Erich Fromm • Die «direkte Begegnung» als Lebensschule nach Erich Fromm. (6. Brief ) „Unser Unbewusstes ist der ganze Mensch.“ (Fortsetzung) Dr. Rainer Funk schreibt: «Indizien für Unbewusstes. Es wurde gezeigt, wie Fromm persönlich zur Psychoanalyse und zur Arbeit mit dem Unbewussten kam und welche Bedeutung die Verdrängung für Freud hatte als Zugang zum Unbewussten. Da uns viele Hindernisse für eine direkt gefühlte Begegnung mit uns selbst und mit anderen nicht bewusst sind, ist es für eine Einführung in die Lebensschule nach Fromm hilfreich, noch andere Indizien für Unbewusstes kennen zu lernen. Bereits bekannt sind als Indizien für verdrängte Strebungen und Wahrnehmungen die (Selbst-)Täuschungen und Scheinbegründungen in Form von Rationalisierungen sowie der Widerstand gegen alles, wodurch das Verdrängte bewusst zu werden droht. Ein Blick auf das alltägliche Verhalten zeigt, dass dieses sich durch viele Widersprüchlichkeiten auszeichnet. Besonders auffällig sind Widersprüche zwischen dem, was wir bewusst erkennen und auch wollen, und unserem tatsächlichen Verhalten. Wenn Einsicht und Absicht auf der einen Seite und das tatsächliche Verhalten auf der anderen Seite sich „trotz guten Willens“ nicht entsprechen, so ist dies ein Indiz dafür, dass es noch ein gegenläufiges unbewusstes Wollen gibt. Dieses uns nicht bewusste Wollen dominiert dann unser Verhalten und macht es unangemessen, irrational und dysfunktional. Die auffälligsten Beispiele sind von psychischen Erkrankungen her bekannt. Jemand will eine Seminararbeit schreiben und hat auch gute Gedanken im Kopf, aber er schafft es nicht, die Gedanken schwarz auf weiß zu Papier zu bringen. Lässt sich diese Schwierigkeit nicht beheben, spricht man von einer „Arbeitsstörung“, die, wenn wir mit dem Unbewussten rechnen, so erklärt wird, dass es einen Konflikt zwischen dem bewussten Wollen und einer gegenläufigen unbewussten Strebung gibt, etwa einer unbewussten Leistungsverweigerung. Gelingt es, einen gefühlsmäßigen Zugang zur unbewussten Leistungsverweigerung zu bekommen, lässt sich der Konflikt auflösen und jemand wird fähig, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Arbeitskreis Schweiz Es kann auch etwas anderes als eine unbewusste Leistungsverweigerung im Widerspruch zum bewussten Wollen stehen, etwa ein unbewusster Perfektionismus, für den kein zu Papier gebrachtes Wort gut genug ist. Es sind noch ganz andere unbewusste Gegenstrebungen für eine solche psychische Störung denkbar. Und die Arbeitsstörung ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem großen Spektrum von psychischen Störungen und Leidenszuständen. Am bekanntesten sind depressive Leiden und Angsterkrankungen, Zwangs- und Suchterkrankungen, bei denen Einsicht und Verhalten ganz dramatisch auseinanderklaffen, aber auch psychosomatische Krankheiten oder Selbstwertprobleme. Bei allen genannten Leidenszuständen macht es Sinn, ein Konflikte produzierendes unbewusstes Gegenwollen anzunehmen, das der Grund für den Widerspruch zwischen Einsicht und Verhalten ist. Die meisten psychischen Störungen gehen mit Symptombildungen und einem Leidensdruck einher, der krankheitswertig ist. Eben deshalb empfinden die Betreffenden ihr Verhalten als störend und haben meistens auch den Wunsch, vom Leidensdruck befreit zu werden. Ein Leidensdruck muss aber nicht immer vorliegen, wenn sich Einsicht und Verhalten widersprechen und so auf ein gegenläufiges unbewusstes Wollen hinweisen. Unser Verhalten wird auf weiten Strecken von Charakterbildungen bestimmt, die sich dadurch auszeichnen, dass wir sie nicht als störend empfinden. Im Gegenteil, wir sind mit dem, „wie wir halt sind“, innerlich eins („ich-synton“). Charakterbildungen bestimmen unser ganz alltägliches Verhalten mit und zeichnen sich dadurch aus, dass sie das gesamte Spektrum unseres Verhaltens gleichförmig gestalten. Zu ihrer Ausbildung kommt es oft gerade deshalb, weil mit ihnen ein unbewusstes Erleben in Schach gehalten werden soll. Dies geschieht bevorzugt so, dass im Charakterzug oder in der gesamten Charakterorientierung das genaue Gegenteil zum unbewussten Erleben erstrebt und demonstriert wird. Solche Charakterbildungen haben dann eine ähnliche Funktion wie die Rationalisierungen. Während diese das Denken in einer Weise bestimmen, dass das unbewusste Erleben nicht ins Bewusstsein eindringen kann, gestalten Charakterbildungen das Verhalten in einer Weise, dass weder der Betreffende noch andere im Verhalten etwas Widersprüchliches entdecken können. Um dies an einem Beispiel zu ver- deutlichen: Eine Frau zeigt einen pedantischen Charakter. Ihr Denken ist pedantisch, ihr Arbeitsstil, ihre Beziehungsgestaltung, ihre Religiosität, ihr Umgang mit sich selbst, ihre Moralität – in allem zeigt sie etwas typisch Pedantisches, selbst dann, wenn es nicht erforderlich oder gar unangemessen ist. Sie selbst stört sich daran nicht, erlebt sich vielmehr als aufmerksam, gewissenhaft und verlässlich. So ist sie eben – allerdings zum Leidwesen ihres Partners. Was ihr bei ihrer Pedanterie nicht bewusst ist und auch nicht bewusst werden darf, ist – um nur eine Möglichkeit zu nennen – eine tief reichende Verlustangst, die sie mit ihrer Pedanterie so bindet, dass sie für sie selbst nicht mehr spürbar ist. Sie weiß nur, dass sie alles genau im Griff haben möchte und findet dies auch richtig und gut so. Es gibt noch eine Reihe ganz anderer Indizien für das Unbewusste, von denen hier wenigstens einige genannt sein sollen: die Mimik, die Gestik, die Körperhaltung, Körpersensationen, die Art des Gehens, der Blick, die Durchblutung der Haut, die Hautspannung, die Muskelspannung, der Tonfall, die Sprechweise, der sprachliche Ausdruck, die Lautbildung, die Handschrift. Sie alle sind sozusagen Seismographen für das, was psychisch in uns vor sich geht und können auf unbewusste Befindlichkeiten hinweisen: auf Konflikte, Ängste, Beschämungsgefühle, Spannungen, Druckgefühle, Ärger, Wut, Interesse, Lust, Verliebtheit, ohne dass sich die Betreffenden dieser Befindlichkeiten bewusst sind. Die Tatsache, dass sie sich dieser Befindlichkeiten nicht bewusst sind, bedeutet nicht automatisch, dass sie keine Achtsamkeit für sie entwickeln können. Gleiches gilt für die vielfältigen psychischen Abwehrstrategien, zu denen Menschen fähig sind, um bestimmte innere Wahrnehmungen nicht bewusst werden zu lassen. Auch sie sind Indizien für Unbewusstes, deren Kenntnis hilfreich sein kann, um bei sich oder bei anderen für verdrängte Strebungen und Wahrnehmungen aufmerksam zu werden. Wegen ihrer besonderen Bedeutung als Indizien für Unbewusstes soll mit ihnen in einem eigenen Abschnitt bekannt gemacht werden.» (Fortsetzung folgt) Wir werden Ende September 2011 diesen Brief miteinander besprechen. Wenn Sie an der Zusammenkunft teilnehmen möchten, erfragen Sie bitte den genauen Termin bei: Oskar Jäggi-Zimmermann Brandenbergstrasse 9, CH-8304 Wallisellen Tel. 044 / 883 16 13 E-Mail [email protected] Diskussionsbeiträge sind willkommen!