MEDIZIN DIE UBERSICHT Michael Hammer Jürgen Wollenhaupt Postenteritische reaktive Arthritiden und Spondarthritiden Reaktive Arthritiden treten in ein bis vier Prozent der Fälle nach einer gastrointestinalen Infektion mit Yersinien, Salmonellen, Campylobacter und Shigellen auf. Die auslösende Infektion kann als heftige Gastroenteritis oder Enterokolitis, aber auch asymptomatisch verlaufen. Die Arthritis imponiert as Auftreten einer Gelenkentzündung nach einer „Dysenterie" wurde schon im 17. und 18. Jahrhundert von mehreren Autoren berichtet (5, 34). Die Fallbeschreibung des Leutnants N., der wegen „. . . Leibschmerzen und Durchfall mit geringen Blutbeimengungen (Blutspritzer) . . . " ins Feldlazarett eingewiesen wurde und bei dem sich im Verlauf eine Urethritis, eine Konjunktivitis sowie eine Oligoarthritis einstellten, wurde im Jahre 1916 durch den Militärarzt Hans Reiter publiziert (53). Die Trias aus Urethritis, Konjunktivitis und Arthritis ging später als „Reiter-Syndrom" in die medizinische Terminologie ein, wobei die initiale Enterokolitis bei der Symptomauswahl unberücksichtigt blieb. Im Jahre 1948 veröffentlichte wiederum ein Militärarzt die Folgen einer Ruhrepidemie bei insgesamt etwa 150 000 Personen in Karelien zwischen Juni und September 1944 (51). Eine Arthritis, teilweise gemeinsam mit einer Konjunktivitis, trat bei 344 Patienten auf. Shigella flexneri wurde als ursächlicher Keim bestimmt. Der Zusammenhang zwischen einer Shigellen-Dysenterie und dem Auftreten einer Arthritis bestätigte sich auch beim Ausbruch einer Shigella-flexneri-Enteritis auf einem Kriegsschiff der US-Navy 1966, wobei neun von 602 erkrankten Personen eine Arthritis entwickelten (49). Auch in der Folge von epidemischen Salmonellen-Infektionen konnten Arthritiden mit einer vergleichbaren Inzidenz gefunden wer- D den (59). 1969 wurde aufgrund sorgfältiger klinischer und serologischer Untersuchungen die Assoziation zwischen einer Yersinien-Infektion und einer Arthritis publiziert (1). In diesem Zusammenhang wurde auch erstmals der Begriff der „reaktiven Arthritis" vorgeschlagen, der terminologisch einen Fortschritt zu den bis dahin gebräuchlichen Begriffen „Reiter-Syndrom" oder „inkomplettes Reiter-Syndrom" bedeutete (Tabelle I). Zehn Jahre später wurde erstmals auf die Assoziation zwischen reaktiven Arthritiden und Campylobacter-jejuni-Enteritiden aufmerksam gemacht (4, 61). Zur Gruppe der reaktiven Arthritiden zählen neben den postenteritischen Formen auch die posturethritischen reaktiven Arthritiden, zum Beispiel durch Chlamydien, und das nach Streptokokken-Infektionen (heute selten) beobachtete rheumatische Fieber. Das „Reiter-Syndrom" als Trias aus Arthritis, Konjunktivitis und Urethritis stellt eine Sonderform dar und kann bei einem Teil der Patienten mit posturethritischen oder anderen reaktiven Arthritiden beobachtet werden (Terminologie siehe Tabelle I). 2. Klassifikation 1. Definition Als „postenteritische reaktive Arthritiden" werden periphere Arthritiden mit oder ohne spondarthritische Komponente bezeichnet, die durch eine gastrointestinale Infektion verursacht werden und bei denen der auslösende Mikroorganismus nicht mit Hilfe kultureller Routineverfahren aus der Synovialflüssigkeit angezüchtet werden kann. Reaktive Arthritiden sind somit generell durch eine aseptische Synovialitis, das heißt das Fehlen einer replikativen intraartikulären Infektion charakterisiert und damit eindeutig von den infektiös-septischen Arthritiden abzugrenzen, bei denen eine produktive intraartikuläre Infektion besteht. Abteilung Rheumatologie (Direktor: Prof. Dr. med. Henning Zeidler), Zentrum Innere Medizin, Medizinische Hochschule Hannover A 2738 (52) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41,13. Oktober 1995 - meist als eine asymmetrische Oligoarthritis mit Bevorzugung der unteren Extremitäten, wobei der Erreger kulturell nicht im Gelenkpunktat angezüchtet werden kann. In den letzten Jahren gelang es allerdings, Erreger beziehungsweise Erregerbestandteile in den betroffenen Gelenken nachzuweisen. Die Klassifikation postenteritischer reaktiver Arthritiden orientiert sich an der klinischen Charakteristik, wobei evaluierte Kriterien bisher nicht existieren. Als Beweis für das Vorliegen einer postenteritischen reaktiven Arthritis kann bisher nur die intraartikuläre Präsenz von (nichtreplikativen) Gastroenteritis-Erregern oder Erregerbestandteilen (zum Beispiel Erreger-Antigenen) gelten, wie dies mit Immunfluoreszenz-Verfahren gezeigt wurde (Abbildung 1). Da dies nur in Einzelfällen, etwa im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen möglich ist, wird die Diagnose anhand indirekter Hinweise im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsabschätzung vorgenommen (Tabelle 2). In der Mehrzahl wird die Kriterienkonstellation I. Arthritis, II. Gastroenteritis in der Anamnese und III. serologischer Hinweis auf einen Gastroenteritis-Erreger vorkommen MEDIZ N DIE UBERSICHT und bei Ausschluß einer anderen definierten rheumatologischen Erkrankung die Diagnose einer reaktiven Arthritis wahrscheinlich machen. 3. Ätiologie Die häufigsten GastroenteritisErreger mit der Fähigkeit zur Auslösung reaktiver Arthritiden sind Yersinien, Salmonellen und Campylobacter (Tabelle 3). Shigellen spielen in den Industrienationen mit hohem hygienischen Standard heute keine große Rolle mehr. Die meisten Fälle postenteritischer reaktiver Arthritiden werden nach sporadischen Infektionen mit diesen Gastroenteritis-Erregern beobachtet. Daneben gibt es seltener „epidemische" reaktive Arthritiden, etwa nach einer Epidemie mit Salmonellen, Campylobacter oder unter entsprechenden hygienischen Voraussetzungen (während Kriegszeiten, in Slums) mit Shigellen (13). Die Häufigkeit einer reaktiven Arthritis nach einer Gastroenteritis mit einem der genannten Erreger wird in den meisten Studien mit ein bis vier Prozent angegeben, wobei für Yersinien-Infektionen Gelenkbeteiligungen (inklusive Arthralgien) in bis zu 33 Prozent beschrieben werden (34). Zusätzlich zu den schon genannten gibt es andere bakterielle und parasitäre Gastroenteritis-Erreger, die in seltenen Fällen eine postenteritisehe reaktive Arthritis auslösen können (Tabelle 3). Tabelle 1 Terminologie der Spondarthritiden Reaktive Arthritis 4. Inzidenz und Prävalenz Oberbegriff für Arthritiden in der Folge bakterieller Infektionen (meist des Gastrointestinal- oder des Urogenital-Traktes) ohne kulturellen Nachweis des auslösenden Mikroorganismus im Gelenk/-erguß Reaktive Spondarthritis Wie reaktive Arthritis, aber mit Beteiligung des Achsenskelettes, etwa in Form einer Sakroiliitis, und/oder mit Enthesiopathien Reiter-Syndrom Sonderform der reaktiven Arthritis mit der klinischen Trias Urethritis, Konjunktivitis und Arthritis Inkomplettes Reiter-Syndrom Eingeschränkte Sonderform der reaktiven Arthritis mit Arthritis und Urethritis oder Konjunktivitis (keine Trias); Begriff sollte heute nicht mehr verwendet werden (dann besser reaktive Arthtritis) Postenteritische reaktive Arthritis Pathogenetisch orientierte Diagnose mit Hinweis auf die Eintrittspforte (Urogenitaltrakt = posturethritisch) der auslösenden Infektion ohne Angabe des Erregers (zum Beispiel wenn dieser nicht identifiziert werden kann) Yersinien-induzierte Arthritis, Salmonellen-induzierte Arthritis usw. Ätiologisch orientierte Diagnose mit Angabe des auslösenden Erregers (zu bevorzugender diagnostischer Begriff!) Undifferenzierte Arthritis/ Spondarthritis Entzündlich-rheumatische Erkrankung (ohne/mit Achsenskelettbefall), bei der weder eine reaktive/infektiöse Genese zu eruieren noch eine Klassifikation als ein definiertes rheumatologisches Krankheitsbild möglich ist Seronegative Spondarthritiden Oberbegriff für die Gruppe der entzündlich-rheumatologischen Erkrankungen mit häufigem Achsenskelettbefall, asymmetrischen Arthritiden, Enthesiopathien, fehlendem Rheumafaktor („seronegativ"), hohem Prozentsatz HLA-B-27-positiver Patienten: Spondylitis ankylosans, reaktive Arthritiden, Psoriasisarthritis, Arthritis bei M. Crohn/Colitis ulcerosa usw. A-2740 (54) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995 Obwohl nur ein kleiner Teil aller bakteriell bedingten Gastroenteritiden durch eine reaktive Arthritis kompliziert wird, ist diese Arthritisform von epidemiologischer Bedeutung. Zwischen sechs und elf Prozent der Patienten mit einer Arthritis von weniger als zwölf Monaten Krankheitsdauer, die in universitäre Rheumaambulanzen überwiesen werden, haben eine postenteritische reaktive Arthritis. Hieraus errechnet sich eine Inzidenz von 5 bis 14 Fällen pro 100 000 Einwohner pro Jahr, wobei jedoch von einer hohen Dunkelziffer nicht erkannter oder anders klassifizierter Erkrankungen sowie selbstlimitierender Verläufe auszugehen ist, so daß die tatsächliche Inzidenz deutlich höher sein dürfte (32, 33, 37). Zudem wurde in letzter Zeit die Bedeutung klinisch inapparenter gastrointestinaler Infektionen, beispielsweise mit Yersinien und Campylobacter, erkannt (7, 45, 55, 62). Es ist anzunehmen, daß mit Hilfe weiter verbesserter diagnostischer Möglichkeiten in Zukunft noch mehr bislang nicht klassifizierbare Arthritisfälle der Gruppe der reaktiven Arthritiden zugeordnet werden können. 5. Pathogenese 5.1 Die auslösende Infektion Ein entscheidendes Charakteristikum der reaktiven Arthritiden ist die vorausgehende bakterielle Infektion, die abseits der Gelenke im Ga- DIE ÜBERSICHT Grafik DA Konjunktivitis lritis/lridozyklitis Neuritis Pharyngitis/cervikale Lymphadenopathie Endokarditis Myokarditis Perikarditis Pleuritis Mesenteriale Lymphadenitis (Pseudoappendizitis) Glomerulanephritis Urethritis/Cystitis Hämolytisch-urämisches Syndrom Yersinien-Sepsis (bei Leberzirrhose, Hämoehromatose und immunsupprimierten Patienten gehäuft) Guillain-Barre-Syndrom (besonders bei Campylobacter-lnfektionen) Thrombosen Thrombophlebitiden Erythema nodosum (bes. bei HlA-8 27negativen Patienten) Keratoderma blennorhagicum Mögliche Komplikationen bei Patienten mit postenteritischen reaktiven Arthritiden strointestinal-, Urogenital-Trakt oder einer anderen Region im Körper . stattfindet. Im Falle der postenteritiseben reaktiven Arthritis spielt sich die Symptomatik der auslösenden Gastroenteritis oder Enterokolitis Tage bis Wochen vorher ab und ist beim Auftreten der Arthritis meist abgeklungen. In bis zu einem Viertel der Fälle bleibt die Infektion klinisch inapparent (37). Frühere Vorstellungen zur Pathogenese gingen davon aus , daß die Infektion mit Sistieren der gastrointestinalen Symptomatik ausgeheilt ist und die Arthritis eine verspätete, durch eine Fehlregulation des Immunsystems ausgelöste "reaktive" ( immunpathologische) Komplikation ist. So sind Stuhlkulturen beim Auftreten der Arthritis nach einer Yersinien-Enteritis meist negativ (16, 29). Mit der Einführung neuer serologischer Methoden wie Immunoblot und ELISA in der Diagnostik Yersinien-induzierter Arthritiden konnten langfristig nachweisbare erregerspezifische Serum-IgA- und IgG-Antikörper als Indiz für eine Erregerpersistenz erkannt werden (15, 23 , 24). Immunfluoreszenz-Untersuchungen der Darmschleimhaut von Patienten mit Yersinien-induzierter Arthritis bestätigten, daß die Erreger lange Zeit in der Mukosa persistieren können (20, 29). Yersinien wurden zudem in Lymphknoten bei Patienten mit chronischer Yersiniose nachgewiesen, auch wenn die initiale Gastroenteritis schon Jahre zurücklag (30). Die in einer umfangreichen Studie gefundene hohe Korrelation zwischen der Präsenz von Semm-IgAAntikörpern gegen Yersinien-Gruppenantigene und dem Nachweis der Bakterien in der Darmschleimhaut unterstützte die neuen Vorstellungen der persistierenden Infektion eindrücklich (11). Während die humorale Immunantwort (vor allem IgA-Antikörper) somit diagnostisch verwertet werden kann, könnte die labortechnisch aufwendiger zu bestimmende erregerspezifische zelluläre Immunantwort von besonderer pathogenetischer Bedeutung sein. So weisen synoviale T-Lymphozyten auf Stimulation mit zum Beispiel Yersinien oder Salmonellen signifikant höhere Proliferationsraten auf als Lymphozyten des peripheren Blutes (56). Außerdem ließen sich bei Patienten mit Yersinien- und Salmonellen-induzierter Arthritis HLADR-restringierte erregerspezifische TLymphozyten-Klone aus der Synovia gewinnen (26, 27, 60). HLA-B-27-restringierte T-Zellklone konnten bisher nur in Einzelfäl- Tabelle 2 Kriterien für die postenteritisehe reaktive Arthritis und ihre Zuordnungen I. Arthritis in mindestens einem Gelenk (typischerweise asymmetrische Oligoarthritis, bevorzugt der unteren Extremitäten) und/oder Spondarthritis (entzündlicher Rückenschmerz, Enthesiopathien) Il. Anamnese oder Klinik eines gastrointestinalen Infektes in zeitlichem Zusammenhang mit dem Auftreten der Gelenksymptomatik III. Nachweis von erregerspezifischen Serum-Antikörpern (vorrangig der !gAKlasse) IV. Nachweis der Erreger im Stuhl beziehungsweise in GastrointestinaltraktBiospien V. Nachweis der Gastroenteritis-Erreger oder von Erreger-Bestandteilen im betroffenen Gelenk mit Spezialverfahren (zum Beispiel Immunfluoreszenz)* ... Postenteritisehe reaktive Arthritis I und II ... Reaktive Arthritis mit Erregerbenennung (z. B. Yersinieninduzierte Arthritis) I, Il und III, IV oder V, sowie IundiVoder I und V ... Undifferenzierte Arthritis mit möglicher reaktiver Genese I und III * Nicht kultureller Erregernachweis; bei kulturellem Erregernachweis Ausschluß einer reaktiven Arthritis und Diagnose einer infektiös-septischen Arthritis A-2742 (56) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995 MEDIZIN DIE ÜBERSICHT len aus der Synovia von Partienten mit Yersinien-induzierter Arthritis gewonnen werden, so daß der pathogenetische Zusammenhang zwischen HLAB-27 und der T-Zellantwort im Gelenk zur Zeit noch unklar ist (28, 36, 52). 5.2 Erreger/Erregerbestandteile im Gelenk Im Gegensatz zur infektiös-septischen Arthritis (meist durch Staphylokokken oder Streptokokken bedingt) ist bei der reaktiven Arthritis der Ereger mit kulturellen Methoden nicht im Gelenk nachzuweisen. Sowohl bei der Yersinien- als auch bei der Salmonellen- und Shigellen-induzierten Arthritis konnten bakterienspezifische Antigene (Membran- den bisher vorliegenden Befunde für die intraartikuläre Präsenz von Erregerbestandteilen respektive kulturell nicht anzüchtbaren, das heißt nicht replikativen Erregern in Analogie zur Chlamydien-induzierten Arthritis. Eine direkte Induktion der Entzündungsreaktion im Gelenk durch Lipopolysaccharide oder andere Erregerbestandteile ist damit denkbar. gen. Eine zur Zeit favorisierte Hypothese postuliert ein „Arthritogenes (Selbst-)Peptid", welches aus Gelenkstrukturen stammt und spezifisch an das HLA-B -27-Molekül bindet. Eine Infektion mit Bakterien, die Peptide mit ähnlichen oder identischen Aminosäure-Sequenzen besitzen, führt zur Sensibilisierung von T-Lymphozyten, die sich gegen das Selbst-Peptid richten und eine Zell-Destruktion Tabelle 3 5.3 Assoziation zum Histokompatibilitäts-Antigen B 27 Schon 1974 wurde über eine hohe Frequenz von HLA-B 27 bei Patienten mit Yersinien-induzierter Arthri- Gastroenteritis-Erreger mit der Fähigkeit zur Induktion einer reaktiven Arthritis Genus Relevante/ häufige Species Yersinia Y. enterocolitica Serovare 0:3, 0:8 und 0:9 Y. pseudotuberculosis Serotypen I—VI Salmonella S. typhimurium S. enteritidis S. paratyphi S. heidelberg Campylobacter C. jejuni Abbildung 1: Yersinien in der Synovialmembran eines Patienten mit postenteritischer reaktiver Arthritis proteine, Lipopolysaccharide) in Synovia-Phagozyten gefunden werden (16, 17, 18). Zusätzlich ließen sich mit Immunfluoreszenz-Untersuchungen unter Verwendung monospezifischer Antikörper gegen das YersinienMembranprotein YadA Bakterien in der Synovialmembran von Patienten mit Yersinien-induzierter Arthritis identifizieren, die fluoreszenz-morphologisch identisch zu Befunden in der Darmschleimhaut waren (Abbildung 1) (19). Neuere elektronenmikroskopische Untersuchungen von Synoviazelten bei Patienten mit Yersinien-induzierter Arthritis zeigten ausschließlich degradiertes Erregermaterial, wobei allerdings nur wenige Patienten und keine Synovialmembran untersucht wurde (47). Insgesamt sprechen die bei den postenteritischen reaktiven Arthriti- tis berichtet. Heute wird die Frequenz von HLA-B 27 bei reaktiven Arthritiden mit 60 bis 80 Prozent angenommen, wobei die postenteritischen eine höhere Frequenz haben als die posturethritischen Arthritiden. HLA-B27-positive Individuen haben ein etwa 50 bis 100fach höheres Risiko, eine reaktive Arthritis nach Infektionen mit den in Frage kommenden Erregern zu entwickeln, als HLA-B-27-negative Individuen. Im Verlauf einer reaktiven Arthritis entwickeln HLA-B-27positive Patienten häufiger einen Achsenskelett-Befall (Sakroiliitis), schwere und chronische Arthritiden und extraartikuläre Komplikationen (zum Beispiel Uveitis, Karditis) als HLA-B-27-negative Patienten (41). Die pathogenetische Bedeutung des HLA-B 27 für die Auslösung und den Verlauf reaktiver Arthritiden ist Gegenstand aktueller Untersuchun- Shigella Sh. flexneri Sh. dysenteriae Clostridien C. difficile Lamblien Giardia lamblia bewirken (sogenannte „autoreaktive T-Zellen"). Dieses Modell faßt die Vorstellung der auslösenden Infektion, der Erregerpersistenz sowie der Kreuzimmunität antigener Strukturen auf körpereigenen Zellen und Bakterien zusammen (35). 6. Klinisches Bild 6.1 Auslösender Infekt Der auslösende Infekt im Magen-Darm-Trakt imponiert in Abhängigkeit vom jeweiligen Erreger und seiner Virulenz, der aufgenommenen Keimzahl und der Abwehrlage des Patienten als Gastroenteritis beziehungsweise Enterokolitis, wobei das klinische Spektrum von asymptomatischen Infektionen bis zur schweren Dysenterie reicht. Für die Deutsches Ärzteblatt 92 , Heft 41, 13. Oktober 1995 (59) A-2743 MEDIZIN DIE UBERSICHT Klinik ist die Erkenntnis wichtig, daß bei bis zu 26 Prozent der postenteritischen reaktiven Arthritiden die gastrointestinale Infektion asymptomatisch ist (37). Neben der Symptomatik am Gastrointestinalktrakt und den Manifestationen am Bewegungsapparat gibt es zahlreiche Komplikationen dieser Infektionen, die in der Grafik dargestellt sind (2, 6, 8, 12, 39). Die Zeitdauer zwischen der vorausgehenden Gastroenteritis und dem Auftreten der Arthritis liegt meist zwischen 10 bis 19 Tagen (34). Bei wenigen Patienten manifestieren sich abdominelle und arthritische Symptome am gleichen Tage (1). zen vom entzündlichen Typ bei 13 bis 34 Prozent der Patienten beschrieben (34, 42, 44, 46). 6.3 Verlauf der Arthritis und Prognose Die Dauer der akuten Gelenkbeschwerden mit initial oft ausgeprägten Synovialitiden beträgt ein bis fünf Monate (2, 39, 42). lung erosiver Gelenkveränderungen (42, 46). Eine schwer verlaufende, erosive Yersinien-induzierte Polyarthritis kommt nur in Einzelfällen vor (38). Weiterhin weist etwa ein Drittel der Patienten, die überwiegend HLA-B27-positiv sind, im Verlauf chronisch rezidivierende Kreuzschmerzen entzündlichen Charakters auf mit Entwicklung einer Sakroiliitis, die sich ei- elle Erregernachweis bei postenteritischen reaktiven Arthritiden Untersuchungsmaterial Erreger Nachweis Stuhlkulturen Yersinien nur während oder unmittelbar (ein bis zwei Wochen) nach der Gastroenteritis erfolgversprechend, danach > 95 Prozent negativ Salmonellen bis zu acht Wochen nach der Gastroenteritis positive Ergebnisse (seltenDauerausscheider), sehr sensitive Nachweismethode Campylobacter bis zu vier Wochen nach der Gastroenteritis sinnvoll, rascher Transport ins Labor (< 2 Stunden bis zur Ausimpfung auf Selektivnährboden) oder geeignete Transportmedien erforderlich Shigellen sofortige (körperwarme) Verarbeitung des Stuhls oder von Schleimfetzen aus der Stuhlprobe im Labor oder spezielle (gepufferte) Transportmedien erforderlich, eventuell endoskopische Abstriche von der Rektumschleimhaut Yersinien Immunfluoreszenz-Nachweis mit monospezifischenfmonoklonalen Antikörpern (nur in einzelnen Labors etabliert) (30 a) Yersinien und Campylobacter Kultureller Nachweis in Biopsien der Kolon- und der terminalen Ileum-Schleimhaut (3, 50) 6.2 Arthritis — Befallsmuster/ Spondarthritis Die postenteritischen reaktiven Arthritiden präsentieren sich klinisch meist als asymmetrische Oligoarthritis der unteren Extremitäten mit oder ohne spondarthritische Komponente. Eine Monarthritis, meist des Kniegelenkes, wird in 15 bis 19 Prozent der Fälle beschrieben, polyartikuläre Verlaufsformen mit Beteiligung von fünf und mehr Gelenken und auch ein Befall der kleinen Finger- und Zehengelenke werden jedoch ebenfalls beobachtet. Ein Reiter-Syndrom manifestiert sich bei Yersinien-, Campylobacterund Salmonellen-induzierten Arthritiden in ungefähr zehn Prozent der Fälle; bei der Shigellen-induzierten Arthritis wird ein Reiter-Syndrom wesentlich häufiger gefunden (34). Die meisten klinischen Beschreibungen liegen bei der Yersinien-induzierten Arthritis vor, wo am häufigsten die Kniegelenke, Sprunggelenke und einzelne Zehen- oder Fingergelenke (asymmetrisch) betroffen sind, erst danach Hand-, Ellenbogen- und Schultergelenke. Bei einem Teil der Patienten liegt ein Gelenkbefall im Strahl vor, so daß es zum Beispiel zu einer „Wurstzehe" kommt (Abbildung 2). Insertionstendopathien (vor allem am Kalkaneus), Fasziitiden (zum Beispiel Plantarfaszie) und Tendinitiden werden bei fünf bis 13 Prozent der postenteritischen reaktiven Arthritiden beobachtet (34). Im akuten Stadium werden Rückenschmer- Bioptischer Erregernachweis (Kolon- und terminale IleumSchleimhaut) Nach einem halben Jahr sind mehr als ein Drittel der Patienten und nach einem Jahr mehr als zwei Drittel beschwerdefrei. Bei den restlichen Patienten kommt es zu chronischen oder rezidivierenden Arthralgien, Lumbalgien, Myalgien und meist blanden Arthritiden, überwiegend ohne Entwick- nige Jahre nach der akuten Arthritis im Röntgenbild nachweisen läßt (38, 39, 54). Insgesamt ist die Langzeitprognose der postenteritischen reaktiven Arthritis trotz der teilweise chronisch rezidivierenden Verläufe deutlich günstiger als die anderer Arthritisformen wie zum Beispiel bei den Krank- Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995 (61) A-2745 MEDIZIN DIE UBERSICHT heitsverläufen der chronischen Polyarthritis oder auch der Psoriasisarthritis. 7. Diagnostik Die Anamnese besitzt einen hohen Stellenwert in der Diagnostik reaktiver Arthritiden, wird jedoch dadurch kompliziert, daß die Patienten häufig zwischen der vorangehenden gastrointestinalen Infektion und den sich anschließenden Symptomen am Bewegungsapparat keine kausale Verknüpfung herstellen. Daher ist eine dezidierte Befragung der Patienten in bezug auf Diarrhö-Episoden oder sonstige, auch geringfügige Änderungen der Stuhlbeschaffenheit kurz vor Auftreten der Gelenksymptome zu empfehlen. Da die Infektion an der Eintrittspforte jedoch auch klinisch inapparent verlaufen kann, schließt eine negative Infektionsanamnese eine postenteritische reaktive Arthritis nicht aus. Bei der klinisch-rheumatologischen Untersuchung sind die von der Arthritis betroffenen Gelenke druck- und bewegungsschmerzhaft und weisen meist eine synovialitische Schwellung oder Überwärmung auf; eine Rötung ist seltener. Der Anzahl betroffener Gelenke und dem Befallsmuster kommt in der klinischen Zuordnung rheumatologischer Erkrankungen eine wichtige Bedeutung zu. Eine asymmetrische Arthritis, vornehmlich der unteren Extremität, mit oligoartikulärem Befall (zwei bis vier betroffene Gelenke) läßt bereits klinisch an eine reaktive Arthritis oder eine Erkrankung aus dem Kreis der HLA-B-27-assoziierten Spondarthritiden denken. Häufig finden sich auch Symptome einer Wirbelsäulenbeteiligung/Sakroiliitis oder einer begleitenden Insertionstendopathie. Laborchemisch sind bei reaktiven Arthritiden in der Akutphase häufig deutlich erhöhte Entzündungsparameter (BKS, C-reaktives Protein, Alpha- und Beta-Globulinfraktion, erniedrigtes Serumeisen bei erhöhtem Ferritin) zu beobachten. Bei chronischem Verlauf können diese Werte jedoch auch normal sein. Rheumafaktoren und andere Auto- antikörper (antinukleäre Faktoren, anti-DNA-Antikörper, anti-ENAAntikörper) sind nicht nachweisbar. 60 bis 80 Prozent der Patienten mit postenteritischen reaktiven Arthritiden sind HLA-B-27-positiv im Vergleich zu sechs bis zehn Prozent HLA-B-27-Merkmalsträgern in der Normalbevölkerung. Die erregerbezogene mikrobiologische und serologische Diagnostik ist für die Klassifikation reaktiver Ar- Abbildung 2: Daktylitis am 1. und 2. Strahl („Wurstzehel bei einem Patienten mit Yersinien-induzierter Arthritis thritiden entscheidend. Der kulturelle Nachweis einer floriden Infektion an der Eintrittspforte, das heißt im Gastrointestinaltrakt, sollte durch Stuhluntersuchung auf pathogene Darmbakterien angestrebt werden, insbesondere bei erst kürzlich zurückliegender Diarrhoe. Bei der Yersinien-induzierten Arthritis gelingt der Erregernachweis in der Stuhlkultur zum Zeitpunkt des Beginns der Arthritis jedoch nur in Ausnahmefällen, und auch bei den anderen postenteritischen reaktiven Arthritiden ist der kulturelle Nachweis der Keime im Stuhl nicht unproblematisch (Tabelle 4). Die Diagnosestellung postenteritischer reaktiver Arthritiden muß daher häufig auf indirekten Indizien wie dem Nachweis erregerspezifischer Serumantikörper in Kombination mit den anamnestischen Daten und klinischen Befunden basieren. Trotz der Fortschritte der serologischen Nachweisverfahren, beispielsweise für Antikörper gegen Yersini- en (Immunoblot-Verfahren unter Verwendung von virulenzassoziierten Yersinien-Gruppenantigenen) (22, 23) ist die Interpretation positiver Antikörperbefunde oft schwierig. Mit Ausnahme besonderer Befundkonstellationen (Serokonversion, dreifacher Titeranstieg) kann der serologische Nachweis spezifischer Antikörper nur Hinweise auf eine kürzlich abgelaufene oder persistierende Infektion liefern. Im Falle der verbesserten Yersinien-Serologie (Immunoblot) konnte eine hohe Korrelation zwischen eindeutig positiven IgA-Serumantikörpern und der Persistenz von immunfluoreszenzmikroskopisch nachweisbaren Yersinien in Darmschleimhaut-Biopsien gezeigt werden (11). Bei den anderen Gastroenteritis-Erregern muß oft noch auf weniger sensitive oder unspezifischere serologische Techniken wie die Agglutinationsreaktion nach Widal oder die Komplementbindungs-Reaktion zurückgegriffen werden (Tabelle 5). Im klinischen Kontext mit einer eindeutigen Infektionssymptomatik vor Entwicklung der Arthritis ist die Klassifikation aufgrund des spezifischen Nachweises von Antikörpern gegen einen Gastroenteritis-Erreger mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich; fehlt jedoch eine eindeutige Korrelation von anamnestischer oder klinischer Symptomatik und den serologischen Untersuchungsergebnissen, sind letztere nur von eingeschränkter Aussagekraft. Die derzeit absehbare Verbesserung der serologischen und molekularbiologischen Erregerdiagnostik (Verwendung rekombinanter Antigene, DNA-Nachweis mit PolymeraseKetten-Reaktion) wird die Klassifikation postenteritischer reaktiver Arthritiden in der Zukunft erleichtern. 8. Therapie Die Therapie postenteritischer reaktiver Arthritiden richtet sich nach der aktuellen Krankheitsaktivität und dem bisherigen Krankheitsverlauf. Initial sollten nichtsteroidale Antiphlogistika in regelmäßiger und Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41,13. Oktober 1995 (63) A-2747 MEDIZIN DIE UBERSICHT ausreichender Dosis symptomatisch eingesetzt werden. Physikalische Therapie (vor allem aktive krankengymnastische Bewegungsübungen) und ergotherapeutische Gelenkschutzmaßnahmen ergänzen diese Behandlung. Der lokale oder systemische Einsatz von Glukokortikoiden ist bei anhaltend hoher Krankheitsaktivität wirksam, aus pathogenetischen Überlegungen (Immunsuppression bei persistieren- gastrointestinalen Infektion, die durch kulturellen Erregernachweis gesichert ist, erfolgt häufig eine Antibiotikatherapie zur schnelleren Erregerelimination. So zeigte sich bei Patienten mit Yersinien-induzierter Spondarthritis nach einer antibiotischen Therapie eine schnellere Rückbildung von erregerspezifischen IgA-Antikörpern, verbunden mit der Elimination der Yersinien aus der Darmschleimhaut, Tabelle 5 Serologische Verfahren bei postenteritischen reaktiven Arthritiden Erreger Verfahren Bewertung Yersinien Immunoblot unter Verwendung von virulenzassoziierten YersinienGruppenantigenen (24, 30 a) sehr sensitives und spezifisches Verfahren zum Nachweis von IgG-/IgA-Antikörpern gegen alle relevanten humanpathogenen Yersinien Agglutinationsreaktion obsolet bei reaktiver Arthritis o. a. Spätkomplikationen einer Yersiniose; nur zur Gastroenteritis-Diagnostik sinnvoll, da überwiegend IgMAntikörper erfaßt werden Agglutinationsreaktion nach Widal niedrige Spezifität und Sensitivität ELISA (Salmonellen-LPS) hohe Spezifität, nicht in allen Labors etabliert Agglutinationsreaktion nach Widal niedrige Spezifität und Sensitivität ELISA (Shigellen-LPS) (10) höhere Spezifität und Sensitivität, bisher nur für wissenschaftliche Fragen und Durchseuchungsstudien eingesetzt Salmonellen Shigellen Campylobacter Komplementbindungsreaktion niedrige Spezifität und Sensitivität ELISA, Immunoblot (25) höhere Spezifität und Sensitivität (abhängig von den eingesetzten Antigenen), wenig etabliert, noch kaum klinisch evaluiert der Infektion) jedoch mit theoretischen Nachteilen behaftet und sollte daher mit Zurückhaltung nur dann erfolgen, wenn nichtsteroidale Antiphlogistika nicht ausreichen. Wegen der Infektionsätiologie der Erkrankung wird seit längerem der Stellenwert einer Antibiotikatherapie postenteritischer reaktiver Arthritiden diskutiert. Bei einer durch eine reaktive Arthritis komplizierten im Vergleich zu unbehandelten Patienten (31). Eine Auswirkung dieser schnelleren Erregerelimination auf die Spondarthritis-Symptomatik wurde dabei nicht untersucht. In zwei anderen Untersuchungen konnte ein Effekt einer kurzfristigen Antibiotikatherapie (zum Beispiel 7 bis 14tägig) auf die Krankheitsdauer, -intensität oder Aktivität der postenteritischen reaktiven Ar- thritis nicht gesichert werden (14, 44). Ob im Gegensatz dazu eine prolongierte, mehrmonatige antibiotische Therapie die Gelenkerkrankung positiv beeinflußt, wird derzeit in klinischen Studien geprüft. Die bisher verfügbaren Daten legen keinen derartigen Effekt nahe und berechtigen zur Zeit sicher nicht zum generellen Einsatz von Antibiotika in der Therapie postenteritischer reaktiver Arthritiden (40, 43, 57). Insbesondere ist der alleinige serologische Nachweis von spezifischen Antikörpern gegen einen der Enteritiserreger ohne anhaltende gastrointestinale Symptomatik einer derartigen Infektion keine Indikation für eine antibiotische Therapie. Obwohl der Spontanverlauf der Erkrankung überwiegend günstig verläuft und Remissionen innerhalb eines Jahres bei der Mehrheit der Patienten beobachtet werden, entwickeln einige Patienten eine chronische Arthritis. In diesen Fällen ist eine langfristige antirheumatische Therapie mit einem sogenannten Basistherapeutikum, etwa mit Sulfasalazin (Azulfidine ® RA, Colo-Pleon® RA), alternativ in schweren Fällen auch Methotrexat (zum Beispiel Lantarel®, Methotrexat medac) erforderlich (9, 21, 48, 58, 63). Prof. Dr. med. Fritz Hartmann, Hannover, zum 75. Geburtstag gewidmet Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1995; 92: A-2738-2749 [Heft 41] Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser. Anschrift der Verfasser: Priv.-Doz. Dr. med. Michael Hammer Dr. med. Jürgen Wollenhaupt Abteilung Rheumatologie Zentrum Innere Medizin und Dermatologie Medizinische Hochschule Hannover Konstanty-Gutschow-Straße 8 30625 Hannover Deutsches Ärzteblatt 92 , Heft 41, 13. Oktober 1995 (65) A-2749