Spannungsfeld 1: Selbstpol / Objektpol

Werbung
Analytische Körperpsychotherapie als
therapeutisches Arbeiten in unterschiedlichen
Spannungsfeldern
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte Ihnen heute ein paar Gedanken darüber mitteilen, wie ich analytischkörperpsychotherapeutisches Arbeiten als eingebunden in verschiedene
Spannungsfelder sehe. Ich meine, dass die Diskussion innerhalb der Szene
analytischer Körperpsychotherapeuten dadurch erschwert wird, dass wir uns
dieser Spannungsfelder oft noch unzureichend klar sind, und hoffe, durch
meinen Beitrag einen kleinen Anstoß zur Verdeutlichung und für weitere
Diskussionen geben zu können.
Zunächst einige Basis-Thesen, die für mein therapeutisches Handeln wichtig
sind:
Basis-These 1:
Frühe Interaktion determiniert Verhalten im Erwachsenenalter. Früh werden vor
allem auf der Handlungsebene Interaktions- und Erwartungsmuster mit den
primären Bezugspersonen ausgebildet, sie werden später teilweise symbolisch
überformt.
Basis-These 2:
Ein patientenzentrierter therapeutischer Zugang besteht in einem multimodalen
Therapieansatz, der auf der Folie psychoanalytischen, kognitiv-verbal
zentrierten Verstehens andere Kommunikations- und Verstehensmodalitäten
mitberücksichtigt, wie den körperlichen Aspekt, aber auch den Zugang über
Fantasien, Bilder und kreative Medien. Verstehen ist auch auf basalpräsentischer Ebene möglich, nicht alles in der Therapie muss verbalisiert
werden (z. B. geschieht die mutuelle Affektregulierung im Mikrobereich
zwischen Patient und Therapeut völlig nonverbal). Auf dieser Ebene sind auch
wichtige Wirkfaktoren angesiedelt (unspez. Elemente der therapeutischen
Beziehung).
Basis-These 3:
In einem stationären Setting kann man sehr gut multimodal arbeiten,
verschiedene Zugänge sind parallel möglich. Im ambulanten Einzelsetting sind
1
aufgrund der Begrenztheit der Möglichkeiten Schwerpunktsetzungen
unvermeidlich.
Basis-These 4:
In diese Schwerpunktsetzungen fließen einerseits theoretisch-methodische
Überlegungen ein, zum anderen spielt die Therapeuten-Persönlichkeit eine
große Rolle und gerät aus theoretischer und forscherischer Perspektive immer
mehr in Mittelpunkt der Betrachtung. Therapeuten setzen aufgrund persönlicher
Neigungen selbst im gleichen methodischen Ansatz z. T. verschiedene
Schwerpunkte – daraus ergeben sich Spannungsfelder.
Drei Spannungsfelder habe ich für die heutige Darstellung ausgewählt:
1. Selbstpol / Objektpol
2. Körperpsychotherapeutischer Pol / Psychoanalytischer Pol
3. Äußere Perspektive / Innere Perspektive
Gerade, weil analytische Körperpsychotherapie innerhalb dieser
Spannungsfelder stattfindet, besteht grundsätzlich eine reiche Auswahl an
Möglichkeiten des Vorgehens. Die unterschiedlichen Vorgangsmöglichkeiten
geben unter Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Spannungsfeld arbeiten,
immer wieder Anlass zu Missverständnissen. Wir sollten sie daher als solche
betrachten, und für uns feststellen, wo wir uns in unserer Arbeit selbst ansiedeln.
Es entspricht aber einem postambivalenten Denken, mehrere Alternativen zur
Verfügung zu haben, die nicht lösbare Widersprüche inkludieren. Das ist eine
Art „polyphones Sehen“, das uns hilft, uns wirklich in freischwebender
Aufmerksamkeit zu bewegen. Je strikter klinisch-theoretisches Denken und je
schulengebundener es ist, umso eher bilden sich im Material des Patienten bald
Sinngestalten heraus. Je mehr Perspektiven man zur Verfügung hat, desto
offener bleibt es, welches Faktum man aus dem Material herausselektiert und
damit weiterarbeitet. Allerdings muss man dann auch mehr Spannung und
Ungewissheit ertragen können – als Preis für die Öffnung.
Spannungsfeld 1: Selbstpol / Objektpol
Selbstpol:
2
Theoretischer und therapeutischer Ansatz ist das Körperselbst, oder das
Körperbild – vgl. Schilder, Maaser – Besuden e. a. In den energetischen
Therapien ist es das Charakterstrukturmodell.
Hier geht es, durch körperbezogene Übungen v.a. in der Gruppe, um die
Schärfung eines Spürbewusstseins (Schellenbaum) – also basales leibliches
Erleben in den Bereich der Wahrnehmung zu rücken, Affekte körpernah spüren,
leibliche und affektive Wahrnehmungen als Basis unseres Identitätsgefühls
anzunehmen und differenzieren zu lernen.
Es geht also hier um Affekte, und wie diese Affekte körperlich blockiert werden
– durch den Charakterpanzer. Therapeutisches Ziel ist das Spüren und Lösen des
Panzers mit dem Effekt, dass Affekte als Ausdrucksform der Bioenergie frei
fließen können, und auch durch die Förderung der Atmung die Lebendigkeit
zunimmt.
Zahlreiche Kritikpunkte an solch einer energetischen Vorgangsweise wurden
vielerorts schon formuliert. Was im Kern dennoch verbleibt: der Affekt ist eine
wichtige Determinante im psychotherapeutischen Prozess. Affektives Erleben ist
sehr wichtig, und letztlich zielen alle körperbezogenen Ansätze in irgendeiner
Form darauf ab, affektives Erleben zu begünstigen.
Als theoretische Brücke zur psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie ist zu
formulieren: Auch dort ist der Affekt das Medium in der Beziehung zwischen
Subjekt und Objekt. Er spielt eine Vermittlerrolle in der Objektbeziehung, bzw.
initiiert Objektbeziehungen.
Ich will hier nicht auf energetische Verfahren eingehen, sondern an ein recht
ausgereiftes Modell erinnern, wie es George Downing ausgeführt hat. Es ist sein
Ansatz der Körperregression als eine Arbeit am Selbstpol. Erinnert sei dabei an
Kriterien, wie z. B.:
1.
Die Darstellung affektmotorischer Schemata in der Regression – d. h.
Bewegungen, die mit Bindung, oder mit Autonomie zu tun haben; in meiner
erweiterten Fassung: es sind solche Bewegungen auch um andere
Motivationssysteme zentriert unterscheidbar, wie
Bindung
Selbstexploration und Autonomie
Aversion, reaktive Aggression, Rückzug
Sinnliche Bewegungsschemata
Sexuelle Schemata
3
Intersubjektivität als zentrales Motivationssystem
2.
Beschreibung von Eröffnungsmomenten (unspezifische Zeichen – etwas
erhöhtes Aktivitätsniveau, bestimmte körperliche Empfindungen wie Gefühl im
Mund, der erscheint z. B. größer als normal... eher vage und unspezifisch...)
3.
Beachtung der verschiedenen Ebenen um weiterzugehen (kognitiv, imaginativ,
emotional, Empfindungen, Bewegungen...) – sein Vorgehen ist ein
multimodales
4.
Die Beachtung anfänglicher motorischer Impulse
5.
Hinweise zum Umgang mit Emotionen („analytisch“, nicht energetisch)
6.
Die Unterscheidung von primären und sekundären Emotionen
7.
Die Rolle der Berührung (technisch, unterstützend), usw. usw.
Objektpol:
Im körperlichen Prozess wird der Patient ermutigt, sozusagen über seinen
Selbstzustand Daten zu sammeln, zu spüren. Dieses Datensammeln bezieht sich
aber auch auf den Kontext. Vor allem wenn es dann in Richtung szenischer
Erinnerungen geht, ist der Kontext wichtig – wenn ich etwas spüre, was kommt
szenisch hoch, entsteht eine konkrete Szene, oder eine sehr diffuse, ist der
Kontext sehr diffus, was kann über den Kontext spüren – z. B. ist er angenehm
oder unangenehm, geht es um niedrige oder hohe Spannung der Affekte,
tauchen rudimentär Fantasien auf, oder innere Bilder?...
Bei der Arbeit mit Selbstpol ist auch zu bedenken:
4
In der Körperregression ist der Therapeut nicht direktes Gegenüber – er ist
Begleiter, in einer grundsätzlich positiven Übertragung (sonst würde das nicht
gehen), aber nicht als konkretes Objekt gemeint – ist in einer nonobjektalen
Übertragung, die aber nicht thematisiert wird!
Das ist auch der Grund, warum in einer solchen Form der Arbeit Berührung in
der Regel kaum Gefahr läuft sexuell zu wirken: der Therapeut ist Katalysator
des Prozesses, und nicht ein Vis-a-vis, auf das sexuelle Gefühle übertragen
werden.
Man könnte natürlich sagen, dass das unbewusst doch passieren kann. Dem
kann man nichts entgegensetzen, doch zeigt die Empirie in dieser Form der
körperbezogenen Arbeit, dass das häufig einfach nicht so ist und keine störenden
Sexualisierungen aus dieser Form der Körperarbeit erwachsen.
Bei der Beachtung des Objektpoles geht es also darum, das Hochkommen
szenischer Erinnerungen als Möglichkeit zu beachten, und damit die Arbeit am
Selbstpol früh in eine Richtung hin auszuweiten, die aus analytischer
Perspektive heraus wichtig ist.
Spannungsfeld 2: Körpertherapeutischer Pol / Psychoanalytischer Pol
Körpertherapeutischer Pol:
Wichtige Elemente sind: Förderung des Erlebens, des Spürens, der Affekte, der
Körperempfindungen, des Hochkommens vergangener Szenen.
Die Übertragung auf den Therapeuten wird in einem tiefenpsychologischen
Ansatz dort bearbeitet, wo sie hochkommt; nicht aber systematisch in der
Übertragung. Dazu gehört auch der therapeutische Rahmen: eine Wochenstunde
im Schnitt; Übertragungsprozesse bzw. deren Deutungsmöglichkeiten werden
dadurch begrenzt.
Das Vorgehen des Therapeuten ist aktiv, ermutigend, suggestiv. Handlungen
und körperliche Prozesse werden angeregt. Der Zugang zum Affekt wird z. T.
auf nicht-verbale Weise gesucht, z. B. durch einen spürenden Zugang
(Konzentrative Bewegungstherapie, Funktionelle Entspannung etc.) oder durch
direktiv angeleitete ausdrucksfördernde Übungen (Bioenergetik). Im Zentrum
(der "energetischen" Körpertherapien) steht der unmittelbare Kontakt mit dem
Affekt und auch dessen unmittelbarer Ausdruck. Handlung, Bewegung und
Affektausdruck werden begünstigt. Der gegenwärtige Kontakt mit Gefühlen und
körperlichen Empfindungen ist sehr wichtig; das Reden darüber wird oft als
zwar notwendig, aber doch sekundär erachtet. Man soll Affekte leben, anstatt
5
darüber zu reden – hier drückt sich eine implizite Wertung in energetischen
Therapien aus.
Das Therapieziel besteht also mehr in einem Ausdrücken-Lernen, auch HaltenLernen von starken Affekten, nicht so sehr in der differenzierten Erörterung
unbewusster Tendenzen. Feine unbewusste Facetten spielen weniger Rolle;
unbewusste Fantasien spielen eine geringe Rolle. Durch die Neigung zur
angeleiteten Handlung wird der verbal-reflektierende Raum eingegrenzt,
unbewusste Bedeutungen werden nicht mit derselben Präzision angehbar wie in
einem überwiegend verbalen Setting.
Psychoanalytischer Pol:
Es handelt sich um einen verbal-deutenden Ansatz, der darauf abzielt,
unbewusste Beziehungsbedeutungen bzw. innere Abwehrprozesse Stück für
Stück bewusst zu machen – je nach theoretischer Folie unterschiedlich. Die
Aktivität des Therapeuten ist eine andere – er bringt sich verbal-deutend ein, im
übrigen ist das Vorgehen eher abwartend, unbewusste Szenen können sich durch
das abwartende Vorgehen entfalten.
Dabei wird je nach theoretischem Ansatz die Rolle der Empathie und der
therapeutischen Haltung unterschiedlich gewichtet – extreme Pole sind vielleicht
der Kleinianische und Lacanianische Ansatz auf der einen und die SelbstPsychologie auf der anderen Seite.
Körperbezogene Interventionsmöglichkeiten sind aber grundsätzlich
eingeschränkt bzw. komplex, wenn man auf die unbewussten Bedeutungen
derselben abzielt. Denn die gilt es ja analytisch herauszufinden, und nicht blind
zu agieren. Eine Hilfe bzw. Brücke ist hier der interaktionelle
Übertragungsbegriff, dazu später.
Unbewusstes konflikthaftes Erleben steht im Zentrum der Betrachtung, vor
allem im Rahmen der Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung. Zu welchen
Beziehungskonstellationen tendiert der Patient unbewusst, was setzt er
unbewusst "in Szene", welche unbewussten Wünsche setzen sich dabei durch,
auf welche Abwehrmechanismen greift der Patient unbewusst zurück. Ziel der
Therapie ist es, unbewusste Bedeutungen (v.a. unbewusste Inszenierungen von
Beziehungen). Damit dies gelingt, ist viel an verbaler und kognitiver
Reflexionsarbeit erforderlich, und ein genügend dichter Rahmen: zwei
Wochenstunden erweisen sich in der Regel als notwendig. Gegenwärtiges
Erleben ist wichtig (Hier-und-Jetzt-Situation in der Beziehung), wird aber
immer nachträglich reflektiert.
6
Interaktion als wichtiger Aspekt in der gemeinsamen Schnittmenge
zwischen „analytischem“ und „körpertherapeutischem“ Pol
Psychoanalyse und Körpertherapien nähern einander an. Auf Seiten der
Psychoanalyse werden Enactment, gemeinsame Szene und nonverbaler
Handlungsdialog zunehmend theoretisch als wichtig anerkannt und auch
praktisch mehr einbezogen. Die (tiefenpsychologisch orientierten)
Körpertherapien erkennen den Stellenwert der therapeutischen Beziehung mehr
an.
Gemeinsames Interesse: die Interaktion. Von Seiten der Psychoanalyse ist es die
Ausweitung der unbewussten Beziehungsfacetten auf den Handlungsbereich, auf
das nonverbale Kommunizieren zwischen den Interaktionspartnern, unter
Anerkennung der Tatsache, dass der Therapeut in seiner Subjektivität stark
mitgestaltend wirkt. Von Seiten der Körpertherapien, die den nonverbalen
Bereich immer schon fokussiert haben, wird deutlicher, wie er in das
Beziehungsgeschehen einfließt und dieses bestimmt. D. h. das nonverbale Feld
wird nicht nur bezogen auf den „Selbst-Pol“ betrachtet (Charakterpanzer,
Muskelblocks), sondern um die Beziehungsperspektive erweitert.
Die Interaktion steht aber auch im Brennpunkt der Säuglings- und
Kleinkindforschung. Hier wird die Interaktion zwischen Säugling und
Pflegeperson beobachtet, und man zieht daraus Rückschlüsse auf seelisches
Geschehen in beiden Interaktionspartnern.
Die Säuglingsforschung und auch die neurobiologische Gedächtnisforschung
führen einen weiteren wichtigen Gedanken ein:
Das prozedurale Unbewusste (implizites Wissen, Handlungsgedächtnis)
Prozedurales Unterbewusstsein: Es ist dies eine Art Handlungswissen, das
sich im Gedächtnis ausbildet, lange bevor die Fähigkeit zur
Symbolisierung vorhanden ist. Es geht dabei nicht um unbewusste
Konflikte zwischen Impulsen und deren Bewältigung durch
Abwehrmechanismen, es geht vielmehr um die Speicherung eines
Beziehungswissens, das auf der Ebene von Handlungsdialogen vermittelt
wird, wie sie v.a. im ersten Lebensjahr zu nahezu 100% stattfinden.
Derartige Interaktionsmuster werden im Baby mental repräsentiert, jedoch
in einem eigenen Gedächtnisspeicher.
Die entsprechenden Repräsentationen - Daniel Stern (1992) nennt sie Rigs werden nur teilweise symbolisch überlagert und bilden den Grundstock unseres
nonverbalen Beziehungswissens.
7
Interaktion kann man beobachten. Das ist der Ansatz der Säuglingsforschung.
Und man kann daraus Schlüsse ableiten.
Video
Interaktionsverhalten von Müttern mit Essstörungen – ein paar Punkte:
1.
Kontrollierendes mütterliches Verhalten: Aktivitäten wie Füttern, Heben,
Wickeln, Baden etc. werden wenig an kindliche Signale angepasst, kindliche
Aktivitäten werden häufig unterbrochen.
2.
Es fehlen abgestimmte Antworten auf Kontaktversuche des Kindes. Die Form
der gegebenen Unterstützung ist unpassend oder ungeschickt.
3.
Mütter wirken, obwohl sie bemüht und kompetent handeln, körperlich
angespannt. Dadurch entstehen Probleme im basal-körperlichen Zusammenspiel.
4.
Das Senden und Empfangen von Emotionen ist gestört.
Unterschiede zwischen Anorexie- und Bulimie-Müttern:
Anorexie-Mütter:
Sie sind weniger beteiligt am Wechselspiel des affektiven AufeinanderBezogen-Seins, sind eher distanziert, zurückhaltend, kontrolliert, wenn auch
besorgt um das kindliche Wohlergehen.
Es besteht eine Weigerung, sich in einen emotionalen Austausch überhaupt
einzulassen (als Folge früher Kontrolle durch die eigene Mutter).
Bulimie-Mütter:
Es sind schnelle Rhythmen zu beobachten, sowie affektive Ausbrüche im
interaktionellen Austausch. Der Austausch, obwohl lebendig, wird stark durch
das Verhalten der Mutter bestimmt und weniger von kindlichen Initiativen. Das
Tempo ist hoch, diese Mütter geben wenig Raum für kindliche Impulse.
8
Daraus entwickeln sich in beiden Fällen Störungen der Bezogenheit, zunächst
im interaktionellen Bereich, die aber auch Störungen der Bezogenheit im
Körperbild zur Folge haben: z. B. werden Arme und Beine als wenig selbstbezogen erlebt, sondern wie wenn sie von einer namenlosen Kraft gesteuert
würden (abgespaltene Selbstanteile bzw. abgespaltene
Interaktionsrepräsentanzen).
Spannungsfeld 3: Innere / äußere Perspektive
Eine Kritik an Säuglingsforschung: konzentriert sich auf die beobachtbare
Interaktion, die "inneren Prozesse" werden dadurch nicht erfasst; so habe
Säuglingsforschung mit der Psychoanalyse nichts zu tun, sei sogar
"unanalytisch"....
Winnicott formulierte: für den Säugling ist die Brust stets zugleich geschaffen
und gefunden. Was ist damit gemeint? Ein Paradox zweiter Gegebenheiten, die
einerseits miteinander zu tun haben, und doch auch unterschiedliche
Perspektiven thematisieren: eine "innere" und eine "äußere". Psychoanalytisches
Verstehen ist klinische Kontextbildung entweder auf das, was der Patient
subjektiv geschaffen hat, oder auf das, was er gefunden hat.
Innere Perspektive:
Der Patient wird gesehen unter dem Aspekt seines unbewussten Handelns. Er
wird verstanden als jemand, der unbewusst mit Objekten etwas tut (auch schon
der Säugling!), indem er sie konkret oder über die Fantasie in Gebrauch nimmt.
Es geht z. B. um "Urfantasien", um die Beobachtung der Urszene, um projektive
Mechanismen, um Spaltungstendenzen, die - so die Annahme aus dieser
Perspektive - auch im Säugling primär ablaufen, zu den a priori vorhandenen
mentalen Prozessen gehören, derer sich der Säugling bedient, aber auch zu den
beziehungsgestaltenden Aktivitäten, die ja der Säugling auch unvermeidlich
einbringt. Nicht nur die Mutter behandelt ihn, sondern der Säugling genauso die
Mutter.
In dieser Perspektive nimmt häufig der Ödipuskomlex eine Schlüsselstellung
ein, ebenso die Triebe, oder - in einer kleinianische Perspektiv - primäre
Fantasien.
Pointiert gesagt, sieht diese Perspektive den Säugling als Täter.
Äußere Perspektive:
Der Säugling ist aus dieser Perspektive Opfer seiner aufgefundenen Umwelt.
9
Man fokussiert auf das, was der Patient in seiner biografischen Umgebung
vorgefunden hat. Wie ihn seine Primärobjekte bewusst oder unbewusst
behandelt haben. Z. B. Beeinflussungen durch elterliche Erwartungen, durch
Abwesenheit der Eltern, durch Feindseligkeit der Eltern, durch traumatisches
Erleben, durch atmosphärische Faktoren, durch Missbrauch. Der Patient ist der
Reagierende.
Die extremste Position dabei: Selbst-Psychologie Kohuts und die davon
ausgehende Strömung der "Intersubjektivisten" (Stolorow, Orange etc.) - frühe
Defizite werden als zentral und strukturbildend betrachtet, therapeutisch
begegnet man ihnen zunächst mit Empathie, diese ist die Grundlage jedes
deutenden Vorgehens.
Auswirkung der „inneren“ und der „äußeren“ Perspektive auf deutende
Interventionen:
Fokussiert man die "innere Perspektive", unterstellt man dem Patienten ein
gewisses Mass an Eigenaktivität. Z. B.: Sie haben Angst, dass sie sich da und
dort oder der Person gegenüber aggressiv verhalten könnten", oder: "Könnte es
sein, dass hier eine sexuelle Fantasie ... in Ihnen eine Rolle spielt?" oder in
dieser Art. Immer wird hier die eigene unbewusste Täterschaft anvisiert, mit
dem Ziel: Gehe in Dich, erkenne das Fremde als das Verdrängte in Dir!" - mit
dem weiteren Ziel, Verantwortung für die eigenen unbewussten Tendenzen zu
übernehmen, sie als Eigenes anzuerkennen.
Z. B. kann man mit Hilfe dieser Perspektive Schuldgefühle ganz gut aufarbeiten
- denn sie haben immer mit solche verdrängten Eigenanteilen zu tun. Man
erkennt (schmerzhaft), dass eigene Aggression die Quelle von Schuld ist.
Der „Trick“ im Deuten besteht darin: Der Patient erzählt ein äußeres Ereignis
und schildert sich dabei als Opfer – in der Deutung kehrt man die Sache um und
macht ihn zum Täter, indem man seine eigengestaltenden unbewussten Anteile
anvisiert. Vorteil: das Gefühl von Wirkmächtigkeit steigt auch durch solche
Deutungen, man lernt zu begreifen, dass man etwas bewirkt, wo man sich bisher
nur als Opfer fühlte.
Geht man von der "äußeren Perspektive" aus - Extremfall: Trauma - dann trägt
man zunächst der Tatsache Rechnung, dass ein bestimmtes Ereignis tatsächlich
stattgefunden hat, dem Patienten tatsächlich etwas wiederfahren ist, und man
begleitet das Erleben des Patienten in dieser Situation empathisch.
Der interaktionelle Übertragungsbegriff
10
Hier soll nur andeutend davon gesprochen werden, er wurde an anderer Stelle
bereits ausführlich gewürdigt. Er ist deswegen so zukunftsweisend, weil er
einerseits die Handlungsdimension und andererseits die TherapeutenPersönlichkeit zentral in das psychoanalytische Verstehen einbringt.
1. Beide Interaktionspartner tragen dazu bei, die jeweilige Übertragung zu
gestalten.
2. Die Inszenierungen der Grundsituation des Patienten tragen daher auch
meine Anteile als Therapeut.
3. Es geht nicht nur um Projektionen des Patienten auf mich als Therapeut,
sondern es findet auch reale Interaktion statt.
4. Was immer ich als Therapeut tue oder nicht tue, immer beeinflusse ich
den Patienten.
5. Da dieser Einfluss unweigerlich geschieht, kann ich in meinem Verhalten
als Therapeut viel freier sein. Allerdings sollte ich mir bewusst sein, was
ich beim Patienten auslöse. Neutralität, Wertfreiheit und Abstinenz im
Sinne eines Handlungsverbotes erweisen sich aus dieser Perspektive als
Fiktion; Abstinenz ist vielmehr eine innere Haltung des Therapeuten und
sollte in einer eher positiven Form definiert werden, als ein Sich-zurVerfügung-Stellen unter der Voraussetzung einer Funktionsbewusstheit,
oder als Präsenz.
6. Wenn ich mich mit meinen eigenen Realanteilen in das therapeutische
Geschehen einbringe, kann auf diese Weise eine große affektive Dichte
im Prozess entstehen. Es kann sogar zu partiellen Verstrickung kommen
bzw. sind diese, unter zeitweiliger Aufgabe einer beobachtenden IchInstanz, zur Intensivierung des therapeutischen Geschehens erwünscht.
Eine wichtige Orientierung in diesem für mich als Therapeut
herausfordernden Beziehungsgeschehen sind Anhaltespunkte durch die
körpersprachliche Führung des Patienten.
7. Neutralität und Abstinenz bedeuten dann nicht, dass ich nicht berühren
darf, sondern dass ich mir meiner Motive bewusst bin und im Auge
behalte, was das szenisch bedeuten könnte.
8. Egal, was ich mache oder nicht mache, auf welcher Ebene ich
interveniere: Die Grundfrage heißt immer: was inszeniere ich mit dem
Patienten, wenn ich so arbeite, wie ich es gerade tue – der Einsatz
verschiedenster Zugänge ist vor diesem Hintergrund möglich. Berührung
ebenso wie handelnde Interaktion sind legitime Möglichkeiten – die
Grundfrage, was dadurch gemeinsam inszeniert wird, bleibt die gleiche,
auch wenn in der Handlung die Vielfalt dessen, was sich handlungsmäßig
ereignet, recht komplex werden kann. Dennoch sind mit einiger Übung
„Handlungsgestalten“ erkennbar.
11
9. Der Patient erlebt mich immer auch als reale Person, manches Mal
verzerrt er sein Bild von mir durch Projektionen. Aber er erlebt genauso
meine Stärken und meine Schwächen.
10. Ich begegne dem Patienten als reale Person und bearbeite, was das bei
ihm auslöst.
11. Es entsteht auf diese Weise zwischen mir und dem Patienten die
Spannung einer Begegnung zwischen zwei Menschen, die sich etwas
bedeuten.
12. Übertragungsliebe ist im Rahmen dieser Auffassung eine normale Liebe,
die natürlich auch neurotische Elemente beinhaltet wie jede andere
Liebesbeziehung auch.
Entscheidend für dieses interaktionelle Übertragungskonzept ist die
Bereitschaft, den Eigeneinfluss als Therapeut auf den Patienten nicht
minimieren zu wollen, sondern gezielt der Wirkung nachzugehen, die die
Haltungen und Interventionen des Analytikers auf den Patienten ausüben.
Diese Grundhaltung ermöglicht eine größere Angstfreiheit bei den
therapeutischen Aktionen und erschließt zudem eine Vielfalt an
Interventionsmöglichkeiten. Denn das primäre Ziel besteht jetzt nicht mehr
darin, die „richtige“ Deutung zu geben oder die „richtige“ Intervention
einzuleiten. Es gibt keine „richtige“ Technik. Auch eine nicht zutreffende
Deutung oder gar eine den Patienten kränkende oder verletzende Äußerung
bietet gute Möglichkeiten, konstruktiv mit den Diese Frage ist in der Tat
nicht leicht zu beantworten und führt zu einer Reihe an Überlegungen, die
den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen würden. Ich möchte es im
Rahmen dieser Arbeit bei dieser offen gestellten Frage belassen.
Resümee (in Anlehnung an Scharff, 2002):
Gerade das Verfügbar-Haben der inneren und der äußeren Perspektive hilft, aus
manchen therapeutischen Sackgassen leichter herauszufinden. Genauso ist es
von Vorteil, wenn man den Selbstpol und den Objektpol als
Zugangsmöglichkeiten zu seelischen Prozessen sieht, oder in der Übertragung
die konkordante oder komplementäre, oder wie anfangs gesagt den analytischen
und den körperbezogenen Pol. Das mag jetzt sehr eklektisch wirken, ich meine
damit aber nicht, dass man jeder therapeutischen Schwierigkeit aus dem Wege
gehen kann: wir müssen uns als Therapeuten einlassen, mitfühlen, mitleiden,
uns in die Beziehung und deren Verwicklungsmöglichkeiten hineinziehen
lassen, um das kommen wir nicht herum.
Es entspricht aber einem postambivalenten Denken, mehrere Alternativen zur
Verfügung zu haben, die nicht lösbare Widersprüche inkludieren. Das ist eine
Art „polyphones Sehen“, das uns hilft, uns wirklich in freischwebender
12
Aufmerksamkeit zu bewegen. Je strikter klinisch-theoretisches Denken und je
schulengebundener es ist, umso eher bilden sich im Material des Patienten bald
Sinngestalten heraus. Je mehr Perspektiven man zur Verfügung hat, desto
offener bleibt es, welches Faktum man aus dem Material herausselektiert und
damit weiterarbeitet. Allerdings muss man dann auch mehr Spannung und
Ungewissheit ertragen können.
Wir brauchen ein postneurotisches Verhältnis den Theorien gegenüber. Obwohl
wir, gemäß unserer Ausbildung, meist in einer bestimmten Farbe sehen lernen,
dadurch in einer bestimmten Befangenheit sind, geht es darum, aus dieser
Befangenheit und Eingenommenheit herauszufinden. Es ist dann nicht mehr
wichtig, bestimmte Hierarchien zu erstellen – welche Theorie ist besser, welche
schlechter. Sondern es geht darum, Theorien in eine Art Vorder/Hintergrundverhältnis zu bringen, mit der Möglichkeit zu oszillieren, auch der
Möglichkeit sich auf eine Sache mal festzulegen. Wir sollten dieses Denken in
Simultan- und Sukzessivkontrastbildungen dem Patienten zur Verfügung stellen
– dann wird sich eine Balance aus Integration und Unterschiedlichkeit
entwickeln.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
13
Herunterladen