Bundeswettbewerb 2013 - Philosophischer Essay - Max

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Autor: Lovis Pape
Kurs: Q2 Neu
Schule: Felix-Klein-Gymnasium Göttingen, 37073 Göttingen
Privatanschrift: Königsallee 38, 37081 Göttingen
Zuständiger Lehrer: Jürgen Stenzel (Max-Planck-Gymnasium Göttingen)
Der Wille zum Glück
Von der freien Entfaltung der Talente für Ich und Gesellschaft
Dieser Text ist Ausdruck meiner Leidenschaft für die Philosophie, aber auch Ergebnis
vernünftiger Überlegungen. Ich habe gefühlt und gedacht, bin meinen Neigungen gefolgt und
zugleich eine moralische Verpflichtung, meine Erkenntnisse zu teilen, eingegangen, um zu tun,
was ich will. In diesem Spannungsfeld zwischen selbstlos-kantischer Vernunft und
persönlichem Nutzen bewegen sich die Motive zur Anfertigung dieses Essays. Jedes für sich
hat dazu beigetragen, mein Talent zum philosophischen Denken zu entfalten (das setze ich
voraus, auch wenn der Beweis noch aussteht), doch für sich genommen sind sie als
Erklärungen alle unzureichend.
Diese Frage nach dem Willen, der meiner Handlung zugrunde lag, liegt für mich im Kern
jeder Diskussion, ob wir das moralische Recht haben, über unsere eigenen – angeborenen und
erworbenen – Fähigkeiten alleine zu verfügen. Der freie Wille entsteht für mich erst aus der
dialektischen Einheit von Vernunft und Nutzen. Einschlägige Theorien zur Willensfreiheit
haben versucht, eins der beiden Motive gegen das andere auszuspielen: d.h., eine Herrschaft
der Pflicht oder eine der Instinkte im Menschen zu erzeugen. Aber im Grunde müssen die
scheinbaren Gegensätze als zwei Ausdrucksweisen desselben Willens gesehen werden, damit
der Mensch frei ist zu wollen, seine Talente zum eigenen Wohl und dem der sonstigen
Beteiligten zu entfalten, was per definitionem aus dem freien Willen folgt. Und nur ein
selbstbestimmtes Individuum kann sich seinen Willen bilden, es muss dazu die Freiräume –
also das moralische Recht – haben und demgemäß handeln können.
Aber was ist der Rahmen, in dem wir freie Entscheidungen treffen? Wann sind Vernunft und
Triebe im Gleichgewicht? Diese Fragen sind so wichtig, weil aus ihnen folgt, ob wir wirklich
wollen, was wir wollen. Die Bedingungen für moralische Selbstbestimmung der Fähigkeiten
sind also die für den freien Willen. Aber ob frei oder nicht, der Wille der begabten Person an
sich ist die Grundlage für meine Theorie, denn ohne ihn wäre sie nicht fähig, überhaupt eine
eigene Entscheidung zu treffen. In diesem Horizont behandele ich die Frage, ob wir ein Recht
auf die eigenen Fähigkeiten haben.
Das Recht eines jeden an den eigenen angeborenen oder erworbenen Fähigkeiten ist
gekoppelt an seine komplementären Pflichten. Und wer Pflicht sagt, muss auch Kant sagen.
Nach Kant ist das Gute am Talent, ob geistig oder sinnlich, nicht der Inhalt, sondern der Wille
der begabten Person, es zu nutzen – und das dadurch, dass er sich nach der Pflicht
1
richtet.1 Die Richtung der Pflicht ist klar: Das Talent muss gefördert werden, da es dem
Inhaber und ggf. der Allgemeinheit zum Vorteil gereichen wird. Schlüge er die Möglichkeit
aus, würden Bequemlichkeit und kurzfristiger Lustgewinn das Motiv seines Handelns bilden.
2
Darauf ließe sich aber im Allgemeinen keine lebendige Gesellschaft bauen. Gleiches gilt, falls
das Talent zum Schaden Anderer verwandt würde. Also ist der Mensch frei, wenn er diesen
Widerspruch erkennt und in Reaktion vernünftig handelt. Er muss autonom entscheiden
können, aber mit gewissem Ausgang. Dies ist eine gefährliche Ansicht, weil sie das Triebhafte
im Menschen leugnet. Der kantische Pflichtbegriff geht in seinem abstrakten Formalismus
gegen jede natürliche Neigung unserer tierischen Abstammung. So gibt er uns mitunter den
Eindruck, wir müssten sie um einer höheren Gerechtigkeit willen unterdrücken. Wenn
Vernunft und Neigungen im Menschen nicht im Einklang sind, ist eine Pflichtherrschaft also
purer Zwang und setzt Verdrängungsmechanismen in Gang, die unseren Willen und also
unsere Bereitschaft, eigene Talente zu entfalten, trüben. Außerdem ist fraglich, ob der
kategorische Imperativ in seiner Allgemeinheit überhaupt dem Individuum dient, um dessen
Glückes willen es seine eigenen Talente doch entfalten soll; im Gegenteil: der Mensch wird
zum Erfüllungsgehilfen der abstrakten Pflicht.
Umgekehrt bewirkt auch eine Triebherrschaft allein keine Willensfreiheit (und so keine
Antwort auf unsere Frage): Nietzsche etwa, als Vertreter einer egoistischen Ethik, kann mit
seinem anmaßenden Sozialdarwinismus nicht erklären, wie der Einzelne mit seiner
Selbstsucht nicht das Glück anderer (und andere damit das seine) gefährden soll. Auch ist der
Mensch in seinem evolutionären Erbe zwischen Egoismus und Altruismus gespalten. Dem
entspricht eine Lehre, die zwischen diesen Anlagen, und also persönlichem und
Gemeinnutzen, vermittelt: der Utilitarismus. Nur kann mit dem „größten Glück für die größte
Zahl“ theoretisch jede Handlung moralisch legitimiert werden. Moralische Rechte können
überhaupt nicht einheitlich formuliert werden, weil ihre Gültigkeit vom Nutzen, der oft genug
nicht einmal eindeutig bestimmbar ist, in einzelnen Situationen abhängt. Demnach könnte
eine Gesellschaft die Fähigkeiten einzelner Mitglieder auch (vermeintlich) nutzbringend
„enteignen“, was gegen deren moralische Selbstbestimmung geht.
Beide Theorien taugen also nicht, um einen Willen zu erzeugen, der dem Menschen ganz
gerecht wird. Aber sie sind auch nicht ganz nutzlos: Nach Kant ist das Moralische am Talent
erst der Wille des Inhabers – wie bei mir. Nach dem Utilitarismus muss stets zwischen
persönlichem und Gemeinnutzen vermittelt werden – wie bei mir. Man könnte nun
vorschlagen, diese Positionen miteinander aufzuwiegen, die Widersprüche abzumildern,
Übereinstimmungen zu betonen. Das halte ich für grundfalsch. Beide Ansätze blieben im
Grunde gegensätzlich, der Mensch ebenso zerrissen, weil er stets zwischen Pflicht und Nutzen
schwankt und dabei doch nie ganz das bekommt, was er will.
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1
Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 9 (Ausgabe hrsg. Von Jens Timmermann – Sammlung Philosophie 3).
2
Ebenda, S. 38.
2
Stattdessen stelle ich einen beinahe biblischen Grundsatz voraus: Was du verlangst, das man
dir tu', das gesteh' auch allen And'ren zu. Darauf beruht schon jetzt ein Großteil
gesellschaftlichen Lebens, insofern, dass wir erwarten, für unsere Funktion (idealerweise
Ausdruck unserer Talente in Vollendung) ein ansonsten sorgenfreies, anregungsreiches Leben
führen zu können. Demnach ist das Prinzip Ausdruck eines Systems gegenseitiger
Bevorteilung, in dem die Mitglieder der Gesellschaft willens sind, ihre Talente der
Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen – für ihren eigenen Nutzen. Eine utilitaristische
Maxime? Ja und nein, denn anders gelesen ist die Maximierung des Nutzens für die
Beteiligten hiernach nicht Grundsatz, sondern Folge ihrer Gleichbehandlung. Wir wissen, was
wir wollen: Eine Gesellschaft, in der niemand den Nächsten ausnutzt, stets den freien
Menschen mit dem gleichen Recht auf Selbstbestimmung der Fähigkeiten sieht. Dann ist dies
ein praktischer kategorischer Imperativ, der anleitet, alle Menschen so zu behandeln, wie sie
es in geistiger Gleichheit verdient haben. Die Gesellschaft der gegenseitigen Bevorteilung ist
genauso Kants „Königreich der Zwecke“. Nur wissen wir so gesehen doch nicht immer, was
wir wollen, weil der Nutzen darin, unsere Fähigkeiten rein egoistisch auszuspielen,
gesellschaftlich legitimiert ist, sich daran auch direkt nichts ändern lässt. Ein Beispiel:
Ein Bauer erbt Ackerland. Einmal urbar gemacht, könnte es ihm einen auskömmlichen
Lebensunterhalt garantieren. Aber das kostet Zeit und Mühen. Ebenso verhält es sich mit
unseren angeborenen Talenten: Sie werden als immaterielle Güter – Naturgaben – nicht
verdient, stehen uns aber zur freien Verfügung. Mit ihrer Entfaltung gehen Aufwand wie
materieller oder ideeller Nutzen einher, je nach ihrer Art.
Der Landbesitz bringt Rechte mit sich. So kann der Bauer sein Land brachliegen lassen, zum
Eigengebrauch urbar machen oder für den freien Markt anbauen. Dabei darf er nicht der
Umwelt oder Gesellschaft schaden – etwa gentechnisch veränderte Pflanzen oder verbotene
Pestizide verwenden. Für unsere angewandten Talente gilt aber keine solche Schranke: Sie
können nicht einfach in eine Richtung verboten werden, weil ihre „Nutzung“ in den Grenzen
des Rechts unter den Grundsatz der freien Entfaltung der Persönlichkeit fällt. Wir erinnern
uns: der moralische Wert eines Talents, sei es handwerklich oder kognitiv, liegt im Willen des
Inhabers, es gesellschaftlich relevant im guten wie im schlechten Sinn, zu nutzen. So findet
ein Unternehmer mit Überblick und Scharfsinn in der freien Wirtschaft heute sicher einen
Platz als Hedgefonds-Manager im Bereich Lebensmittelspekulationen. Trotz gewisser
Regulierungen wohnt jedem kapitalistischen System der Konkurrenzgedanke inne, nach dem
die eigene Leistung auch auf Kosten Anderer gehen kann. Dieses Problem lässt sich auch
nicht sofort und sicher nicht auf vier Essay-Seiten lösen. Talente können aber auch
gleichzeitig dem Inhaber und der Gemeinschaft dienen. Dafür gehen wir zurück auf das Ich
im gesellschaftlich des vernünftigen Tiers Mensch:
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Was tut der Bauer mit dem Ackerland, wenn es zu nichts mehr als Subsistenzwirtschaft taugt?
Je bessere Methoden zur Erschließung des Landes ihm zur Verfügung stehen, desto leichter
wird es für ihn, desto größer wird auch seine Bereitschaft dazu, es urbar zu machen. Bekommt
er Hilfe durch sein Umfeld, kann er sich die nötige Technik unabhängig von seinem
Besitzstand anschaffen. Je mehr Wissen er über die Bewirtschaftung besitzt, desto leichter
wird ihm infolge auch die Nutzung fallen. Genügt der Ertrag der Arbeit dann seinen
Ansprüchen, erfüllt das Land seinen Zweck.
Äquivalent: Wenn man auch nur die Begabung in der Philosophie, Literatur oder anderer, für
das Bruttosozialprodukt völlig irrelevanter Schaffensbereiche in Betracht zieht, gelten
Kriterien, nach denen die Entfaltung der Talente wollenswert wird. Den Menschen dürfen in
der Entfaltung ihrer Talente keine Hindernisse im Weg stehen. Unabhängig von ihrer sozialen
Klasse müssen alle mit ähnlich gut ausgeprägten Begabungen die gleiche Möglichkeit zu ihrer
Entfaltung haben. Vor allem fällt es Menschen umso leichter ihre Talente zu entwickeln, wenn
sie die Chance bekommen, sie zu entdecken und mit anderen Gütern abzuwägen (etwa
persönlicher Bequemlichkeit). Einmal entwickelt, übt ein Talent ungeheure Anziehungskraft
aus, weil es dem Inhaber ermöglicht, im Rahmen dieser Begabung außeralltägliche
Handlungen zu vollführen. Wie des Bauern nun fruchtbares Land erfüllt es seinen Zweck,
indem es dem Inhaber das Gefühl gibt, für seinen Einsatz belohnt worden zu sein.
Dieses Potential steckt in jedem Talent: Immer nützt es in erster Instanz dem Inhaber und
dann seinen Mitmenschen; wobei es in jeder Hinsicht eine natürliche Reaktion und
selbstbestimmte Handlung ist, angeborene wie erworbene Fähigkeiten allen zur Verfügung zu
stellen. Aus Dankbarkeit – weil ihre Entdeckung und Erschließung ohne eine solidarische
Gesellschaft im Hintergrund nie möglich gewesen wäre. Aus Eigennutz – weil das Teilen der
Talente Voraussetzung für eine lebendige, solidarische Gesellschaft ist. Damit haben wir den
guten Willen. Er offenbart sich als Ausdruck von Vernunft und Nutzen, die zwei Seiten einer
Medaille sind.
Wir haben gesehen, dass die Vergemeinschaftung der Talente durch die Vereinbarung
persönlichen und kollektiven Nutzens sowohl durch utilitaristische wie durch vernünftige
Überlegungen möglich ist. In Einheit müssen sich diese Begründungen auch ergänzen und
bestärken. Das meine ich mit Was du verlangst, das man dir tu‘, das gesteh‘ auch allen
And’ren zu. Ich habe diese höhere Ordnung dialektische Einheit von Vernunft und Nutzen und
ihr Ergebnis den guten Willen genannt. Wo der Wille gut ist, da ist auch ein Weg.
Ich versichere, dass ich die Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen
Quellen benutzt habe und alle Entlehnungen als solche gekennzeichnet habe.
Lovis Pape
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