090 // weave 01.13 // Tools // Neurodesign ››› weave 01.13 // 091 ONLINE Links zum Thema gibt’s unter www.weave.de/linklisten/neurodesign0113 Menschen erkennen Muster und Bilder schneller als Schrift // Während sich das Stammhirn (zuständig für Atmung, Hunger und Durst, Stoffwechsel, Partnersuche, Werbung und Fortpflanzung) der Wirbeltiere schon vor rund 250 Millionen Jahren entwickelte und das Zwischenhirn (Selbstbehauptung, Emotionen, Positiv-/Negativ-Abgleich) der Säugetiere vor etwa 65 Millio­nen Jahren, entstand der Neokortex (Sprache, abstraktes Denken, Gedächtnis, Lernen et cetera) erst vor rund 100 000 Jahren. Die unbewusste Wahrnehmung ist wirklich unbewusst // Menschen sind absolut nicht in der Lage, ihre unbewussten Handlungen zu erklären. Die üblichen Befragungsmethoden der Marktforschung funktioni­eren also nicht. Um herauszufinden, was der Befragte unbewusst wahr­genommen oder entschieden hat, muss man indirekte Messverfahren wie zum Beispiel Reaktionszeitmessungen anwenden. Menschen verarbeiten nur einen winzigen Bruchteil der von den Sinnesorganen aufgenommenen Informationen bewusst // Die Sinnesorgane vermitteln pro Sekunde elf Millionen Sinnes­ eindrücke an das Gehirn. Die bewusste Wahrnehmung kann davon aber nur 40 bis 50 separate Einheiten (also 0,0004 Prozent) pro Sekunde verarbeiten. Den Rest wertet der Mensch unbewusst aus. Besonders kritisch sind die 40 bis 50 Einzeleindrücke zu betrachten, wenn man sich klarmacht, dass der Mensch Sprache und Texte im Grunde nur ­bewusst wahrnehmen kann. Lesen ist kognitiv aufwendig und daher anstrengend. Die bewusste Wahrnehmung wird durch das Implizite gesteuert // Es dauert im Schnitt mindestens 280 Millisekunden, bevor das Gehirn auch nur damit beginnt, die kümmerlichen 40 bis 50 Sin­nes­ein­drücke zu verarbeiten. Implizit haben wir bis dahin aber schon ungeheure Informationsmengen ausgewertet. Die gute Nachricht: Die implizite Auswertung nutzt der Mensch, um die bewuss­ten 40 bis 50 Bits optimal einzusetzen. Das Implizite steuert also das Explizite! Auch noch wichtig: Die implizite Wahrnehmung kann man nicht abschalten. reptil-Hirn surft mit // Der Ausdruck »intuitive Bedienung« sagt es eigentlich schon, und Eyetracking-Auswertungen belegen es: User explorieren eine Web­seite nicht zwin­gend nach rationalen Gesichtspunkten, sondern entscheiden unbewusst, was interessant und wich­tig ist und was sie ignorieren können. Der Grund dafür ist eigentlich ganz simpel: Auch die für Instinkt und Selbsterhalt zu­ stän­digen ältesten Areale unseres Hirns sind online. Vielleicht liegt es in der Natur der Sache, dass Interface- Das Interaction Design hat eine neue Verbündete: die implizite Wahrnehmung. Digitale Produkte profitieren, wenn Konzeption und Design die unterschwellige Wahrnehmung des Users mitbedenken. Rolf Schulte Strathaus zeigt erste Ansätze der blutjungen Disziplin Neurodesign Name Dr. Rolf Schulte Strathaus Beruf Gründer und Geschäftsführer der User-Experience-Agentur eparo GmbH Kostprobe www.eparo.de Bilden Sie einen Satz mit 13 Den letzten Absatz des Artikels habe ich auf dem Flug nach Stuttgart auf Platz 13a geschrieben ;-) Desig­ner dem unbewussten Verhalten des Users keine ausdrückliche Aufmerksamkeit widmen – auf jeden Fall kämen dabei aber nutzerfreundli­chere Inter­faces heraus. In »Don’t make me think«, einem »Must-read« für Konzepter, Designer und Entwickler, fordert Steve Krug als Grundprinzip, Usern schon implizit alle zentralen Informationen zukommen zu lassen. Und bereits UsabilitySenior-Guru Jacob Nielsen ermahnte seine Kollegen im Sinne des Neuro­ designs: Der Grund für sein Pos­tulat, nicht mehr als sieben Einträge für Auf­ zählungen und Listen vorzusehen, lag in der Feststellung, dass der Mensch maximal sieben Stichwörter mit ei­ nem Blick erfassen kann. Mit mehr Einträgen überschreiten wir das Ka­ pa­zitäts­limit des Users. Was zu viel ist, blendet er einfach aus. Neuroimaging und die praktischen Konsequenzen Die funktionelle Magnetresonanzto­ mo­grafie (fMRT) hat eine genaue Zu­ ord­nung zwischen Hirnarealen auf der einen sowie Aktions- und Wahrnehmungsmodi auf der anderen Seite in Ansät­zen möglich gemacht und weckt die Hoffnung, das menschliche Verhalten bis ins letzte Detail zu entschlüsseln. Nicht weniger spannend sind Ex­perimente zur unbewussten Wahrneh­mung und Entscheidungsfindung, die das Bild vom Vernunftwesen Mensch ins Wanken bringen. Über die Grenzen der Neurowissenschaften hinaus entbrannte 2008 die Debatte zur Exis­tenz des freien Willens: John-Dylan Haynes vom Bern­ stein Center for Computational Neuroscience Berlin hatte in einer Stu­die gezeigt, dass der präfrontale Kortex schon sieben Sekunden vor einer bewussten Entschei­dung aktiv ist ( w ww. heise.de/tp/artikel/28/28025/1.html ) . Wird der freie Wille wirklich überbewertet? Haben Usability- und Hirn­ forschung mehr gemein als die Zahl sieben? Wie auch immer die Detailerkenntnisse der Hirnforschung ausfallen: Sicher ist, dass unbewusste Wahr­ nehmungen das menschliche Handeln und damit die User Experience beeinflussen. Interface Design soll­te diesen Faktor mit ins Kalkül ziehen. Bewusstes Wahrnehmen ist ein Filterprozess Erwartungen und Relevanz steuern unsere bewusste Wahrnehmung. Die aufgenommenen Informationen aber analysieren und bewerten wir unbewusst. Danach werden nur die als 092 // weave 01.13 // Tools // Neurodesign weave 01.13 // 093 ­ Buchtipps Dirk Held & Christian Scheier: Wie Werbung wirkt. Erkenntnisse des Neuromarketing, Freiburg im Breisgau (Haufe-Lexware) 2006, 98 Seiten. ISBN 978-3448072518 Steve Krug: Don’t make me think! Web Usability – Das intuitive Web, Frechen (mitp) 2002, 224 Seiten. ISBN 978-3826608902 Malcolm Gladwell: Blink! Die Macht des Moments, Frankfurt/ Main (Campus) 2005, 264 Seiten. ISBN 978-3593377797 Dan Ariely: Denken hilft zwar, nützt aber nichts: Warum wir immer wie­der unver­nünftige Entscheidungen treffen, München (Knaur TB) 2010, 448 Seiten. ISBN 978-3426780350 wichtig erachteten Dinge an die lesenden, denkenden, Entscheidun­gen treffenden Hirnareale weitergelei­tet. Wie ein Vorstandsassistent, der die ein­gehenden Informationen (E-Mails, Dokumente, Anrufe, Nachrichten) nach Wichtigkeit und Dringlichkeit bewertet und nur wirklich relevante Informationen an den Vorstand weiterleitet (»Das will der Chef garantiert sehen«). Auch in der Werbewirkungsanalyse taucht das Phänomen auf: Ein Biertrinker wird ein Werbeplakat zu Rotwein vermutlich komplett übersehen, während ein Wein­ trin­ker das Plakat direkt bemerkt und vermutlich sogar liest. Die Erkenntnisse aus der Neurophysiologie und Psychologie werden seit einigen Jahren auch im Marketing verwendet. Neuromarketing versucht die bislang unverstandenen Phänomene beim Kaufverhalten und bei der Markenwahrnehmung zu entschlüsseln und konkrete Handlungshilfen für die Markenentwicklung und für Marketingmaßnahmen zu entwickeln. Dabei kommt den unbewussten, »impliziten« Handlun­gen eine wichtige Rolle zu. Neuromarketing beschäftigt sich hauptsächlich mit den gro­ ßen Fragen der Markenentwicklung und -kommunikation. Kon­kre­te Hilfen für das Interaction Design finden sich dort aber nicht. Fragt man Menschen, ob sie manipulierbar sind, antworten sie sicherlich, dass sie natürlich komplett autonom und frei entscheiden. Doch implizite Wahrnehmungen können das menschliche Verhalten verändern. Ein Fruchtsaft schmeckt abhängig von der Farbe der Verpackung fruchtiger. Versuchspersonen bewegen sich langsa­ mer, wenn sie unterschwellig mit dem Begriff »Alter« konfrontiert wurden. »Neuro« für mehr Euro Noch nicht angekommen sind die Erkenntnisse aus der Neuropsycholo­gie in den Bereichen Konzeption und Gestaltung interaktiver Produkte und Services. Im Juli 2012 gab Lori Kirkland, User-Experience-Expertin und CEO der in Denver, Colorado, ansässi­ gen Agentur Neurodesign Inc., zumin­dest erste Denkanstöße auf UXmatters ( w ww.is.gd/8CXIdv ) . Ihr Credo: Mit dem Wissen über die Gehirnfunk­ tionen und die menschliche Wahrneh- mung lassen sich bessere Designentscheidungen treffen. Das fundamental Neue ist dabei die aktive Einbeziehung des Unbewuss­ten in den Designprozess. Das Unbewusste kann so zu einem mächtigen Verbündeten werden. Es ist in der Lage, große Informationsmengen sehr schnell zu verarbeiten und die bewusste Wahrnehmung zu steuern. Die Aufgabe von Konzeption und Design ist es, die implizite Wahrnehmung da­bei zu unterstützen, die »richti­gen« Entscheidungen zu treffen. Insbesondere bei der Aufmerksamkeitslenkung wird die Rolle des Unbewussten bisher weitgehend ignoriert – häufig mit fatalen Konsequenzen. Bei­spiele aus Eyetracking-Studien bei eparo zeigen, wie ausgeprägt diese unbewusste Vorentscheidung ist und welche oft negativen Konsequenzen für die Aufmerksamkeitsverteilung bei Interfaces damit verbunden sind. Hier können die Erkenntnisse aus der Neuropsychologie für deutliche Verbesserungen sorgen. Anders als beim Neuromarketing fragt das Neurodesign pragmati­scher: Beim Design digitaler Produkte und Services zählen primär operative Ziele und die Erledigung konkreter Aufgaben. Nicht so sehr die Zielgruppe, son­dern der einzelne User wird betrachtet. Die Marke ist eher nachgelagert über das Interface erlebbar. Das Implizite gestalten und messen Das Implizite ist immer aktiv, arbeitet viel schneller als das Bewusstsein und lässt sich nicht abschalten. Wer dies bedenkt, richtet die Konzeption nach den folgenden Kriterien aus: Was soll der User verstehen? Welche Erwartung will ich schüren? Wie kann ich meine Botschaft der impli­ziten Wahrnehmung vermitteln? Und zum Schluss: Welche Kernbotschaften und Entscheidungen soll der User bewusst wahrnehmen? Das Unbewusste liest nicht, sondern es erkennt und beurteilt Bilder, Mus­ter und Strukturen. Eine gute praktische Prüfung ist, den InterfaceEntwurf mit zusammengekniffenen Augen zu betrachten. Stimmt das Bild, das ich dann sehe, mit meiner geplan­ ten Informationshierarchie über­ein? Erst danach folgt die Überlegung, Tipp 1 Tipp 2 Gestaltgesetze wiederentdecken // Jeder Designer hat vermutlich irgendwann im Rahmen seiner Ausbil­dung auch von den Gestaltgesetzen gehört (die gute Gestalt, Figur und Grund, Kontinuität, Nähe, Ähnlichkeit, Einfachheit). Diese wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ent­wickelt und beschreiben etwa, wie einzelne Elemente als Gruppe wahrgenommen werden. Beispiel »Nähe«: Elemente mit geringen Abständen zueinander nimmt der User als zusammengehörig wahr. Die Gestaltgesetze beschreiben, wie man der unbewussten Wahrnehmung das Leben leichter macht – und damit die Aufmerksamkeit gezielt steuert. Wen­det man diese falsch an, wird die bewusste Aufmerksamkeit sehr leicht in die Irre geführt. Beim Wegwei­ser unten sind die Stockwerke und Zi­m­ mer­nummern gruppiert. Schnel­le Orientierung ist damit nur schwer möglich. Gut angewendet, trägt das Gesetz der Nähe zu einem schnellen Verständnis des Informationsangebots bei und hilft dem User, die für ihn wichtigen Inhalte zu finden. Texte sind Bilder // Der Umgang mit Text wird sehr oft vernachlässigt. Viele Onlne-Angebote setzen Fließtexte wie in Printmagazinen. Häufig mit blumigen Einleitungen, Fakten und Inhalten, die sich im Text verstecken, und ohne Absätze oder Auszeichnungen, die das Lesen erleichtern könnten. Dabei könnte die unbewusste Wahrnehmung vorzüglich Muster erken­nen, um das Bewusstsein bei der Informationsaufnahme zu unterstützen. Texte sollten daher als Bilder konzipiert werden. Die Frage lautet: Wie wirkt der Text, wenn ich mir mit zusammengekniffenen Augen nur die Gestaltung ansehe? Welche Hierarchie wird deutlich? Was kann ich ableiten, ohne den Text gelesen zu haben? Erst dann kommt der eigentliche Text. Auch hierbei hat das Unbewusste noch seine Bedeutung. Einfach zu erfassende Begriffe erleichtern das Scannen der Inhalte. Vermeiden Sie daher Schmuck-Headlines, die das Design zwar eventuell vorgibt, auch wenn sie für Nutzer bedeutungslos bleiben, denn das Unbewusste stuft diese sofort als irrelevant ein. Ein gutes Beispiel findet sich auf box.com. Die Hierarchie der Texte wird direkt deutlich. Schon die Headline vermittelt den Hauptnutzen. Konkrete Features sind klar aufgelistet. Icons unterstützen die visuelle Differenzierung. Tipp 3 Erwartungen und Bedürfnisse steuern die Wahrnehmung // Die unbewusste Wahrnehmung analysiert alle Sinneseindrücke und lenkt die bewusste Wahrnehmung schnell und präzise zu jenen Inhalten, die der Person aktuell als wichtig und relevant erscheinen. Auf die Größe und Positionierung dieser Inhalte kommt es dabei kaum an. In Usability Tests picken User oft winzig kleine Links oder einzelne Wörter im Fließtext heraus, wenn sie ihnen bei ihrer Aufgabe helfen. Das Unbewusste wird so zu einem Verbün­deten: Inhalte mit klarem Handlungsfokus müssen Desig­ner nicht mehr »herausschreien«. Ein gutes Beispiel ist die Evolution der Startseite von www.airbnb.de . Hier steht klar die funktionale Suchleiste im Vordergrund. Sie stößt Nutzer förmlich darauf, nach einer Unterkunft zu suchen. Die emotionalere Ansprache »Discover, save and share your favorite places on Airbnb« steht eher im Hintergrund. Die neue Gestaltung (unten) stellt emotionale Aspekte wie das Wecken von Wünschen und Begehrlichkeiten (»Ich könnte mit Airbnb nach San Francisco …«) in den Vordergrund. User mit einem klaren Ziel (Zimmer in Karlsruhe) werden sofort und ohne Zögern das Sucheingabefeld finden und nutzen. Zusätzlich bleibt der emotionale Bereich in Erinnerung. Unentschlossene Besucher können ohne das störende Sucheingabefeld die ganze Seite nutzen, um Neugier und Verständnis für das Angebot aufzubauen. Auffällig: Airbnb verzichtet auf große Erklärtexte, die Erläuterung zum Angebot findet sich ganz klein unten auf der Seite. Auch hier vertraut Airbnb auf das Unbewusste: Ein User, der mehr wissen will, wird diesen Erklärtext auf jeden Fall wahrnehmen. Texte sind Bilder 094 // weave 01.13 // Tools // Neurodesign »Die Zuhörer sitzen ganz oben in den Vorstandsetagen« Dr. Christian Scheier, Gründer und Geschäftsführer der Hamburger decode Marketingberatung GmbH ››› www.decode-online.de // Unter dem Motto »Implicit Marketing« analysiert und lenkt die decode Marketingberatung GmbH ­intuitive Kaufentscheidungen. Wer sich unter www.decode-online.de registriert, erhält einen Newsletter, der regelmäßig über themenrelavante Infos aus den Bereichen Verhaltensökonomie, Psychologie und Neurologie berichtet und Konsequenzen für die Marketingpraxis erwägt. Herr Scheier, warum sind implizite Einflussfaktoren im Marketing so wichtig? Die Kaufentscheidung bestimmt über Erfolg oder Misserfolg von Produkten. Kernaufgabe im Marketing ist daher die Aktivierung zum Kauf. Hier spielen Marken eine zentrale Rolle, weil sie unser Denkzentrum entlasten (Cortical Relief Effect) und dazu führen, dass Menschen auch ganz wesentlich intuitiv entscheiden. Meist werden Marken jedoch nur explizit ausgesteuert. Das Implizite wird vernachlässigt. Um wirklich erfolgreich zu sein, müssen Marken beide Dimensionen ansprechen. Die expliziten Wünsche von Kunden lassen sich erheben und machen selten Probleme. Die Herausforderung liegt darin, die impliziten Triebfedern des Handelns zu identifizieren und zu bedienen. Wie erheben Sie implizite Faktoren? Wir arbeiten mit Reaktionszeitmessungen. So ermitteln wir implizite Markeninhalte und -werte. Die Ergebnisse nutzen wir, um die Positionierung und die Kommunikation der Marke zu optimieren. Das geht so weit, dass wir in Unternehmen die Briefing-Kultur umstellen, damit implizite Faktoren überhaupt systematisch berücksichtigt werden. Welche Erkenntnisse leiten Sie aus Ihrer Erfahrung ab? In Deutschland gewinnt implizites Marketing immer mehr an Raum. Wichtige Stimmen, wie der israe­lischUS-amerikanische Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, der sehr deutlich auf die Relevanz des Impliziten hinweist, finden immer häufiger Gehör. Und das Wichtigste: Die Zuhörer sitzen keinesfalls mehr primär in den Marketingabteilungen, sondern ganz oben in den Vorstandsetagen. Implizites Marketing sollte auf allen Ebenen sauber exekutiert werden. Dafür haben wir erprobte Mechanismen und Techniken entwickelt, bei denen eine Marke am Ende an allen Touchpoints sowohl explizit als auch implizit zu ihren Kunden spricht. welche Kernbotschaften und Entscheidungen der User bewusst wahr­ nehmen soll und wo diese sinnvoll zu platzieren sind. In der Marktforschung sind feste Standardprozesse und -methoden schon seit Jahrzehnten etabliert. »Ein wirkliches Interesse an Neuerungen ist da nicht erkennbar«, sagt Markenforscher Frank Lehman von evolu­ tion-consulting in Bad Münstereifel. »Im Marketing und in der Marktforschung sind ›Implizit‹ und ›Neuro‹ immer noch Teufelszeug.« Kein Wun­der, denn direkte Befragungen von Testpersonen in Usability-Tests helfen dabei nicht weiter, da unbewusste Hand­lungen und Entscheidungen ja gerade eben nicht bewusst sind. Die Testpersonen wissen schlicht nicht, warum sie etwas getan oder nicht getan haben. Leider versuchen sie trotzdem, möglichst hilfreich sachdienli­ che Hinweise zu geben, die aber nicht helfen, da sie nur geraten sind. Auch die Reaktionszeitmessun­ gen, die im Bereich der Markenwahrnehmung gut funktionieren, nützen bei der Beurteilung der impliziten User Experience nichts. Die Aufgaben und Inhalte sind dafür zu komplex und erstrecken sich über einen zu langen Zeitraum. Messen ließe sich höchstens, ob User durch die Verwendung des Interfaces unbewusst die Meinung über die Marke verändert haben. Erschwerend kommt hinzu, dass sehr viele Probanden benötigt würden, um statistisch signifikante Aussagen treffen zu können. Qualitative Tests und Eyetracking-Analysen Eigentlich bleibt nur die genaue qualitative Beobachtung im User-Experience-Test. Durch die Kombination von Eye-Tracking-Daten, Handlun­ gen der Probanden sowie Bild und Ton erkennt man sehr gut, wie ein User unbewusst reagiert. Dabei kommt es auf die kleinen Dinge an. Ist ein User plötzlich an einem Inhalt interessiert? Zögert er kurz vor dem Ausfüllen eines Formulars? Oder kommentiert der Proband spontan ein Angebot? Diese Methode funktioniert aber nur, wenn die untersuchten Inhalte für den Probanden tatsächlich relevant sind. Soll ein Immobilienrechner getestet werden, müssen die Testpersonen tatsäch­lich auf der Suche nach einem Eigenheim sein. Das Unbewusste lässt sich mit dem üblichen »Stellen Sie sich mal vor …« nicht überlisten. Ein spannender Ansatz zur Messung oder impliziten Bewertung eines ganzen Interaktionsprozesses ist das in der kognitiven Psychologie seit etwa 2008 immer stärker beachtete Fluency/Disfluency-Konzept. Beispiel: Die Aufgabe »Eröffnen Sie ein Konto« bil­den Nutzer mental als Folge einzel­ner Handlungen, Entscheidungen und Epi­­soden ab, die sie dann im Umgang mit dem Interface real vollziehen. Dabei dient das Fluency/Disfluency-Kon­ zept als Indikator des impliziten Erlebens, weil es auf das subjektive Erleben baut, das Nutzer mit der Bearbeitung einer Aufgabe assoziieren. Messbar ist diese erlebte Verarbeitungsflüssigkeit, wenn man sie auf ganze Prozesse bezieht, über einen indirekten Fluency-Effekt: Erleben Nutzer einen Prozess als fluent, erhöht dieses Erleben die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine folgende einfache Bewertungsfrage statistisch signifikant positiver beantworten. Umgekehrt reduziert sich die Wahrscheinlichkeit einer positi­ven Antwort, wenn der Prozess disfluent gestaltet ist. Wohin geht die Reise? Insbesondere bei Smartphones und Touch-Geräten setzen IX-Designer die intuitive Bedienbarkeit ja heute bereits voraus. Um hier messbar gute Ergebnisse zu erzielen, muss bei der Konzeption die unbewusste Wahrnehmung noch weiter in den Vordergrund rücken. Designer soll­ten daher im gesam­ten Designprozess von der Produkt­strategie über High-FidelityPrototy­pen bis zu den iterativen UserExpe­rience-Tests auch die implizite Wahrnehmung strategisch mitbe­den­ken. Neben fundier­tem psychologi­ schem Grundwissen, das schon in die Konzeptions- und Gestaltungsphase einfließen sollte, sind dazu am Ende auch spezielle Test­verfahren notwendig – und die Bereitschaft, Interfaces für das unterwusste Erleben zu optimieren. Dr. Rolf Schulte Strathaus (ae)