Auszug aus Concept Ophthalmologie 5/09

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medizin
sicca-syndrom
Ein hochkomplexes Krankheitsbild
Angeblich werden von rund zehn Millionen Betroffenen in Deutschland mit Sicca-Syndrom
nur höchstens zwei Millionen augenärztlich behandelt – mit abnehmender Tendenz. Grund
genug, zwei Experten auf diesem Gebiet, Dr. Philipp Steven und Dr. Thomas Kaercher, zur
Thematik und Problematik zu befragen. Die Interviews führte Dr. Christiane Schumacher.
„Das Problembewusstsein hat zugenommen“
Dr. Steven, sehen Sie eine Zunahme der Sicca-Patienten? Wenn
ja, worauf führen Sie das zurück?
Steven: Über die absolute Zahl von Siccapatienten existieren zumeist Schätzungen. Daher ist unklar, ob es in den vergangenen
Jahren einen Anstieg an Fällen gegeben hat. Sicher ist, dass das
Problembewusstsein bei Patienten und Ärzten zugenommen
hat. Dies liegt unter anderem an intensiver Forschung, Aufklärung und Industrieinteressen in Bezug auf die Entwicklung neuer Therapeutika. Zusätzlich bin ich jedoch sicher, dass Erkrankungen am trockenen Auge aufgrund des steigenden Anteils
von Kontaktlinsenträgern, zunehmender Allergieneigung und
längerer Lebensdauer der Menschen zunehmen werden.
Trockene Auge würden viel zu häufig diagnostiziert, meint Prof.
Bernauer (Sursee). Nicht alle seien gleich trocken, es gebe eine
starke Diskrepanz zwischen Beschwerdebild und Befunden – in
beide Richtungen. Den typischen Sicca-Patienten gebe es nicht.
Können Sie das bestätigen?
Ich stimme mit Professor Bernauer überein, dass nicht alle Augen gleich trocken sind und dass es starke Diskrepanzen gibt.
Der Trend geht dahin, zwischen einem latenten und einem
manifesten trockenen Auge zu unterschieden. Ein latentes ist
dabei nur zeitweise vorhanden und wird von den Betroffenen
nicht als Problem wahrgenommen, kann aber in eine manifeste Form übergehen. Im Übrigen ist das trockene Auge, vo-
Dr. Philipp Steven ist in
der Universitätsaugenklinik
Lübeck tätig
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rausgesetzt, es wird vernünftig untersucht und nicht als Verlegenheitsdiagnose genannt, eher unter- als überdiagnostiziert.
Den typischen Sicca-Patienten gibt es, allerdings ist er in der
Vielzahl der Fälle und aufgrund der multifakoriellen Ursachen
eher die Ausnahme als die Regel.
Zwei Formen des trockenen Auges werden unterschieden, die
jeweils eigener Therapieansätze bedürfen, zum einen sekretorischer Tränenmangel, zum anderen verstärkte Verdunstung und
Störung des Tränenfilmaufbaus. Was bedeutet dies für Diagnostik
und Therapie?
Um eine möglichst spezifische Therapie beginnen zu können,
ist die Kenntnis der Ursache des trockenen Auges von großer
Bedeutung. Ein sekretorischer Tränenmangel (sog. hyposekretorisches trockenes Auge) bedarf einer intensiven Substitutionstherapie mit Tränenersatzmitteln, des Einsatzes von Tränenwegsverschlüssen und ggf. von Immunsuppressiva, falls ein
Sjögren-Syndrom diagnostiziert wird. Ein hyperevaporatives
trockenes Auge wird zwar auch eine Tränenersatzmitteltherapie erfordern, allerdings steht hier eine Restitution des Tränenfilms im Vordergrund, zum Beispiel durch Lidrandhygiene,
Verordnung oraler Tetrazykline (im Falle einer Blepharitis)
oder der Empfehlung einer Kontaktlinsenkarenz. Grundsätzlich sind jedoch Mischbilder sehr häufig und eine Per-se-Standardtherapie ist nicht existent. Diagnostisch führen wir außer
einer gründlichen ophthalmologischen Untersuchung mit ausführlicher Anamnese vor allem folgende Tests durch: Schirmer I, Break-up-Time (BUT), Anfärbung der Augenoberfläche
(Lissamingrün), ggf. Osmolaritätsmessung (im Rahmen von
Studien), ggf. Ästhesiometrie, TW-Spülung und weitere aufwändigere Verfahren wie die konfokale Biomikroskopie.
Was kann man zu Sicca-Syndrom und refraktiver Chirurgie sagen? Verschlimmert sich ein trockenes Auge oder tritt es gegebenenfalls erstmalig nach dem chirurgischen Eingriff auf?
Die Durchtrennung kornealer Nerven während refraktiver chirurgischer Eingriffe kann durch die Unterbrechung des Reflexbogens zwischen Kornea und Tränendrüse eine Mindersekretion und eine reduzierte Blinzelfrequenz hervorrufen. Beides
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sicca-syndrom
kann ein trockenes Auge auslösen oder ein vorhandenes verschlimmern. Zumeist kommt es jedoch zu einer Regeneration der Nerven und zu einer Normalisierung der Benetzung.
Chirurgische Eingriffe an den Augen führen immer zu einer
Schädigung der Konjunktiva und des Hornhautepithels. Sowohl die verwendeten Substanzen, die mechanische Reizung
als auch die post-operative topische Applikation von Medikamenten kann Epithelzellen, Becherzellen und Nervenzellen
reizen und/oder schädigen und so eine Entzündungsreaktion
an der Augenoberfläche begünstigen. Insbesondere der Verlust
an Becherzellen führt dabei zu einem starken Trockenheitsgefühl. Auch hier ist zumeist mit einer Restitutio ad integrum
zu rechnen, jedoch können häufige Folgeeingriffe und lange
Medikamentenapplikationen – vor allem konservierungsmittelhaltiger Präparate – ein trockenes Auge begünstigen.
Wie sieht eine Benetzungstherapie nach Hornhauttransplantation, Hornhautulzera aus?
Konservierungsmittelfreie Tränenersatzmittel zusätzlich zur
entsprechenden Basistherapie, zum Beispiel Steroide, Antibiotika etc., alles konservierungsmittelfrei.
Die Siccatherapie beginnt mit einer entzündungshemmenden
Therapie, zu der noch Tränen substituiert werden müssen? Gilt
dies heute unverändert?
Die Behandlungsempfehlungen laut DEWS (Dry Eye
Workshop)-Stufentherapie1 nach Schweregraden lauten:
Stufe 1: Aufklärung und Umwelt-/Diätmodifikationen, Eliminierung schädlicher systemischer Medikamente, Tränenersatzmittel, Gele/Salben, Augenlidbehandlung. Stufe 2 schließt
sich an, wenn die Behandlungen der Stufe 1 nicht erfolgreich waren: antiinflammatorische Wirkstoffe, Tetracycline
(bei Meibomianitis, Rosacea), Punctum Plugs, Sekretagoga,
feuchtigkeitserhaltende Brillen. Stufe 3 (wenn Stufe 2 nicht
erfolgreich ist) umfasst Serum, Kontaktlinsen, permanenten
Punctum-Verschluss. Stufe 4 (wenn Stufe 3 keinen Erfolg
hatte) schließlich umfasst systemische antiinflammatorische
Wirkstoffe sowie chirurgischen Eingriff (Lidoperation, Tarsorraphie, Transplantation von Schleimhaut, Speicheldrüse, Amnionmembrantransplantation).
Was halten Sie von der Applikation östrogen- oder androgenhaltiger Augentropfen? Macht dementsprechend die Zusammenarbeit mit Gynäkologen Sinn?
Untersuchungen zeigen, dass eine Androgendefizienz zu einer Meibomdrüsen-Dysfunktion führen kann. Dabei wird
ein Zusammenhang von Androgendefizienz und dem hyperevaporativen trockenen Auge bei post-menopausalen Frauen
hergeleitet, die an einem Sjögren-Syndrom erkrankt sind.
Eine Applikation von androgenhaltigen Augentropfen wurde
im Rahmen von Studien durchgeführt, jedoch bislang nicht
in Deutschland. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, vor
allem bei Vorliegen von Trockenheit auch anderer Schleimhäute (Nase, Mund, Urogenitaltrakt) ist unbedingt empfeh-
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lenswert und essentieller Bestandteil einer adäquaten Therapie
zum Beispiel eines Sjögren-Syndroms.
Welche Erfahrungen haben Sie mit Steroiden und Immunsuppressiva, Serum-Augentropfen und/oder therapeutischen Kontaktlinsen gemacht?
Steroide und Immunsuppressiva sind unverzichtbare Säulen
der Therapie des trockenen Auges, um die oft unterschätzte
Entzündung der Augenoberfläche zu beherrschen. Steroide
sollten dabei nur kurzfristig gegeben werden und ggf. durch
Ciclosporin-A-Augentropfen (in Rizinusöl) ersetzt werden. Serum-Augentropfen spielen eine große Rolle bei den schwereren
Formen des trockenen Auges mit ausgeprägter Schädigung der
Augenoberfläche. Leider ist die Herstellung der Tropfen rechtlich gesehen nicht unproblematisch. Therapeutische Kontaktlinsen setze ich gerne bei rezidivierenden Erosiones in Verbindung mit einer ausreichenden Befeuchtung ein.
Mit Ausnahme einiger vitamin- oder hyaluronsäurehaltiger Präparate ersetzen bisherige Medikamente nur Volumen, ohne epitheliotrop zu wirken. Was halten Sie beispielsweise von VitaminA-haltigen Augentropfen?
Vitamin-A haltige Präparate setze ich zusätzlich zu befeuchtenden Substanzen ein, falls eine Re-Epithelisierung zum Beispiel bei wiederholten Erosiones oder einer ausgeprägten Keratitis superficialis punctata ausbleibt.
Ein Liposomenspray gilt als sogenannter Lipidmodulator. Bisher ist nicht geklärt, ob eine Interaktion mit den Hautlipiden
stattfindet, man befürchtet es jedoch. Dennoch kann dieses
Spray manchmal eine brauchbare Alternative sein. Wie erklärt
man sich das?
Meine Erfahrungen mit diesem Präparat zeigen, dass viele
Patienten subjektiv eine Verbesserung verspüren. Hierbei
wird ein kühlender Effekt beschrieben, verbunden mit einer
längeren Phase ohne Tränenersatzmittel-Substitution. Unverträglichkeiten wurden mir nur in Ausnahmefällen berichtet.
Zusätzlich ist die Applikationsart – das Sprühen auf die geschlossenen Lider – sicherlich für viele Patienten auch angenehmer. Weitergehende Studien in diesem Zusammenhang
sind wünschenswert.
Gibt es Langzeiterfahrungen mit Omega-Fettsäuren, tragen diese
zur Verbesserung der Symptomatik bei?
Analog zur Therapie der altersabhängigen Makuladegeneration (AMD) werden Omega-Fettsäuren zur Behandlung des trockenen Auges empfohlen. Wir raten unseren Patienten derzeit
zunächst, diese Fettsäuren durch eine entsprechend angepasste
Umstellung der Ernährung zuzuführen, wobei von uns vor
allem die Reduktion von Fleisch und ein häufigerer Konsum
von Fisch betont wird.
Es gibt Verbesserungen zum Punctum Plug. Welche Erfahrungen
haben Sie damit?
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Es gibt in der Tat eine Vielzahl unterschiedlicher Modelle.
Jeder Anwender hat da so seine ganz eigenen speziellen Erfahrungen gemacht. Technische Veränderungen werden häufig
vorgestellt, aber an der grundsätzlichen Situation und Verwendung hat sich innerhalb der folgenden Gruppen nichts geändert: short-term Punctum Plugs für ein bis fünf Tage, medium-term Punctum Plugs für bis zu sechs Monate, long-term
Punctum Plugs dauerhaft, nicht intracanaliculär, sondern nur
zum Verschluss des Tränenpünktchens. Short- und mediumterm Punctum Plugs lösen sich in den angegebenen Zeiträumen auf, long-term Plugs verbleiben. Da diese sich häufig
aus der Verankerung lösen (vor allem bei Manipulation wie
beispielsweise Lidrandpflege) setzte ich in diesen Fällen lieber
medium-term Plugs ein. Zu einem long-term intracanaliculären Verschluss rate ich zumeist nicht, da damit eine dauerhafte Infektionsgefahr besteht. Bei sich auflösenden Plugs hat
man die Möglichkeit, danach zu pausieren bzw. bei Besserung
des Befundes auf einen weiteren Verschluss zu verzichten.
Kollagen-Punctum-Plugs, die früher häufig und gerne verwendet wurden, werden seit der BSE-Krise nicht mehr im Handel
angeboten. Die angegebenen short-term Plugs bestehen aber
aus einem sich auflösenden Polysaccharid, welches gleiche
Charakteristika wie Kollagen besitzt.
Was können Sie zur Siccasymptomatik bei Glaukompatienten
sagen?
Sie wird vor allem durch die Applikation von konservierungsmittelhaltigen Augentropfen und bedingt durch die Wirkstoffe
selbst, zum Beispiel Betablocker, hervorgerufen. Wir empfehlen konservierungsmittelfreie Präparate oder solche, die mit
Tränenersatzmitteln kombiniert sind.
Die Compliance ist trotz Symptomatik und subjektiver Beschwerden nicht gut. Was könnte man zur Verbesserung tun?
Das ist ein generelles Problem bei allen Patienten. Ich erkläre
– mit teilweise erheblichem Zeitaufwand – den Patienten die
Erkrankungen und die Wirkung der empfohlenen Therapie im
Rahmen unserer Spezialsprechstunde Trockenes Auge, um so
ein besseres Verständnis für die richtige Anwendung der Therapie zu erreichen. Hilfreich sind insgesamt Kombinationspräparate (z.B. Anti-Glaukomatosa mit Tränenersatzmitteln),
also die Reduktion der Tropfengaben. Dies erhöht meines Erachtens die Akzeptanz einer Therapie.
Zum Stand der Siccaforschung: Ist mit neuen Ergebnissen zu
rechnen? In welche Richtung geht die Forschung?
Die Forschung auf diesem Feld hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Von herausragender Bedeutung
ist in Deutschland dabei die Sicca-Forschungsförderung des
Berufsverbands der Augenärzte (BVA) mit Unterstützung von
Bausch & Lomb/Dr. Mann Pharma. Einige interessante Forschungsvorhaben beschäftigen sich dabei mit:
1. der Analyse der Zusammensetzung des Tränenfilms und der
Entwicklung besserer Tränenersatzmittel.
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2. der Evaluation angewandter diagnostischer Verfahren (zur
Zeit Osmolaritätsmessung, wünschenswert wäre die Messung
von Entzündungsparametern und IgE bei Allergie)
3. der Untersuchung zur Bedeutung der Entzündungsreaktion
bei der Pathogenese des trockenen Auges: u.a. die Bedeutung
von regulatorischen T-Zellen und die Modulation der Immunantwort durch spezifische Immunsuppressiva.
Welche Rolle spielen Surfactant Proteine auf der Hornhautoberfläche und der Trefoil Factor Family Peptid 3 (TFF3)? Welche
Bedeutung haben sie für die Ursachenforschung und/oder Therapiemöglichkeiten?
In den vergangenen Jahren haben intensive Forschungsbemühungen in Deutschland, England, Japan, Italien und den USA
gezeigt, dass die Augenoberfläche eine Vielzahl an Substanzen
bildet, die bis dahin nur in anderen Schleimhautregionen nachgewiesen worden waren. Besonders die Arbeitsgruppe um Professor F. Paulsen (Halle a.d. Saale) hat hierbei zeigen können,
dass aus der Lunge und dem Darm bekannte Surfactant Proteine ebenfalls an der Augenoberfläche vorkommen. Die Funktion dieser Proteine wird zur Zeit intensiv untersucht. TFF3
wird in der gesunden Hornhaut nicht oder nur in geringsten
Mengen gebildet. Bei Erkrankungen wie zum Beispiel Herpes
Keratitis, Fuchs’scher Endotheldystrophie oder Keratokonus
wird TFF3 jedoch in großer Menge exprimiert2 . Die Hypothese, dass TFF3 hierbei die Wundheilung fördert, konnten wir
belegen, indem wir zeigen, dass die topische Applikation von
TFF3 die Heilung von großflächigen Erosiones im Tiermodell
erheblich beschleunigen kann3. Womöglich ergibt sich in Zukunft dabei eine therapeutische Option.
Der International Dry Eye Workshop (DEWS) stellt eine Systematik des Sicca-Syndroms auf. Ist diese Zusammenstellung hilfreich? Was ist von diesem Workshop zu erwarten?
Die Systematik, die auf der Klassifikation der American-European Consensus Group beruht, ist sehr sinnvoll, international
etabliert und anerkannt. Für den Augenarzt ist ein Teil der Kriterien entweder leicht abfragbar oder mit einfachen Tests (z.B.
Schirmer) untersuchbar. Laboruntersuchungen (SS-A und
SS-B Antikörper) sind ebenfalls leicht durchführbar. Weitere
Untersuchungen wie die Speicheldrüsenszintigraphie sind in
interdisziplinärer Zusammenarbeit anzustreben. DEWS ist das
erste internationale Projekt, das in einer gemeinschaftlichen
Tätigkeit Ursache, Diagnostik und Therapie des trockenen
Auges aktuell dargestellt hat. Es ist zur Zeit als aktuellste und
umfassendste Publikation zu diesem Thema zu werten. Eine
deutsche Version des DRWS-Reports kann von der Homepage
der Tear Film and Ocular Surface Society (TFOS) kostenlos
heruntergeladen werden (www.tearfilm.org)
Dr. Steven, vielen Dank für das Gespräch.
1) Modifiziert nach: International Task Force Guidelines for Dry Eye185
2) Steven et al. Peptides 2004
3) Paulsen et al. J Biol Chem 2008
Concept Ophthalmologie 05 / 2009
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