55 6 Amenorrhö 6.1 Definitionen und Häufigkeiten Die wichtigsten Fachbegriffe werden wie folgt definiert: • Amenorrhö: Ausbleiben der Menstruationsblutung • Primäre Amenorrhö: – Keine Menarche bis 14 Jahre, fehlendes Längenwachstum und fehlende Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale – Keine Menarche bis 16 Jahre trotz regelrechtem Längenwachstum und Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale • Sekundäre Amenorrhö: ausbleibende Menstruationsblutung über mindestens 3 individuell typische Zyklen oder 6 Monate bei zuvor regelrechtem Zyklus Die Prävalenz (ausgenommen Schwangerschaft, Laktation und Menopause) liegt bei 3–4 % (Reindollar et al. 1981; Bachmann et al. 1982). 6.2 Einführung Die Zahl der Differenzialdiagnosen der Amenorrhö ist groß (Kap. 6.3). Während der reproduktiven Lebensphase ist die Schwangerschaft die einzige physiologische Ursache. Das diagnostische Vorgehen bei primärer und sekundärer Amenorrhö ist in Abbildung 6-1 dargestellt. Hierbei stehen die Anamnese (Kap. 6.5.1) und die körperliche Untersuchung (Kap. 6.5.2) im Vordergrund. Bei vorhandenem Uterus liegt der Fokus der weiteren Diagnostik auf der Hormonanalyse (Kap. 6.5.3), wobei nach Ausschluss von Störungen anderer hormoneller Regelkreise die Hypothalamus-HypophyseOvar-Achse untersucht wird. Vereinfachend wird der Begriff der »Östrogenität« (Kap. 6.5.5) eingeführt, welcher wegweisend für die weiterführende Diagnostik ist. Die exakte Diagnose kann dann entsprechend der WHO-Klassifikation angegeben werden (Tab. 6-2). Die Therapie richtet sich nach der Ursache (Kap. 6.6). 6.3 Ätiologie Die Ursachen der primären und sekundären Amenorrhö sind in Tabelle 6-1 dargestellt. Die Häufigkeitsverteilung der verschiedenen Ätiologien ist bei primärer und sekundärer Amenorrhö sehr verschieden: • Primäre Amenorrhö: Chromosomenaberration mit prämaturer Ovarialinsuffizienz (50 %), Hypothalamus (20 %), Vaginalagenesie (15 %), transverses Vaginalseptum oder Hymenalatresie (5 %), Hypophyse (5 %), Kombinationen (5 %) • Sekundäre Amenorrhö: Schwangerschaft, Ovar (40 %), Hypothalamus (35 %), Hypophyse (20 %), Uterus (5 %), Sonstiges (1 %) Schattauer – Wolff, Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin – Herstellung: Frau Gnädig – 7. Juni 2013 – Druckdaten – Seite 55 Falls nicht zutreffend 46,XX Vaginalagenesie: MRKH-Syndrom (Tab. 4-1) Testosteron normal-niedrig V.a. Reduzierung der Androgensynthese (Tab. 4-1) 46,XY Gesamttestosteron Testosteron erhöht V.a. Androgenresistenz (Tab. 4-1) Schwangerschaft? Hymenalatresie? Pubertas tarda? (Kap. 5.5) Uterus ja Karyotypisierung Uterus nein (Kap. 6.5.2) Primäre Amenorrhö (Kap. 6.3) »Östrogenität« normal (E2 normal, Endometrium ≥ 6 mm, Gestagentest pos.) (Kap. 6.5.5) V.a. hypothalamischhypophysäre Taktstörung, falls Kinderwunsch: Kap. 24 MRT Schädel o.B. BE Kortisol, IGF1, fT4 und Überweisung an Endokrinologie, Innere Medizin MRT Schädel nicht o.B. Diagnostik Diagnose Falls negativ: V.a. Endometriumdefekt Falls positiv: Anovulation E2/Gestagentest Sondersituation: E2 normal, aber Gestagentest neg. Hyperprolaktinämie (Kap. 12) Prolaktin K Entscheidungskriterium SDFunktionsstörung (Kap. 15) TSH KL V.a. Anovulation, falls Androgenisierung u./o. Androgene K: (Kap. 11) POI (Kap. 17) FSH K Labor: FSH, LH, Prolaktin, TSH, Gesamttestosteron, DHEAS, E2 Endometriumsonographie (Kap. 6.5) Gestagentest Sekundäre Amenorrhö (Kap. 6.3) Meist MRT Schädel »Östrogenität« L (E2 L, Endometrium < 6 mm, Gestagentest neg.) (Kap. 6.5.5) Amenorrhö 56 6 Amenorrhö Abb. 6-1 Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen bei Amenorrhö. IGF1 = »insulin-like growth factor«, POI = »prämature Ovarialinsuffizienz«, SD = Schilddrüse Schattauer – Wolff, Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin – Herstellung: Frau Gnädig – 7. Juni 2013 – Druckdaten – Seite 56 6.3 Ätiologie 57 Tab. 6-1 Ätiologie der primären und sekundären Amenorrhö (nach Fritz u. Speroff 2011) Pathologie Ursache Anatomie zzKongenitale Fehlbildung der Müller-Gänge (primäre Amenorrhö) zzKongenitale Fehlbildung des Sinus urogenitalis (primäre Amenorrhö) zzErworbene Endometrium ablation oder Narbenbildung zzIsolierter Defekt, sexuelle Differenzierungsstörung (Kap. 4) zzAgenesie des unteren Scheidendrittels, Hymenalatresie zzAsherman-Syndrom, Tuberkulose Hypothalamus zzKongenitaler GnRH-Mangel hypothalamische Amenorrhö (Gewichtsverlust, Essstörung, Sport, Stress, schwere oder chronische Erkrankung, heterozygote Mutationen [FGFR1, PROKR2, KAL1]) zzEntzündliche oder infiltrative Erkrankungen zzTumor zzBestrahlung zzSchädel-Hirn-Trauma zzSonstige Syndrome: Prader-Willi, Laurence-Moon-Biedl zzFunktionelle Hypophyse zzHyperprolaktinämie Ovar zzPolyzystisches (inkl. laktotrope Adenome) (Kap. 12) zzAndere Tumoren zzEmpty-Sella(-Syndrom) zzHypophyseninfarkt (Sheehan-Syndrom) oder Apoplex zzPrämature Sonstiges Ovarialsyndrom (Kap. 11.3.1) Ovarialinsuffizienz (Kap. 17) zzSchilddrüsenfunktionsstörung (Kap. 15) zzDiabetes mellitus, Adipositas zzExogene Androgene Physiologisch: Schwangerschaft Traditionell erfolgt die Einteilung der Amenorrhö gemäß der WHO-Klassifikation für Ovarialinsuffizienz (Tab. 6-2). Im Folgenden wird auf die Inhalte der WHO-Stufen näher eingegangen. Die Darstellung der Funktionsstörung erfolgt in der Reihengfolge Genitale, Hypophyse, Hypothalamus und Sonstiges. Schattauer – Wolff, Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin – Herstellung: Frau Gnädig – 7. Juni 2013 – Druckdaten – Seite 57 6 Amenorrhö 58 Tab. 6-2 WHO-Klassifikation der Amenorrhö (nach Fritz u. Speroff 2011) WHO-Stufe Definition I Hypogonadotrope normoprolaktinämische Ovarialinsuffizienz = hypothalamisch-hypophysäre Unterfunktion, z. B. Leistungssport, Anorexie II Normogonadotrope normoprolaktinämische Ovarialinsuffizienz = hypothalamisch-hypophysäre Dysfunktion, z. B. polyzystisches Ovarialsyndrom III Hypergonadotrope Ovarialinsuffizienz , z. B. Ovarialinsuffizienz nach Chemotherapie, Menopause IV Anatomisch bedingte Amenorrhö = kongenitale oder erworbene Anomalie im Genitaltrakt, des Endometriums, des Uterus oder der Vagina, z. B. AshermanSyndrom V Hyperprolaktinämische Ovarialinsuffizienz mit Tumor, z. B. Prolaktinom VI Hyperprolaktinämische Ovarialinsuffizienz ohne Tumor, z. B. medikamenteninduzierte Hyperprolaktinämie VII Normoprolaktinämische hypothalamisch-hypophysäre Dysfunktion, Hypophysentumor 6.3.1 Kongenitale Fehlbildungen des genitalen Ausflusstraktes (WHO-Stufe IV) Die Eileiter, der Uterus und der kraniale Scheidenanteil entstehen aus der Fusionierung der paarig angelegten Müller-Gänge, der kaudale Scheidenanteil und das Hymen dagegen aus dem Sinus urogenitalis. Eine Agenesie, eine komplette oder inkomplette Störung der Fusionierung bzw. der Kanalisierung führen zu kongenitalen Fehlbildungen des genitalen Ausflusstraktes. Diese können Teil einer sexuellen Differenzierungsstörung sein (Kap. 4). Zu den mit Amenorrhö assoziierten Fehlbildungen zählen – von kaudal nach kranial: • Hymenalatresie: Verschluss der Vagina nach kaudal bei fehlender physiologischer, präpartaler Spontanruptur • Agenesie des kaudalen Scheidenanteils bei Fehlentwicklung des Sinus urogenitalis • Transverses Vaginalseptum durch fehlende Kanalisierung und/oder Fusionierung des Sinus urogenitalis und der Müller-Gänge • Vaginalagenesie (Syn. Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser Syndrom [MRKH], Müller-Aplasie) bei Agenesie oder Hypoplasie der Müller-Gänge mit konsekutivem Fehlen des kranialen Scheidenanteils mit variabler Uterusentwicklung (meist komplettes Fehlen des Uterus bis selten rudimentäre Uterusanteile mit funktionalem Endometrium); urologische Fehlbildung (25–50 %), Skelettanomalie (10–15 %, 1:5 000 weibliche Neugeborene) Schattauer – Wolff, Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin – Herstellung: Frau Gnädig – 7. Juni 2013 – Druckdaten – Seite 58