als PDF - Gedenkort für die Opfer der NS

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Den vergessenen
Opfern Des
vernichtungskrieges
ein gesicht geben
Inhaltsverzeichnis
Warum dieser Gedenkort endlich errichtet werden muss
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Zum Konzept des Gedenkortes
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Politische Entscheidung
Dimension, Gestaltung und Kosten
Bestimmung des Gedenkortes
Mögliche Standorte
Unterstützung der Forderung in Fachwissenschaft und Gedenkstätten
Thematisierung der deutschen Verantwortung in der Bundespolitik
Historisches Memo
Autoren:
Dr. Peter Jahn, Historiker und Slawist,
von 1995­2006 Leiter des Deutsch­Russischen Museums Berlin­Karlshorst.
Daniel Ziemer, Historiker und Kurator.
Herausgeber:
Initiative »Gedenkort für die Opfer der NS­Lebensraumpolitik«, Mai 2016.
www.gedenkort­lebensraumpolitik.de
Initiative »Gedenkort für die Opfer der NS­Lebensraumpolitik«
c/o KONTAKTE­KOHTAKTbI e. V.
Feurigstraße 68 | 10827 Berlin
Tel.: +49­30­78 70 52 88 | Fax: +49­30­78 70 52 89
E­Mail: info@gedenkort­lebensraumpolitik.de
Die Initiative wird unterstützt durch den Verein KONTAKTE­KOHTAKTbI e. V.
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Das vorgelegte Projekt zur Errichtung eines Gedenkortes für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik im Berliner
Tiergarten wurde 2013 initiiert. Es ist in einer Reihe
von wissenschaftlichen Vorträgen und Diskussionen
überprüft und begründet worden.
Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kultur,
der Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in BerlinBrandenburg, die großen KZ-Gedenkstätten sowie
zahlreiche andere Einrichtungen des Gedenkens
unterstützen das Bestreben der Initiative.
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Warum dieser Gedenkort endlich ­
errichtet werden muss
Bis heute fehlt im Berliner Zentrum eine sichtbare
Erinnerung an eine der größten Opfergruppen
­nationalsozialistischer Verbrechen. Bewohner Ost­
europas wurden millionenfach ermordet und ver­
trieben, um Ernährung und »Lebensraum« für das
Deutsche Reich zu gewinnen.
Wir müssen an einem solchen Ort erinnern an
2,8 bis 3,3 Millionen sowjetische Kriegs­gefangene,
die in ­deutschem Gewahrsam ums Leben kamen.
Wir müssen an einem solchen Ort erinnern an bis
zu drei Millionen Frauen, Männer und Kinder,
die in Polen und auf dem Gebiet von Belarus, der
Ukraine oder Russlands starben,
■ als zivile Opfer der Mordaktionen gegen
das polnische Bürgertum,
■ als zivile Opfer der Blockade von Leningrad,
■ als zivile Opfer der deutschen Hungerpolitik
in der Sowjetunion,
■ als zivile Opfer der mörderischen Wider­
standsbekämpfung in Dörfern,
■ als zivile Opfer der Niederschlagung
des ­Warschauer Aufstands,
■ als zivile Opfer der Politik der
»Verbrannten Erde«.
Bisher ist das Schicksal dieser Menschen im Bewusst­
sein der deutschen Öffentlichkeit kaum präsent.
Mit der Errichtung eines zentralen Gedenkortes in
Berlin, ergänzend zu den vier Denkmälern für die
­NS-Opfergruppen am Tiergarten, gibt die Bundes­
republik Deutschland ein wichtiges Signal nach
innen und nach außen.
Der Gedenkort zeigt, dass auch diese Opfer nach
einer langen Zeit des Verdrängens Teil der deut­
schen Erinnerung an die Verbrechen des National­
sozialismus sind – und dass die Bundesrepublik
Deutschland zu dieser Verantwortung steht.
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pO litisc h e e ntsc h e iDu n g
gestaltu n g
Grundlage für die Errichtung eines solchen Gedenk­
ortes sollte, wie bei den vier bereits entstandenen Denk­
mälern am Tiergarten für die großen Opfergruppen der
NS­Verbrechen, ein Beschluss des Deutschen Bundes­
tages sein. Damit unterstreicht das Parlament, dass
auch dieser Erinnerungsort die gesamtstaatliche Ver­
antwortung der Bundesrepublik Deutschland für das
Gedenken an die NS­Verbrechen repräsentiert.
Die architektonische und künstlerische Gestaltung des
Gedenkortes sollte durch einen (offenen oder beschränk­
ten) Wettbewerb entschieden werden.
Sinnvoll erscheint eine vorangehende Experten­An­
hörung im Ausschuss für Kultur und Medien des Deut­
schen Bundestages mit Historiker/innen und Vertre­
ter/innen von Gedenkstätten. Thema sollte der aktuelle
Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung sein, der
sich vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges ent­
wickelt und seither deutlich differenziert hat, sowie der
Stellenwert dieses Verbrechenskomplexes innerhalb
des NS­Gewaltsystems. Schließlich ist dessen kaum
präsente Wahrnehmung in der deutschen Öffentlich­
keit zu thematisieren.
Dim ensi O n Des Ortes
Plakataktion nach der Gedenklesung »Den vergessenen Opfern des Vernichtungskrieges eine Stimme geben«
am 14. September 2014
Der Gedenkort sollte eine überschaubare Größe haben,
vergleichbar mit den Gedenkorten für die ermordeten
Sinti und Roma und für die »Euthanasie«­Opfer. Wie
letzterer sollte er als Grundlage der symbolisch­archi­
tektonischen Erinnerung zentrale Informationen zu
den Opfern und zu den Zusammenhängen der Ver­
brechen bereitstellen. Er kann jedoch keine vergleich­
bar komplexe und ausführliche Wissensvermittlung
leisten wie etwa der »Ort der Information« des Denk­
mals für die ermordeten Juden Europas.
Die inhaltlichen Schwerpunkte sollte ein Experten­
gremium von Historiker/innen sowie Vertreter/innen
von Gedenkstätten bestimmen. Verantwortlich für die
Errichtung könnte die Stiftung Denkmal für die er­
mordeten Juden Europas oder eine andere einschlägig
thematisch verbundene Institution sein (z. B. Stiftung
Topographie des Terrors, Deutsches Historisches
Museum Berlin).
kOsten
Der Kostenrahmen für die Errichtung des Gedenkortes
sollte sich in etwa an der – wenngleich sehr knappen –
Kalkulation für den 2014 eröffneten Gedenk­ und In­
formationsort für die Opfer der nationalsozialistischen
»Euthanasie«­Morde orientieren. Dieser Gedenkort
wurde mit Gesamtkosten von 930.000 Euro (Ausstel­
lung und Gestaltung des Umfeldes) realisiert.
Der Gedenkort sollte nach seiner Fertigstellung von der
Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
betreut werden, analog der Gedenkorte für die ermor­
deten Sinti und Roma, verfolgten Homosexuellen und
»Euthanasie«­Opfer.
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bestim mu n g Des
ge De n kOrtes
Das Denkmal soll an die Millionen Opfer der natio­
nalsozialistischen Mordpolitik in Osteuropa er­
innern und zugleich das Gedenken an sie dauerhaft
wachhalten. Der Ort unterstreicht die Verantwor­
tung der heutigen Bundesrepublik für dieses schwere
historische Erbe. Er richtet sich, 70 Jahre nach dem
Vernichtungskrieg, an die heutige Gesellschaft und
soll ein breites Wissen und Bewusstsein dieser für
die nationalsozialistische Herrschaft prägenden
Verbrechen anstoßen. Zugleich soll er eine Stätte
des Gedenkens für Angehörige und Nachkommen
der Opfer sein.
Angesichts der in Deutschland bisher kaum be­
kannten Dimension der Verbrechen gegen die
nicht­jüdische Bevölkerung Osteuropas muss der
Gedenkort über eine symbolische Aussage hinaus
grund legende historische Informationen bereit­
stellen. Diese Informationsebene soll den ideolo­
gischen Zusammenhang der rassistischen Mord­
politik für »deutschen Lebensraum« verdeutlichen.
Sie soll die tatsächliche Vielfalt der von den Nati­
onalsozialisten gleichermaßen als »Slawen« ver­
folgten Opfergruppen aufzeigen. Und sie soll vor
allem an das Schicksal der verfolgten Frauen,
Männer und Kinder erinnern.
Biografischer Schwerpunkt
Verweis auf dezentrale Gedenkstätten
Sinnvoll erscheint eine Orientierung an einzelnen
Biographien von Opfern der NS­Verbrechen. Sie
geben den vergessenen Opfern des Vernichtungs­
krieges ein Gesicht und eine Geschichte. Damit
öffnen sie einen empathischen Zugang zu den
Schicksalen der mehrheitlich fern der heutigen
Grenzen Deutschlands verfolgten und ermordeten
Menschen.
Der Gedenkort soll auch auf die schon vorhande­
nen dezentralen Gedenkstätten in Deutschland zu
diesen Opfergruppen des Vernichtungskrieges auf­
merksam machen, da sie vertiefende Informationen
zum Thema ermöglichen. Besonders wichtig ist
hier das Deutsch­Russische Museum Berlin­
Karlshorst, welches ausführliche und komplexe
Informationen vor allem zum Deutsch­Sowjeti­
schen Krieg 1941–1945 eindringlich vermittelt.
Die Initiative Gedenkort für die Opfer der NS­
Lebensraumpolitik hat bereits im Herbst 2014
erstmals mit einer Plakataktion an der Straße des
17. Juni, gegenüber dem Sowjetischen Ehrenmal,
auf die vergessenen Opfer aufmerksam gemacht.
Die Porträts von fünf Personen waren auf groß­
formatigen Tafeln zu sehen, die exemplarisch für
verschiedene Opfergruppen der nationalsozialis­
tischen Verfolgung standen: von einem polnischen
Geistlichen über ein Mädchen im belagerten Lenin­
grad und eine weißrussische Dorfbewohnerin bis
zu zwei sowjetischen Kriegsgefangenen.
Daneben sollte auf mit meist geringen Mitteln ar­
beitenden Gedenkstätten an authentischen Orten
verwiesen werden, etwa die Dokumentationsstätte
Stalag 326 VI K Senne (Nordrhein­Westfalen), die
Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain (Sachsen), die
Gedenkstätte Lager Sandbostel (Niedersachsen)
oder der Gedenkort Hebertshausen bei Dachau
(Bayern).
Stelen mit den Namen von 7683 Kriegsgefangenen auf dem Friedhof Jacobsthal, 2014.
Bildnachweis: Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain.
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stan DOrt
Ohne andere Standorte auszuschließen, eignen sich drei Plätze im Berliner Zentrum konzeptionell für
die Einrichtung eines solchen Gedenkortes.
Möglicher Standort am Lustgarten auf der Museumsinsel
Möglicher Standort an der Gertrud-Kolmar-Straße
Denkmal für die
ermordeten Juden
Europas
Berliner Dom
Hann
ah -A
St r a ß
rendt-
u d - Ko
In den Ministergä
rten
ße
Baustelle
Berliner Stadtschloss
Vorteile: Historischer Bezug zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg.
Repräsentativer Ort im Stadtzentrum.
lmar-Stra
Zeughaus
Schlossbrücke
Am historischen Ort der Reichskanzlei sowie des »Führerbunkers«, unweit des
heutigen Denkmals für die ermordeten Juden Europas.
e
Ger tr
Lustgarten
Der Lustgarten war 1942 Standort der nationalsozialistischen Propaganda­Aus­
stellung »Das Sowjetparadies«. Die rassistische Argumentation der Ausstellung
sollte den Krieg gegen die Sowjetunion und die brutale Härte des Vorgehens
rechtfertigen.
Ebert straße
Spree
Altes Museum
Nachteile: Weitere Entfernung zu den anderen Gedenkorten der großen NS­
Verbrechen.
Menschenmenge vor
dem Eingang der
nationalsozialistischen
Propaganda-Ausstellung
»Das Sowjetparadies« im Jahr
1942 am Berliner Lustgarten;
Bildnachweis: Deutsches
Historisches Museum/Oskar
Dahlke, BA008773.
Blick von der Südostseite des
Denkmals für die ermordeten
Juden Europas auf die GertrudKolmar-Straße, April 2016.
Vorteile: Räumlicher Bezug zu den Planungsstätten des nationalsozialisti­
schen Vernichtungskrieges. Direkte Nähe zum Denkmal für die ermordeten
Juden Europas. Dies unterstreicht den inhaltlichen Zusammenhang von Holo­
caust und Ideologie des »Lebensraumes im Osten«.
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u nterstützu n g Der fOrDeru n g Du rc h
fac hWissensc haft u n D ge Den kstät ten
Reichstag
Scheidemannstraße
Denkmal für die
ermordeten Sinti und
Roma Europas
Möglicher Standort im Tiergarten an der Straße des 17. Juni
Der Arbeitskreis der NS­Gedenkstätten in Berlin­
Brandenburg fordert in einer Resolution vom De­
zember 2014 einen Gedenkort für die Opfer der
deutschen Vernichtungspolitik in Osteuropa. Dem
Arbeitskreis gehören unter anderem das Deutsche
Historische Museum, das Jüdische Museum Berlin,
der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.
und das Zentrum für Zeithistorische Forschung
Potsdam an.
Mit räumlichem Bezug zum Sowjetischen Ehrenmal, das 1945 in Erinnerung an
die im Kampf um Berlin gefallenen Soldaten der Roten Armee errichtet wurde.
Wie bei anderen Ehrenmälern der Nachkriegszeit waren die sowjetischen Kriegs­
gefangenen nicht einbezogen.
Tiergarten
Sowjetisches
Ehrenmal
Straße des 17.
Zwei mögliche Standorte:
Juni
Tiergarten
■ Südseite der Straße, direkt gegenüber dem Ehrenmal.
■ Nordseite der Straße, seitlich neben dem Ehrenmal in Richtung
Brandenburger Tor.
Vorteile: Der direkte Bezug zum sowjetischen Ehrenmal trägt dazu bei, dessen
Monumentalität zu relativieren und zugleich seine Existenz in Berlin verständ­
lich zu machen. Räumliche Nähe zu den vier anderen Gedenkorten.
Blick vom Tiergarten über
die Straße des 17. Juni zum
Sowjetischen Ehrenmal,
April 2016.
Podiumsdiskussion in der Topographie des Terrors unter dem Titel
»Erobern und Vernichten (1939 – 1945). ›Slawen‹ – Eine verdrängte
Opfergruppe?« am 20. Mai 2014.
Zahlreiche Fachwissenschaftler haben bereits 2013
einen Aufruf für einen Ort der Erinnerung an die
Opfer der NS­Lebensraumpolitik in Osteuropa
unterzeichnet, darunter Prof. Stefanie Schüler­
Springorum, Leiterin des Zentrums für Antisemi­
tismusforschung in Berlin, die NS­Forscher Prof.
Michael Wildt und Prof. Peter Steinbach sowie Prof.
Stefanie Endlich, Expertin für Gedenkkultur im
öffentlichen Raum. Auch Personen der Öffentlich­
keit wie Stephan Kramer, Lea Rosh, Egon Bahr und
Walter Momper unterzeichneten den Aufruf.
Prof. Johannes Hürter, Leiter der Abteilung Zeit­
geschichte im Institut für Zeitgeschichte München­
Berlin, unterstrich in einer gemeinsamen Veranstal­
tung des Instituts mit der Initiative Gedenkort im
September 2015 seine Unterstützung der Einrich­
tung eines Gedenkortes.
Seitdem ist die Resolution bundesweit von zahlrei­
chen NS­Gedenkstätten unterzeichnet worden, dar­
unter den KZ­Gedenkstätten Buchenwald, Dachau,
Flossenbürg, Neuengamme und Sachsenhausen so­
wie dem NS­Dokumentationszentrum München.
Bei der Anhörung des Haushaltsausschusses des
Deutschen Bundestages im Mai 2015 zur Frage
der Entschädigung sowjetischer Kriegsgefangener
betonte u.a. die Sachverständige Prof. Dr. Beate
Fieseler von der Universität Düsseldorf:
»Im Bereich der Memorialkultur ist sicher immer
noch diese große Leerstelle vorhanden, dass an diver­
se Opfergruppen gedacht wird, aber die sowjetischen
Kriegsgefangenen, die nach den Juden die zweit­
größte Opfergruppe sind, die haben dort keinen Platz.
Ich würde mir schon wünschen, dass – auch, wenn
der Deutsche Bundestag sich entschließen sollte, diese
symbolische finanzielle Anerkennung zu leisten –
dass es auch noch etwas gibt, was längere Nachhal­
tigkeit entfaltet. Denn eine solche Aktion wird nach
einer gewissen Zeit aus dem Bewusstsein der Öffent­
lichkeit verschwunden sein.«
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th em atisie ru n g De r Deutsc h en ver ant WO rtu n g
in De r bu n DespOlitik
Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zur Belagerung
Leningrads am 27. Januar 2014 im Deutschen Bundestag
Rede von Bundespräsident Joachim Gauck zu sowjetischen Kriegsgefangenen
am 6. Mai 2015 in Schloß Holte-Stukenbrock
Der rassenideologische Raub­ und Vernichtungskrieg, dessen erklärter Zweck
die ›Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen‹ war, bediente sich
einer weiteren Waffe: des Hungers. Sie erwies sich dort am brutalsten, wo es kein
Entkommen gab: im eingeschlossenen Leningrad und in den Kriegsgefangenenlagern.
Hier in Schloß Holte­Stukenbrock erinnern wir in dieser Stunde an eines der
größten Verbrechen in diesem Krieg: Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in
deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden – sie gingen an Krankheiten
elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. Millionen von Kriegsgefangenen,
die doch nach Kriegsvölkerrecht und internationalen Verabredungen in der Obhut der
Deutschen Wehrmacht standen. [...]
Wir müssen heute davon ausgehen, dass von über 5,3 Millionen sowjetischen Kriegs­
gefangenen deutlich mehr als die Hälfte umkam. Millionen Schicksale, Millionen
Namen, Millionen Lebensgeschichten. Es waren Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kirgisen,
Georgier, Usbeken, Kasachen, Turkmenen – Soldaten aus allen Völkern, die damals zur
Sowjetunion gehörten. […]
Für uns bleibt festzuhalten, dass der millionenfache Tod derer, die unter der Verant­
wortung der Deutschen Wehrmacht starben, ›eines der größten deutschen Verbrechen
des Zweiten Weltkriegs‹ gewesen ist. Viele wollten das nach dem Krieg noch sehr lange
Zeit nicht wahrhaben. Aber spätestens heute wissen wir: Auch die Wehrmacht hat sich
schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht.
Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegs­
gefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen – es liegt bis
heute in einem Erinnerungsschatten.
Die menschlichen Tragödien, die sich in der belagerten Millionenmetropole abspielten,
sind uns heute völlig unvorstellbar. Lange Zeit waren sie, zumindest im Westen
Deutschlands, auch wenig bekannt. Die Erinnerung an den Russlandfeldzug war in
der jungen Bundesrepublik von der Tragödie bei Stalingrad in ihrer besonderen
deutschen Wahrnehmung dominiert; die Belagerung Leningrads und die dem
Hunger preisgegebenen Zivilisten fanden im Mythos einer vermeintlich ›sauberen
Wehrmacht‹ keinen Platz.
Rede von Gernot Erler, Russland-Beauftragter der Bundesregierung, zu
bela russischen Opfern des Nationalsozialismus am 4. Mai 2015 in Minsk
Der Vernichtungsort Trostenez steht stellvertretend für die deutschen
Verbrechen in Belarus. Hier in Trostenez fielen während der deutschen Besatzungs­
zeit Angehörige der belarussischen Zivilbevölkerung, Häftlinge, belarussische
Partisanen und sowjetische Kriegsgefangene deutschen Kriegsverbrechen zum Opfer.
Belarussische und auch westeuropäische Juden wurden hier Opfer des NS­Rassen­
wahns. Im Namen der Bundesregierung und auch persönlich für meine Person bitte
ich um Vergebung für die von Deutschen in Belarus begangenen Verbrechen und
ich verneige mich vor den Opfern.
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h istO risc h es m emO:
ziel setzu n gen u n D m eth O Den De r
ns - lebensr aum pO litik in pOlen u n D
Der sOWj etu n i On 1939 bis 1945
Vernichtung des polnischen Bürgertums und der Intelligenz
Die Nationalsozialisten verfolgten seit Kriegsbeginn das erklärte Ziel der Zerstörung einer polnischen
Identität durch die Verhaftung und Ermordung der Führungsschicht. Bereits bis Ende 1939 waren
40 000 Polen ermordet worden. Parallel begann die Vertreibung polnischer Bevölkerung aus Westpolen
im Namen »deutschen Lebensraumes«. Über 800 000 Menschen wurden mit den nur in ersten Ansätzen
verwirklichten Deportationsplänen vertrieben.
Der Führer hat mir gesagt: […] Was wir jetzt an Führungsschicht in Polen festgestellt
haben, das ist zu liquidieren, was wieder nachwächst, ist von uns sicherzustellen und in
einem entsprechenden Zeitraum wieder wegzuschaffen.
Hans Frank, Generalgouverneur des besetzten Polens, auf einer Polizeisitzung am 30. Mai 1940,
in: Immanuel Geiss/Wolfgang Jacobmeyer, Deutsche Politik in Polen 1939–1945. Aus dem Dienst­
tagebuch von Hans Frank, Opladen 1980, S. 71.
Nach dem Willen des Führers soll in kürzester Zeit aus dem polnisch bestimmten Pommerellen
ein deutsches Westpreußen entstehen. Zur Durchführung dieser Aufgaben machen sich nach
übereinstimmender Ansicht aller zuständigen Stellen folgende Maßnahmen notwendig:
1. Physische Liquidierung aller derjenigen polnischen Elemente, die
a) In der Vergangenheit auf polnischer Seite irgendwie führend hervorgetreten sind oder
b) In Zukunft Träger eines polnischen Widerstandes sein können.
2. Aussiedlung bzw. Umsiedlung aller »ansässigen Polen« … aus Westpreußen
Kertsch auf der Halbinsel Krim, Januar 1942, Trauer um getötete Angehörige (Dmitrij Baltermanz, Rossijskij
Gosudarstvennyj Archiv Kinofotodokumentov, Krasnogorsk)
Aus dem Lagebericht des Leiters des SD­Einsatzkommandos 16, SS­Sturmbannführer Franz Röder
vom 20. Oktober 1939, Zst. Ludwigsburg, 203 AR – Z 313/59, hier Dok. 22 Js 156/61, S. 5.
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Deutsche Planung eines Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion
Hungertod der Leningrader Bevölkerung
Mit der Kriegsplanung gegen die Sowjetunion reagierte die deutsche Führung nicht nur auf die Kriegslage,
sondern wollte damit zugleich ein zentrales Ziel der NS­Ideologie – die Eroberung von Lebensraum in
Osteuropa und dessen deutsche Besiedlung unter Vernichtung und Verdrängung der Bevölkerung –
verwirklichen.
Im September 1941 war die Frontlinie der Wehrmacht an die Millionenstadt Leningrad herangerückt.
Nach verschiedenen Überlegungen fiel der politische Beschluss, die Stadt nicht zu besetzen, sondern abzu­
riegeln und die drei Millionen Einwohner dem Hungertod preiszugeben. Auch wenn die Blockade nicht
lückenlos war, starben aufgrund unzureichender Versorgung in den zweieinhalb Jahren der Belagerung
800 000 bis 1.000 000 Einwohner der Stadt, vor allem Frauen und Kinder.
Der Krieg gegen Russland ist ein wesentlicher Abschnitt im Daseinskampf des deutschen
Volkes. Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung euro­
päischer Kultur gegen moskowitisch­asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen
Bolschewismus.
Dieser Kampf muss die Zertrümmerung des heutigen Russland zum Ziele haben und deshalb
mit unerhörter Härte geführt werden. Jede Kampfhandlung muss in Anlage und Durchführung
von dem eisernen Willen zur erbarmungslosen völligen Vernichtung des Feindes geleitet sein.
Insbesondere gibt es keine Schonung für die Träger des heutigen russisch­bolschewistischen
Systems.
Anlage Nr. 2 zur Aufmarsch­ und Kampfanweisung »Barbarossa« der Panzergruppe 4
(General Hoepner) vom 2. Mai 1941, in: Bundesarchiv­Militärarchiv, LVI.A.K., 17 956/7a.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass insbesondere Leningrad verhungern muss, denn es
ist unmöglich, diese Stadt zu ernähren. Aufgabe der Führung kann es nur sein, die Truppe
hiervon und von den damit verbundenen Erscheinungen fern zu halten.
Generalquartiermeister Eduard Wagner auf einer Chefbesprechung der Armeeoberbefehlshaber
am 13. November 1941 in Orscha, in: Staatsarchiv Nürnberg, NOKW­1535.
Flächendeckende Hungerpolitik gegen sowjetische Städte und Regionen
1.) Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus
Russland ernährt wird.
2.) Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für
uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.
Die deutsche Besatzungspolitik war in den verschiedenen Regionen der Sowjetunion und Polens keineswegs
einheitlich. In vielen Regionen sowie vor allem in den großen Städten nahm die systematische Unterver­
sorgung der Bevölkerung lebensbedrohliche Ausmaße an. Die Dimension der Opferzahlen dieser Hunger­
politik ist bisher nur vage einzuschätzen. Allein in Charkow gab es im Laufe eines Jahres 12 000 Hunger­
tote. Auch die ländliche Bevölkerung wurde in vielen Regionen ausgeraubt (»Kahlfraßzonen«) und damit
dem Hungertod preisgegeben. Die geschätzte Dunkelziffer all dieser Opfer liegt mindestens im hohen
sechsstelligen Bereich.
Aktennotiz über eine Besprechung von mehreren Staatssekretären und führenden Wehr­
machtsoffizieren am 2. Mai 1941 zu den kriegswirtschaftlichen Konsequenzen des geplanten
»Unternehmens Barbarossa« , in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem In­
ternationalen Militärgerichtshof, Bd. 31, Nürnberg 1948, S. 84 (Dok. 2718­PS).
Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert
mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das
nicht. Ob beim Bau eines Panzergrabens zehntausend russische Weiber an Entkräftung umfallen
oder nicht, interessiert mich nur soweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.
Rede des Reichsführers SS Heinrich Himmler auf der SS­Gruppenführertagung in Posen am
4. Oktober 1943, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen
Militärgerichtshof, Bd. 29, Nürnberg 1948, S. 118 u. 122.
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Mord und Hungertod der sowjetischen Kriegsgefangenen
Durch anfängliche militärische Erfolge der Wehrmacht gerieten 1941 drei Millionen Soldaten der Roten
Armee in deutsche Gefangenschaft. Von ihnen war im Mai 1942 nur noch eine Million Kriegsgefangene am
Leben. Die große Mehrheit verhungerte unversorgt in deutschen Lagern, die sich von der Ukraine bis in den
Westen des Deutschen Reiches erstreckten. Darüber hinaus waren an die 100 000 Soldaten als mögliche
politische Feinde oder wegen körperlicher Schwäche erschossen worden, darunter bis zu 10 000 Politoffizie­
re der Roten Armee. Die Hungerpolitik gegenüber den Kriegsgefangenen 1941–42 erfolgte zielgerichtet.
Nach dem Scheitern des Blitzkriegsplans wurden Kriegsgefangene zunehmend als Arbeitskräfte gebraucht,
zugleich galten sie unter den rassistischen Prämissen des Nationalsozialismus weiterhin als große Gefahr.
Trotz etwas verbesserter Ernährung blieb die Sterblichkeit unter den Gefangenen hoch, von 1942 bis
1945 verlor eine weitere Million sowjetischer Kriegsgefangener das Leben.
Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare.
Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grund­
sätzen der Menschlichkeit oder Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den
politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine
hasserfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten. […]
2.) Die Urheber barbarisch­asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare.
Gegen diese muss daher sofort und ohne weiteres mit aller Schärfe vorgegangen werden.
Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der
Waffe zu erledigen.
»Kommissarbefehl«, Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht vom 6. Juni 1941, in:
Bundesarchiv­Militärarchiv, RH 2/2082.
Grigorij Fomenko, geboren am 15. April 1915 im Gebiet Krasnodar, Arbeiter. Am 28. Juni 1941 als Unteroffizier
der Roten Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft gefallen. Im Lager »Stalag 307« versuchte Grigorij Fomenko
dem tausendfachen Sterben durch Hunger und Seuchen zu entkommen und wurde am 9. August 1941 bei einem
Flucht versuch erschossen. Mehr als drei Millionen sowjetische Soldaten wurden in deutscher Gefangenschaft durch
Hunger oder Erschießen getötet.
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Vernichtung der ländlichen Bevölkerung großer Regionen in Sowjetunion
und Polen im Partisanenkampf
Der Partisanenwiderstand in der Sowjetunion und in Polen wurde für die Nationalsozialisten zum Vorwand
für flächendeckende Mordaktionen gegenüber der Zivilbevölkerung. Hunderte Dörfer wurden allein in
Weißrussland vernichtet. Die völlige Zerstörung der Dörfer samt der demonstrativen Ermordung ihrer
Bewohner stellte nicht eine schreckliche Ausnahme wie in den besetzten Ländern West­ und Mitteleuro­
pas dar (beispielhaft Lidice, Oradour, Sant’Anna di Stazzema), sondern wurde in Osteuropa zum Regelfall.
Auch für diese dezentral verübten Verbrechen liegen keine annähernd exakten Zahlen vor.
Der ganze Krieg im Osten entsetzlich, allgemeine Verwilderung. Ein junger Offizier erhielt den
Befehl, 350 in einer großen Scheune zusammengetriebene Zivilisten, darunter Frauen und
Kinder, niederzumachen, weigerte sich zunächst, … und tat es schließlich, indem er mit einigen
Leuten Maschinengewehrfeuer durch das geöffnete Scheunentor in die Menge prasseln ließ
und die noch Lebenden mit Maschinenpistole niederknallte. Er war davon so erschüttert, dass
er, später leicht verwundet, den festen Entschluss fasste, nicht wieder an die Front zu gehen.
Tagebuchaufzeichnung des Botschafters a. D. Ulrich v. Hassell vom 18. August 1941, in:
Die Hassell­Tagebücher 1938–1944, 3. Aufl., Berlin 1989, S. 265.
Massenmord und Deportation der Warschauer Bevölkerung
In den ersten Tagen des Warschauer Nationalaufstandes im August 1944 verübte die Waffen­SS in meh­
reren Stadtteilen Massaker an der unbewaffneten Zivilbevölkerung. Vorsichtige Schätzungen gehen von
mindestens 63 000 Opfern aus. Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurden 350 000 bis 550 000
überlebende Stadtbewohner in Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit deportiert.
Herzzerreißende Szenen spielen sich in den brennenden Straßen ab. Die Bevölkerung sitzt in den
Kellern und wird bei den Räumungsaktionen auf die Straße getrieben, Männer, Frauen und
Kinder. Gestern wurden nur die Männer, tags zuvor auch Frauen und Kinder getötet. […] Es
soll Befehl von Himmler sein, alle Männer umzubringen. Aussage eines Polizeioberleutnants.
Tagebucheintrag des deutschen Hauptmanns Wilm Hosenfeld als Augenzeuge des Warschauer
Aufstands am 8. August 1944, in: Wilm Hosenfeld. »Ich versuche jeden zu retten«, hrsg. von
Thomas Vogel, München 2004, S. 824.
Wanda Jaskewitsch, geboren 1924, lebte bei den Eltern im weißrussischen Dorf Chatyn. Nach einem Gefecht mit
Partisanen am 22. März 1943 verbrannten oder erschossen SS und deutsche Polizei 149 Dorfbewohner in einer
Scheune – unter ihnen Wanda Jaskewitsch. Nur sechs Menschen überlebten das Massaker. Chatyn war einer von
hunderten Orten in Polen, Belarus, der Ukraine und Russland, die samt ihren Einwohnern durch deutsche Einheiten
vernichtet wurden.
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Initiative »Gedenkort für die Opfer der NS­Lebensraumpolitik«
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