf Seite der Arbeitnehmer nur mittels kollektiven Auftretens verkleinert werden. Arbeitnehmer sind in Verhandlungen mit den Arbeitgebern durch das beschriebene Machtgefälle auf Organisationen angewiesen, die kollektive Bedürfnisse durchsetzen können. Gewerkschaften übernehmen diese Aufgabe, haben jedoch das Problem, dass die Interessen ihrer Mitglieder sehr heterogen sind, da jedes der Mitglieder in einer anderen sozialen Lage ist und sich die Lebensbedingungen stark unterscheiden können. Gewerkschaften haben also das Problem überhaupt kollektive Interessen zu formulieren (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 27ff.). Die Arbeitgeberseite hingegen verfolgt sehr spezifische Interessen, wie z.B. die Abwendung von Mindestlöhnen, und hat damit einen Vorteil in der Artikulation ihrer Interessen. Außerdem sind in Arbeitgeberverbänden keine Individuen organisiert, sondern Unternehmen. Die Zahl der Interessen sinkt damit potenziell gegenüber denen der Gewerkschaften. Ein Diskurs über gemeinsame Interessen ist damit auf Arbeitgeberseite deutlich erleichtert (vgl. ebd.). Verlieren die Gewerkschaften ihre Mitglieder, da diese sich vielleicht nicht gut vertreten fühlen, verlieren sie an Argumentationskraft, womit sich ihre Verhandlungsposition schwächt. Arbeitgeberverbände haben zwar das gleiche Problem, allerdings hat die Flucht aus den Arbeitgeberverbänden für den Unternehmer nicht dieselben Nachteile wie für die Arbeitnehmer. Denn die Konsequenzen der Flucht aus den Tarifverträgen können negative Folgen für die Arbeitnehmer haben. Gewerkschaften sind demnach darauf angewiesen, im Sinne ihrer Mitglieder und der Wirksamkeit der Verhandlungen, dass Unternehmer sich in Wirtschaftsverbänden organisieren und damit an die verhandelten Tarifverträge gebunden sind. Die Forderungen der Gewerkschaften müssen sich also auch immer an den Interessen der Arbeitgeberverbände orientieren. Außerdem sind Arbeitnehmer natürlich an der Prosperität der ihnen Arbeit gebenden Unternehmen interessiert, da sie von deren wirtschaftlich guten Lage des Unternehmens abhängig sind. Generell ist eine gute wirtschaftliche Lage für alle Gesellschaftsmitglieder von Wichtigkeit. So hat auch der Staat ein großes Interesse daran, schließlich hängen seine Einnahmen daran und damit auch die Möglichkeit der Umverteilung. Auch die Rolle des Staates bei den Tarifverhandlungen ist wegen der Tarifautonomie stark eingeschränkt. Die Regulierung des Arbeitskräfteangebots wie auch der Nachfrage nach Arbeit ist, wie oben beschrieben, keine erfolgversprechende Strategie und auch die Lohnpolitik obliegt den Tarifparteien und steht damit außerhalb direkter staatlicher Kontrolle (vgl. Bleses; Vetterlein 2002, S. 27ff.). Aufgrund der Machtasymmetrie auf der einen Seite, der gesamtgesellschaftlichen Relevanz der Beschäftigungspolitik auf der anderen und der Notwendigkeit von Arbeitszeitverkürzung plädiert Bernd Guggenberger dafür, die Hoheit der Beschäftigungspolitik nicht bei den Tarifparteien zu belassen, die damit schlichtweg überfordert seien, sondern die Thematiken auf der staatlich-politischen Ebene zu behandeln um gesamtgesellschaftliche Fortschritte zu erzeugen (vgl. Guggenberger 1988, S. 65ff.). Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und damit die Herstellung von Vollbeschäftigung scheint eine kaum zu lösende Aufgabe zu sein. Die beiden gewichtigsten ökonomischen Theorierichtungen geben diesbezüglich zwei Auswege vor: Liberalisierung des Arbeitsmarktes und Senkung der Transferleistungen oder massive Staatsverschuldung. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit ist in beiden Ansätzen schwer wiederzufinden und daher scheiden sie im deutschen Sozialstaat als akzeptable Lösungen aus. Wenn Vollbeschäftigung also nicht zu erreichen ist, dann fußt das deutsche Sozialversicherungssystem auf den falschen Paradigmen und bedarf der Verbesserung. Es scheint also notwendig zu sein, die richtige Therapie auf die eben gestellten Diagnosen zu verordnen und die sozialen Sicherungssysteme der Zeit anzupassen. Die Möglichkeiten und die Machtverteilung auf dem Arbeitsmarkt sind ungleich und damit Teil des Problems. Arbeitnehmer sind zur Durchsetzung ihrer Interessen auf Gewerkschaften angewiesen und diese haben einen sehr schmalen Korridor für die Interessenvertretung zur Verfügung. In erster Linie sind sie ihren beschäftigten Mitgliedern verpflichtet, was die Möglichkeit für Forderungen stark einschränkt. Zielführend könnte sich also eine Angleichung der Teilnahmevoraussetzungen am Arbeitsmarkt auswirken. Um Möglichkeiten, diese Voraussetzungen zu egalisieren, soll es daher im folgenden Kapitel gehen. II. Was kommt nach der Vollbeschäftigung? Die Entkopplung von Arbeit und Einkommen Das Verhältnis von Arbeit und Einkommen ist problematisch. Der deutsche Sozialstaat und dessen Finanzierung beruhen auf Vollbeschäftigung und stellen die normale Erwerbsbiographie ins Zentrum aller Bemühungen und das in scheinbar völliger Ignoranz der Tendenzen heutiger Arbeitsverhältnisse und Arbeitswirklichkeiten. Zur Verdeutlichung: Noch in den 1960'er Jahren galt das Postulat des Normalarbeitsverhältnisses. Zu dieser Zeit befanden sich etwa 97 Prozent der Beschäftigten in festen Arbeitsverhältnissen. Das bedeutet, dass eine Person in ihrem erlernten Beruf in Vollzeit bis zum Erreichen des Ruhestandes arbeitete. Gerhard Willke stellt 1998 fest, dass dieser Zustand damals noch für etwa zwei Drittel der Beschäftigten zuträfe, ein wachsender Anteil der Beschäftigten aber in sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu finden sei. Dazu zählt er eine Zunahme der Teilzeitarbeitsstellen, der vermehrte Abschluss von befristeten Arbeitsverträgen, Minijobs (damals 610 DM, heute 400 Euro Jobs), Arbeit die von zu Hause erledigt werden kann, ein sich ausweitender Leiharbeitssektor und die sog. „neue“ Selbstständigkeit, die Scheinselbstständigkeit. Willke prognostiziert den Anstieg dieser atypischen Arbeitsverhältnisse und weist somit darauf hin, dass diese in Zukunft eher als normal, denn als atypisch anzusehen seien (vgl. Willke 1998, S. 146). 2009 waren bereits etwa ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland atypisch beschäftigt (vgl. Asef; Wingerter 2011, S. 100). Mit dem Aufbrechen des Normalarbeitsverhältnisses bröckelt auch die normale Erwerbsbiographie. Die neuen „fragmentierten Erwerbsbiographien“ zeichnen sich durch zerstückelte Erwerbsbiographien aus, die durch Weiterbildung, Umschulung, Wechsel von Vollauf Teilzeitbeschäftigung oder in geringfügige Beschäftigung (Minijobs) gekennzeichnet sind. Auch Phasen der Arbeitslosigkeit durch Arbeitsplatz- oder Arbeitgeberwechsel zerspalten heute die Biographien mehr als früher. Das sog. „Outsourcing“ trägt seinen Teil dazu bei, dass die Arbeitsverhältnisse sich stark verändern. Unternehmen widmen sich mehr und mehr nur noch ihrem Kerngeschäft und erledigen dies mit ihrer Kernbelegschaft. Teile des Unternehmens, wie etwa die Pflege der Räumlichkeiten, Serviceangelegenheiten, EDV, Verpflegung der Belegschaft etc. werden in zunehmenden Maße ausgelagert und somit durch wirtschaftlich eigenständige Firmen erbracht. Vielen Unternehmen gelang es durch diese „Verschlankung“ ihre Geschäftsbilanz aus der Verlust- in die Gewinnzone zu bewegen. Innerhalb dieser Unternehmen mit ihren Tochterunternehmen besteht dadurch die Gefahr, dass sich eine Art Zweiklassengesellschaft zwischen Kernbelegschaft und Randbelegschaft der ausgelagerten Firmen bildet (vgl. Willke 1998, S. 146f.). Ausgelagert werden zudem auch einzelne Angestellte. Werkverträge haben Hochkonjunktur. Seit der zunehmenden Regulierung der Zeitarbeit setzen Unternehmer verstärkt auf dieses Mittel der Beschäftigung. Hotels, Supermärkte, Kurierdienste beschäftigen häufig Menschen mittels Werkverträgen, das Werk ist dann in diesem Fall zum Beispiel das volle Supermarktregal. Dadurch ist es möglich, sich nicht über längere Zeit an Mitarbeiter zu binden, also auf konjunkturelle Veränderungen reagieren zu können und darüber hinaus die Bezahlung zu senken (vgl. Böckler 8/ 2012, S. 7). Mit den strukturellen Veränderungen in den Beschäftigungsverhältnissen einhergehend steigen auch die Mehrfachbeschäftigungen von Menschen. Vielfach wird mit einem sog. Minijob das Einkommen aus der Haupteinkommensquelle aufgebessert, dazu ist auch die Schwarzarbeit zu zählen. Dieser Umstand birgt die Gefahr, dass ganze Erwerbsverläufe sich außerhalb der Sozialversicherungspflicht bewegen und das Risiko für Altersarmut damit steigt. Individuell scheint die Strategie des Dazuverdienens sinnvoll, gesamtgesellschaftlich jedoch schwächt dies die Position der Arbeiter noch weiter und ermöglicht weitere Lohnsenkungen. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten jedoch setzen Unternehmer vermehrt auf befristete Arbeitsverträge (vgl. Willke 1998, S. 148f.). 2011 waren 9,5 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse zeitlich befristet. Etwa 45 Prozent der in 2011 Neueingestellten erhielten lediglich einen zeitlich befristeten Arbeitsvertrag. Dies trifft insbesondere auf die Bereiche zu, die vornehmlich durch Frauen besetzt werden, da hier Schwangerschaften und Erziehungszeiten den Bedarf an Vertretungen erhöhten. Außerdem trifft dieser Umstand Stellen, die projektbezogen entstanden sind (vgl. Böckler 5/2012, S. 6). Durch die Kopplung von Einkommen an Arbeit jedoch gelangte Arbeit ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und Bedeutung. Dieses Konzept stößt heute jedoch an seine Grenzen. Durch die lohnzentrierte Organisation der sozialen Sicherungssysteme bedingt, wird Arbeit so auch zum Motor für Lohnersatzleistungen. Erodiert jedoch die Grundlage des Systems, nämlich die Normalerwerbsbiographie und das Normalarbeitsverhältnis für die Mehrzahl der Menschen, stehen die Säulen der Sozialversicherung auf wackeligen Beinen. Es stellt sich also die Frage wie die Idee sozialer Gerechtigkeit und die Sicherung der Existenz einer jeden und eines jeden in unserem politischen Gemeinwesen aufrechterhalten werden können. Kann der deutsche Sozialstaat so weitermachen wie bisher oder müssen sich die Grundparadigmen essentiell ändern? Die Politik muss die sich verändernden und veränderten Bedingungen von Arbeit erkennen und akzeptieren, um die Geduld und die soziale Sicherheit der Menschen in Deutschland nicht weiterhin auf die Probe zu stellen. Unter den aktuellen Bedingungen ergibt sich für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ein Problem. Noch sind die Hälfte der Arbeitsverhältnisse in Deutschland sozialversicherungs-pflichtige Vollzeitbeschäftigungen. Die Tendenz hierfür zeigt jedoch nach unten. Atypische Beschäftigungen in Form von Minijobs, Werkverträgen, Scheinselbstständigkeit und der Sektor der Niedriglöhne stellen den Sozialstaat in Frage. Wenn die Löhne sinken und sich die Beschäftigungsverhältnisse in Richtung nichtversicherungspflichtig verschieben, gerät die Finanzierung der Sicherungssysteme ins Wanken. Innovative Lösungen jenseits von Symptombekämpfung müssen gefunden werden. Kostenerhöhungen um das bestehende System am Leben zu halten, ignorieren nicht nur die aktuellen Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt und verschärfen so das Problem, sie verstellen auch den Blick dafür, dass Vollbeschäftigung ein aus der Zeit geratener Mythos ist. Vollbeschäftigung war eine historische Ausnahme. Manche halten jedoch weiterhin an ihr fest. Die Gründe der verschiedenen Akteure hierfür habe ich erläutert. Unter dem Primat der Vollbeschäftigung lässt sich eine neoliberale, gänzlich auf den Markt ausgerichtete Politik besser an das Volk bringen. Argumentationen mit zu verlierenden oder neuen Arbeitsplätzen verfehlen ihre Wirkung so nicht. Ich habe die neoliberale und die keynesianische Steuerungspolitik dargelegt und gefolgert, dass Vollbeschäftigung möglicherweise erreichbar sei, jedoch unter Aufgabe von sozialer Gerechtigkeit. Denn wenn die zu hohen Löhne die Ursache für Arbeitslosigkeit sind, müssten sie weiter sinken oder der Staat müsste sich weiter verschulden. Beide Strategien lassen jedoch die Erfolgsaussichten offen. Dies führt jedoch zu vorhersehbaren Problemen für die sozialen Sicherungssysteme. Die Tarifparteien sind diejenigen, denen die Aushandlungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt obliegen. Ich habe das Machtgefälle zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, wie auch deren Vertretungen aufgezeigt und damit deutlich gemacht, dass sich die Teilnahmebedingungen für den Arbeitsmarkt ändern müssen, damit dieser zu einem tatsächlichen Markt werden kann. 1 Die Bedingungen müssen egalisiert werden, um dieses Machtgefälle abzusenken. Welche Möglichkeiten für einen Paradigmenwechsel gibt es? Eine Möglichkeit stellt die Entkopplung von Arbeit und Einkommen dar. Durch die Entkopplung von Arbeit und Einkommen wird soziale Sicherheit jenseits der Marktgesetze ermöglicht, denn die Sicherung der Existenzgrundlage setzt dann keine Marktbeteiligung mehr voraus. Aufgrund der Krise der Erwerbsarbeit und damit verbunden die Krise des Sozialstaates gilt es die Existenzsicherung der Menschen an andere Prämissen zu koppeln. Arbeit ist nicht gleichzusetzen mit entlohnter Erwerbsarbeit. Arbeit ist vieles mehr. Auch deshalb ist die Entkopplung von Arbeit und Einkommen eine anzustrebende Variante von Sozialstaat. Sie trägt der Diversität der Biographien Rechnung und akzeptiert die veränderten Bedingungen des Wirtschaftens. Wenn eine Gesellschaft in der Lage ist, die wichtigen und die unwichtigen Güter mit immer weniger Menschen herzustellen, dann kann sie sich zu Recht bereit machen für alternative Formen des Miteinanders und der sozialen Sicherung. Ein Festhalten an der zentralen Stellung der Arbeit verstellt den Blick für gesellschaftlich wertvolle Chancen. Freisetzung von der Arbeit durch maschinelle Arbeit ist keine Niederlage, es ist ein Sieg und zwar der Sieg des technischen Fortschritts. Soll die Wirtschaft nicht die Menschen von der Arbeit befreien (vgl. Werner 2005)? Und es ist eine Chance zugleich die Weichen des sozialen Zusammenlebens umzustellen. Menschen, die keiner bezahlten Tätigkeit nachgehen, können von dem institutionellen und gesellschaftlichen Druck befreit werden und Tätigkeiten jenseits von Rationalitätserwägungen nachgehen. Heute stehen neun registrierte Arbeitslose einer gemeldeten, offenen Stelle gegenüber (vgl. Asef; Wingerter 2011, S. 98). Damit verliert beim „Fördern und Fordern“ insbesondere das „Fordern“ an Legitimation und fällt aus der Zeit. 1 Zur Frage ob der Arbeitsmarkt ein Markt ist siehe auch: Vobruba 2006 Die Schuld für Arbeitslosigkeit bei den Menschen zu suchen, ist nicht nur faktisch falsch, es entbehrt auch jeglicher Menschlichkeit. Institutionell wurde den Arbeitslosen durch die Einführung der Arbeitslosenversicherung bereits die Schuldlast von den Schultern genommen, denn die Implementierung dieser Versicherung unterstellt ja gerade die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Abdämpfung des Risikos arbeitslos zu werden und weist den Arbeitsmarkt und den industriellen Kapitalismus selbst als Verursacher des Problems aus. Menschen wollen arbeiten. Die individuellen Folgen von Arbeitslosigkeit sind keine wissenschaftliche Neuigkeit mehr. Ein Zwang zur Arbeit ist nicht zeitgemäß und zwar aus zweierlei Hinsicht: Zum einen ist nicht für jeden Arbeitsfähigen ein bezahlter Arbeitsplatz vorhanden und zum anderen streben Menschen nach Selbstwert, den sie durch ihre Handlungen, also auch durch Arbeit erhalten. Repressive Arbeitsmarktpolitik verstellt unter diesen Vorstellungen die Möglichkeiten, die die eigene Motivation bietet. Vielmehr gilt es nun Arbeit überhaupt wieder möglich zu machen und zwar jenseits von Wachstumszwang und Produktivität. Auch kann mit der Entkopplung von Arbeit und Einkommen die Problematik der Armutsfalle gelöst werden, wenn nämlich Markteinkommen und arbeitsunabhängiges Einkommen einfach miteinander kombinierbar sind, führt das nicht in die Armutsfalle. Die Entkopplung von Arbeit und Einkommen zeigt Möglichkeiten auf, den Arbeitsmarkt zu einem Markt zu machen, der seinen Namen zu Recht trägt, denn es stärkt die Position der Anbieter auf dem Markt. Die gerechtere Verteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzungen wäre so möglich, was mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt bringen könnte. Wenn Arbeitszeitverkürzungen keine Einbußen in der Sozialversicherung mehr mit sich bringen, wäre dies der Akzeptanz der Arbeitnehmer sicherlich zuträglich. Im kommenden Abschnitt werde ich eine Möglichkeit darstellen, wie Arbeit und Einkommen voneinander zu entkoppeln sind: das bedingungslose Grundeinkommen. Dieses garantierte Mindesteinkommen soll Menschen ihre Zeitsouveränität zurückgeben und sie befähigen, über Art und Umfang der Arbeit, welcher sie nachgehen wollen oder eben auch nicht, selbst zu entscheiden. Ich werde im kommenden Abschnitt diesen nicht neuen, aber an Aktualität gewinnenden Reformvorschlag aus Sicht verschiedener politischer Lagern vorstellen, diskutieren und nochmals darlegen, wieso ich ihn für die richtige Antwort auf die Krise der Erwerbsarbeit halte. Das bedingungslose Grundeinkommen Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Einkommen, welches von einem politischen Gemeinwesen an alle seine Mitglieder individuell ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Gegenleistung ausgezahlt wird (vgl. Vanderborght; van Parijs 2005, S. 14). Das Grundeinkommen stellt eine staatliche Transferleistung dar, die an jeden Bürger/jede Bürgerin ohne eine Bedürftigkeitsprüfung und ohne Zumutung jeglicher Arbeit ausgezahlt wird. Es bedarf keines Antrages, sondern stellt einen individuellen Rechtsanspruch dar. Das Grundeinkommen wird darüber hinaus bedingungslos, individuell gezahlt, was Übergriffe in die Privatsphäre überflüssig und Betrachtungen der Lebensweise Einzelner und deren Beziehungen oder Wohnsituationen hinfällig macht. Die Überprüfung von Bedarfsgemeinschaften entfällt damit. Die Initiativen und Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens, wie etwa das „Netzwerk Grundeinkommen“ oder die Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ und auch Götz Werner stellen vier Kriterien auf, die ein bedingungsloses Grundeinkommen erfüllen muss, um freiheitlich und emanzipatorisch wirken zu können. Demnach muss das Grundeinkommen 1. zwingend existenzsichernd sein und darüber hinaus 2. Individuen befähigen am gemeinschaftlichen, sozialen und kulturellem Leben teilhaben zu können. Dieser Punkt spricht also insbesondere die Höhe der Auszahlung an. Des Weiteren muss es 3. einen individuellen Rechtsanspruch darstellen und somit keinerlei Lebens- und Familienformen bevorzugen oder benachteiligen. Außerdem darf keine Bedürftigkeitsprüfung stattfinden um, darauf komme ich noch zurück, die Reichweite der sozialen Sicherung zu erhöhen. Zu guter Letzt darf es 4. keinen Zwang zur Arbeit zur Folge haben und auch an keine sonstigen Gegenleistungen geknüpft sein (vgl. Werner; Goehler 2011, S. 37-44). Ähnlich, und diese Punkte noch ergänzend, lauten auch die vom Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) unter der Leitung von Thomas Straubhaar aufgestellten neun Eckpfeiler zu einem bedingungslosen Grundeinkommen: Alle Bürger, von der Wiege bis zur Bahre, erhalten ein individuelles, ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahltes Grundeinkommen, welches das sozio-kulturelle Existenzminimum sichern muss. Alle Deutschen und alle Ausländer, die sich legal in Deutschland aufhalten, werden in das Bezugssystem miteinbezogen. Die Höhe des Grundeinkommens ist eine politische Entscheidung und kann je nach Steuerbelastung der Bevölkerung variieren. Das Grundeinkommen ist steuerfinanziert. Das Grundeinkommen ist steuerfrei, zusätzlich erworbenes Einkommen ist in seinem gesamten Umfang zu besteuern, ein Steuerfreibetrag entfällt, da dieser durch das Grundeinkommen bereits vorhanden ist. Das Grundeinkommen ersetzt Sozialtransfers wie etwa die Rente, die Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Wohn- oder Kindergeld. Alle Sozialversicherungsabgaben entfallen durch das Grundeinkommen, die sog. Lohnnebenkosten sinken damit. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsgeld oder ähnliches werden durch das Grundeinkommen nicht berührt. Es besteht Versicherungspflicht für Kranken- und Unfallversicherung. Die Beiträge hierfür werden in Form eines Gutscheins ausgezahlt, welcher entweder vom Grundeinkommen verrechnet oder dazu addiert wird. Sozialpolitische Eingriffe in den Arbeitsmarkt werden einer kritischen Prüfung unterzogen und ggf. durch zielführende Wirkmechanismen ersetzt (vgl. Hohenleitner.; Straubhaar 2007, S. 13). Als erstes ist ein Grundeinkommen damit ein Sozialtransfer, der einfach und transparent funktioniert. Durch das Wegfallen der Beitragsbemessungsgrenzen, der Bedürftigkeitsprüfungen, der Ausübung des Arbeitszwangs sowie der Vermögens- und der Einkommensanrechnung ist es bürokratisch schlank, verringert damit den bürokratischen Aufwand und kann sich somit kostensparend auswirken, denn diese Prüfungen bedingen hohe Verwaltungskosten. Auch kann die geringe bürokratische Hemmschwelle dazu beitragen, die Erreichbarkeit der ärmsten Bevölkerungsschichten zu verbessern. Scham, Zurückhaltung oder gar der gänzlichen Unwissenheit über Sozialleistungen und deren Beantragung wird so suffizient vorgebeugt (vgl. Vanderborght; van Parijs 2005, S. 68f.). Das Grundeinkommen macht aufgrund der individuell abgesicherten Existenz den Arbeitsmarkt zu einem wirklichen Markt. Der Faktor Arbeit ist zwar weiterhin nicht von seinem Inhaber zu trennen, dieser jedoch kann sich frei entscheiden, ob und zu welchen Konditionen er seine Ware auf dem Markt anbietet. Viele der arbeitsmarktpolitischen Instrumente wirken sich negativ auf den Arbeitsmarkt oder seine Teilnehmer aus und verfehlen so ihr Ziel. Ein Grundeinkommen jedoch setzt an den Marktvoraussetzungen an und senkt so die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer. Arbeitgeber und Arbeitnehmer geraten so auf die gleiche Augenhöhe und das Machtgefälle zwischen ihnen wird gemindert (vgl. Vobruba 2006, S. 112f.). Das Grundeinkommen ist egalitär. Die individuelle Auszahlung an alle Mitglieder des politischen Gemeinwesens verhindert die Aufteilung in bedürftig/nicht-bedürftig und nimmt so Diskriminierungspotenzial aus der Gesellschaft. Die Individualität der Auszahlung ist eines der wichtigsten Merkmale des Grundeinkommens und führt nicht zuletzt für viele Frauen zu einer Verbesserung ihrer Situation. Die haushaltsbezogene Auszahlung hingegen ist allein aufgrund der pluralisierten Lebens- und Familienformen nicht zu befürworten, da dieser Modus Alleinlebende besser stellen würde und haushaltsbezogene Abhängigkeiten begünstigen könnte. Zu bestimmen ist natürlich, wer ein Mitglied des politischen Gemeinwesens ist und wer es nicht ist. Einige Befürworter des Grundeinkommens nehmen die Trennung des Innen und Außen auf der Grenzlinie des Staatsbürgerstatus vor, jedoch diskriminiere dies die zugezogenen Menschen ausländischer Herkunft strukturell und erschwere deren gesellschaftliches Engagement damit enorm. Als Mittel nicht nur zur Armutsbekämpfung sollte der Kreis der Empfänger deutlich weiter gefasst sein und könnte beispielsweise an eine Mindestaufenthaltszeit gebunden sein. Das entspräche auch in etwa der Forderung des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. Eine weitere Unterscheidung wird im wissenschaftlichen Diskurs vorgenommen, nämlich die Differenzierung der Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen nach Lebensalter. Hier seien Kinder oder Rentner als differente Gruppen zu nennen. Gemeinhin fordern die Befürworter des Grundeinkommens eine Auszahlung von der Wiege bis zur Bahre. Die Auszahlungsgrößen für Kinder und Rentner variieren jedoch im Diskurs. Für die einen reicht für Kinder lediglich die Hälfte des Betrages, für die anderen soll ein Stufenschema den Betrag kontinuierlich bis zur Volljährigkeit vergrößern. Auch für Rentner ist ein erhöhter Satz vorstellbar (vgl. Vanderborght; van Parijs 2005, S. 46f.). Dem Grundeinkommen wird ein enormes Potenzial zur Freisetzung von Kreativität unterstellt. Selbstständige Unternehmungen können viel leichter in die Tat umgesetzt werden, da das Grundeinkommen auch als Grundlohn für Selbstständige wirkt. Grundeinkommensgegner führen häufig in Diskussionen an, dass ein Grundeinkommen dazu führe, dass signifikant viele Menschen sich weniger dem Arbeitsmarkt zuwenden. Dieses Argument kann jedoch insoweit entkräftet werden, als dass zum einen Menschen etwas tun möchten, um ihrem Streben nach Selbstwirksamkeit und Selbstwert gerecht zu werden. Günter Dux schreibt, dass der Mensch seine Selbsterhaltung nur durch die Organisationsform des Handels erreichen könne und dass ebendiese die Arbeit darstelle. Gesellschaftliche Erwartungen und persönliche Bedürfnisse finden also in der Arbeit zusammen (Dux 2008, S. 278). Zum anderen zeigen Studien, dass die Arbeitsmarktbeteiligung gerade nicht sinkt, sondern steigt. In den USA ist eine Studie mit einer negativen Einkommenssteuer2 durchgeführt worden. Die einzige Gruppe, die sich signifikant vom Arbeitsmarkt entfernt hat, ist die der alleinerziehenden Mütter mehrerer Kinder (Opielka 2007, S. 10). Das Grundeinkommen kann hier also als eine Art Ermöglichungsspielraum betrachtet werden. Durch den monetären Vertrauensvorschuss, den das Grundeinkommen darstellt, wird den Menschen erst die Möglichkeit gegeben, sich gesellschaftlich verantwortungsvoll zu verhalten und sich bürgerschaftlich zu engagieren. Es erlaubt eine gesellschaftliche Mindestteilhabe und setzt sich damit deutlich vom „Fördern und Fordern“ des heutigen Sozialstaates ab (vgl. Hohenleitner; Straubhaar 2007, S. 14). Arbeit wird durch das Grundeinkommen von seinem verteuernden Faktor Lohnnebenkosten befreit. Dadurch ermöglicht es, das Beschäftigungsproblem zu entschärfen. Das kommt Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen entgegen. Wenn Arbeitslöhne zu hoch sind und nach neoliberaler Denkweise Arbeitslosigkeit verursachen, dann gibt das Grundeinkommen die Gelegenheit sozialverträgliche Entgelte zu zahlen und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu bewahren. Auch die gesteigerte Möglichkeit der Arbeitnehmer in Teilzeitarbeit zu arbeiten, entspannt den Arbeitsmarkt und macht die Nachfragesteigerung nach Arbeit möglich. 2 Die negative Einkommenssteuer stellt eine der vorgeschlagenen und diskutierten Varianten eines Grundeinkommens dar. Darüber hinaus verhilft es den Menschen, sich gemäß ihrer eigenen Bedürfnisse und Erfordernisse weiterzubilden und damit das gesamte Qualifikationsniveau langfristig zu steigern. Dies hätte durchaus positive Effekte auf den Arbeitsmarkt, da weniger Geringqualifizierte auch bessere Einkommensmöglichkeiten in den Marktsegmenten in denen geringe Qualifizierungen nachgefragt werden bedeuten. Dies wiederum erhöht den Druck für Innovationen in diesen Bereichen, was dauerhaft die Nachfrage nach gut ausgebildeten Menschen stärkt (vgl. Hohenleitner; Straubhaar 2007, S. 18). Die Höhe des Grundeinkommens variiert in der Literatur und auch die verschiedenen Befürworter und Initiativen sind in dieser Hinsicht keinesfalls einheitlicher Meinung. Die Beträge bewegen sich meist ein einem Raum zwischen 600 und 1500 Euro. Diese Frage ist politisch zu beantworten. Wichtig ist allerdings, dass das Grundeinkommen aufgrund der zentralen freiheitlichen und emanzipatorischen Idee keinesfalls zu niedrig angesetzt sein darf, denn dies würde einen Arbeitszwang für alle nach sich ziehen, dabei geht es aber ja im Kern um die konkrete Entscheidung der Menschen für oder gegen Erwerbsarbeit. Ferner ist bei der Auszahlungshöhe zu beachten, dass je höher das steuerfinanzierte Grundeinkommen ausfällt, desto größer ist auch die Steuerlast, die die Bürger zu tragen haben (vgl. Hohenleitner; Straubhaar 2007, S. 15). Die zu tragende Steuerlast jedoch variiert mit den verschiedenen Grundeinkommensmodellen. Anders ausgedrückt, unterscheiden sich die verschiedenen Modelle in dem Ort, bzw. dem Zeitpunkt des Steueraufkommens. Auf der einen Seite gibt es das Modell der negativen Einkommenssteuer, welches auf Besteuerung der aus Erwerbsarbeit erwirtschafteten Einkommen setzt. Auf der anderen Seite steht die Finanzierung durch eine erhöhte Konsum- bzw. Mehrwertsteuer. Nach diesem Modell würden Einkommen gänzlich von Steuern befreit und lediglich eine hohe Konsumsteuer erhoben, welche der heutigen Mehrwertsteuer entspricht, in der Höhe jedoch wesentlich höher ausfallen müsste. Ferner gibt es noch Modelle einer Dividende, welche den z.B. aus Rohstoffen erlangte Gewinn zu gleichen Teilen auf die Bevölkerung verteilt. Ein solches Modell ist seit mehreren Jahren in Alaska Realität. Gewinne aus Rohstoffen allerdings dürften in Deutschland nicht enorm hoch ausfallen, sodass hier andere Mechanismen zur Finanzierung zu bevorzugen wären. Beispielsweise ist es auch vorstellbar, dass CO2 Emissionen, besser gesagt, die Rechte CO2 zu emissieren, meistbietend verkauft würden und der erzielte Gewinn sozial umverteilt wird. Durch die Kopplung sozialer Sicherheit an den Energieverbrauch würde wenigstens partiell den ökologischen Problemen unserer Zeit Rechnung getragen (vgl. Vanderborght; van Parijs 2005, S. 124f.). Es gibt also vielfältige Möglichkeiten der Ausgestaltung eines bedingungslosen Grundeinkommens und alle haben, je nach Sichtweise, ihre Berechtigung sowie Vor- und Nachteile. Eine detaillierte Darstellung der Finanzierung und der einzelnen Modelle kann ich an dieser Stelle jedoch nicht leisten. Die Ausgestaltung und Umsetzung eines bedingungslosen Grundeinkommens bedarf des gesellschaftlichen Diskurses und stellt in den Detailfragen eine politische Aufgabe dar. Durch seine Steuerfinanziertheit entkoppelt das bedingungslose Grundeinkommen die Faktoren Arbeit und Einkommen suffizient voneinander und sichert soziale Existenz jenseits der Marktgesetze und des Arbeitsmarktes. Erwerbsarbeit wird damit von einem Zwang für jeden zu einem freiwilligen Gut transformiert. Das trägt dem erweiterten Arbeitsbegriff Rechnung, wertet damit viele Tätigkeiten sozial auf und garantiert den Tätigen ihre soziale und monetäre Absicherung. Mit der Flankierung durch ein bedingungsloses Grundeinkommen kann die deutsche Arbeitsgesellschaft sich weiterentwickeln und ihre Lohnarbeitszentriertheit aufgeben. Die Vollbeschäftigung verliert durch ein garantiertes Grundeinkommen an Brisanz und macht den Weg für andere Aufgaben der Politik und der Gesellschaft frei. Sicherlich schafft das bedingungslose Grundeinkommen keine neuen Arbeitsplätze, es schützt auch nicht vor weiteren Rationalisierungen und dem Abbau von Arbeitsplätzen. Auch macht es die Menschen nicht automatisch glücklich, lediglich akzeptiert es wirtschaftliche Tatsachen und befreit Menschen vom Druck des Arbeitsmarktes. Selbstverantwortung und Eigeninitiative wachsen mit dem Grundeinkommen und dies kann zur Stärkung der Demokratie beitragen. Durch abgesicherte materielle Existenz wird den Menschen die Möglichkeit gegeben, die so oft eingeforderte Eigenverantwortung zu übernehmen und Initiative zu ergreifen, da es bei verschiedensten Tätigkeiten nicht in erster Linie auf Wirtschaftlichkeit und Rentabilität ankommt. Unserer Gesellschaft wird die Arbeit nicht ausgehen. Vollbeschäftigung ist jedoch unwahrscheinlich. Es wird also in Zukunft darauf ankommen, wie unsere Gesellschaft die vorhandenen Ressourcen verteilt. Das betrifft sowohl die Einkommen als auch die Arbeit. Da immer mehr Waren und Dienstleistungen von immer weniger Menschen hergestellt werden können und das sog. Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist, müssen wir die vorhandene Arbeit gerechter verteilen. Denn der Mensch ist bestrebt zu handeln, zu arbeiten und sich in die Gemeinschaft einzubringen. Arbeit, darunter ist der erweiterte Arbeitsbegriff zu verstehen, kann unter der Prämisse eines bedingungslosen Grundeinkommens suffizienter verteilt werden. Der wirtschaftliche Trend in Form der Beschäftigungen zeigt deutlich, dass es eine Entwicklung hin zu mehr Flexibilität, z.B. Zeitverträgen, Minijobs, Leiharbeit, etc. gibt. Diese Entwicklung gilt es aufzugreifen, sie jedoch von ihrem prekären Charakter zu trennen. Soziale Sicherung durch ein bedingungsloses Grundeinkommen vermag diesem Zustand zu gesellschaftlicher Tragfähigkeit zu verhelfen. Arbeitszeitverkürzungen können außerdem dazu beitragen, die vorhandene Erwerbsarbeit auf mehr Menschen zu verteilen. Das hätte den Effekt, dass Menschen von Objekten zu Subjekten des Arbeitsmarktes werden und durch die erhaltene Zeitsouveränität sich ihre Zeit wieder aneignen können. Wie kann die Tätigkeitsgesellschaft von Morgen beschaffen sein? Bürgerarbeit und Bürgergeld Das Konzept der „Bürgerarbeit“ stammt aus der Feder des deutschen Soziologen Ulrich Beck (2000). Bürgerarbeit, so Beck, ist selbstorganisierter, schöpferischer Ungehorsam. Es ist die Selbstbestimmung und -verwirklichung durch freiwilliges soziales Engagement. Im Kern geht es darum, einen sog. „Dritten Sektor“ zu erschaffen, in dem ehrenamtliches, bürgerschaftliches, soziales und politisches Schaffen autonom organisiert wird. Gesellschaftlich wertvolles Tun soll belohnt werden. Dies erfolgt materiell und immateriell, z.B. könnte ein ehrenamtlich Tätiger seine Kinder kostenlos in einen Kindergarten bringen und Rentenansprüche erwerben. Die materielle Entlohnung, das „Bürgergeld“, soll mindestens dem heutigen Arbeitslosengeld II-Niveau (Hartz IV) entsprechen. Bürgergeld entspricht zwar nicht der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens, verweist jedoch ebenfalls auf den erweiterten Arbeitsbegriff und entkoppelt Arbeit und Einkommen zumindest partiell voneinander. Das Bürgergeld ist sozusagen ein minimal bedingtes Grundeinkommen für Engagierte. Arbeitslose sind dann jedoch keine Arbeitslosen mehr, es sei denn sie entscheiden sich frei gegen Bürgerarbeit. Es stellt sich aber die Frage, welche Tätigkeiten gesellschaftlich sinnvoll und notwendig sind. Ein aus verschieden Institutionen zusammengesetzter „Ausschuss für Bürgerarbeit“ soll entscheiden, für welche Tätigkeiten dies gilt und für welche nicht. Ein sog. „Gemeinwohlunternehmer“, eine Sozialfigur, welche soziale und unternehmerische Tugenden miteinander vereinen soll, koordiniert die unterschiedlichen Projekte und führt Regie (vgl. Beck 2000, S. 416-447). Das Potential für Bürgerarbeit ist zweifelsfrei vorhanden. 1996 fiel das Verhältnis von Erwerbsarbeit (38,5%) zu Reproduktionsarbeit (61,5%) deutlich zugunsten der Reproduktionsarbeit aus (vgl. Schäfer & Schwarz 1996 zit. n. Raehlmann 2004, S. 30). Viele Menschen sind ehrenamtlich sozial in Vereinen, Wohlfahrtsverbänden und anderen Netzwerken engagiert. Diese durch eine neue Kontrollinstanz, z. B. den Ausschuss für Bürgerarbeit, in Frage zu stellen oder zu unterwandern, scheint aufgrund des menschlichen Wunsches zu Wirken und zu Werken unnötig. Das Konzept der Bürgerarbeit von Beck stellt eine teilweise Entkopplung von Arbeit und Einkommen dar, indem es den Menschen die Entscheidung über ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt selbst überlässt und macht durch das Bürgergeld den Weg für mehr soziales Engagement frei. Bürgerschaftliches Engagement ist ein wichtiger Faktor in einer Demokratie wie der deutschen, könnte jedoch auch durch die Möglichkeiten, die ein bedingungsloses Grundeinkommen bietet, begünstigt werden. Ein Vorschlag, welcher den Vertrauensvorschuss durch die Kopplung von Bürgergeld an Bürgerarbeit von vornherein untergräbt, beleidigt den Menschen in seinem schöpferischen Willen. Multiaktivität Von einer Utopie ganz anderer Art schreibt André Gorz in seinem Buch Arbeit zwischen Misere und Utopie (1999). Von der „Multiaktivitätsgesellschaft“ ist hier die Rede. In seinem Konstrukt der Multiaktivitätsgesellschaft geht es um eine gesellschaftliche Alternative, in der sich verschiedene Tätigkeiten ablösen und Entlohnung und Rentabilität eine untergeordnete Rolle spielen. Die Arbeitszeit soll nicht weiterhin die gesellschaftliche Hauptzeit bleiben und der Mensch seine Zeitsouveränität und damit sein Recht auf sich selbst zurück erlangen. Diese Zeit soll dem Kapital entrissen und den Menschen zurückgegeben werden. Es geht darum, den Menschen Autonomie zu ermöglichen. Unternehmen sollen ihre übergroße Bedeutung verlieren. Dies ist freilich nur unter der Bedingung der sozialen Absicherung, wie sie ein bedingungsloses Grundeinkommen bietet, möglich. Die Menschen sollen sich ihre Zeit wieder aneignen und über Art und Umfang ihrer Tätigkeiten frei entscheiden können. Gorz stellt den Drang der Menschen auf Wirken und Werken stark in den Vordergrund und verweist dabei nochmals auf die Wichtigkeit der Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens. Die zukünftige Arbeitswelt ist von Wissen geprägt. Die Menschen, also auch die Arbeitnehmer, sind die Inhaber dieses Wissens, der Phantasie und der Kreativität. So haben die Arbeitnehmer einen Teil des Unternehmenskapitals inne und löst sich das Kapital teilweise vom Eigentum des Unternehmens. Gemeinsame Arbeit und ständige, gemeinsame Aushandlungen der Arbeitszeiten, aber auch der strategischen Entscheidungen von Unternehmen werden künftig an Bedeutung gewinnen. Die Erwerbsarbeit wird an Wert verlieren und damit geht ein Bruch einher, der die Individuen nicht mehr durch Erwerbsarbeit integriert, Hierarchien abschafft und schließlich nicht ausgrenzt, sondern Menschen ermutigt, sich im gegenseitigen Wettstreit und Zusammenspiel stetig neu und selbst zu definieren. Arbeit ist dann nicht mehr die Arbeit, die wir heute als solche bezeichnen. Arbeit, das sind dann neue Kooperationszusammenhänge, eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Tauschbeziehungen. Wo wirtschaftliche Abhängigkeiten keinen Wert mehr haben, lassen sich neue Räume für das Zusammenleben kreieren. Die Stadt muss sich wandeln und den Menschen Räume bieten ihre selbstgewählten Aktivitäten in Hallen, Werkstätten, Kinos, Vereinen, nachbarschaftlichen Netzwerden, Parks etc. auszuüben und so zu einem neuen Miteinander zu finden. Es geht um künstlerische, politische, wissenschaftliche, sportliche, kurz: um alle denkbaren Aktivitäten (vgl. Gorz 1997 S. 102-144). Die Parallelen zum Konzept der Bürgerarbeit von Beck sind durchaus vorhanden, immerhin geht es beiden um Fortschritte im sozialen Zusammenleben und der Überwindung der Rationalitätsansprüche an die menschliche Arbeit,. Jedoch stellt das Konzept der Multiaktivität in Verbindung mit einem bedingungslosen Grundeinkommen die Bedingungslosigkeit insbesondere in den Vordergrund und vertraut darauf, dass Menschen von sich aus tätig werden und es keiner Kontrollinstanz bedarf. Die Multiaktivitätsgesellschaft von Gorz basiert auf der völligen Entkopplung von Arbeit bzw. Tätigkeit und sozialer Sicherheit. Multiaktivität kann nicht staatlich verordnet werden. Flankiert von einem bedingungslosen Grundeinkommen jedoch kann der Staat und die Gesellschaft die Rahmenbedingungen, die eine solche begünstigen, herstellen und fördern. Menschen wollen wirken und werken. In einer Gesellschaft, in der die Erwerbszeit nicht mehr die gesellschaftliche Hauptzeit darstellt und für das Einkommen eines und einer jeden gesorgt ist, entsteht Raum für eine „Kulturgesellschaft“, in der nachbarschaftliche Kooperations- und Tauschnetzwerke entstehen können. Schlussfolgerungen Die Arbeitsgesellschaft steckt in einer Krise und mit ihr der Sozialstaat. Das Normalarbeitsverhältnis ist heute nicht mehr das, was es noch vor etwa 40 Jahren war. Damit hat sich auch die Normalerwerbsbiografie verändert. Diskontinuierliche, atypische und fragmentierte Beschäftigungen lösen die lebenslange Vollzeiterwerbstätigkeit ab. Arbeit ist zwar die Quelle unseres gesellschaftlichen Wohlstandes, jedoch kann dieser in zunehmenden Maße durch immer weniger menschliche Arbeit erwirtschaftet werden. Einfache Arbeiten, für die nur geringe Qualifikationen benötigt werden, werden immer mehr durch Maschinen erledigt und setzen so Menschen von der Arbeit frei. Ein Sieg! Die Wirtschaft kann die Menschen von der Arbeit befreien, sagt Götz Werner (vgl. Werner 2005), nur bringen diese Rationalisierungen mannigfaltige Problemstellungen mit sich. Arbeit hat einen binären, integrierenden Charakter, sie ist Mittel und Zweck des Lebens zugleich geworden. Durch sie wird Einkommen erwirtschaftet und sie erfüllt die Menschen. Jedoch trifft das nicht auf jede Form der Arbeit zu. Moderne Arbeitsteilung hat nämlich auch eine enorme Entgrenzung der Menschen von ihrer Arbeit zur Folge und der Sinn mancher Arbeit erschließt sich nicht immer, ist sie doch nur ein winziger Teil eines großes Prozesses auf dem Weg zur fertigen Ware. Die neuartigen Beschäftigungsverhältnisse sind Ergebnisse des zunehmenden Flexibilisierungsdrucks der Unternehmen. Sie sorgen auf der einen Seite dafür, dass Unternehmen flexibler auf konjunkturelle Spitzen und Schwächen reagieren können, auf der anderen Seite jedoch gehen mit ihnen auch Einkommensproblematiken einher. Das betrifft zum einen die heutigen Einkommen, denn der Niedriglohnsektor wächst und produziert viele der sog. „working poor“, zum anderen jedoch auch die Einkommen der Zukunft. Die atypischen Beschäftigungsverhältnisse wirken sich kurzfristig und auch langfristig prekär aus. Das tun sie nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Seite. Einkommen und Arbeit müssen gerechter verteilt werden um weniger Menschen aus der Gesellschaft zu drängen und somit wieder Politik jenseits von „mehr Beschäftigung“ und „Vollbeschäftigung“ möglich zu machen. Vollbeschäftigung, das habe ich gezeigt, ist unwahrscheinlich in Deutschland und damit kann Frank Walter Steinmeier des unlauteren Stimmenfanges bezichtigt werden. Ohne die Verabschiedung der sozialen Gerechtigkeit als oberste Messlatte scheint Vollbeschäftigung nicht herzustellen zu sein. Es muss also eine alternative Verteilungspolitik gefunden werden, denn die Einkommen in Deutschland sind höchst ungleich verteilt und diese Tendenz steigt. Ein weiteres Festhalten an dem Primat der Vollbeschäftigung ignoriert nicht nur die aktuellen wirtschaftlichen Möglichkeiten und Trends, es verstellt auch den Blick auf Chancen. Aus Unternehmersicht sind weitere begrenzende Eingriffe in den Arbeitsmarkt nicht wünschenswert, da diese die Konkurrenzfähigkeit einschränken, es bleibt jedoch die Möglichkeit am anderen Ende des Arbeitsmarktes anzusetzen und die Voraussetzungen für einen „echten“ Markt zu schaffen. Dies kann erreicht werden, wenn die Seite der Arbeitskraftanbieter in die Lage versetzt wird Arbeitsplatzangebote auch abzulehnen. Durch die Entkopplung von Arbeit und Einkommen, also der sozialen Absicherung jenseits der Marktgesetze, kann dieser Zustand erreicht werden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen beispielsweise bietet diese Chance. Es sichert den Menschen die Existenz ohne Gegenleistungen einzufordern und stellt damit auf der Angebotsseite gute Marktvoraussetzungen her. Des Weiteren stellt das bedingungslose Grundeinkommen ein suffizientes Mittel die Armutsfalle zu entschärfen dar, denn der Markteintritt kann ohne Behinderungen vorgenommen werden. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eben durch seine Bedingungslosigkeit beliebig durch Markteinkommen zu ergänzen, damit ist auch der Arbeitszeitverkürzung als Möglichkeit der gerechteren Arbeitsverteilung eine Tür geöffnet, da diese so ihren prekären Charakter verliert. Ein bedingungsloses Grundeinkommen kann überdies dem erweiterten Arbeitsbegriff Rechnung tragen, indem es Tätigkeiten abseits von Rationalitätsüberlegungen ermöglicht und so den Übergang in eine Multiaktivitätsgesellschaft begünstigt. Der Diskurs, welcher über die Zukunft des Sozialstaates geführt werden wird und muss, wird auch ein Wertediskurs sein. Es geht dabei um zentrale Werte der deutschen Gesellschaft. Können Menschen materiell abgesichert werden ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten? Was ist dann noch der Wert der Arbeit? Es wird darum gehen dem Kapital Zeit zu nehmen und es in die Pflicht sozialer Sicherheit zu nehmen. Die Entkopplung von Arbeit und Einkommen ist zwar eine Chance für den Sozialstaat, aber von ihrer Notwendigkeit und Nützlichkeit müssen die Menschen erst überzeugt werden. Ein Diskurs, der die üblichen parteilichen Verbindlichkeiten ohne faktisches Fundament vermissen lässt und ideologiefrei geführt würde, wäre hier wünschenswert. Ohne die Entkopplung der Arbeit an das lebenswichtige Einkommen sieht die deutsche Zukunft für viele prekär aus. Quellen: Asef, Dominik; Wengerter, Christian: Arbeitsmarkt und Erwerbstätigkeit. Arbeitsmarkt. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 2011. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Band I. 1. Aufl.. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2011. S. 97-108. Baur, Nina: Soziologische und ökonomische Theorien der Erwerbsarbeit. Eine Einführung. 1. Aufl.. Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH 2001. Beck, Ulrich: Wohin führt der Weg, der mit dem Ende der Vollbeschäftigung beginnt?. In: Beck, Ulrich (Hrsg.): Die Zukunft von Arbeit und Demokratie. 1. Aufl.. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2000. S. 7-66. Beck, Ulrich: Die Seele der Demokratie: Bezahlte Bürgerarbeit. In: Beck, Ulrich (Hrsg.): Die Zukunft von Arbeit und Demokratie. 1. Aufl.. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2000. S. 416 -447. Beck, Ulrich: Schöne Neue Arbeitswelt. 1. Aufl.. 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