e-Journal Charlotte Annerl: Buchempfehlung Philosophie der Dieter Thomä, Christoph Henning Olivia Mitscherlich- Psychologie Schönherr (Hg.): Glück: Ein interdisziplinäres Handbuch "Hartnäckig, geradezu unverwüstlich ist das Glück", stellen Dieter Thomä, Christoph Hennig und Olivia Mitscherlich-Schönherr in der Einleitung ihres interdisziplinären Handbuches zum Thema Glück fest. Für alle, die sich für dieses Thema interessieren, und dies sind ja, so ein verbreitetes philosophisches Dogma, tatsächlich alle Menschen, ist diese "Bestandsaufnahme der Philosophie des Glücks und der Glücksforschung", die 2011 im Verlag J.B. Metzler erschien, eine empfehlenswerte Anschaffung. Die Vorzüge des Buches fallen umso mehr ins Gewicht, als die Informationslage zu diesem Themenfeld alles andere als befriedigend ist. Drei Gruppen von Büchern tragen dafür die Hauptverantwortung: 1. Die zahlreichen kommerziell ausgerichteten Anthologien über Glück bieten in der Regel nur eine Auswahl an inzwischen bereits allzu gut bekannten Texten. Auch in den diesen populären Readern vorangestellten, mehr oder weniger ausführlichen Einleitungen findet sich zumeist Vertrautes: So etwa beginnt unfehlbar, wie einem geheimen Ritual folgend, der Reigen der Zitate mit Aristoteles Feststellung, dass "alle Menschen nach dem Glück streben". 2. Neuere philosophische Arbeiten über diesen Gegenstand weisen einen stark essayistischen Charakter auf, nicht selten bringt der Autor oder die Autorin auch mit kaum verhohlenem Stolz die eigene Person ins Spiel und beschreibt, ja empfiehlt Momente der selbst praktizierten Lebenskunst. 3. In den klassischen philosophischen Systementwürfen spielt die Kategorie Glück eine seltsam ambivalente Rolle: Sie nimmt einerseits einen auffallend breiten Raum ein, indem sie zumeist pauschal jene inhaltliche, gewissermaßen stoffliche Basis menschlicher Praxis bezeichnet, das spontan gewählte Ziel allen Tuns, die Recht und Moral als "höhere", übergeordnete Instanzen regulieren und einschränken sollen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wird dieser vorgeblichen Grundkategorie aller Handlungsbeschreibung jedoch wenig theoretische Sorgfalt zuteil, in der Regel firmiert ihre Erläuterung unter dem Stichwort Anthropologie. Diese theoretische Geringschätzung kommt verschärft auch in der Rezeption dieser Systeme zum Ausdruck. Die fachphilosophische Forschung widmet sich bevorzugt abstrakten politischen oder moralischen Modellen wie dem Gesellschaftsvertrag oder dem Kategorischen Imperativ oder prestigereichen Begriffen wie Vernunft, Gleichheit, Autonomie und Gerechtigkeit. Sie vernachlässigt hierbei aber stets, dass sie alle diese formalen Konzepte letzten Endes auf dem Glückbegriff aufruhen lässt. Dem Herausgeber-Team kommt nun das Verdienst zu, hier gegenzusteuern und dem Begriff Glück jene Aufmerksamkeit und philologische Sorgsamkeit angedeihen zu lassen, die sonst nur den Flaggschiff-Kategorien, den renommierten Segmenten und Kategorien der philosophischen Forschung zuteilwerden. Angesichts dieser ambitionierten und ernsthaften Aufgabenstellung erstaunt es nicht, dass das 466 Seiten umfassende Interdisziplinäre Handbuch Glück eine Vielzahl von Vorzügen aufweist: Hier sind an erster Stelle die Vielfalt und die Fülle an Aspekten und Materialien zu nennen, die bei der Lektüre des Bandes zum Vorschein kommen: Bereits die Themenauswahl signalisiert den Anspruch, über eine herkömmliche, chronologisch aufgebaute Begriffsgeschichte hinauszugehen. Vorausgeschickt wird zunächst ein Abschnitt über die Semantik des Glücks in verschiedenen Seite 1 Juni 2013 http://www.jp.philo.at/texte/AnnerlC7.pdf Buchempfehlung: Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch (Charlotte Annerl) Sprachen, dem sodann systematische Exkurse folgen, in denen Überlagerungen des Glücks mit anderen Themenfeldern nachgegangen wird: Glück in Arbeit und Muße, Glück und Schönheit, Glück und Sinn, Glück und Zeit, Glück in der Liebe, Glück in der Utopie stellen Beispiele solcher Vergleichspaare dar. Keine Berücksichtigung findet dabei allerdings die Kategorie Geschlecht. Dies erstaunt, da Glücksprobleme und Glückshoffnungen vor allem in den klassisch-bürgerlichen Konzeptionen von Männlichkeit und Weiblichkeit eine bedeutende Rolle spielen. Auch das Kapitel über Glück in der Liebe geht selbst in seinen historischen Bezugnahmen von vollständig symmetrischen Beziehungen und somit austauschbaren Rollen aus, im Gegensatz etwa zu Luhmanns Liebe als Passion. Wichtig ist den Herausgebern das Eingehen auf die Ergebnisse anderer Disziplinen, was in der Einleitung folgendermaßen begründet wird: "Die letzten Jahrzehnte haben nun so etwas wie eine Hochkonjunktur der Glücksforschung gebracht, die vor allem von Psychologie, Ökonomie, empirischer Sozialforschung, Neuro- und Biowissenschaften angetrieben worden ist." Dem tragen wiederum Abschnitte wie: Glück durch Biotechnik, Glück in den Neurowissenschaften, Glück und Wirtschaft, Glück in der Soziologie des Konsums oder Glück der Tiere Rechnung. Selbstverständlich erhält auch die Darstellung des Glücks in den Religionen sowie in der Theologie einen gewissen Raum. Die philosophiegeschichtlichen Beträge, die die Zeit von der Antike bis zur Gegenwart abdecken, erfüllen hohe Standards, unter anderem dadurch, dass sie übergreifende Charakteristika von Epochen, Schulen und Strömungen herausstreichen, anstatt nur einen Reigen großer Namen zu bieten. Zu guter Letzt finden sich auch Beiträge über Glück in Bereichen der Kunst, der Soziologie oder der Psychoanalyse, die freilich etwas summarisch ausfallen. Der Vertiefung der angesprochenen Phänomene und Probleme sowie der Anregung für eigene Forschungen dient eine umfangreiche Literatursammlung, sowohl am Ende jedes Beitrages als auch in einem Anhang am Schluss des Buches. Das interdisziplinäre Handbuch Glück kann daher neben der Qualität der einzelnen Kapiteln folgende Verdienste für sich geltend machen: Die Vielfalt der berücksichtigten Aspekte des Glücks, die Vielzahl der erörterten philosophischen Ansätze und Epochen, das breite Spektrums an zu Wort kommenden sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen sowie die Einbeziehung von Kunst, Religion und Alltagskultur einschließlich der Unterhaltungsindustrie. Dessen ungeachtet lassen sich jedoch auch Einwände gegen die Gesamtkonzeption des Bandes vorbringen, die zu gleicher Zeit auch Vorbehalte gegenüber der philosophischen Glücksforschung selbst darstellen. Mein Hauptkritikpunkt richtet sich auf die einseitige Blickrichtung bei der Darstellung vor allem der philosophischen Glückstheorien. Denn so viele Formen und Phänomene des Glücks auch beleuchtet werden, sie alle werden von einer einzigen Perspektive aus betrachtet: Im Lichte der Frage, was Glück eigentlich sei. Es wird also von der Prämisse ausgegangen, die Philosophie beschäftige sich mit dem Glück, weil es ihr darum gehe, dieses Gefühl näher zu beschreiben, seine versteckten Momente und Bedingungen ans Licht zu bringen. Um es in der Diktion Foucaults zu sagen, den Autoren geht es um die Frage, was Glück ist, aber nicht um die Untersuchung von Glücksdiskursen. Ist das Interesse aber auf die Beschreibung von Phänomenen verengt, scheint es keinen tieferen Grund dafür zu geben, dass sich die Philosophie so ausführlich mit dem Glück beschäftigt und nicht mit anderen Gefühlen wie etwa Neid oder Eifersucht. Die einzige angebotene Erklärung dafür lautet, dass das Thema Glück beliebt wäre, ein anziehender Gegenstand des Nachdenkens sei oder eben gerade Konjunktur habe. Schließlich: Wer wär nicht gerne glücklich? Seite 2 e-Journal Philosophie der Psychologie Buchempfehlung: Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch (Charlotte Annerl) Ich möchte hingegen die These vertreten, dass die Auseinandersetzung der Philosophie mit dem Glück nur dann verständlich gemacht werden kann, wenn zwischen einem Glück im engeren und einem Glück im weiteren Sinn unterschieden wird. Ein Vergleich mit dem Begriff der Kraft im Alltag und in der Physik soll diese Differenz näher erläutern. Wenn für die Physik der Begriff Kraft seit Newton eine entscheidende Rolle spielt, sie der Frage nachgeht, ob es mehrere oder nur eine Grundkraft gibt oder den Begriff der Kraftteilchen einführt, dann geht sie über den alltäglichen Gebrauch des Begriffs Kraft hinaus. Die Physik beansprucht also nicht, die feinen Unterschiede aufzufächern, die zwischen der Kraft eines Gesetzes, dem kräftigen Blau des Himmels oder der Kraft eines Arguments bestehen. Aus immanenten physikalischen Gründen gewann der Kraftbegriff das Interesse der Naturwissenschaft. Das bedeutet, dass die Kategorie der Kraft in der Physik eine ganz eigene Aufgabe hat, die ihn aus der Alltagssprache bzw. dem Universum alltäglicher Eigenschaften herauslöst: Der Begriff wurde zu einem prominenten physikalischen Begriff, um mit seiner Hilfe in einen Bereich vorzudringen, der, so David Hume, weder durch unsere Sinne noch durch unsere Vernunft entdeckt werden kann. Die Physik nähert sich diesem Bereich nun spekulativ mit Modellen, die alltägliche Begriffe metaphorisch verwenden und zu wissenschaftlichen Grundbegriffen umprägen. Ähnlich verhält es sich mit der Kategorie Glück. Die Philosophie sieht es einerseits als ihre Aufgabe an, Glück im engen Sinn, also die tatsächlichen Glücksgefühle, phänomenologisch zu erforschen oder die Tiefengrammatik des Begriffs in all ihren Facetten zu erkunden. Doch hauptsächlich verwendet die Philosophie den Begriff Glück in einem weiten Sinn, und zwar um mit seiner Hilfe eine allgemeine Theorie des Handelns zu entwickeln und einzelne konstruktive Elemente innerhalb dieses Handlungsmodells terminologisch zu fixieren. Dabei ist es nicht erforderlich, ja geradezu hinderlich, all die Unterschiede zu berücksichtigen, die zwischen Glück, Lust, Freude, Begierde oder dem Angenehmen im realen Alltagsleben oder im normalen Sprachgebrauch zum Ausdruck kommen. Für den abstrakten Funktionsbegriff 'Glück' ist es also unerheblich, ob man mit Jeremy Bentham meint, dass uns Leid und Freude in allem, was wir tun, beherrschen, oder mit Hobbes, dass der Genuss der Endzweck jeder Sache sei, die wir erstreben, oder mit Pascal, dass alle Handlungen auf Glück gerichtet sind: Alle diese Termini dienen gleichermaßen dazu, das Handlungselement 'Ziel' oder 'Zweck' (insofern es uns eben erstrebenswert erscheint) durch einen ent-kontextualisierten Alltagsbegriff, zumeist durch den des 'Glücks', zu bezeichnen. Die moderne Handlungstheorie setzt diesen Weg fort, sie stützt sich dabei auf andere, wenn auch verwandte Nachfolgekategorien, etwa auf den Begriff Wunsch im sogenannten Überzeugungs-Wunsch-Modell oder auf den von Donald Davidson geprägten Begriff der Pro-Einstellung. Diese theoretische Kontinuität zeigt auch der Begriff des "Hume'schen Modells" an, das die moderne Handlungstheorie als ihr Grundmodell auszeichnet. * Dieter Thomä/Christoph Henning/Olivia Mitscherlich-Schönherr (Hg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch. 466 S., Preis: EUR 49,95. Stuttgart: J.B. Metzler 2011. ISBN: 978-3-476-02285-1 * Seite 3 e-Journal Philosophie der Psychologie Buchempfehlung: Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch (Charlotte Annerl) Herausgeber: Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St.Gallen Christoph Henning, Dr. phil., Leiter eines Forschungsprojekts an der Universität St.Gallen Olivia Mitscherlich-Schönherr, Dr. phil., Koordinatorin des Graduiertenkollegs "Lebensformen und Lebenswissen" an der Universität Potsdam * Zu Inhaltsverzeichnis und Leseprobe auf der Verlagsseite * Seite 4 e-Journal Philosophie der Psychologie