Philosophie in Japan mit besonderer Berücksichtigung der Kyoto-Schule Prof. Dr. Johannes Laube Universität München 149 J. L a u b e Überblick Teil 1: Z u m Begriff v o n Philosophie in J a p a n Philosophie vereint mit Religion bzw. religiöser Philosophie und b e s t i m m t e r Theologie Philosophie getrennt v o n Religion bzw. religiöser Philosophie und b e s t i m m t e r Theologie Teil 2: T e n d e n z e n der gegenwärtigen Philosophie in J a p a n Thematische T e n d e n z e n Methodische T e n d e n z e n Teil 3: D i e Philosophie der Kyoto-Schule — zwei Ansätze der Philosophie des absoluten N i c h t s (zettai m u ) in der KyötoSchule Kitarö Nishida (1870-1945) — das Absolute als absolutes Nichts u n d dieses als geschichtliche Welt der U m k e h r Entsprechung (gyaku-taiö no rekishiteki sekai) T e x t l : Y a g i - L u z S . 97f Text 2: Yagi-Luz, S. 107 H a i i m e T a n a b e (1885-1962) — das Absolute als absolutes Nichts und dieses als Existenzgemeinschaft wechselseitigen Vermittlung (kögö-baikai n o jitsuzon-kyödö) T e x t l : Yagi-Luz, S. 119 Text 2: Yagi-Luz, S. 122 Teil 4: Philosophie des „ N i c h t s " im europäischen Westen Teil 5: Schlussbemerkungen Teil 6: Liste der Termini 150 der Philosophie in Japan Teil 1: Zum Begriff von Philosophie in Japan E s gibt s o viele Begriffe von Philosophie, wie es Philosophen gibt. Nach Karl Jaspers hat j e d e Philosophie das Recht und die Pflicht, sich selbst zu definieren. Obgleich es also grundsätzlich offen-unendlich viele Begriffe von Philosophie geben könnte, haben im Laufe der Geschichte bestimmte Selbstbestimmungen von bestimmten Philosophien Schule gemacht. Z u diesen schulbildenden Definitionen von Philosophie gehört - inhaltlich gesehen - auch folgende Definition, die uns hier als g e m e i n s a m e Grundlage des Denkens und Redens und als Arbeitshypothese dienen soll: Philosophie ist die methodische und systematische Suche nach der Erkenntnis der letzten Gründe des Seins und Sollens, die der Denkende im Denken selber finden kann (zur Variationsbreite des Selbstverständnisses der Philosophen: abgesehen vom Artikel „Philosophie" im Historischen Wörterbuch der Philosophie, herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Schwabe Verlag, Basel, bisher Band 110, 1971-1998 vgl. auch z.B. den Artikel „Philosophie" im Fischer Lexikon Philosophie, hrg. v. Alwin Diemer und Ivo Frenzel, Frankfurt 1968, S. 251-262). A u s dieser Definition von Philosophie ergibt sich mindestens eine gedankliche Unterschiedenheit, wenn nicht sogar eine reale Getrenntheit der Philosophie von j e d e r Form von Begründung durch Hörensagen, wie es in den Religionen mit Einschluß ihrer Mythologien und Theologien üblich und aus deren Sicht notwendig ist. Mit anderen Worten: Die Aufgabe von Philosophie darf nicht mit den Aufgaben von Religion, Mythologie und Theologie verwechselt werden. Sie m u ß mindestens unterschiedlich, w e n n nicht sogar getrennt gelöst werden. Dieses Unterscheidungs- und Trennungsdenken im Bezug auf die Philosophie gehört in E u r o p a z u m Selbstverständnis der Philosophen seit den Pionieren der Philosophie in Griechenland, zumindest aber seit Immanuel Kant (1724-1804). In Europa gibt es einflussreiche Philosophen, die behaupten, die Philosophie sei überhaupt erst im antiken Griechenland geboren worden, ihre Heimat werde immer Griechenland, d.h. Europa bleiben. Außerhalb Europas hätte es vor der Begegnung mit E u r o p a und Beeinflussung durch Europa keine Philosophie gegeben. Diese Behauptung stimmt nur, w e n n m a n den obigen engen Philosophiebegriff anwendet. W e n n m a n aber die Aufgaben der Philosophie und der Religion als Einheit sieht, haben auch Indien und China Philosophien hervorgebracht. In Asien sagt m a n gewöhnlich: D i e Philosophie hat drei Ursprungskulturen: China, Indien, Europa. Die Japaner benutzen den Terminus Philosophie kitetsugaku oder tetsugaku zwar erst nach der Rezeption der europäischen Form von Philosophie am E n d e des 19. Jahrhunderts und dann im engen Sinn, der Philosophie von Religion trennt. Aber eine Philosophie im weiten Sinn, der Philosophie, Religion (mit Moral und eventuell auch Mystik) als Einheit sieht, kennen sie schon in ihrer eigenen Tradition, insbesondere in ihrer mahäyäna-buddhistischen Überlieferung. 151 J. L a u b e Teil 2: Tendenzen in der gegenwärtigen Philosophie in Japan Entsprechend d e m o b e n vorgestellten G e d a n k e n , d a ß j e d e Philosophie m i t R e c h t sich selber definiert, müsste m a n eigentlich einen Überblick über die Philosophie in Japan als einen Blick a u f die wichtigsten Philosophen-Persönlichkeiten durchfuhren. Aber das brächte die Schwierigkeit, uns eine lange Liste v o n fremden N a m e n m e r k e n z u müssen. A u f dieser Liste, j e vollständiger sie w ä r e , könnte m a n aber auf keinen Philosophen länger eingehen. M a n könnte keines Philosophen D e n k e n so darstellen, wie es sich gehört: n ä m l i c h einerseits historisch-evolutiv und anderseits systematisch-logisch. A u ß e r d e m bieten die einführenden B ü c h e r (z.B. von Gino Piovesana, R e c e n t J a p a n e s e Philosophical Thought 1868-1962, T o k y o 1963 und J u n k o H a m a d a , Philosophie in Japan, Brill, Leiden 1980) über die Philosophie in Japan solche Personen-Überblicke an. D a r u m konzentriere ich m i c h hier auf zwei Perspektiven der Philosophie in Japan, die m e h r Z u s a m m e n f a s s u n g und Zuspitzung zulassen: die Perspektive der M e t h o d e n und die Perspektive der T h e m e n . Übrigens lasse ich hier die philosophischen T e x t e v o n Journalisten, Literaten und Politikern außer Acht - obgleich sie als shisö ( „ D e n k e n , G e d a n k e " ) in J a p a n relativ großen Einfluß ausüben können - und berücksichtige nur die philosophischen Texte der sogenannten „ a k a d e m i s c h e n P h i l o s o p h i e " o d e r „Universitätsphilosophie" (bundan tetsugaku). A. M e t h o d i s c h e T e n d e n z e n der Philosophie im Japan der G e g e n w a r t (nach 1945) W e n n ich hier v o n der Perspektive der „ M e t h o d e n " der Philosophie rede, m e i n e ich nicht die M e t h o d e n der Darstellung der j e w e i l i g e n Philosophie, sondern die M e t h o d e n des D e n k e n s , noch genauer die M e t h o d e n des Begründens, die ein Philosoph gebraucht, u m zu Erkenntnisergebnissen zu k o m m e n . M a n merkt sofort, d a ß sich die methodischen T e n d e n z e n der Berufsphilosophen in J a p a n von d e n e n in E u r o p a nicht unterscheiden: Geistes- bzw. Ideengeschichtliche M e t h o d e Existentiale M e t h o d e Hermeneutische Methodische Dialektische M e t h o d e Positiv(istisch)e M e t h o d e Pragmat(istisch)e M e t h o d e Sprachanalytische M e t h o d e Komparativ(istisch)e M e t h o d e Phänomenologische Methode Systemtheoretische M e t h o d e 152 Philosophie in Japan Exkurs T a n a b e Haiime. von d e m unten noch ausfuhrlich die Rede sein wird, ordnet die philosophischen Methoden so: Philosophische Methoden 1. mystische Methode, 2. reflexive Methode, 3. dialektische Methode zu den reflexiven Methoden fNr. 2) gehören: 1. die ontologische Methode, 2. die erkenntniskritische Methode, 3. die hermeneutische Methode zu den erkenntniskritischen Methoden gehören: die transzendentale Methode Kants die phänomenologische Methode Husserls zu den hermeneutischen Methoden gehören: die lebensphilosophische Methode Diltheys die fundamental-ontologische bzw. daseins-analytische Methode Heideggers zu den dialektischen MethodenfNr. 3) gehören: die Dialektik der Idee (von Hegel) die Dialektik der Materie (von M a r x und Engels) die absolute Dialektik von Nishida und Tanabe (Dialektik der Tat) B. Thematische Tendenzen der Philosophie im Japan der Gegenwart (nach 1945) Die Perspektive der „ T h e m e n " könnte auch Perspektive der „inhaltlichen Fragen" genannt werden, die a m meisten diskutiert wurden bzw. werden. Dabei kommt es nicht nur auf die sogenannten Materialobjekte an (also die Inhaltsbereiche als solche), sondern auch auf die Formalobjekte (d.h. auf die besondere Rücksicht unter der ein Inhalt j e w e i l s betrachtet wird). Am meisten wurden folgende Fragestellungen behandelt: Inhaltsbereich politische Philosophie: Die Kriegsideologie (Propaganda der Großostasiatischen Wohlstandssphäre) als japanischer Nationalismus bzw. Faschismus 153 J. L a u b e D e r Dualismus U S A und U D S S R bzw. U S A und R o t c h i n a als Krisis der J a p a n e r sich zu entscheiden D i e Atombomben-Gefahr Menschheit als endzeitliche Gefahr der Selbstzerstörung der D e r Wiederaufbau v o n Gesellschaft und Staat als D e m o k r a t i e : nach w e l c h e m Muster? ( U S A , England, Frankreich?) Die Vorteile u n d Nachteile v o n Individualismus-Liberalismus-Kapitalismus einerseits und Kollektivismus-Sozialismus-Staatskapitalismus (nach Stalin oder nach M a o ? ) anderseits D a s Tenno-System: Abschaffung oder Beibehaltung? Inhaltsbereich Kulturphilosophie: Nihonjinron: W a s ist d a s unterscheidende, besondere W e s e n der Japaner? W e l c h e sind die zu b e w a h r e n d e n traditionellen E i g e n w e r t e der j a p a n i s c h e n Kultur? Worin bestehen die Wertideale der n e u e n j a p a n i s c h e n demokratischen Ethik, der neuen j a p a n i s c h e n Erziehung zu demokratischen W e r t e n ? W a s ist das ideale „ M e n s c h e n b i l d " (ningenzö), auf das hin die J u g e n d erzogen w e r d e n soll? D e r dritte H u m a n i s m u s (Mutai Risaku) W a c h s e n d e Kritik an der Vernunft, a n der spekulativ-systematischen Vernunft, an der positiv-wissenschaftlichen Vernunft von der Seite der Sinne, des Leibes und der Spontaneität des Lebens her Phänomenologie der Sinne, des Leibes, der virtuellen Welt der M e d i e n P h ä n o m e n o l o g i e des (ursprünglich taoistischen) Ki, m a n c h m a l verstanden intersubjektives kosmisches M e d i u m „ Ä t h e r " o d e r „ E n e r g i e " , m a n c h m a l intersubjektive emotionale „ A t m o s p h ä r e " ) als als Ästhetischer, ethischer, religiöser Pluralismus Internationalismus - Interkulturalismus - Globalismus Hat J a p a n als Kulturnation eine Aufgabe für die gobale M e n s c h h e i t s e n t w i c k l u n g und welche ist das? A u f wessen Seite steht Japan als kulturelle, politische u n d wirtschaftliche M a c h t im k o m m e n d e n K a m p f u m die globale H e g e m o n i e - a u f der Seite der U S A oder Chinas? (vgl. die T h e s e n von Samuel P. Huntington über d e n k o m m e n d e n „Clash of Civilizations") 154 Philosophie in Japan Teil 3: Die Philosophie der Kyoto-Schule Die Philosophie der Kyoto-Schule behandelt die Frage nach dem Verhältnis des Absoluten u n d des Relativen als legitime und zentrale Frage der Philosophie. Sie verschiebt sie nicht auf die Theologie. Sie bestimmt das Absolute aber nicht wie die scholastische Philosophie als „absolutes Seiendes" oder „absolutes Sein", sondern als „absolutes Nichts". Was heißt aber nun „absolutes N i c h t s " angewandt auf das Absolute? U m das zu erklären, gehe ich von Texten der beiden Gründerväter der Kyöto-Schule aus, nämlich von Nishida und Tanabe. Kitard Nishida (1870-1945) bestimmt — das Absolute als absolutes Nichts und dieses als geschichtliche Welt der UmkehrEntsprechung (gyaku-taiö no rekishiteki sekai) „Unser Selbst berührt Gott nur durch den Tod, d.h. in widersprechender Entsprechung. Nur durch den T o d kann unser Selbst mit Gott verbunden werden. D a s objektivierende Denken m a g sagen: ,Wenn der Relative stürbe und zu nichts würde, so gäbe es nichts mehr, was Gott gegenüberstehen könnte.' Aber der Tod meint nicht ein bloßes Nichts. D a s Absolute ist freilich das, was j e d e s Gegenüber transzendiert. Aber was j e d e s Gegenüber bloß transzendiert, ist einfach nichts, das bloße Nichts. Der Gott der nichts schüfe, wäre ein ohnmächtiger Gott, also kein Gott. W e n n etwas in irgendeinem Sinne d e m gegenübersteht, was objektiv da ist, ist es freilich ein Relatives, kein Absolutes. Aber andrerseits ist das, was jedes Gegenüber bloß transzendiert, wie oben gesagt, kein Absolutes. Hier liegt der Selbstwiderspruch des Absoluten selbst. In welchem Sinne denn ist das Absolute das echt Absolute? D a s Absolute ist wirklich absolut, w e n n es dem Nichts [d.h. der Negation des Absoluten] gegenübersteht. Es ist das absolute Sein, wenn es dem absoluten Nichts gegenübersteht. D a ß es dem absoluten Nichts derart gegenübersteht, d a ß es außerhalb seiner selbst überhaupt nichts gibt, was ihm objektiv gegenüberstünde, das bedeutet, daß das Selbst fGottesl im Selbst­ widerspruch sich selbst gegenübersteht. D a n n m u ß das Selbst [Gottes] mit sich selbst im Widerspruch identisch sein. [Das heißt aber, daß Gott mit dem Nichts, dem Relativen, im Widerspruch identisch ist.]" (Seiichi Yagi und Ulrich Luz, Gott in Japan, Chr. Kaiser Verlag, München 1973, Text Nishida von Yagi übersetzt: Was liegt d e m Selbstsein zugrunde?, S. 97f). „...durch solche Selbstnegation des Absoluten entsteht die Welt unseres Selbst, die Welt der Menschen. Diese absolute Selbstposition durch Selbstnegation heißt die Schöpfung Gottes. Deshalb gilt, buddhistisch gesagt, daß es (unerleuchtete) Lebewesen gibt, weil es Buddha gibt, aber auch umgekehrt, daß Buddha ist, weil es 155 J. Laube (unerleuchtete) Lebewesen gibt. D a ß das Relative d e m Absoluten gegenübersteht, m u ß nicht nur seine Unvollkommenheit, sondern a u c h seine N e g a t i o n bedeuten. D a s Verhältnis zwischen Gott und M e n s c h ist das der p a r a d o x e n Selbstidentität v o n Gott und Mensch... D i e Welt als Selbstidentität der sich absolut Widersprechenden, in der die Negation mit der Position paradox identisch i s t m u ß wirklich die Welt der paradoxen Selbstbestimmung, n ä m l i c h der widersprechenden Entsprechung sein. D e r Gegensatz von Gott und M e n s c h bedeutet wirklich die »widersprechende E n t s p r e c h u n g ' " (ebenda, S. 107). (Übrigens geht die Übersetzung zu frei mit Nishidas Originaltext u m . ) Kommentar zu zettai-mujunteki jiko-döitsu („absolut-widersprüchliche Selbstidentität") u n d gyaku-taiö („Umkehrentsprechung"): Dieser Text von Nishida w u r d e ausgewählt, weil Nishida in ihm sich deutlich b e m ü h t , einerseits das Absolute (also das, w a s die Theologie „Gott" nennt) von allem „ G e g e n ü b e r " freizudenken, auch frei v o m G e g e n ü b e r eines N i c h t s , und alles Nichtabsolute als Selbstdifferenzierungen des Absoluten innerhalb seiner selbst zu verstehen. S o steht das Absolute nicht d e m N i c h t s gegenüber, sondern umschließt in sich selbst den Gegensatz von Sein u n d Nichts. D a s Absolute ist sowohl d e m Sein als d e m Nichts gegenüber noch einmal „transzendent" („übersteigend"). Weil das Absolute deshalb w e d e r mit d e m (einem Partner gegenüberstehenden, also) relativen Sein noch mit d e m relativen Nichts identisch ist, heißt es ..absolutes N i c h t s " , könnte aber auch ..absolutes S e i n " heißen. Ä h n l i c h verhält es sich mit allen anderen Gegensätzen, sie w e r d e n alle v o m Absoluten als Perspektiven seiner selbst in sich selbst umschlossen, z. B . die Gegensätze d e s Subjekt-Aspekts und des ObjektAspekts, des Erkenntnis-Aspekts und des Willens-Aspekts usw. W e n n im Text häufig von „ W i d e r s p r u c h " geredet wird, s o sind solche „ G e g e n s ä t z e " gemeint. D a s j a p a n i s c h e Wort mujun, das hier im Originaltext wiederholt v o r k o m m t , wird zwar gewöhnlich mit „ W i d e r s p r u c h " übersetzt und klingt nach „logischem Widerspruch", aber bei Nishida sind hier wie meistens nicht logische W i d e r s p r ü c h e (also Selbstwidersprüche des philosophischen D e n k e n s o d e r Sprechens), sondern reale Gegensatzpartner gemeint. N u n k o m m t d a s anderseits: D a s Absolute („Gott") steht also stets allein sich selbst gegenüber. Alle Differenzierung findet innerhalb seiner selbst statt. So gesehen, erscheint das N i s h i d a ' s e h e Absolute wie die eine monistische, autarke Selbstursache=Substanz des Spinoza ( D e u s sive natura) und alle relativen Seienden erscheinen innerhalb dieser Substanz w i e deren eigene pantheistisch gedachte Seinsweisen (modi). A b e r N i s h i d a so zu verstehen, w ä r e ein Missverständnis. E r denkt nicht monistisch, sondern pluralistisch. D a s A b s o l u t e kann nach Nishida nicht als Substanz verstanden werden. E s stellt nicht d e n einen substantiellen Träger der vielen Relativen dar. E s bildet vielmehr d a s nicht substantiell gedachte M e d i u m der Einheit der Vielheit der Relativen. G e g e g e b e n ist nur die Pluralität der Relativen. O h n e die realen Relativen hätte das Absolute selber keine Realität. D a s Gleiche gilt a u c h umgekehrt: o h n e d a s kreative Absolute hätten die Relativen keine R e a l i t ä t . D a r u m kann Nishida behaupten: Diese absolute Selbstposition d u r c h Selbstnegation heißt Schöpfung. I n d e m N i s h i d a d e n christlich­ theologischen Begriff d e r „Schöpfung" benutzt, bejaht er selbverständlich nicht die 156 Philosophie in Japan christliche Theologie eines einmaligen transeunten „Weltschöpfungsaktes" Gottes, sondern Nishida denkt an eine j e neue autopoietische Selbstschöpfung von Augenblick zu Augenblick. Aus der Perspektive der Selbstschöpfung als Selbstformung kann das Absolute nach Nishida auch als „formlose Form" (katachi naki katachi) bezeichnet werden, während die Relativen gerade durch „Form" definiert sind. - Einige christliche Theologen vertreten die Konzeption der creatio continua(ta) der Welt durch Gott (also keinen einmaligen, sondern einen j e neuen Wehschöpfungsakt von Augenblick zu Augenblick). Diese Konzeption lässt die N i s h i d a ' s e h e Konzeption besser verstehen, weil sie auch den Gedanken der diskontinuierlichen Kontinuität hat. Wenn Nishida gleichzeitig erklärt: „Daß das Relative d e m Absoluten ((innerhalb des Absoluten!)) gegenübersteht, muß nicht bloß seine Unvollkommenheit, sondern seine Negation bedeuten. Das Verhältnis von Gott und M e n s c h ist das der paradoxen Selbstidentität von Gott und Mensch...", drückt er den Gedanken aus, daß die Selbstverneinung des Absoluten als überseiender, übermächtiger, absoluter Substanz die Bejahung der relativen Seienden in ihrer relativen Selbständigkeit bedeutet. Umgekehrt bedeutet die Selbstverneinung der Relativen als Möchte-gern-Absolute (z.B. im religiösen Akt) die Bejahung des Absoluten. Dieses Verhältnis der „Umkehrentsprechung" könnte m a n mit einer Sanduhr vergleichen, die sich ständig umkehrt: j e mehr der obere Teil sich entleert, desto voller wird der untere Teil -und wieder umgekehrt. W e n n Nishida das gleiche Verhältnis wie zwischen dem Absoluten und den Relativen auch zwischen Buddha und den unerleuchteten Lebewesen sieht (vgl. den Nishida-Text gegen Schluß!), so hat er einerseits recht. Denn Buddha, der Erleuchtete, und die Unerleuchteten sind stets aufeinander bezogen, nur und gerade für die Unerleuchteten ist der Erleuchtete ein Erleuchteter usw. Anderseits zeigt sich, daß Nishida die freien Beziehungen der Erleuchtungs-bzw. Erlösungsdimension wie notwendige Seinsbeziehungen behandelt. Dies entspricht erstens allgemein dem Beziehungs-Denken im Mahayäna-Buddhismus, zweitens speziell aber d e m mahäyänistischen Hongaku-Denken (Urerleuchtungsdenken: jeder ist schon vor seiner eigenen B e m ü h u n g u m eine hic-et-nunc-Erleuchtungserfahrung mit d e m gemeinsamen erfahrungsvorgängigen Apriori der Urerleuchtung begabt). Von diesem D e n k r a h m e n her, ist verständlich, daß Nishida das eine Absolute und die vielen Relativen als die zwei Perspektiven (Perspektiven für uns!) ein und derselben vollkommenen und in diesem Sinn göttlichen Wirklichkeit denkt. Anderseits also hat Nishida unrecht. D e n n die Behandlung der sowohl vom Absoluten wie a u c h von den Relativen her gesehen freien Erleuchtungs- bzw. Erlösungsbeziehung als notwendige Seinsbeziehung k o m m t von der Nicht-Trennung des die Gesetzmäßigkeiten liebenden philosophischen Denkens vom theologischen D e n k e n , das die Beziehnung des Absoluten z u m Relativen gern als freie Sebstmitteilung, als Gnadengeschenk sieht. Nishidas Nichttrennung von philosophischem und theologischem Denken geschieht bewußt, um die widersprüchliche Selbstidentität von Gesetzmäßigkeit und Freiheit auszudrücken. Sie irritiert aber nicht nur die christlichen Theologen (die von der gnadenhaften Selbstmitteilung Gottes her denken), sondern auch die zen-buddhistischen Meister 157 J. Laube (die von der unableitbaren, unberechenbaren, j a undenkbaren Selbsterfahrung der Relativen als Erfahrung des „ v o n selbst" d e s absoluten D h a r m a her denken). Haiime T a n a b e (1885-1962) bestimmt — das Absolute als absolutes N i c h t s und dieses als Existenzgemeinschaft wechselseitigen Vermittlung (kögö-baikai n o jitsuzon-kyödö) der „ N u n ist es aber so, d a ß durch die V e r w a n d l u n g des T o d e s in die Auferstehung, die durch die ,Liebe des Absoluten N i c h t s ' bewirkt wird, lediglich eine Erleuchtung des jeweiligen Augenblicks, das sogenannte ,ewige H e u t e ' zustande k o m m t - das Auferstehungsleben b e k o m m t dadurch n o c h keinen konkreten Inhalt, keine Kontinuität, keine Erfüllung. A u c h w e n n die B e d r o h u n g des Lebens durch d e n T o d beseitigt ist, so ist d a m i t noch nicht das W e s e n des Lebens positiv wieder hergestellt oder die Freude an e i n e m L e b e n inmitten von T o d e s s c h m e r z e n wiedergewonnen. Mit anderen Worten: Allein dadurch, d a ß m a n mitten im Leben stirbt, ist kein ausreichender G r u n d vorhanden, zu sagen, d a ß m a n mitten im Sterben L e b e n verwirklicht. W i e kann diese Schwierigkeit ü b e r w u n d e n w e r d e n ? D a s Absolute, auch w e n n es die .Liebe des Absoluten N i c h t s ' genannt wird, kann nicht a u f der gleichen E b e n e wirken u n d unmittelbar Liebe verschenken wie die relativen D i n g e , d a das Absolute wesentlich das relative Sein transzendiert. Dafür ist unbedingt ein Relatives als Vermittler erforderlich, das bei aller eigenen Aktivität zugleich völlig passiv ist" (Seiichi Yagi und Ulrich Luz, Gott in J a p a n , Chr. Kaiser Verlag, M ü n c h e n 1973, Text Tanabe: M e m e n t o M o r i , S. 119, Übersetzer: G. Dressler). (Das Absolut bleibt das absolut Andere, d a r u m braucht es absolut-relative Mittler.) , J ) e r Gott der christlichen Religion ist nach d e n B e s t i m m u n g e n d e s Alten Testaments in seinem W e s e n absolutes Sein (der sogenannte ,Ich bin, der ich b i n ' ) und nicht das »Absolute N i c h t s ' . Z w a r kann nicht bestritten werden, d a ß die christliche Theologie, in d e m M a ß w i e sie z u m philosophischen System w u r d e und philosophische Dialektik anstelle von M y t h e n und Legenden zu ihrem Inhalt w u r d e , die T e n d e n z zeigte, Gott von e i n e m absoluten Sein in ein absolutes N i c h t s z u verwandeln. Aber die Fälle, in denen Gott ganz k o n s e q u e n t als absolutes Nichts verstanden w u r d e , sind außerordentlich selten, und selbst d a n n g a b es so gut wie keine schriftliche Formulierung dieser Vorstellung. D e r B u d d h i s m u s , und vor allem Zen, die die absolute Leere verkündigen und sich z u m Nichts b e k e n n e n , stellen das genaue Gegenteil dar"(ebenda. S. 122). K o m m e n t a r zu kögö-baikai („wechselseitige Vermittlung") und („absolute Vermittlung"), jitsuzon-kyödö („Existenzgemeinschaft"): zettai-baikai T a n a b e erklärt: „ D a s Absolute...kann nicht a u f der gleichen E b e n e wirken und unmittelbar Liebe verschenken w i e die Relativen..." D i e V e r n e i n u n g der Unmittelbarkeit d e r Beziehung zwischen d e m Absoluten und d e m einzelnen 158 Philosophie in Japan Relativen m a c h t einen entscheidenden Unterschied des Denkens Tanabes gegenüber d e m D e n k e n Nishidas aus. M a n könnte auch sagen: Tanabe hat Nishida konsequent weitergedacht. D i e Selbstverneinung des Absoluten als des Absoluten (einer der Gründe, w a r u m es „absolutes N i c h t s " heißt) ist so absolut zu denken, daß es sich in die Vielheit der Relativen hinein „entleert", in sie hinein „verliert", „vernichtet" und als solches liebendes Absolutes nur als geglückte Beziehung der Liebe (d.h. als Beziehung der wechselseitigen Selbstverneinung) zwischen Relativen augenblickhaft aufblitzt. Mit anderen Worten: Das Absolute wird von den Relativen nicht unmittelbar „berührt", sondern nur „absolut vermittelt" (zettai baikai), d.h. vermittelt durch die Berührung mit anderen Relativen , also vermittelt nur durch „geglückte Gemeinschaft", „Gemeinschaft von Liebenden", „Existenzgemeinschaft" (jitsuzon kyödö), wobei allerdings das Nichtglücken durch die Tendenz zum radikalen Bösen als der Tendenz zur Selbstverabsolutierung jedes Einzelnen stets mitgegeben ist und die überwundene Rückseite des Glückens darstellt, überwunden durch die sich v o m Anderen her aufdrängende Metanoia (d.h. j e neue „Umkehr" im D e n k e n und Handeln, j e neue Hinkehr zum Anderen als dem Anderen - weg von sich selbst). (Übrigens geht die Übersetzung mit d e m Urtext Tanabes zu frei um.) Teil 4: Philosophie des „Nichts" im europäischen Westen O b e n wurde die „Philosophie des Absoluten als des absoluten Nichts" von Nishida und T a n a b e vorgestellt. Mit Hilfe einiger Texte von Nishida und Tanabe wurde gezeigt, dass und wie diese beiden Philosophen ihre jeweilige Philosophie des Nichts als philosophische Verallgemeinerung der mahäyäna-buddhistischen religiösen Einzelerfahrung darstellen, einmal als Philosophie des absoluten Selbst und ein andermal als Philosophie des absoluten Anderen, in beiden Philosophien spielt die Selbstverneinung und in diesem Sinn das „Nichts" die Hauptrolle. Die Frage liegt nun nahe, ob das unterscheidend Östliche, das „Japanische" der Philosophien Nishidas und Tanabes allein schon in ihrer Konzentration auf das „ N i c h t s " liegt, oder vielleicht erst in ihrer besonderen Weise des Umgangs mit dem „Nichts". Gibt es im europäischen Westen auch eine Philosophie des „Nichts"? Die Antwort auf diese Frage m u ß zuerst einige Unterscheidungen klarstellen: Man m u ß in der europäischen Philosophie unterscheiden mindestens eine Philosophie des „ N e i n ! " (Urteilslehre), eine Philosophie des „nicht" (Logik), eine Philosophie des „privativen wertneutralen ,nichts'als ,nicht-etwas'" (universelle Ontologie), eine Philosophie des „privativen werthaften Nichts als der Urmaterie oder Urpotentialität" (spezielle Ontologie), eine Philosophie des „privativen unwerthaften Nichts als des B ö s e n " (Theodizee), eine Philosophie des „aggressiven wertnihilistischen Nichts" (Nietzsche als Beispiel einer dialektischen Wertphilosophie), eine Philosophie des „mystischen N i c h t s " (aus unergründlicher mystischer Erfahrung und ekstatischer mystischer Sprache sich entwickelnde Philosophie des Nichts als des Unerkennbaren und Unaussprechlichen), eine 159 J. Laube Philosophie des „theologischen N i c h t s " (die d i e absolute T r a n s z e n d e n z „Höchsten", der Gottheit, b e t o n e n d e sogenannte „Negative Theologie"). des Obgleich die europäischen Philosophen sich a u f die Fragen n a c h d e m Sein und d e n Seienden konzentrierten (wobei Heidegger behauptet, sie hätten die Frage nach d e m Sein selbst vergessen und nur n a c h d e m Sein der Seienden gefragt), haben sie die Frage nach nein, nichts und d e m N i c h t s (Nicht-Sein und Nichts-Sein) nicht völlig übersehen. Kahl-Furthmann schreibt in seinem philosophiegeschichtlichen o p u s m a g n u m „ D a s P r o b l e m des Nicht": „Der allgemeinste aller Begriffe, der Begriff des Seins, ist schon bald nach d e m E r w a c h e n der philosophischen Besinnung im Abendland in den Kreis der Betrachtungen gezogen worden. D u r c h Aristoteles w u r d e ihm eine eigene Wissenschaft, die Lehre v o m Seienden als S e i e n d e m , gewidmet, die durch die Jahrhunderte als Ontologie einen i m m e r exakteren A u s b a u erfahren hat. W ä h r e n d so d e m Begriff des Seins in der Geschichte der Philosophie eine ausfuhrliche B e h a n d l u n g zuteil g e w o r d e n ist, ist sein Gegenbegriff, der des Nichtseins, fast ganz vernachlässigt worden. G e w i ß wird er in einer umfassenden Ontologie mit gestreift, aber seine B e h a n d l u n g ist d u r c h w e g keine erschöpfende. D a s Nichtsein als Nichtsein ist nicht eigentliches Problem, und doch sollte es als Untersuchungsgegenstand neben d e m Seienden als S e i e n d e m a m Anfang aller Philosophie stehen, d e n n sein Begriff wirkt konstitutiv in den ersten Prinzipien alles Erkennens überhaupt, besonders im W i d e r s p r u c h s p r i n z i p " ( D a s P r o b l e m d e s Nicht. Kritisch-Historische und Systematische Untersuchungen, Verlag A n t o n Hain, Meisenheim a m Glan, 2. Auflage, S. 1). Im Folgenden übergehen wir die B e h a n d l u n g der logischen, epistemologischen und formal ontologischen Fragen im Bezug a u f nein, nicht und nichts und w i d m e n u n s den Fragen im B e z u g a u f „das N i c h t s " im Sinn der Negativen T h e o l o g i e des christlichen Altertums und Mittelalters. D i e Negative Theologie (apophatische Theologie) ist eine N e b e n l i n i e der christlichen Theologie, die einerseits i m m e r v o n der affirmativen T h e o l o g i e (kataphatische Theologie) in d e n Hintergrund gedrängt w u r d e , anderseits a b e r einen so einflussreichen Theologen w i e T h o m a s von Aquin (13.Jh.) zu ihren Befürwortern zählen durfte. Die Negative Theologie des C h r i s t e n t u m s speist sich a u s drei Quellen: aus der gläubigen A n n a h m e der in den Schriften des N e u e n und Alten T e s t a m e n t e s sich ausdrückenden Selbstmitteilung (Selbstoffenbarung) Gottes, aus ihrer praktischen A n w e n d u n g im eigenen Leben des G e b e t s und der T u g e n d und a u s d e m eigenen systematisierenden D e n k e n d e r menschlichen Vernunft. A u s s a g e n christlicher Mystiker und T h e o l o g e n über das N i c h t s Gottes finden wir a m meisten im Z u s a m m e n h a n g mit seiner Unerkennbarkeit, m i t seiner Oberseiendheit, m i t seiner Überwesenheit und mit seiner Überunterschiedlichkeit. 160 Philosophie in Japan Grund 1: Gott heißt Nichts wegen seiner Unerkennbarkeit (Augustinus u.a. erklären, d a ß die Kategorien, mit denen die endlichen Seienden definiert und klassifiziert werden, nicht auf Gott anwendbar sind) Grund 2: Gott heißt Nichts wegen seiner Überseiendheit (Basilides, PseudoDionysios, Nicolaus Cusanus u.a. erklären, daß Gott noch über dem gesamten Bereich des Seins steht ähnlich wie das „ E i n e " bei Plotin) Grund 3: Gott heißt Nichts wegen seiner Oberwesenheit (Scotus Eriugena u.s. Schule erklären, d a ß Gott kein „ W a s " ist, keine „Wesenheit" hat wie die endlichen Seienden; auf die Frage „ w a s " er ist, kann es nur die Antwort geben „nichts", „nichts Seiendes"; nach Scotus Eriugena kann wegen dieser Überwesenheit Gottes nicht nur der Mensch Gott als ein W a s nicht erkennen, sondern Gott selbst kann sich nicht als W a s erkennen. Er ist als Was absolut nicht erkennbar und in diesem Sinn absolut nichts. N a c h Scotus Eriugena gilt: Insofern Gott keine Washeit/Wesenheit wie die endlichen Seienden besitzt, kann er auch nicht als ein Was erkannt werden, j a kann sich selber nicht als ein Was erkennen.) Übrigens darf Johannes Scotus Eriugena (9. Jh.) nicht mit Johannes Duns Scotus (13./14. Jh.) verwechselt werden. Johannes dun Scotus ist das Schulhaupt der gegen die Dominikaner-Theologie kritischen sogenannten Franziskaner-Theologie, die die Begriffstheorie der affirmativen Theologie verficht: Begriffe sind auf die Relativen und auf Gott nicht analog wie bei Thomas von Aquin, sondern univok anzuwenden. Grund 4: Gott heißt Nichts wegen seiner Überunterschiedlichkeit (Meister Eckhart, Nicolaus Cusanus, Jakob B ö h m e u.a. erklären, d a ß Gott über allen Unterschieden steht, alle Gegensätze in sich versöhnt usw.) W e n n wir uns nun wieder zu Nishida und Tanabe zurückwenden und uns fragen, welche Gründe für sie ausschlaggebend waren, das Absolute als absolutes Nichts zu bezeichnen, so finden wir die Begründungen 1 bis 4, aber zusätzlich eine andere. (Grund 5.) nämlich die der Selbstverneinung des Absoluten zugunsten des Relativen. Die Selbstbejahung des einen Absoluten vollzieht sich als Kreislauf der Selbstverneinung des Absoluten als des Einen zugunsten der vielen Relativen und als deren Selbstverneinung als die vielen Relativen zugunsten des einen Absoluten. Bei Nishida handelt es sich um vertikale elliptischen Kreislaufbewegungen der Umkehr-Entsprechung von absolutem Gott und relativen Selbsten, und zwar im Absoluten selbst als d e m „Ort" des absoluten Nichts; bei Tanabe handelt es sich um horizontale elliptische Kreisläufe der wechselseitigen Vermittlung der Relativen untereinander. T a n a b e weigert sich, von einem als integrale Ganzheit verstandenen „Ort" des Nichts zu sprechen, in d e m sich alles vollzieht, sondern alles vollzieht sich als „wechselseitige Vermittlung der Relativen", und zwar nicht in einem 161 J. Laube g e m e i n s a m e n M e d i u m , sondern j e an ihnen selber. E s ist eine Frage der Interpretation der T e r m i n i „ O r t " der Selbstvermittlung des Absoluten N i c h t s bei Nishida und „absolute V e r m i t t l u n g " bei T a n a b e , o b sie sich wesentlich unterscheiden o d e r nicht. T a n a b e w ü r d e höchstens zugestehen, dass m a n von einer infinitesimal-differential verstandenen Grenze bzw. Grenzerfahrung im B e z u g auf das Absolute sprechen kann. In Nishidas vertikalem Kreislauf fehlt nicht die horizontale Perspektive zu den anderen relativen Selbsten, ist aber im existentiellen Sichwissen der Relativen nicht die erste. D i e Berührung mit d e m Absoluten vollzieht sich nach N i s h i d a vor allem im Selbstwiderspruch des physischen M a c h e n s . In T a n a b e s horizontalem Kreislauf fehlt nicht die vertikale Perspektive z u m Absoluten, ist aber im existentiellen Sichwissen der Relativen nicht die erste. D i e Berührung des Absoluten vollzieht sich nach T a n a b e vor a l l e m im Selbstwiderspruch des moralischen Handelns. Bei Nishida vollzieht sich die elliptischen Kreisläufe als Einheit von actionintuition, bei T a n a b e in action-faith (nach der T e r m i n o l o g i e von Yoshinori Takeuchi). M i t action ist bei N i s h i d a die aristotelische poiesis, d.h. das physische Gestalten der Welt als Natur in Kultur gemeint, und mit intuition meint Nishida das Sichwissen dieses Gestaltens (das Beisichsein als b e i m relativen A n d e r e n sein). D i e Formel action-faith bei T a n a b e meint die aristotelische praxis, d.h. das moralische Handeln als das Gestalten der Welt als Gesellschaft in Gemeinschaft, u n d faith bedeutet das Sichwissen dieses moralischen H a n d e l n s (Beisichsein als b e i m absoluten Anderen sein), das T a n a b e als metanoetisches H a n d e l n beschreibt. E s heißt metanoetisches Handeln, weil es stets selbstkritisch die verkehrende W i r k u n g des radikalen Bösen im moralischen Handeln erkennt, bekennt, bereut und sich be­ kehren, d.h. um-kehren, neu-anfangen lässt. D a s Sichwissen heißt bei T a n a b e faith „Glaube", u m die Transzendenz seiner Herkunft deutlich zu m a c h e n : die absolute Fremdkraft. W ä h r e n d T a n a b e das H a n d e l n bzw. Gestalten seit 1944 stets ausdrücklich a parte potiori als Fremdkraft-Wirksamkeit bezeichnet, aber eine Dialektik von Eigenkraft und Fremdkraft meint, spricht Nishida a b 1945 meist v o m H a n d e l n als H a n d e l n des Selbst und b e m e r k t nur nebenbei, dass selbstverständlich in keiner Religion das Handeln anders als in einer Dialektik von Eigenkraft und Fremdkraft vollzogen w e r d e n kann. Der von Nishida und Tanabe hervorgehobene Aspekt der absoluten sichselbstverneinenden „ L i e b e " d e s Absoluten zu d e n Relativen k o m m t in christlichen Texten nicht so häufig in systematisch-theologisch als v i e l m e h r in biblisch-exegetischen Schriften vor, n ä m l i c h dort w o d e r paulinische G e d a n k e von der Kenosis Gottes behandelt wird, von d e r Selbstentleerung Gottes, v o n der Aufgabe der Gottesform und A n n a h m e d e r M e n s c h e n f o r m in J e s u s v o n N a z a r e t h , v o n der Identifizierung Gottes m i t d e n M e n s c h e n in Jesus Christus. Vgl. die deutsche Übersetzung d e s Briefs an die Philipper 2. Kapitel, Vers 6-9: 162 Philosophie in Japan ..6 Er war Gott gleich, /hielt aber nicht daran fest, Gott zu sein 7 sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. / Sein Leben war das eines Menschen; 8 er erniedrigte sich/ und war gehorsam bis zum Tod,/ bis zum Tod am Kreuz. 9 D a r u m hat Gott ihn über alle erhöht..." (Die Bibel. Einheitsübersetzung Herder Freiburg, 1980) 'oq s v nopxfrr) Geou 'urcapxcov o u x 'ap7iaYuov TiyrjaaTO TO e i v a i i a a Geou, aXX a ' e a u t o v SKSVOOSV uop<t>riv ö o u X o u A.aßcov, s v o u o i c o u a u avGpcö7iov YSVOUS vo<;... ( N o v u m Testamentum Graece, hrg. v. D. Nestle, 18. A., Stuttgart 1948) Mit diesem Kenosis-Gedanken kann das Verständnis des absoluten Nichts von Nishida und T a n a b e verglichen werden. Nur mit dem Unterschied, daß das Absolute als das absolute Nichts kenotisch sich mit jedem Relativen identifiziert, während nach Paulus diese kenotische Identifikation Gottes einzig und allein mit Jesus Christus statthat und die Übrigen nur vermittelt durch Jesus Christus daran teilhaben. Diese Vermittlung der Teilhabe am Leben Gottes durch den Mittler Jesus Christus ist zwar ähnlich der Vermittlung der Teilhabe am Dharma-Leben durch einen Bodhisattva, aber nicht gleich. Der Unterschied liegt wiederum zuerst in der Einzigkeit des Mittlers im Christentum gegenüber den vielen Mittlern im MahäyänaBuddhismus. Teil 5: Schlussbemerkungen W e n n auch die Philosophie der Kyoto-Schule nicht stellvertretend fur alle philosophischen Strömungen in Japan stehen kann, so ist sie doch die im j a p a n i s c h e n Inland und im europäischen und amerikanischen Ausland am meisten beachtete j a p a n i s c h e philosophische Schule. Sie gilt als diejenige Schule, in der die eigenen Denktraditionen Japans, besonders des buddhistischen Teils Japans, die europäische M o d e r n e nicht nur rezipiert, sondern auch kritisiert und transzendiert hat und in ihren Vertretern heute immer weiter transzendiert. Nishida und Tanabe haben die zwei Denkmöglichkeiten innerhalb der vom Mahäyana-Buddhismus beeinflussten Philosophien sich kritisierend und sich komplettierend „aus-gedacht" N i s h i d a dachte die Wirklichkeit nach d e m Modell der Integral-Rechnung (Ganzheiten-Rechnung), Tanabe nach dem Modell der Differential-Rechnung (Grenzwerte-Rechnung). Dabei zeigte sich, daß ihre Lösungen denen der europäischen Negativen Theologie ähnlich, aber nicht gleich s i n d Die Auseinandersetzung mit den Systemen Nishidas 163 J. L a u b e und Tanabes haben j e d o c h den theologischen und philosophischen Dialog zwischen E u r o p a und U S A einerseits und J a p a n anderseits über die zentralen Fragen der Religionsphilosophie v o n der E b e n e der speziellen Religionsgeschichte(n) des j a p a n i s c h e n B u d d h i s m u s bzw. d e s Christentums a u f die E b e n e d e r g e m e i n s a m e n universalen Religionsgeschichte der Menschheit verlagert. Teil 6: Liste der Termini Termini Nishidas Zettai m u , zettai no m u , zettaiteki m u absolutes Nichts, bei N i s h i d a k o m m t oft die Kurzformel zettai m u vor (zettai heißt wörlih: „das Band/die V e r b i n d u n g durchschneiden", also das Bezogensein, Bedingtsein usw. negieren; Nishida weist aber häufig darauf hin, das d a s wahre Absolute gerade nicht alle Beziehungen negiert, sondern Beziehung als solche darstellt, n ä m l i c h die Beziehung der U m k e h r Entsprechung: gyaku-taiö) Gyaku-taiö Umkehr-Entsprechung, Entsprechung Gegen-Entsprechung, sich widersprechende Rekishiteki sekai geschichtliche Welt, bei Nishida nicht die v o m Selbst getrennte Außenwelt, sondern die Welten der relativen Selbste, die sich wechselseitig enthalten (als Selbstausdruck und Selbstgestaltung des absoluten Selbst (die geschichtliche Welt ist als die Welt des sich wissenden und sichbestimmenden Handelns die konkreteste aller Welten; sie schließt die biologische und die physikalische Welt als einseitige abstrahierte Aspekte ihrer selbst ein) Basho Ort, Platz, Feld (Nishida nennt einerseits den T o p o s in Piatons „ T i m a i o s " anderseits den T o p o s der m a t h e m a t i s c h e n Topologie als A n r e g u n g für diesen seinen eigenen Terminus, der aber w e d e r naturphilosophisch noch m a t h e m a t i s c h ­ quantitativ verstanden werden darf, sondern als M e d i u m der Selbstvermittlung des Absoluten logisch verstanden w e r d e n m u ß ; Selbstvermittlung in m e h r f a c h e m Sinne) Ronri im Lexikon steht als Ü b e r s t e z u n g meist „Logik", ronri wird bei N i s h i d a u n d T a n a b e aber erstens nicht im Sinne der analytischen Logik, sondern der dialektischen Logik gebraucht ( w e l c h e nach ihnen die analytische Logik als einen Teil ihres Kreislaufs enthält) und zweitens k a n n bei ihnen ronri a u c h allgemeiner soviel w i e Philosophie b e d e u t e n Bashoteki ronri Topos-Logik, T o p i s c h e Logik, T o p i s c h e Philosophie Sokuhi n o ronri Logik des Ist-Istnicht 164 Philosophie in Japan Termini Tanabes M e m e n t o mori G e d e n k e des Sterbens, Bedenke den Tod Philosophie des Lebens Tanabe meint im Text „Lebensphilosophie im weitesten Sinn"; zu dieser Zeit zielte Tanabe besonders auf Heideggers Philosophie Zettai baikai absolute Vermittlung; „Vermittlung" impliziert in der Sprache der Dialektik stets „Verneinung/Negation"; die Verneinung (auch Selbstverneinung) ist das weitertreibennde M o m e n t der dialektischen Bewegung; die dialektische B e w e g u n g kann als Bewegung der Realität gedacht werden (Realdialektik) oder als B e w e g u n g des D e n k e n s (des Begriffs, der Idee, der Vernunft: Idealdialektik) Metanoia U m d e n k e n (in der Theorie) und Umkehren (in der Praxis) Metanoetik Philosophie der Metanoia Radikales Böses: ein Terminus der Religionsphilosophie von Kant und seiner Nachfolger, gemeint ist keine individuelle böse Tat, sondern der im Menschen beobachtbare H a n g zum Bösen (Neigung, Tendenz, Gravitation zum Bösen hin, zur Selbstverabsolutierung), der zwar nicht zum abtsrakten natürlichen Wesen des Menschen gehört, aber zum konkreten geschichtlich gewordenen Wesen des Menschen Jitsuzon-kyödö Existenzgemeinschaft, entweder Anspielung auf Kierkegaard oder Jaspers oder ausnahmsweise: im vorliegenden Tanabe-Text - auf die Monadologie von Leibniz Bodhisattva (jap Bosatsu) wörtlich „Kämpfer u m (die eigene) Erleuchtung" oder „Erleuchtungswesen" (Theraväda und Mahäyäna-Buddhismus); der MahayänaBodhisattva wird charakterisiert als „Kämpfer um die Erleuchtung (der Anderen)", einer, der die Vollendung der eigenen Erleuchtung hintanstellt, bis er alle Anderen auf den W e g der Erleuchtung gefuhrt hat (bei Tanabe der spirituelle „Lehrer", „Meister", „Vorgänger", „Pionier" oder ähnlich) 165