DER (UNZUVERLÄSSIGE) ERZÄHLER Fiction does not imitate reality out there. It imitates a fellow telling about it. (Baker) 1 TYPISCHE TEXTMERKMALE UNZUVERLÄSSIGEN ERZÄHLENS (NACH NÜNNING) 1) Autodiegetisches Erzählen 2) Hoher Grad an Explizität 3) Häufung von subjektiv gefärbten Kommentaren, interpretatorischen Zusätzen, persönlichen Stellungnahmen und Leseranreden 4) Zwanghaftes Monologisieren 5) Explizite Widersprüchlichkeiten und andere Unstimmigkeiten 6) Widersprüche zwischen Selbst- und Fremdcharakterisierung des Erzählers 7) Linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität (verbal habits / tics) 8) Linguistische Signale für hohe Involviertheit (Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen) 9) Explizite Thematisierung und Bekräftigung der eigenen Glaubwürdigkeit 10) Eingestandene Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen 2 Es liegt mir daran, gleich in den ersten Zeilen dieser Niederschrift zu beweisen oder darzutun, daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen darf. Nämlich ich habe es in Südafrika zu einem Vermögen gebracht, und das bringen Leute ohne tote Sprachen, Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie eigentlich am leichtesten und besten zustande. Wilhelm Raabe: Stopfkuchen 3 DAS WELTWISSEN DES REZIPIENTEN 1. Allgemeines Weltwissen 2. Das kulturell jeweils dominante Wirklichkeitsmodell Persönlichkeitstheorien Das in einer Gesellschaft vorherrschende Werte- und Normensystem Das individuelle Werte- und Normensystem Allgemeine literarische Konventionen Gattungskonventionen Intertextuelle Bezugsrahmen Stereotype Modelle literarischer Figuren Das vom Leser konstruierte Werte- und Normensystem des jeweiligen Textes 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 4 LESER Rezipient von schriftlichen Texten; in der Rezeptionstheorie je nach Ansatz verschiedene, allerdings nicht einheitlich verwendete Terminologie - vgl. empirischer/realer Leser, fiktiver Leser/Adressat, idealer Leser, ModellLeser, impliziter Leser, intendierter Leser 5 empirischer/realer Leser: Person oder Personengruppe, die den Text liest oder hört. Entweder historisch oder gegenwärtig. fiktiver Leser/Adressat: Der Zuhörer oder Leser kann im Text als Figur auftauchen oder nicht. Er ist der vom Erzähler angesprochene Agent, er befindet sich also auf derselben Ebene wie der Erzähler. Wenn sich jemals ein Mensch in Umständen befunden hatte, die man unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling in denjenigen, worin wir ihn das erstemal mit unsern Lesern bekannt machen. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon 6 Modell-Leser: Textbasiertes, anthropomorphes Konstrukt, das gekennzeichnet ist durch die Kenntnis aller einschlägigen Codes und auch über alle notwendigen Kompetenzen verfügt, um die vom Text erforderten Operationen erfolgreich durchzuführen. Der Modell-Leser hat außerdem ein Gedächtnis, um das textspezifische Wissen aufbauen zu können, sowie die Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen. […] er stand auf, und schöpfte mit der hohlen Hand von diesem Wasser, dessen fließenden Cristall, seiner Einbildung nach, eine wohltätige Nymphe seinen Durst zu stillen, aus ihrem Marmorkrug entgegen goß […] Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon 7 IMPLIZITER LESER In diesem Lesemodell spielt einer der meistzitierten und schwierigsten Begriffe Isers eine wichtige Rolle: der des impliziten Lesers. Iser formuliert ihn analog zum Begriff des »impliziten Autors«, den der amerikanische Literaturwissenschaftler Wayne C. Booth eingeführt hat. Was damit offenbar nicht gemeint ist, ist leichter zu sagen, als eine positive Bestimmung zu treffen. Der implizite Leser ist nicht der Leser, der häufig in literarischen Texten direkt angesprochen wird - das wäre etwa ein fiktiver Leser, analog zum Erzähler . Der implizite Leser ist auch weder der Leser, den ein Autor im Blick hat, wenn er seine Texte schreibt - das wäre etwa der historisch zu lokalisierende Adressat oder intendierte Leser -, noch der reale empirische Leser. Der implizite Leser ist aber auch nicht ein fiktiver idealer Leser, der bei seiner Lektüre alles, was der Text an Bedeutungsangeboten enthält, vollständig realisieren könnte.. 8 Immerhin scheint diese Vorstellung dem, was Iser mit seinem Begriff meint, noch am nächsten zu kommen. Denn wie der ideale Leser hat auch der implizite Leser »keine reale Existenz« und ist auch überhaupt kein Leser - die personifizierende Redeweise ist leider irreführend. Der implizite Leser ist vielmehr die »Wirkungsstruktur des Textes« , und zwar einerseits als Eigenschaft der Texte, nämlich als »Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet« , und andererseits als der »Übertragungsvorgang, durch den sich die Textstrukturen über die Vorstellungsakte in den Erfahrungshaushalt des Lesers übersetzen«. Iser spricht auch von der »im Text ausmachbaren Leserrolle, die aus einer Textstruktur und einer Aktstruktur besteht«. Es scheint, als bezeichne »impliziter Leser« sowohl die Gesamtheit aller gedanklichen Operationen, die ein Text für eine adäquate Rezeption vom Leser fordert, als auch die entsprechenden kognitiven Operationen und die textlichen Grundlagen selbst. 9 Das Konzept des impliziten Lesers ist ein »transzendentales Modell, durch das sich allgemeine Wirkungsstrukturen fiktionaler Texte beschreiben lassen« , ein allgemeinster Beschreibungsrahmen für die bewußtseinsmäßige Form, in der sich alle individuellen Realisierungen aller fiktionalen Texte vollziehen. Jeder reale Leser kann die Wirkungsstrukturen eines fiktionalen Textes »immer nur selektiv realisieren«, und zwar »je nach den lebensweltlichen Dispositionen sowie dem Vorverständnis«. Jede Lektüre ist vorläufig, auch der umfassendste Kommentar kann die »Wirkungsstruktur der Texte« nicht vollständig realisieren. http://www.litde.com/verfahren-der-textanalyse/wirkungssthetik/wolfgangisers-wirkungssthetische-konzepte.php 10