Bourdieu-Oevermann

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Wintersemester 2009/2010
Dozent: Dr. Michael Tetzer
Modul: 19631 000 Handlungstheorien der Sozialpädagogik
Abgabetermin: 30. April 2010
Die Rezeption von Bourdieus Habituskonzept
im Kontext
des Professionalisierungskonzepts von Oevermann.
Parallelen, Differenzen, Diffusionen.
Dipl.-Psych. Hannah Denker
Veerßer Str. 20
29525 Uelzen
Telefon: 0581-2118660
Fax.: 0581-2118661
E-Mail: [email protected]
Studiengang: Berufliche Bildung in der Sozialpädagogik (M.A.)
Matrikel-Nr.: 3006898
Fachsemester: 1
Fächerkombination: Deutsch/ Sozialpädagogik
Inhalt
1. Einleitung ................................................................................................................ 1
2. Erkenntnistheoretische Grundpositionen Bourdieus ......................................... 2
2.1 Der strukturalistische Konstuktivismus Bourdieus ............................................ 2
2.2 Die zweite Schicht: Habituskonzeption ............................................................. 3
2.3 Soziales Feld ...................................................................................................... 6
3. Pädagogische Professionalität Oevermanns ........................................................ 9
3.1 Der interaktionistischer Strukturalismus Oevermanns....................................... 9
3.2 Soziale Deutungsmuster................................................................................... 12
3.3 Pädagogische Professionalisierungsbedürftigkeit ............................................ 16
4. Parallelen und Differenzen .................................................................................. 20
4.1 Konstruktivistischer vs. interaktionistischer Strukturalismus.......................... 20
4.2 So und so: Habitus und soziale Deutungsmuster ............................................. 21
5.
Abschließende Bemerkungen .......................................................................... 23
Literatur...................................................................................................................... I
1. Einleitung
Ackermann und Seek (1999: 8) verlangen im Rahmen der Professionalisierungsdebatte der
Sozialen Arbeit eine eindeutige, theoretische Folie für professionelles sozialpädagogisches
Handeln. Sie bestimmen Professionalität u.a. über die „strukturtheoretisch revidierte
Konzeption des Professionalisierungsbegriffs“ (ebd.) von Oevermann aus den 90er Jahren.
Außerdem verstehen die Autoren Bourdieus Habituskonzept als Metarahmen und erweitern
dessen Begrifflichkeiten um einen „beruflichen Habitus“ (ebd.: 10). Müller und Becker-Lenz
(2008:
25ff)
gehen
noch
einen
Schritt
weiter
und
wagen
den
Versuch
Habituserwerbsprozesse von Studierenden der Sozialen Arbeit im Studienverlauf abzubilden.
Auch sie setzten an einem ‚beruflichen Habituskonzept’ an.
Bereits am Artikelanfang gehen Müller und Becker-Lenz (2008: 25) in einer Fußnote auf das
Professionalisierungskonzept von Oevermann ein, indem sie Soziale Arbeit als
„professionalisierungsbedürftigen Beruf“ (ebd.) deklarieren. Die AutorInnen gehen davon
aus, dass spezifische sozialpädagogische Kompetenzen auf einer habituellen Ebene
verinnerlicht werden müssen und sehen in Oevermanns Konzept eine berufliche
Habitusformation durchschimmern (vgl. ebd.). Sie berufen sich für diese Aussage v.a. auf
Oevermanns Aufsatz von 2001: ‚Die Struktur sozialer Deutungsmuster’ und behaupten:
"Oevermann schließt an Bourdieus Habituskonzeption an und geht darüber hinaus,
indem er sich aus professionssozilogischer Perspektive mit der Bestimmung eines
'professionellen Habitus' beschäftigt“ (Müller/ Becker 2008: 26).
Im
Sinne
einer
forschungsmethodischen
Reduktion
haben
die
AutorInnen
die
Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze hervorgehoben. In der vorliegenden Hausarbeit wird es
darum gehen, die Parallelen und Differenzen der beiden Konzeptionen herauszuarbeiten. Die
grundlegende These ist, dass es sich bei dem bourdieuischen Habituskonzept um ein
deskriptives Beschreibungsmodell mit konstruktivistischen Grundpositionen und bei
Oevermann um ein interaktionistisch-strukturalistisches Professionsmodell handelt. Durch
einen Vergleich der theoretischen Fundierungen und methodischen Ausführungen soll
verdeutlicht werden, dass zwischen den beiden Ansätzen neben Gemeinsamkeiten auch
deutliche Unterschiede in theoretischer, methodologischer und forschungspraktischer
Hinsicht zu verzeichnen sind (vgl. Liebau 1987: 17).
Die vorliegenden Ausführungen beginnen mit den erkenntnistheoretischen Grundpositionen
Bourdieus und seinen zentralen Begriffspaaren ‚Habitus’ und ‚Feld’ (Kapitel 2). Dann
werden die erkenntnistheoretischen Parameter Oevermanns vorgestellt sowie seine
Vorstellungen von ‚Deutungsmustern’ und ‚pädagogischer Professionalität’ (Kapitel 2) und
schließlich werden die Grundstrukturen der jeweiligen Argumentationslinien auf ihre
1
Parallelen und Differenzen hin untersucht und zueinander in Beziehung gesetzt (Kapitel 4).
Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse einer Bewertung unterzogen (Kapitel 5).
Insgesamt werden ausgewählte Aspekte beider Forschungstraditionen berücksichtigt, die den
Unterschied und die Anknüpfungspunkte der beiden Ansätze hervortreten lassen.
2. Erkenntnistheoretische Grundpositionen Bourdieus
Im Folgenden wird deduktiv von der allgemeinen, erkenntnistheoretischen Perspektivierung
Bourdieus (2.1) zur detaillierteren Betrachtung zentraler Begrifflichkeiten wie ‚Habitus’ (2.2)
und ‚Soziales Feld’ vorgegangen.
2.1 Der strukturalistische Konstuktivismus Bourdieus
Schwingel (2005: 22) betont, dass die strukturale Soziologie von Bourdieu von einem
konstruktivistischen Selbstverständnis getragen ist und Liebau (1987: 69) untermauert diese
Behauptung mit dem Hinweis darauf, dass Bourdieu von einer Subjektvorstellung ausgeht,
die das Subjekt in eine „über Vorurteile konstruierte Welt“ (Bourdieu 1981; 149f, zitiert nach
Liebau 1987: 69) setzt – die einzige Welt, die das (bourdieuische) Subjekt je kennen wird.
Bourdieu geht davon aus, dass die Potentialität des Subjekts als Vernunftswesen nur eine
(unter
anderen)
Möglichkeiten
darstellt
und
an
die
historisch-gesellschaftlichen
Lebensbedingungen geknüpft ist. Die gesellschaftlichen Errungenschaften sind in der Hand
weniger monopolisiert (vgl. ebd.: 23). Bourdieus Perspektive ist hierbei eine „radikal
historizistische“ (Liebau 1987: 23). Er hält nichts davon, die universelle Vernunft
‚theoretisch’ zu postulieren sondern fragt nach den historisch-sozialen Bedingungen der
Möglichkeit, unter denen Vernunft sich potentiell entwickeln kann (vgl. ebd.: 24). Bourdieus
Erkenntnisinteresse zielt auf die Rekonstruktion der ‚Ökonomie der Praxis’, wobei diese
Ökonomie freilich nicht „auf den bloßen Wahrenaustausch, der objektiv und subjektiv auf
Profitmaximierung ausgerichtet und vom (ökonomischen) Eigennutz geleitet ist“ (Bourdieu
1983: 184), sondern insbesondere auch die (scheinbar) „uneigennützigen Beziehungen“
(ebd.) einer kritischen Prüfung unterzieht. Für Bourdieu erscheint das Feld der (Sozial-)
Wissenschaft als eines der Orte, in denen Vernunft die Währung der Wahl darstellt und „wer
gewinnen will“ (Liebau 1987: 25) muss sich mit dieser Waffe wappnen. Der Kampf im Feld
der Wissenschaft gilt der Unwahrheit, der Illusion. Die soziologische Wissenschaft ist in
diesem Sinne eine Erkenntnistheorie, die den Kampf um Klassifikationssysteme als Teil des
Klassenkampfes zu ihrem primären Gegenstand zu machen hat, gerade weil es keinen
absoluten Standpunkt, keine absolute Beobachterperspektive gibt bzw. gerade weil die
gesellschaftliche Praxis permanent im Fluss ist (vgl. ebd.: 27ff).
Die Folie auf deren Basis Bourdieu seine Begriffe konstruiert, bilden phänomenologische
und existenzialistische Ansätze (und selbstverständlich frühe marxistische Theorien),
wohingegen seine strukturalistischen Grundprinzipien in der Auseinandersetzung mit
linguistischen Theorien u.a. eines de Sausurre entstanden sind (vgl. Liebau 1987: 30). Den
2
genetischen Strukturalismus Piagets und das Kompetenzmodell Chomskys re-interpretiert
Bourdieu unter soziologischen Gesichtspunkten. Ein soziologischer Erkenntnismodus steht
prinzipiell im Gegensatz zum ‚Schlachtgetümmel’ des Alltags und muss sich seinen
Gegenstand mit eigenen Mitteln erobern. Er stellt nicht einfach eine Elaboration alltäglicher
Erkenntnis dar, sondern erfordert eine Objektivierung, die das intuitiv als wahr erlebte in ein
System von Relationen mit Hilfe wissenschaftlich konstruierter Begrifflichkeiten und
Methoden einbettet (vgl. ebd.: 31; 54; Baumgart 2004: 199).
Die phänomenologisch-subjektivistischen und die strukturalistisch-objektivistischen Erkenntnisweisen reichen Bourdieu für eine adäquate Theorie-Konstruktion nicht aus, weshalb
er „sein eigenes erkenntnistheoretisches Modell“ (Liebau 1987: 32), eine praxeologische
Erkenntnisweise, entwickelt. Sie soll die dialektische Beziehung zwischen objektiver
Strukturen und strukturierten Dispositionen zu ihrem Gegenstand erheben. Begriffe wie
‚Kultur’, ‚Struktur’, ‚Klasse’ oder ‚Habitus’ sind wissenschaftliche Konstruktionen und keine
subjektiv wahrgenommenen ‚Realitäten’ (vgl. Liebau 1987: 33; Bourdieu 1997: 61ff). Die
Theorie soll vielmehr ein Bild der Welt aus einer verfremdeten wissenschaftlichen Distanz
heraus entwickeln (vgl. Liebau 1987: 35). Bourdieu geht davon aus, dass Alltagserkenntnis
und wissenschaftliche Erkenntnis deutlich differieren: Während die Alltagserkenntnis nach
klassenspezifischen Normalitätsmustern automatisiert vollzogen wird und nur bedingt
bewusstseinsfähig ist, setzt wissenschaftliche Erkenntnis das Wissen um ihre Zwecke, die
Beherrschung ihrer Methodologie sowie die Kritik der BeobachterInnenperspektive voraus
(vgl. Liebau 1987: 68f; Bourdieu 1997: 66).
Im Rahmen dieser Ausführungen können nicht alle bourdieuischen ‚Grundbegriffe’
dargestellt werden – insbesondere da man, wie Rehbein (2006: 13) hervorhebt, davon
ausgehen muss, dass seine parallel und mit den Mitteln der Empirie entwickelten
Begrifflichkeiten sich im Rahmen seiner Forschungen immer wieder gewandelt und den neu
gewonnen Erkenntnissen angepasst wurden. Angesicht der bestehenden Sekundärliteratur
über Bourdieu scheint es jedoch gerechtfertigt das Habituskonzept und seine Theorie(n) des
Sozialen Feldes als zentrale Begriffe hervorzuheben (vgl. Liebau 1987: 53; Krais 2002: 31ff;
Schwingel 2005: 59ff; Fuchs-Heinritz/ König 2005: 113ff; 139ff; Rehbein 2006: 86ff; 105ff).
Im folgenden Kapitel steht daher Bourdieus Habitus-Konzeption im Zentrum der
Ausführungen.
2.2 Die zweite Schicht: Habituskonzeption
Liebau (1987: 53) sieht das Habitus-Konzept gemeinsam mit dem Feld-Konzept als Kern des
Bourdieuischen Ansatzes: Wenn Bourdieu in einem seiner zentralen Werke, ‚Die feinen
Unterschiede’, den Untertitel ‚Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft’ wählt, so gemahnt er
damit an aufklärerische Grundmaximen bzw. an Kants Werk ‚Kritik der reinen Vernunft’
(vgl. Liebau 1987: 55ff; Bourdieu 1987). Allerdings setzt Bourdieu sich die Befreiung Kants
3
aus seinem „philosophischen Idealismus“ (Liebau 1987: 58) zum Ziel, um ihn sozusagen
materialistisch-empirisch zu erden. Bourdieu (1987: 277ff) richtet seine Aufmerksamkeit auf
diejenigen Handlungen, die ‚automatisch’ vollzogen werden, denen keine bewusst-rationalen
Handlungspläne zugrunde liegen, d.h. den routinisierten, alltäglichen Handlungen einer zur
Gewohnheit gewordenen Lebenspraxis. Bourdieu (1987: 740) kommt zu der Einsicht, dass
das bürgerliche Ideal der Mündigkeit
„die Einsicht verhindert [habe], dass wir Menschen, laut Leibnitz, ‚in Dreiviertel
unserer Handlungen Automaten sind’, und dass die, wie es so schön heißt, ‚letzten
Werte’ nichts weiter sind als erste und ursprüngliche Dispositionen des Körpers,
Geschmacks- und Ekelempfindungen“ (Bourdieu 1987: 740).
Bourdieu bestimmt den Habitus als ein System verinnerlichter Muster (Inkorporationen)
bzw. dauerhafter Dispositionen die die typischen Gedanken, Wahrnehmungen und
Handlungen in einer Gesellschaft bzw. einer Kultur erzeugen, ein generativ strukturiertes
Konglomerat von erworbenen Einstellungen, Fähigkeiten, Erwartungen, ideologischen
Konzeptionen und Routinen. Der Habitus stellt eine Form der ‚generativen Handlungsgrammatik’ dar, die als Vermittlungsinstanz zwischen Struktur und Lebenspraxis fungiert.
Im Unterschied zum linguistischen Konzept Chomskys handelt es sich jedoch um historischkulturell wandelbare, nicht um universelle, Dispositionen. Als ‚Grammatik’ wirkt der
Habitus indessen, da erworbene Kompetenzen gekonnt aber nicht gewusst werden (vgl.
Liebau 1987: 63; Ackermann/ Seek 1999: 10f; Krais 2002: 33; Müller/ Becker-Lenz 2008:
26).
Bourdieu versucht über den Habitusbegriff die Dialektik zwischen Individuum und
Gesellschaft soziologisch zu überwinden, indem er mit dessen Hilfe „die Individuum
gewordene Gestalt von Gesellschaft“ (Liebau 1987: 61) rekonstruiert. Bourdieu analysiert
das Individuum dabei nicht als normatives Einzelwesen, sondern als sozialen Akteur par
excellance, in dessen individuellen Dispositionen die kollektive menschliche Geschichte
eingelagert ist (vgl. Liebau 1987: 60f; Bourdieu 1997: 61f; Fuchs-Heinritz/ König 2005:
114f). Durch seinen individuellen Lebensweg – in der Sprache Bourdieus die ‚trajectoire’ –
ist der Akteur zugleich an der Produktion und der Reproduktion sozialer Strukturen beteiligt,
die er selbst (auch) erleidet. Er teilt Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsmuster
mit jenen sozialen Akteuren, die sich in isomorphen Lebenslagen befinden. Damit ist auch
verbunden, dass sich dem sozialen Akteur nur ein (kleiner) Ausschnitt der potentiell
erfahrbaren Lebenspraxis eröffnet. Der Kompetenzerwerb im bourdieuischen Sinne geschieht
einerseits durch die Teilnahme an der Praxis, sozusagen als Objekt der Praxisformen, als
auch als Subjekt von Praxisformen, indem diese Kompetenzen aktualisiert und erweitert
werden (vgl. Liebau 1987: 83). Bourdieu unterscheidet an dieser Stelle zwischen
Individualhabitus und Klassenhabitus (vgl. Liebau 1987: 61f; Schwingel 2005: 115; Fuchs4
Heinritz/ König 2005: 114f). Während der Klassenhabitus durchschnittliche, typische
Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsmuster einer Klasse angibt, handelt es sich
beim Individualhabitus um individuelle Stilvarianten dieser kollektiven Muster (vgl. Liebau
1987: 66; 70). Der Habitusbegriff ist ein wissenschaftlich konstruierten Begriff und ein
Instrument zum Zwecke der Analyse empirischer Phänomene. Er ist an empirische
Indikatoren gekoppelt. (vgl. Bourdieu 1979).
Die ontologische Entwicklung des Habitus vollzieht sich, indem ein Individuum die
objektiven Strukturen seiner sozialen Welt verinnerlicht, die dann wiederum die bestehende
Ordnung reproduzieren. Es handelt sich also um einen doppelten Prozess der Interiorisierung
der Exteriorität und der Exteriorität der Interiorität (vgl. Bourdieu 1979: 147, 164; Liebau
1987: 33, Müller/ Becker-Lenz 2008: 26). Bourdieus sozialisatorischer Fokus im Prozess
des Habituserwerbs bilden die sekundären und tertiären Bildungssysteme Schule und
Hochschule. Die scheinbare Neutralität von Leistungsbewertungen stellt insofern eine
Vorzugsbehandlung bildungsbürgerlicher Habitusformen dar, als die Wahrscheinlichkeit von
(formalen) Bildungserfolgen ansteigt, wenn schulische und familiäre Habitusformen
Strukturähnlichkeiten
aufweisen.
Verwissenschaftlichung,
Versprachlichung
und
Intellektualisierung (hoch-) schulischen Lehrens und Lernens zusammen mit dem
Leistungsprinzip erweisen sich hier als zentrale Selektionsprinzipien und tragen zur
Reproduktion gesellschaftlicher Statushierarchien bei (vgl. Bourdieu 1983: 197; Liebau
1987: 85f; Baumgart 2004: 205f). Diese Annahme wird im Übrigen durch aktuelle
Lesesozialisationsforschungen bestätigt (vgl. Wieler 1997; Graf 2007).
„[E]rst die Verbindung von praktischer und symbolischer Beherrschung einer
Aufgabenstellung schafft die innere Komplexität des Denkens, die einen distanzierten
Blick auf das Spiel mit unterschiedlichen Lösungsstrategien zulässt“ (Liebau 1987: 88).
Der Habitus folgt einem Muster von Zirkularität, d.h. er weist ein Beharrungsvermögen bzw.
eine Veränderungsträgheit auf, versucht sich vor Krisen und Infragestellungen zu schützen.
Er bleibt in seinen Strukturen so lange erhalten, wie seine Prinzipien sich in der Lebenspraxis
bewähren (vgl. Liebau 1987: 86; Müller/ Becker-Lenz 2008: 26). Der Habitus wird zur
eigenen „Natur gewordene[n] Geschichte, die als solche negiert, weil als zweite Natur
realisiert wird“ (Bourdieu 1979: 171). Er schreibt sich sprichwörtlich in den Körper ein und
wird als ‚Hexis’ zu einer Art des Sichhaltens, Redens, Gehens und Denkens, die den eigen
Rang, die Position in der gesellschaftlichen Ordnung signalisieren. Dazu gehören auch
Vorstellungen
vom
‚gesunden
Menschenverstand’,
die
als
Aus-
und
Abgrenzungsmechanismen wirksam werden. Die Alltagserkenntnis und der Habitus
funktionieren nach dem Muster einer self-fulfilling-prophecy. Veränderungen sind nur
möglich, wenn dieser Zirkel durch (individuelle oder kollektive) Krisen oder durch kulturelle
Kontakte erschüttert wird (vgl. Liebau 1987: 63; 67f; 69; Bourdieu 1997: 62f). Dass es sich
5
bei Bourdieus Habitus-Konzeption nicht um ein rein deterministisches Modell handelt, wird
von Schwengel (2005: 69ff) mit der individuelle Variabilität und von Liebau (1987: 65) mit
der Möglichkeit einer ‚geregelten Improvisation’ begründet. Der Habitus verunmöglicht
spontane Handlungen nicht, aber das situative Reaktionsvermögen wird vor „dem
Hintergrund aller Erfahrungen, die der soziale Akteur im Laufe seiner Lebens- und
Bildungsgeschichte gewonnen hat“ (Liebau 1987: 65) getroffen. Der Prozess der
Interorisierung der Exteriorität stellt kein mechanisches Kausalitätsprinzip dar, sondern lässt
im Sinne eines Individualhabitus eigensinnige Fähigkeiten und Kompetenzausformungen –
eine relative Autonomie - des sozialen Akteurs zu. Aber selbst die ‚spontanen
Improvisationen’ weisen durch den Klassenhabitus weitgehende Kohärenzen auf (vgl. ebd.:
70). Bourdieus Erkenntnisinteresse liegt demnach in der Verschmelzung individueller und
kollektiver Biographien (vgl. Ackermann/ Seek 1999: 11).
„Struktur, Habitus, Praxis bilden die begriffliche Trias, mit der Bourdieu das Verhältnis
von Sozialwelt und Individuum zu analysieren versucht. Habitus ist dabei nicht zufällig
die mittlere Kategorie; sie kennzeichnet nämlich den Ort, in dem die Praxis erzeugt
wird“ (Liebau 1987: 62).
In diesem Sinne wird nun unter Punkt 2.3 der Ort des Habitus in der (Lebens-) Praxis
thematisiert und seine relationalen Bezüge in Politik, Ökonomie und Wissenschaft werden
dargestellt.
2.3 Soziales Feld
Das Habituskonzept ist nur vollständig erfassbar, wenn es in die wesentlichen
gesellschaftlichen Struktureigenschaften eingebetet wird, in den sozialen Raum, indem die
Kämpfe um Aufrechterhaltung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse von Positionen in
Ökonomie, Politik, Kultur, Wissenschaft und Kunst vollzogen werden (vgl. Bourdieu 1983:
184ff; Bourdieu 1987: 195ff; Liebau 1987: 71; Schwingel 1995: 59ff; Bourdieu 1997: 71ff;
Krais 2002: 53ff; Fuchs-Heinritz/ König 2005: 176ff; Rehbein 2006: 90).
Der Raum der Positionen ist historisch-gesellschaftlich konstituiert und zeigt die in einer
Gesellschaft gegebenen Ungleichheitsstrukturen in vertikaler und horizontaler Hinsicht (vgl.
Schwingel 2005: 106ff; Baumgart 2004: 210ff) - Liebau (1987: 72) spricht in diesem
Kontext von einer „Rangordnung“. Der Raum sozialer Positionen wird von Bourdieu (1983:
183) aus einer erweiterten ökonomischen Perspektive rekonstruiert. Es Man darf sagen, dass
‚Feld’ und ‚Kapitalarten’ sich wechselseitig definieren und somit notwendigerweise
zusammengehören (vgl. auch: Krais 2002: 53ff; Baumgart 2004: 210ff; Schwingel 2005:
82ff; Rehbein 2006: 157ff). Ein rein wirtschaftswissenschaftlich orientierter Kapitalbegriff
ignoriert weitere, unerkannte Kapitalarten, „die zwar objektiv ökonomischen Charakter
tragen, aber als solche im gesellschaftlichen Leben nicht erkannt werden“ (Bourdieu 1983:
184). Diese Kapitalarten erfordern einen „erheblichen Aufwand an Verschleierung“
6
(Bourdieu 1983: 184, 197). Bourdieu (1983: 185ff) differenziert zwischen drei (bzw. vier)
Kapitalformen:
Das ökonomische Kapital ist unmittelbar in Geld konvertierbar und gehört zu den
wirtschaftswissenschaftlich bekannten Kapitalsorten. Bourdieu (1983: 190f) stellt fest, dass
es besonders zur Institutionalisierung in Form des Eigentumsrechts geeignet ist. Die
Fokussierung der Wirtschaftswissenschaften auf einen solchen Kapitalbegriff führt zu der
fälschlichen Annahme, dass alle nicht-ökonomischen Austauschbeziehungen uneigennütziger
Art seien und damit auf eine Leugnung aller symbolischen Tauschakte. Das soziale Kapital
ist eine solch ‚verschleierte’ Kapitalform. Es basiert auf der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe, ist unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital
konvertierbar und wird u.a. in Adelstiteln symbolisch deutlich (vgl. ebd.:185; 190f;
Schwingel 2005: 86ff). Die ‚Vererbung’ schulischer ‚Leistungstitel’ erfolgt u.a. über das
soziale Kapital (vgl. Bourdieu 1983: 186). Es ist allerdings im Schwerpunkt das kulturelle
Kapital, das sich besonders zur Institutionalisierung in Form von schulischen Titeln eignet
(vgl. ebd.: 190). Auch diese Kapitalform ist - unter bestimmten Voraussetzungen und mit
Transformationskosten verbunden - in ökonomisches Kapital konvertierbar. Es handelt sich
um den Ertrag von Investionen von eingesetzter Lebenszeit (vgl. ebd.: 185f). Bourdieu
(1983: 185) unterscheidet hier drei Formen: Kulturelles Kapital kann in einem inkorporierter
Zustand als dauerhafte Dispositionen des Organismus, in objektiviertem Zustand in Form
von kulturellen Gütern oder im institutionalisierten Zustand (z.B. Adelstitel) vorkommen
(vgl. Bourdieu 1983: 185). In den Schriften Bourdieus werden diese drei Kapitalarten
wiederholt betont. Allerdings fügt Bourdieu in einigen seiner Werke noch eine vierte Form
des Kapitals an, das symbolische Kapital, das eine Art summarischer Zusammenführung der
vorangegangenen Kapitalarten dargestellt und mit den Begriffen Prestige, Renommee u.a. in
Verbindung gebracht wird (vgl. Liebau 1987: 74; Schwingel 1995: 91; Fuchs-Heinritz/
König 2005: 169).
Die individuellen gesellschaftlichen Positionen bzw. Lebenslagen sind über diese drei oder
vier Kapitalarten dimensional unterscheidbar. Bourdieu konstruiert auf der Basis dieser
Kapitalartendifferenzierung ein Modell des sozialen Raumes, anhand dessen für jeden Akteur
seine Stellung in den möglichen „Spiel-Räumen“ (Bourdieu 1985: 10, zitiert nach Liebau
1987: 74) darstellbar wird. In diesen ‚Spielräumen’ finden die materiellen und symbolischen
Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Akteuren statt (vgl. Ackermann/ Seek 1999:
11). In den jeweiligen Positionen sind entsprechende Handlungsschemata, habituelle
Lebensstile und Gewohnheiten eingelagert, die eine Passung zwischen Individuum und
gesellschaftlicher Position ermöglichen oder erschweren können. Im Kontext von
feldspezifischen Positionen konkretisiert Bourdieu seinen Kompetenzbegriff als Trias von
Handlungsbefugnissen, Handlungsmöglichkeiten und den damit notwendig werdenden
Handlungsfähigkeiten.
Der
bourdieuische
Kompetenzbegriff
beinhaltet
sowohl
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personengebundene
Handlungsfähigkeiten
als
auch
positionsgebundene
Handlungs-
befugnisse formaler und inhaltlicher Couleur (vgl. Liebau 1987: 72; 90). Wenn Habitus und
Feldposition nicht in Übereinstimmung miteinander sind, d.h. wenn es nicht zu einer Passung
zwischen Sozialem Akteur und seiner sozialen Umwelt kommt, dann muss sich der soziale
Akteur verändern, er muss lernen (vgl. ebd.: 91). Für Bourdieu ist hierbei zentral, dass
Kompetenz nicht allein ein subjektives Vermögen bezeichnet, sondern immer der Zwang des
(sozialen) Feldes mitzudenken ist. Es geht hierbei allerdings mitnichten nur um die
beruflichen Qualifikationen. Diese bilden lediglich notwendige, aber keine hinreichenden
Bedingungen (vgl. Liebau 1987: 75).
Gesellschaftliche Entwicklung vollzieht sich nach Bourdieu in permanenten Bewegungen
innerhalb der Lebensstilräume, im „Feld der symbolischen Auseinandersetzungen“ (Liebau
1987: 76). Hier kommt dem Bourdieuische Begriff der ‚Doxa’ eine gewichtige Rolle zu. Sie
zeichnet die Schwierigkeiten nach, den ontogenetisch erworbenen Habitus zu verändern (vgl.
Liebau 1987: 70; 77). Die Doxa enthält das (scheinbar) genuine Wissen über das, was sich
gehört oder auch nicht gehört, was richtig und erstrebenswert ist (vgl. ebd.). Laut Rehbein
(2006: 106) differenziert Bourdieu nicht immer exakt zwischen den Begriffen Illusio und
Doxa. Beiden Begriffen ist gemeinsam, dass sie den Wahrnehmungshorizont der Akteure in
den verschiedenen sozialen Feldern abbilden. Durch die Gefangenschaft im doxischen
Horizont des eigenen von unten nach oben strebenende Feldes ist es den Individuen nicht
möglich sich daraus zu befreien. Sie reproduzieren – wenn auch unfreiwillig – die historischaktualisierte Herrschaftsstruktur (vgl. Liebau 1987: 77; Bourdieu 1983: 198). Die Doxa
entspricht einem unmittelbaren Anerkennungsverhältnis, das sich in der Praxis zwischen
einem Habitus und dem Feld herstellen kann (vgl. Liebau 1987: 78; 85; Krais 2002: 55f). Der
Erwerb nicht-redundanter Habitusformen ist mit der Transformation des Individualhabitus
verbunden. Wenn dem System grundlegend neue Elemente zugeführt werden, dann sind alle
Relationen innerhalb des Systems berührt und eine neue Ordnung muss etabliert werden (vgl.
ebd.: 91f). Diese Transformation kann mit großen, individuellen Krisen verbunden sein, da
Krisen einen Bruch mit der Doxa der Herkunftskultur bedeuten (vgl. Liebau: 93).
Bourdieu (1987: 277ff) betont zwar, dass Laufbahneffekte im Sinne des sozialen Aufstiegs
(und des sozialen Abstiegs) möglich sind, aber tendenziell eher die ‚Homologie der Räume’
und damit einhergehend die Aufrechterhaltung des Ursprungshabitus vorherrschend ist (vgl.
ebd.: 367ff). Eine Möglichkeit der Evozierung solcher Veränderungen sieht Bourdieu in der
„Verfremdung der eigenen Erfahrung“ (Liebau 1987: 96) wie sie beispielsweise durch ein
Literaturstudium geschehen kann. Auch hier werden Bourdieus Erkenntnisse durch die
aktuelle Leseforschung bestätigt: Es besteht tatsächlich eine Isomorphie zwischen
Leseerfahrung und realer Erfahrung. Die (Re-) Konstruktion innerer Bilder beim Lesen
aktiviert dieselben Systeme unseres Gehirns, die auch beim Sehen tätig sind, stellen
Gailberger et al. (2007: 117ff) in Anlehnung an kognitionspsychologische Studien fest. Um
8
aber über einen individuellen Bruch der Doxa hinauszugehen, sind nach Bourdieu
ökonomische oder politische Krisen notwendig (vgl. Liebau 1987: 93).
Nachdem nun die zentralen Parameter der bourdieuschen Theorie – im Bewusstsein der
eigentlich empirischen Perspektivierung – dargestellt wurden, werden im Folgekapitel die
zentralen Grundsätze der theoretischen Position Oevermanns skizziert.
3. Pädagogische Professionalität Oevermanns
Auch in der Annäherung an die sprachlich schwer zugänglichen erkenntnistheoretische
Grundlegung Oevermanns wird eine deduktive Darstellungsweise gewählt: Zunächst werden
die allgemeinen Grundzüge seiner interaktionistisch-strukturalisten Perspektive (3.1)
vorgestellt, dann wird das zentrale Paradigma ‚soziale Deutungsmuster’ (3.2) erläutert und
schließlich werden diese komplexen theoretischen Ableitungen im Bezug auf pädagogische
Professionalisierungsprozesse konkretisiert (3.3).
3.1 Der interaktionistischer Strukturalismus Oevermanns
Die widersprüchliche Zwillingsformel – oder in den Worten Reichertz (2002: 131) das
‚Oxymoron’ – ‚interaktionistische Strukturtheorie’ meint die Verbindung interaktionistischer
und strukturalistischer Elemente in einem Erklärungsmodell, wie sie für Oevermanns
theoretisches Konzept bezeichnend ist. Die interaktionistische Seite beinhaltet die konkrete
Lebenspraxis, die unausweichlich zum Handeln und zur interaktiven Begründung des
Handelns zwingt (vgl. Reichertz 2002: 131f). Oevermann sieht die Produktion von Sinn als
„die Elementarform von Sozialität“ (Liebau 1987: 43) und stellt sich damit in die Tradition
eines symbolischen Interaktionismus. Bezug nehmend auf die Sprechakttheorie von Searle,
die Sprache als Form sozialen Handelns auffasst (vgl. Brinker 2001: 88ff), transferiert
Oevermann (2001: 6) regelgeleitetes Handeln auf kommunikatives Handeln. Kurz:
regelgeleitetes Handeln und Sprechakte sind strukturidentisch. Die Differenz besteht jedoch
in ihrem Geltungsbereich, die sich bei kommunikativem Handeln „an der Legitimität
interpersonaler Beziehungen“ (Oevermann 2001: 6) bemisst – also konsensuell validiert
werden muss. Das regelgeleitete Handeln zeigt sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive
als „Maxime, der das Handlungssubjekt praktisch folgt“ (Oevermann 2001: 6). Hier zeigt
sich die strukturalistische Seite in der Fokussierung auf die Muster, die sich in den konkreten
Handlungsstrukturen reproduzieren bzw. transformieren, die Teil der Gattung und Teil der
historischen Interaktionsgemeinschaft sind (vgl. Reichertz 2002: 131f).
Oevermann (2001) zieht als Basistheorien Ansätze des symbolischen Interaktionsmuses eines
Mead, die Universaliendebatte eines Chomskys, psychoanalytische Subjektvorstellungen
Freuds sowie phasische entwicklungspsychologische Modelle eines Piagets heran. Diese
reichert Oevermann dann noch mit sprechaktheortischen Vorstellungen eines Searle,
erkenntnistheoretischen Prämissen eines Peirce und Poppers an und sieht sich darüber hinaus
9
in der Tradition der kommunikativen Kompetenz habermascher Soziologietraditionen
verankert. Dieses Konglomerat an theoretischen Traditionen und Strömungen wird von
Liebau (1987: 47) - zu Recht – als „Eklektizismus“ (ebd.) bezeichnet und mit dem Hinweis
vorgestellt, dass Oevermann „von diesen Bezugstheorien einen durchaus eigenwilligen
Gebrauch macht“ (Liebau 1987: 47).
Oevermanns Rekurs auf Chomsky bezieht sich auf dessen Unterscheidung von ‚Kompetenz’
als einer universalen Ausstattung des Menschen Fähigkeiten auszubilden und deren
historisch-sozialer Form - der ‚Performanz’ - als dessen Gebrauchsform. Als ‚epistemische
Subjekte’ verfügen Menschen – gleich einer generativen Grammatik – über universale
Kompetenzen. Oevermann unterscheidet zwischen einem epistemischem Subjekt, dass
universelle, zeitlose Basiskompetenzen besitzt, einem historischen Subjekt, welches nur
zeitbezogen Gültigkeit besitzt und einem individuellen Subjekt, welches in Form von
‚Performanz’ die Basiskompetenzen aktualisieren kann (vgl. Liebau 1987: 103f; Reichertz
2002: 126). Da universale Kompetenzen eines epistemischem Subjekts latente Eigenschaften
sind, können sie lediglich situativ über eine Diskursanalyse jedes Einzelfalls erschlossen
werden. Oevermann überträgt also die Theorie einer generativen Grammatik auf
Komponenten der Struktur des Geistes. Er unterscheidet dabei zwischen universellen Regeln
und Strukturen einerseits und historisch bedingten gesellschaftlichen Normen andererseits
(vgl. Liebau 1987: 103ff).
Von Searle übernimmt Oevermann (2001: 8f) den Begriff der ‚konstitutiven Regel’, die
besagt, dass über Sprechhandlungen neues Verhalten erzeugt werden kann (vgl. auch:
Brinker 2001: 88ff). Für Oevermann steht allerdings nicht die Sprechhandlung, sondern die
Sozialität - die Interaktion zwischen Subjekten an sich - als elementare Form des Handelns
im Mittelpunkt (vgl. Liebau 1987: 106). Für seine Theorie greift er außerdem auf die
konstruktivistisch-psychologische – und bereits von den Linguisten adaptierte Unterscheidung zwischen Inhalts- und Beziehungsebene von Watzlawiks zurück (vgl.
Reichertz 2002: 124). Von Freud übernimmt Oevermann schließlich die Vorstellung der
Individuierung des Subjekts. Allerdings in Form einer sinntheoretische Reinterpretation
Freuds: Das Unbewusste ist keine verdeckte Triebnatur, sondern sind unerkannte
Bedeutungen, „die ‚hinter dem Rücken des Subjekts’ ihre Wirkung tun“ (Liebau 1987: 128).
Oevermann fordert in seinen frühen Schriften von Sozialwissenschaften, dass die
menschliche
Potentialität
theoretisch
und
empirisch
analysiert
und
zur
interventionspraktischen Begründung wird, korrigiert diese Blickrichtung in späteren
Arbeiten aber dahingehend, dass er verstärkt die „Autonomie der Lebenspraxis“ (Liebau
1987: 38; Wernet 2003: 37) postuliert. Oevermanns Theorie der Bildungsprozesse basiert auf
einer anthropologisch wie historischen Subjekt-Theorie, die das ‚autonom handlungsfähige,
mit sich identische Subjekt’ in das Zentrum seiner Theoriebildung rückt. Seine Theorie fußt
10
auf einem Bild vom Menschen als ‚normaler Person’ bzw. mit einem ‚normalen
Bildungsprozess’. Die ‚richtige’ oder ‚normale’ Struktur der individuellen Entwicklung wird
bei Oevermann gleich mit benannt: Das Subjekt soll der freien Entscheidung fähig, also
autonom sein, es soll zur aktiven Bewältigung der Lebenspraxis fähig und außerdem nicht
entfremdet, also kongruent mit seinen Handlungen und Zielen, sein (vgl. Liebau 1987: 37;
102). Dafür muss Oevermann eine ‚Normalitätsfolie’ des interessierenden allgemeinen
Handlungstyps nachzeichnen, d.h. die universellen und historischen Regeln der normalen,
vernünftigen Entwicklung bestimmen. Gedankenexperimentell wird daher zunächst
Rationalität für ein gegebenes, interaktive Handlungsproblem unterstellt (vgl. Reichertz
2002: 133; 135). Die ‚Normalform’ ist nach Oevermann durch eine fundamental
selbstreflexive Haltung gekennzeichnet (vgl. Liebau 1987: 110). Im Selbstverständnis eines
genetischen Strukturalisten geht es Oevermann um die Re-Konstruktion dieser als Prämissen
gesetzten Strukturen. Sie müssen lediglich sprachlich expliziert werden (vgl. Liebau 1987:
42).
Die Versozialwissenschaftlichung der Alltagspraxis erscheint Oevermann (2001: 10ff) als
eine Zerstörung der alltäglichen Erfahrungsbasis. Wissenschaftliche Forschung grenzt aus
methodologischen Gründen ihren Wahrnehmungsraum ein und kann ihre Erkenntnisse nur in
der Entlastung vom praktischen Alltagshandeln gewinnen, wohingegen die Praxis
„überhaupt erst das Erfahrungsmaterial wissenschaftlichen Handelns liefern“ (Oevermann
2001:
12).
Oevermann
wählt
also
einen
handlungstheoretisch-fundierten
Wissenschaftszugriff (vgl. ebd.: 6). Nach Oevermann (2001: 12) soll Wissenschaft als
Handlungssystem die Explikation und Übersetzung von praktischen Handlungsroutinen
übernehmen, dadurch soll der eigentliche Erkenntnisforschritt ermöglicht werden (vgl. ebd;
Liebau 1987: 42). Erkenntnislogisch wird damit die Differenz zwischen wissenschaftlicher
und alltagspraktischer Erkenntnisse aufgehoben (vgl. Liebau 1987: 42). Oevermann (2001:
13) bewertet das Alltagswissen insofern höher, als im Alltag mit Paradoxien und der
gesamten gesellschaftlichen Komplexität umgegangen werden muss, die innerhalb der
Wissenschaft nur bedingt untersucht werden können. „Das Alltagswissen [ist] (…) dem
wissenschaftlichen Wissen an Erfahrungsreichtum weit überlegen“ (Oevermann 2001: 14).
Nach Oevermann (2001: 14; 17) können neue Erfahrungen letztlich nur in der Alltagspraxis
vollzogen werden. Die Wissenschaft kann dort generiertes Wissen lediglich in Form
institutionalisierter Kritik auf ihren Wesensgehalt prüfen (vgl. auch Liebau 1987: 39f).
Oevermann (2001: 11f) geht davon aus, dass die ‚Lebenspraxis’ durch materiale Rationalität
gekennzeichnet
ist,
die
sich
spontan
und
zukunftsoffen
der
Bewältigung
von
Handlungsproblemen auf prinzipiell nicht prognostizierbare Weise nähert (vgl. auch: Liebau
1987
39).
Sie
unterliegt
Begründungszwängen,
ohne
hierbei
dass
einer
sie
Dialektik
diese
im
von
Entscheidungs-
Moment
der
und
konkreten
Handlungsnotwendigkeit sofort einzulösen imstande ist. Die Wissenschaft zeichnet sich
dagegen durch ihre Befreiung von konkreten Entscheidungszwängen aus, ihre Aufgabe liegt
11
„wesentlich in dem gedankenexperimentellen Konstruieren von unwahrscheinlichen
Situationen des Scheiterns“ (Oevermann 1981: 15).
Oevermann (2001: 4) kritisiert die aktuelle (v.a. behavioral orientierte) Forschungspraxis
dahingehend, dass die dort untersuchten Fragestellungen und Indikatoren
ohne die
Konstruktion der Strukturen von Wertorientierungen aus einer Sinnanalyse abgeleitet
werden. Oevermann schließt sich hier der „in Amerika laut gewordenen Kritik an der
quantitativ ausgerichteten Form sozialwissenschaftlichen Messens“ (Reichertz 2002: 124)
an. Er verlang stattdessen, dass die ‚innere Logik’ von Erwartungssystemen eines
bestimmten Typus systematisch untersucht wird und daraus die strukturbedingten
Handlungsprobleme extrahiert werden sollen (vgl. Oevermann 2001: 5). Er versteht
Soziologie demnach als Textwissenschaft (vgl. Liebau 1987: 45; Reichertz 2002: 127), die
sich das rekonstruierende Ausbuchstabierend der Geltung sozialer Deutungen zum Ziel setzt
(vgl. Oevermann 2001: 20).
Was aber sind ‚soziale Deutungsmuster’? Was kennzeichnet sie und auf welche Weise
kommen sie zum Subjekt bzw. auf welche Art und Weise kann man ihrer habhaft werden?
Diese Fragen sind Thema des Punktes 3.2.
3.2 Soziale Deutungsmuster
Wie oben gesagt, beziehen sich Müller und Becker-Lenz (2008) auf den Aufsatz ‚Zur
Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern’ von Oevermann (2001). In diesem
Aufsatz entfaltet Oevermann aus soziologischer Sicht die theoretische Basis seiner
‚obejektiv’-hermeneutischen Textanalysemethode. Seine bevorzugten Gewährsmänner sind
hierbei die habermasche ‚Philosophie’ von kommunikativer Kompetenz und die
Grundlegung einer Vorstellung von Welt als soziale Konstruktion nach Berger und
Luckmann. Es geht Oevermann um „die Rekonstruktion mentaler Strukturen“ (Oevermann
2001: 4), die er als „Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen und Interpretationsmustern,
die dem konkreten Handlungssubjekt als objektive Strukturen gegenübertreten“ (ebd.)
versteht. Indem Oevermann (2008: 60) sich auf die Sprechakttheorie von Searle u.a. bezieht
und damit aus den propositionalen Aussagen eines krisenbewältigenden Subjektes Wissen
(Wahrheitsgehalte?) extrahieren kann, wird es möglich Wissen wie ein Objekt bzw.
Gegenstand zu bearbeiten. Dazu nutzt Oevermann (2001: 18) zwei Komponenten: Zum
einen die Konstruktion eines objektiven Sinns praktischer Handlungen und zum anderen die
Versprachlichungsstrategien dieses objektiven Sinns im kollektiven oder individuellen
Gedächtnis
der
Subjekte.
Diese
Zweiheit
bildet
die
Grundlage
seines
Deutungsmusterbegriffs:
„Unter Deutungsmustern verstehe ich in erster Annäherung das ‚ensemble’ von
Wissensbeständen, Normen, Wertorientierungen und Interpretationsmustern, das in
einem inneren Zusammenhang stehend einen epochenähnlichen Zeitabschnitt in der
12
Entwicklung einer Gesellschaft oder eines für die Formation einer Gesellschaft
wesentlichen Segments prägt. In zweiter Annäherung soll von einem Deutungsmuster nur
dann gesprochen werden, wenn dieses ‚ensemble’ durch eine Struktur gekennzeichnet ist,
die als ‚innere Logik’ eines Deutungsmusters nach impliziten Regeln der Konsistenz von
Urteilen, Argumenten und Interpretationen rekonstruiert werden kann“ (Oevermann
2001: 9).
Als ‚ensemble von sozial kommunizierbaren Interpretationen’ handelt es sich bei sozialen
Deutungsmustern um instrumentelle, das kommunikative Handeln (nach Habermas)
steuernde Regeln (vgl. Oevermann 2001: 5f; Baumgart 2004: 155ff). Sie bewahren
Alltagserfahrungen in ihrer allgemeinen Bedeutung auf (vgl. Oevermann 2001: 14).
Deutungsmustern sind entwicklungsoffene, historisch-wandelbare Weltinterpretationen mit
generativ-fortschreitendem Status (vgl. ebd. 8f). Für soziologische Forschungskontexte geht
es bei der Analyse darum, die ‚innere Logik’, d.h. „eine Sukzession von Versuchen der
Lösung jeweils aktualisierter Kompatibilitätsprobleme“ (Oevermann 2001: 21) zu
rekonstruieren. Soziale Deutungsmuster lassen sich nach Oevermann (2001: 19) nach ihrer
Reichweite differenzieren: Elemente von Deutungsmustern mit großer Reichweite scheinen
den Subjekten am selbstverständlichsten und sind daher am schwierigsten zu verbalisieren
(vgl. Oevermann 2001: 19). Er unterscheidet also zwischen latenten und manifesten
Deutungsmustern, die sich im Grad ihrer Bewusstheit der inneren Widersprüche
unterscheiden. Oevermann differenziert somit zwischen einem subjektiven und einem
objektiven
Sinn.
Während
der
subjektive
Sinn
durch
Erwartungshaltungen,
Bewusstseinslagen, Motiven u.ä. gekennzeichnet ist, führt die Produktion eines
‚Interaktionstextes’ darüber hinaus zu objektiven Bedeutungsstrukturen (latente Strukturen)
die mehr Bedeutungsmöglichkeiten beinhalten, als dem Bewusstsein der Interaktanten
möglicherweise zugänglich ist (vgl. Liebau 1987: 44; 124).
Diese (latenten) Strukturen werden in den konkreten, alltäglichen Interaktionen vor Ort
aufgebaut (vgl. Reichertz 2002: 126). Sie entstehen durch und in Prozessen der Reproduktion
und Transformation:
„Prozesse der Reproduktion sind jene Prozesse, die die Aufrechterhaltung einer zu
einem Zeitpunkt oder in einer Phase eines Bildungsprozesses entwickelten (Fall-)
Struktur sichern. (…) Prozesse der Transformation sind mit Bezug darauf Prozesse,
die eine gegebene, sich reproduzierende Fallstruktur in Abhängigkeit von welchen zu
lösenden Problemen der äußeren oder inneren Realität auch immer verändern und zu
neuen Stufen der Ausbildung sich reproduzierender Strukturen führen“ (Oevermann
1981: 36).
13
Regeln haben für hierbei einen generativen Charakter. Sie sind in der Lage neues Verhalten
zu erzeugen und verpflichten das Subjekt auf den durch Regeln erzeugten Sinn, d.h. sie
geben dem Handeln des Subjekts einen übergeordneten Sinn. Die dadurch entstehenden
sozialen Normen sind der Reflexion zugänglich und veränderbar (vgl. Oevermann 2001: 8).
Sie „stellen insofern produktiv eine Leistung der Synthesis dar, durch die Praxis sich
verlässlich strukturiert“ (ebd.: 18). Jeder Widerspruch, der sich in der Alltagspraxis auftut
und jeder damit verbundene Lösungsversuch, führt zu neuen Unvereinbarkeitsproblemen
(vgl. Oevermann 2001: 21). Diese immer wieder neuen ‚Inkompatibilitäten’ führen aber zu
produktiven, neuen Denk- und Lösungsmöglichkeiten im Praxisfeld selbst (vgl. ebd.: 22).
Über diesen konkreten Strukturen „thronen – gottgleich -“ (Reichertz 2002: 127) universelle
Strukturen, welche der Gattung Mensch innewohnen. Diese Strukturen haben die Gestalt von
Universalien
(allgemeine
Handlungsregeln)
und
Deutungsmustern
(historische
Handlungsregeln) (vgl. Liebau 1987: 107). Oevermann (2001: 23) geht davon aus, dass sich
historische Handlungsmuster v.a. in strukturellen und krisenhaften Wandlungsprozessen
entwickeln, die dann zu neuen ‚kollektiven Bewusstseinsstrukturen’ führen (vgl. Oevermann
2001: 23).
Erwerb von Deutungsmustern
Liebau (1987: 122) fragt sich, welche sozialisatorischen Bedingungen diese Handlungsregeln
zum Subjekt bringen bzw. wie die Regeln mit denen ein Subjekt zum ersten Mal Handlungen
erzeugt in das Subjekt kommen (vgl. Liebau 1987: 122). Auch hier geht Oevermann von der
‚kleinsten elementaren Einheit’, der Interaktion als Ort des Regelerwerbs aus und nimmt an,
dass Kompetenzen in Interaktionen erworben werden (vgl. ebd.: 124). Oevermann versucht
die Entwicklung des Bewusstseins bzw. von Deutungsmustern nicht nur über biologische
Reifungsbedingungen oder individuellen psychischen Leistungen des Subjektes zu erklären,
sondern aus den sozialen Strukturen, in denen das Subjekt lebt und aufwächst (vgl. ebd.:
120). Soziale Deutungsmuster werden weder als explizite Regeln erworben, „noch Element
für Element“ (Oevermann 2001: 24), sondern durch das eigenständige ausbuchstabieren der
Bedeutung weniger zentraler Schlüsselkonzepte (vgl. ebd.). In logischer Konsequenz seiner
Orientierung an frühen psychoanalytischen Konzepten, sieht Oevermann den Mechanismus
der stellvertretenden Deutung besonders in der Eltern-Kind-Interaktion wirksam werden (vgl.
Liebau 1987: 125):
„Vermutlich geschieht das weniger über den Mechanismus expliziter Indoktrination
durch Erwachsene als durch vom Kind selbsttätig vorgenommenes ‚Ablesen’ zentraler
Handlungsregeln am beobachtbaren sozialen Handeln in seiner unmittelbaren Umwelt“
(Oevermann 2001: 25).
Das Prinzip der ‚stellvertretenden Deutung der latenten Sinnstrukturen’ durch Eltern oder
Lehrkräfte sorgt dafür, dass objektive Verhaltensantriebe in subjektiv verfügbare Inten14
tionen des Handelns übergehen können. Dies führt zur Interiorisierung der Regeln (vgl.
Liebau 1987: 126f). Ein Teil der Regeln kann erkannt und verändert werden, was die
‚Autonomie der Lebenspraxis’ auszeichnet (vgl. Liebau 1987: 129), den Bildungsinstitutionen kommt hierbei allerdings auch eine zentrale Rolle zu, da sie „in immer
stärkerem Maße konkurrenzlos den Horizont von Weltinterpretationen, in den der Einzelne
hineinsozialisiert wird“ (Oevermann 2001: 32) abbilden.
Objektive Hermeneutik als Forschungsmethode der Wahl
Die Theorie sozialer Deutungsmuster geht von zwei Grundannahmen aus: Erstens werden
unter Deutungsmustern in sich konsistent-strukturierte Argumentationszusammenhänge
verstanden und zweitens sind soziale Deutungsmuster immer funktional auf objektive,
deutungsbedürftige Handlungsprobleme bezogen, worin Oevermanns handlungstheorische
Positionierung noch einmal nachdrücklich zum Ausdruck kommt (vgl. auch: Liebau 1987:
116). Diese beiden Grundannahmen sind zirkulär miteinander verknüpft (vgl. Oevermann
2001: 5). Diese Zirkularität ist relevant, weil sie es ermöglicht zu irgend einem gegebenen
historischen Zeitpunkt „Handlungsprobleme als Anfangsbedingungen für die soziale
Konstruktion von Deutungsmustern“ (ebd.) zu nutzen, um darauf aufbauend, deren
Verselbstständigung zu analysieren. Die von Oevermann und Kollegen entwickelte Methode
der Wahl ist die ‚objektive’ Hermeneutik ein komplexes methodisches Konzept darstellt (vgl.
Reichertz 2002: 123). Oevermanns (2001: 7) Forschungsmethode setzt einen soziologischen
Regelbegriff voraus, der ‚Abweichung’ von konstitutiven Regeln als möglich erachtet.
Zudem ist ein intersubjektiv geltender Normbegriff notwendig. Erst dann ist „ein
systematisches Urteil über die Angemessenheit eines konkreten Handelns“ (Oevermann
2001: 7) möglich. Nach Reichertz (2002: 136) trifft allerdings der Ausdruck ‚Durchschnitt’
besser zu als der Normalitätsbegriff. Die ‚objektive’ Hermeneutik zielt auf die Analyse der
oben beschriebenen ‚latenten Sinnstrukturen’ (vgl. Liebau 1987: 45). Oevermann geht davon
aus,
dass
jedes
Handeln
als
Text
protokollierbar
und
in
seinen
objektiven
Bedeutungsstrukturen explizierbar ist (vgl. Liebau 1987: 107; Reichertz 2002: 123; 127f).
Die Methode der Deutungsmusteranalyse beinhaltet nach Oevermann (2001: 11) folgende
Parameter: Zunächst werden die Äußerungen, Urteile oder Bestimmungen eines
Individuums, einer Institution oder eines gesellschaftlichen Subsystems auf (soziologisch
betrachtete) Inkonsistenzen hin untersucht. Dann werden alternativer Deutungsmuster
konstruiert, was es ermöglicht, die Annahmen zu verstehen, die diese Inkonsistenzen
inhärent als konsistent erscheinen lassen. Grundlage einer Deutungsmusteranalyse bilden
somit immer die konkurrierenden Deutungsmuster der Rekonstruktion der ‚Texte’ mit der
Kontrastfolie durch den Analytiker. Die Differenz im Rationalitätsgrad zwischen Analytiker
und Textproduzent besteht lediglich in seiner expliziten methodisierten Geltungsüberprüfung
und nicht in einem prinzipiellen erkenntnislogischen Statusunterschied (vgl. Oevermann
15
2001: 11; 27). Bei dieser Rekonstruktion ist es entscheidend, die objektiven
Strukturbedingungen des geltenden Handlungsproblems zu identifizieren (vgl. ebd.: 22f).
„Eine objektive Rekonstruktion objektiver Strukturen wird verstanden als Grenzwert, den
man dann erreicht, wenn man nicht davon ablässt, die kanonischen Vorschriften der
objektiven Hermeneutik anzuwenden“ (Reichertz 2002: 124).
Für die formale Anwendung der ‚objektiven’ Hermeneutikregeln benötigt es Zeit, die nur der
vom akuten Handlungsdruck befreiten Wissenschaft zur Verfügung steht. Außerdem muss
sichergestellt werden, dass der hermeneutische Interpret frei von neurotischen oder
ideologischen Färbungen ist - „wie dies allerdings geschehen soll, bleibt bei Oevermann
unklar“ (Reichertz 2002: 127). Insgesamt bezeichnet Oevermann selbst seine Methode einer
‚generativen’ Hermeneutik aber als eine ‚Kunstlehre’, die nur ein – wie auch immer gearteter
ExpertInnenkreis – zu leisten vermag (vgl. Liebau 1987: 42; Reichertz 2002: 127f). Sie soll
zur Diagnose wichtiger ‚Trends’ führen, die das Verhältnis von Reproduktion und
Transformation prognostizieren (vgl. Reichertz 2002: 137).
Unter Punkt 4.3 wird es nun zunehmend konkret: Es geht sozusagen um die ‚pädagogischen
Trends’ oder ‚Krisen’, die Oevermann mit Hilfe seines soziologischen Modells zu
analysieren versucht.
3.3 Pädagogische Professionalisierungsbedürftigkeit
Oevermanns Konzeption einer pädagogischen Professionalisierungsbedürftigkeit erfolgt im
Kontext einer allgemeinen Professionalisierungstheorie (vgl. Wernet 2003: 35). Oevermann
(2008: 56) konstatiert, dass seine revidierte Professionalisierungstheorie auch dort, „wo diese
Position zitiert wird (…) häufig missverstanden“ wurde. Wenn dem so ist, dann ist
allerdings die kritische Frage erlaubt, warum er diese zusammen mit einer Explizierung
seiner Methodik nicht noch einmal über einzelne Artikel hinaus strukturierend
zusammengefasst hat. In Bezug auf Wernet (2003) stellt Oevermann (2008: 56) fest, dass
dieser nicht nur eine andere Professionsposition eingenommen hat, sondern auch, dass dieser
seine Beiträge nach 1996 nicht mehr berücksichtigt hat. Hierbei kritisiert er v.a. die Kürzung
seiner Ableitungsbasis.
Aus sozilogischer Perspektive bildet die Grundlage ein umgekehrter Blick auf das
Begriffspaar Krise und Routine: Während Krise als das überraschend - Unerwartete in einer
zukunftsoffenen Praxis als Normalfall zu gelten hat, stellen Routinen Latenzzeiten solcher
normalen Krisen dar. Dementsprechend lassen sich gesellschaftliche Bereiche schließlich
aufteilen als klassische Bereiche der Routine (z.B. Verwaltung) und klassische Bereiche der
Krise (z.B. therapeutische Bündnisse). Professionen sind für Oevermann (2008: 58) auf der
Krisenseite zu verorten, allerdings sind sie rollenförmig organisiert. Ihre Gemeinsamkeit
16
besteht in der stellvertretenden Krisenbewältigung (vgl. ebd.). Oevermann (2008: 64f)
unterscheidet drei Typen von Krisen: Erstens traumatisierende Krisen, worunter Kriege und
Naturkatastrophen fallen, zweitens Entscheidungskrisen, der er Glaubensfragen zuordnet und
Krisen, die aus Muße entstehen: „Muße liegt der Wahrnehmung von Dingen um ihrer selbst
willen zugrunde“ (Oevermann 2008: 65).
Oevermann und sein Forscherteam haben Ihren Untersuchungsausgang in der „klassischen
Version der Professionstheorie“ (Oevermann 2008: 56) mit den Merkmalen: Autonomie,
expliziter Bezug auf gesellschaftliche Werte, privilegiertes Einkommen und akademische
Bildung genommen. Wie oben dargestellt bildet das Subjektmodell des ‚autonom
handlungsfähigen, mit sich identischen Subjekts’ hierbei die normative Bezugsgröße (vgl.
Liebau 1987: 153). Im Zuge des marxistisch orientierten Vorwurfs, dass es sich bei diesen
Merkmalen lediglich um Formen der Statusmonopolisierung handeln würde, stellten
Oevermann und Kollegen den klassischen Professionsmerkmalen „die Rekonstruktion der
typischen
Handlungslogik
der
Professionen
in
Reaktion
auf
das
typische
Handlungsproblem“ (Oevermann 2008: 56) gegenüber. Oevermann unterscheidet zwischen
„der Professionalisierungsbedürftigkeit einer beruflichen Problembearbeitung und ihrer
tatsächlichen Professionalisiertheit“ (Wernet 2003: 35). Erst auf der Folie der
Rekonstruktion eines beruflichen Handlungsproblems folgt die Betrachtung der beruflichen
Institutionalisierungsmerkmale (vgl. ebd.: 35).
Entsprechend seinem Ausgangspunkt in der klassischen Version der Professionstheorien
sowie seiner Darstellung von Krisen, nennt Oevermann (2008: 59f) drei Foki der Logik des
professionalisierten Handelns: Erstens die Herstellung, Aufrechterhaltung, Gewährleistung
und Widerherstellung einer kollektiven Praxis von Recht und Gerechtigkeit im Sinne eines
die jeweils konkrete Vergemeinschaftung konstituierenden Entwurf, zweitens die
Herstellung, Aufrechterhaltung und Gewährleistung von leiblicher und psychosozialer
Integrität des Einzelnen im Sinne eines geltenden Entwurfs der Würde des Menschen
(somatopsychosoziale Integrität) und drittens die Erzeugung, Aufrechterhaltung und
Wiederherstellung der Geltung von Wissen und Erkenntnis und damit die Bewältigung von
Geltungskrisen unter der regulativen Idee der Wahrheit (vgl. Brumlik 2000: 205; Wernet
2003: 36; Oevermann 2008: 59f). Der Aufrechterhaltung einer kollektiven Praxis von Recht
und Gerechtigkeit ordnet Oevermann im Schwerpunkt der Jurisprudenz zu, die
somatopsychozoziale Integrität obliegt vorwiegend dem medizinisch-therapeutischen
Fachpersonal
und
für
die
Bewältigung
von
Geltungskrisen
sind
hauptsächlich
wissenschaftliche und künstlerische Professionen zuständig. Allerdings stehen die Foki in
einem Wechselverhältnis zueinander und wirken hintergründig in alle Professionen hinein
(vgl. Wernet 2003: 36).
17
Bezogen auf Professionen – v.a. Medizin und Psychoanalyse, später auch auf
schulpädagogische Handlungsfelder (vgl. Wernet 2003: 35ff, Oevermann 2008: 56ff) – sieht
Oevermann deren Professionskennzeichen in der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und
insbesondere Berufserfahrung basierenden Entscheidungs- und Begründungszusammenhang,
die auf ein Verhältnis zum ‚Klienten’ gründen, die sowohl durch stellvertretende Deutung als
auch durch die grundlegende Anerkennung der Autonomie der Lebenspraxis gekennzeichnet
ist (vgl. Liebau 1987: 40). Erfahrung ist in diesem Prozess nicht allein durch Wissen
konstituiert,
sondern
vielmehr
durch
die
Auseinandersetzung
mit
einzelnen
Lebensereignissen, die sich zur Einsicht formieren (vgl. Liebau 1987: 114; Wernet 2003: 37).
Auf dieser typologischen baut sich Handlungssicherheit auf (vgl. Liebau 1987: 115).
„Dazu gehört konstitutiv, dass man mit den Fällen wirklich umgegangen ist, dass man sie
anschaulich und nicht nur aus der beobachtenden Distanz, sondern aus der
Handlungsmethodik her kennt“ (Oevermann 1981: 12).
Brumlik (2000: 206f) extrahiert aus diesen Foki Ansprüche an professionalisiertes
pädagogisches Praxishandeln. Sie sind auf der Ebene der somatopsychischen Integrität zu
verorten (vgl. auch: Wernet 2003: 36; Oevermann 2008: 60f) und erfordern die Kenntnis
existierender Rechts- und Gerechtigkeitskonventionen sowie Kenntnisse über Konzepte
persönlicher Integrität (vgl. auch: Liebau 1987: 154). Brumlik (2000: 207) fordert dann von
Oevermann noch eine Ergänzung im Bezug auf die Fähigkeit zur Erörterung praktischer
Geltungsansprüche bzw. moralischer Dilemmata. Spezifische pädagogische Kompetenzen
stellen aber eine Kunstlehre dar, die mit dem reinen Erwerb instrumentell-technischer
Kompetenzen im Sinne von Fachwissen nicht hinreichend erfüllt sind.
„Die
Berufsausbildung erfordert nicht nur den Erwerb von Fachwissen, sondern auch und vor
allem die Ausbildung eines Professionshabitus“ (Wernet 2003: 37).
Oevermann (2008: 58) selbst entfaltet zwei Modi des Wissens das Professionen zur
Problemlösung anwenden und bezeichnet seine Professionstheorie auch als eine implizite
„Wissenstheorie“ (ebd.: 59): Ersten die ingenieuriale Wissensanwendung, dabei handelt es
sich um Wissensbeständen, die deduktiv-nomologische Problemlösungen ableiten bzw.
induktiv
über
Erfindungen,
die
dann
theoretisch
begründet
werden.
Zweitens
interventionspraktische Wissensanwendung, d.h. Wissen wird erklärend oder appellierend
eingesetzt. Oevermann (2001: 58) verwehrt sich in seiner Bestimmung seines
Professionalisierungsmodells allerdings gegen seine Rezeption, die die Beschreibung von
Professionen
als
missinterpretieren
vorwiegend
(vgl.
interventionspraktischen
ebd.).
interventionspraktisch
Er
sieht
Wissensanwendung
ausgerichtete
vielmehr
eine
in
dem
Spannung
Wissensanwender
Schwerpunkt
impliziert
der
zwischen
„Aneignungs- und Begründungswirkung von wissenschaftlich bewährtem, methodisiertem
Wissen“ (Oevermann 2008: 58) und nicht-standardisierbaren Fallrekonstruktionen. Aus
18
strukturtheoretischer Perspektive ist wissenschaftliches Wissen lediglich ein Moment von
Professionen, zu dem sich die hermeneutische Kompetenz des Verstehens eines (Einzel-)
Falls gesellen muss. Professionalisiertes Handeln ist demnach gekennzeichnet durch die
Gleichzeitigkeit von ‚Theorieverstehen’ und ‚Fallverstehen’ (vgl. Ackermann/ Seek 1999: 9;
Liebau 1987: 47). Die Fallrekonstruktion
„besteht darin, dass man, um dieses Wissen anwenden zu können, jeweils die konkrete
historische Lage und Situation des Klienten, worin auch immer diese besteht,
rekonstruieren muss und das Problem, das dieser Klient hat, durch die Rekonstruktion
hindurch so bestimmen kann, dass man es dann dem standardisierten Wissen
subsumieren kann“ (Oevermann 2008: 59).
Das Medium dieses Vermittlungsprozesses bildet (selbstverständlich) die stellvertretende
Deutung dessen, was das ‚autonom handlungsfähige’ Subjekt für seine je konkrete
Lebenspraxis zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt benötigt (vgl. Liebau 1987;
Ackermann/ Seek 1999: 9). Oevermanns (2008: 61) Gesundheitsbegriff ist dementsprechend
auch anders gelagert: Es ist das Maß an Gesundheit, das in einer konkreten Lebenspraxis
realisierbar ist. Ziel einer ‚Behandlung’ ist also nicht die einfache ‚Symptombeseitigung’,
sondern die Wiederherstellung der ‚beschädigten Autonomie einer Lebenspraxis’ (vgl.
Wernet 2003: 37). Dadurch ergibt sich allerdings das strukturelle Grundparadox, dass durch
die stellvertretende Krisenbewältigung gleichsam die Autonomie des Subjekts durch die
Erzeugung von Abhängigkeiten beeinträchtigt wird. Oevermann versucht dieses Dilemmata
aufzulösen, indem dem in seiner Autonomie beschädigten Individuum ein Maximum an
‚Hilfe zur Selbsthilfe’ zugestanden wird (vgl. Wernet 2003: 37; Oevermann 2008: 62f).
Professionelle Handlungskontexte sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch eine sowohl
diffuse als auch spezifische Beziehung zum Klienten gekennzeichnet sind (vgl. Wernet 2003:
37). Sie sind diffus, weil es sich um Interaktionen zwischen ‚ganzen Menschen’ handelt und
gleichsam spezifisch, weil sie rollenförmig organisiert sind (vgl. Oevermann 2008: 69).
Wesentlicher Bestandteil einer professionalisierten Praxis besteht dann darin, die
widersprüchliche
Einheit
zwischen
den
spezifisch-organisationalen
und
diffusen-
interaktionalen Elementen herzustellen. In diesem Kontext spricht Oevermann (2008: 71)
von der Herstellung eines „Arbeitsbündnisses“ (ebd.) zwischen den Interaktanten. „Das ist
sozusagen zentraler Bestandteil des Professionalisierungsprozesses“ (ebd.). Um aber ein
(lehr-) pädagogisches ‚Arbeitsbündnis’ in Analogie zum patientenseitigen Leidensdruck und
damit zur Behandlungsmotivation zu konstruieren, greift Oevermann für organisationalinstitutionelle Kontexte wie Schule auf die „kindlichen Neugier“ (ebd.: 64) als äquivalente
Motivation für das Arbeitsbündnis zurück (vgl. auch: Wernet 2003: 37). Da Kinder von
Natur aus neugierig seien, binden Kinder sich an InteraktionspartnerInnen, die ihnen die
Chance zur Wissenserweiterung und Wissensaneignung ermöglichen (vgl. Oevermann 2008:
19
66). Die stellvertretende Krisenbewältigung besteht also in schulisch-pädagogischen
Kontexten in dem Angebot der Wissensvermittlung.
Für Oevermann (2008: 66f) stellt gesetzliche Schulpflicht allerdings ein (unüberwindliches)
Hindernis in der Professionalisierung schulpädagogischen Handelns dar. Daher entwirft er
gedankenexperimentell eine Schulorganisation, in der die Professionalisierungsbedürftigkeit
der Schulpädagogik eingelöst wird (vgl. ebd.: 68ff). Die Argumente, die im Allgemeinen
unter Begriffen wie ‚heimlicher Lehrplan’ firmieren bilden für Oevermann (2008: 72)
Momente formaler und materialer Rationalität ab: Die Vergemeinschaftung über und mit
(Schulklassen-) Peers sowie die sachliche Erschließung mit ihrem formalisierten
Unterrichtsende. Dem steht aber der Zertifizierungskomplex und damit einhergehenden
Selektionsprozessen
und
das
sog.
Disziplinierungsproblem
einer
professionalisierungsbedürftigen Dienstleistung für eine autonome Lebenspraxis in
schulpädagogischen Kontexten entgegen – so jedenfalls Oevermann (2008: 73ff). Daher ist
für eine gelungene Professionalisierung neben den professionalisierungsbedürftigen
Handlungsanforderungen im Rahmen diffuser und spezieller Beziehungen auch eine
adäquate Institutionalisierung notwendig (vgl. Wernet 2003: 35).
Damit sind nun die theoretisch-methodischen Grundsteine des Ansatzes von Oevermann
nachgezeichnet und es kann sich nun dem Vergleich der beiden Ansätze zugewendet werden
(Kapitel 4).
4. Parallelen und Differenzen
Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die theoretisch-methodischen Grundlagen
Bourdieus und Oevermanns skizziert wurden, werden nun die Beiden Ansätze auf der Ebene
ihrer theoretischen Wurzeln (4.1), auf der Ebene der zentralen begrifflichen Parameter (4.2)
und im Bezug auf ihren Praxisvorstellungen verglichen.
4.1 Konstruktivistischer vs. interaktionistischer Strukturalismus
Bourdieu vertritt einen strukturalistischen Konstruktivismus, der Begriffe wie Habitus, Hexis
und Doxa als wissenschaftlich erzeugte Begrifflichkeiten fasst, die nicht identisch mit der
tatsächlichen
Logik
interaktionistischen
der
Praxis
Strukturalismus
sein
müssen,
vertritt,
der
wohingegen
seinen
Oevermann
einen
Deutungsmusterbegriff
identitätslogisch begründet, um die in der Realität vorhandenen Strukturen auf den richtigen
Begriff zu bringen (vgl. Liebau 1987: 18, 135). Diese Strukturen sind sozusagen in den
alltäglichen Interaktionen ‚versteckt’. Bourdieu und Oevermann stimmen darin überein, dass
Soziologie als eine „dialektisch-positivistische Erfahrungswissenschaft mit einem eigenen
erkenntnistheoretischen Status“ (Liebau 1987: 49) mit einer autonomen Rolle aufzufassen
ist. Erkenntnistheoretisch divergieren die beiden Ansätze jedoch dahingehend, dass Bourdieu
20
ein konstruktivistisches Wissenschaftsprogramm darlegt, das von einer prinzipiellen
Differenz zwischen soziologisch-wissenschaftlicher und alltäglicher Erkenntnis ausgeht,
wogegen Oevermann eine prinzipielle Strukturgleichheit alltäglicher und wissenschaftlicher
Erkenntnis annimmt (vgl. ebd.: 49).
„Bourdieus Vernunfts-Begriff erscheint gleichsam ex machina; er fällt vom Himmel,
ohne dass man weiß, wie er denn dorthin gekommen ist – Oevermanns
Rationalitätsbegriff ist teleologisch; er führt in den Himmel, ohne dass man weiß, auf
welchem Weg“ (Liebau 1987: 132).
Das bedeutet, dass Bourdieus Vernunftsbegriff den historisch-gegebenen Bedingungen zwar
unterworfen wird, als Zielkategorie einer Aufklärungsphilosophie aber wie auf einer
Theaterbühne plötzlich aus dem Rauch heraufbeschworen wird. Nach Liebau (1987: 132)
verhält es sich bei Oevermann genau umgekehrt, seine Vernunftsphilosophie ist das
Gesellschaftsziel schlechthin – ohne dass der viable Weg dorthin genauer beschrieben wird.
Während Bourdieu zur Dekonstruktion der Doxa, die die Alltagspraxis beherrscht, beitragen
möchte und hierbei einen radikalen Historismus vertritt (vgl. Bourdieu 1997: 74),
argumentiert Oevermann „letztlich ahistorisch-anthropologisch“ (Liebau 1987: 49).
Bourdieus Wissenschaftsprogramm ist letztlich ein politisch motiviertes Programm der
Aufklärung, während es Oevermann um das Wesen der Sache selbst geht (vgl. Liebau 1987:
49; 130).
Trotz – oder wegen – dieser erkenntnistheoretischen Differenzen, sieht Liebau (1987: 50) die
beiden soziologischen Programme einerseits in einem Konkurrenzverhältnis stehen,
gleichzeitig aber durchaus als Ergänzungsverhältnis. Zumindest im Hinblick auf Bourdieus
und Oevermanns sozialisationstheoretisch-pädagogische Fragestellungen. Dennoch betont er,
dass „die Schlüsse,
die
die
beiden Autoren
aus ihren erkenntnistheoretischen
Grundannahmen ziehen, sich erheblich widersprechen“ (Liebau 1987: 51).
Die Frage der Begriffsnutzung – als Ergänzung zur erkenntnistheoretischen Begriffsbestimmung – wird unter Punkt 4.2 näher betrachtet.
4.2 So und so: Habitus und soziale Deutungsmuster
Bourdieu untersucht auf einer empirischen Ebene den Habitus des sozialen Akteurs als Form
der zum Individuum gewordenen Gestalt von Gesellschaft. Damit will er die
Gegensätzlichkeit von Individuum und Gesellschaft wissenschaftlich auflösen (vgl. Liebau
1987: 130). Er nimmt dabei v.a. institutionalisierte Formen der sekundären Sozialisation
(Schule und Hochschule) in den Blick, in welchen er die Möglichkeit der Aufklärung in
Verfremdungsprozessen des unaufgeklärten Habitus im Sinne der Transformation in
Vernunft eingelagert sieht (vgl. ebd.: 131). Oevermann findet die konstitutionstheoretischen
21
und historischen Bedingungen von und für Vernunft in den Universalien, die als universelle
Kompetenzen allen sozialisierten Subjekten prinzipiell zur Verfügung stünden. Diese
Kompetenzen sind nach ihm allesamt auf Intersubjektivität und Reziprozität und auf SinnProduktion ausgelegt. Mit seiner Normalitätsfolie bestimmt er darüber hinaus die
Möglichkeiten einer autonomen Lebenspraxis (vgl. ebd.: 131; Reichertz 2002: 133; Wernet
2003: 37ff; Oevermann 2008: 60ff).
Auf der Ebene des empirischen Subjekts „postuliert er die autonome Lebenspraxis des
Subjekts als Quelle materialer Rationalität“ (Liebau 1987: 131). Die Konsequenz dieses
Ansatzes liegt darin, dass zunächst v.a. die primäre Sozialisation in der Familie in den Blick
genommen wurde und erst später die die aktuellen Deutungsmuster massiv beeinflussende
Schulsozialisation in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet (vgl. ebd.: 132; Oevermann
2001: 31ff; Oevermann 2008: 60ff).
Auch für diese sekundären Sozialisationsprozesse
versucht er allerdings von den gegebenen historischen Bedingungen (Schulpflicht) zu
abstrahieren und eine fiktive Begründung einer ‚autonomen’ interaktiven Praxis zwischen
zwei Subjekten (Lehrkraft-SchülerInnen) zu konstruieren (vgl. Oevermann 2008: 67ff).
Es liegt in der Logik dieser erkenntnislogischen Differenzen, dass auch die Forschungstraditionen der beiden Männer deutlich divergieren: Bourdieu favorisiert quantitativempirische Feldforschungsdesigns, um der Doxa der Lebenspraxis auf die Schliche zu
kommen und Oevermann bricht mit den herkömmlichen soziologischen Forschungstraditionen, indem er seine Untersuchungen auf textanalytisch-hermeneutische Methoden
ausrichtet (vgl. Liebau 1987; Bourdieu 1979; Reichertz 2002; Oevermann 2001). Bourdieu
untersucht die von der Wissenschaft konstruierten Strukturen, Oevermann blickt dagegen auf
der Grundlage linguistischer Theoreme auf die strukturerzeugenden, generativen Regeln, die
er als eigenständige Realität auffasst (vgl. Liebau 1987: 50).
Auch Liebau (1987: 135f) erkennt allerdings Strukturgleichheiten zwischen dem ‚HabitusBegriff’ und dem ‚Deutungsmuster-Begriff’: Zunächst einmal neben beide Begriffe in den
jeweiligen Ansätzen eine zentrale, theoriestrategische Position ein. Beiden ist gemeinsam,
dass sie den Subjekten nur bedingt (oder gar nicht) bewusst sind, so lange sie nicht analysiert
und in ihren Geltungsbereichen kritisch reflektiert worden sind. Sowohl im Habituskonzept
als auch im Deutungsmusteransatz werden somit Transformationsmöglichkeiten im Hinblick
auf deren Ausgangsbedingungen eingelagert. In beiden Ansätzen wird von einem
Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz ausgegangen. Bei Bourdieu gehört die
Perfomanz jedoch zur Lebenspraxis, bei Oevermann wird sie als sinngeleitetes Handeln
interpretiert
(vgl.
ebd.).
Der
Habitus-Begriff
umfasst
einen
deutlich
weiteren
Referenzrahmen. Er erstreckt sich über die gesamte Lebenspraxis - sozusagen vom
Lieblingsgetränk
bis
zur
Wahl
oder
Abwahl
eines
Hochschulbesuchs.
Der
Deutungsmusterbegriff ist insofern eingeschränkter, als er auf der Ebene sprachlich22
symbolischer Repräsentationen verbleibt, auf „der Ebene symbolischer Sinn-Strukturen“
(Liebau 1987: 135). Insofern lässt sich der Deutungsmusterbegriff als die kognitivsprachliche Ebene des Habituskonzepts auffassen (vgl. ebd.: 136).
Bourdieu zeichnet ein Subjekt, dessen Lebenspraxis zu ‚Dreivierteln’ seiner gesamten
Existenz durch Automatismen geprägt ist, Oevermann dagegen ein prinzipiell ‚autonome,
handlungsfähige mit sich identische Subjekt’ (vgl. Liebau 1987: 133), dessen Autonomie nur
temporär beschädigt ist (vgl. Wernet 2003: 37f; Oevermann 2008: 62f). Der Pädagoge muss
in Form einer stellvertretenden Krisenbewältigung diese - gesetzte Autonomie des Subjektswieder herstellen. Bei Bourdieu geht es um die Erkenntnis der gegebenen Strukturbedingungen
durch
(sprachliche)
Verfremdungsprozesse,
nicht
aber
um
die
Wiederherstellung einer bereits universell geltenden Autonomie.
Auch das Feldkonzept von Bourdieu besitzt einen deutlich weiteren Interpretations- und
Handlungsrahmen: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Topographie zu einem gegebenen
historischen Zeitpunkt, wohingegen die
konkrete Professionalisierungsbedürftigkeit für
schulpädagogische Kontexte aus einem allgemeinen Professionskonzept abgeleitet wird. Man
kann auch hier – wie beim Habitusbegriff – sagen, dass es sich um ein Element bzw. um das
soziales Feld der pädagogischen Handlungspraxis im Konzept von Bourdieus gesamten
Feldvorstellungen handelt. Bourdieus Kapitalartendifferenzierung findet in Oevermanns
organisational-institutioneller Infragestellung der Professionalisierbarkeit schulpädagogischer Handlungskontexte seinen Ort wohl am ehesten im kulturellen Kapital (vgl.
Oevermann 2008: 56). Auch die Modi des Wissens, die Oevermann differenziert, spiegeln
nur ein Element in der Feldtheorie Bourdieus wider, sie kennzeichnen sozusagen die
Sprachspiele der beruflich bedingten Felder (vgl. Bourdieu 1983).
5. Abschließende Bemerkungen
Auch wenn Liebau (1987) die beiden Positionen als zugleich konkurrierend und sich
komplementär ergänzend auffasst, sind doch auf den Ebenen der erkenntnistheoretischen
Grundsätze
(strukturalistischer
Konstruktivismus
dort
und
interaktionistischer
Strukturalismus hier), auf der Ebene des Zweckes von Begriffsbestimmungen durch
Wissenschaft sowie damit verbunden im Verhältnis von Wissenschaft und (pädagogischer)
Praxis deutliche Differenzen in den beiden Konzeptionen auszumachen. Die Grundlegende
These der vorliegenden Arbeit, dass es sich bei dem bourdieuischen Habituskonzept um ein
deskriptives Beschreibungsmodell mit konstruktivistischen Grundpositionen und bei
Oevermann um ein interaktionistisch-strukturalistisches Professionsmodell handelt, darf als
bestätigt betrachtet werden. Darüber hinaus kann man nach dem Gesagten auch Liebaus
(1987: 141) abschließende Bewertung im Hinblick auf den oevermannschen Ansatz
nachvollziehen:
23
„Oevermanns identitätslogische Argumentation vermag (…) letztlich nicht zu
überzeugen. Sie führt zur Verwechselung vom ‚Modell der Realität’ mit der ‚Realität
des Modells’“ (Liebau 1987: 141).
Liebaus (1987: 141) vernichtendes Urteil zu Oevermanns sozialisatorischem Ansatz kann
sogar noch um den Vorwurf der vielen ‚Hilfskonstruktionen’ zu Ehrenrettung seiner Theorie
(z.B. die Neugier des Kindes als Äquivalent zu asymmetrischen Therapeut-KlientBeziehung) ergänzt werden. Oder, wenn man es lieber in der aktuell bevorzugten
denglischen Variante hören möchte: „Die Trennung von ‚logic of discovery’ und ‚logic of
verification’ wird (…) zurückgenommen“ (Reichertz 2002: 138). Liebau (1987: 141)
missfällt an Oevermanns Ansatz seine hermetische Geschlossenheit, die sich seines
Erachtens nicht mit dem Hohelied auf die Autonomie der Subjekte verträgt. Reichertz (2002:
123, Fußnote) kritisiert bei Oevermanns Übertragung der ‚objektiv’-hermeneutischen
Forschungsergebnisse auf die konkrete Lebenspraxis, v.a. dass von einer Textanalyse nicht
einfach auf ‚die’ Lebenspraxis kurzgeschlossen werden könne. Auch wenn Reichertz (2002:
140f) die vernichtenden Ergebnisse Bocks bei einer Konfrontation der ‚objektiv’hermeneutischen Analyse mit empirisch-wissenschaftlichen Gütekriterien nicht sehr
überraschen, ist doch zumindest die Frage berechtigt, ob nicht die in qualitativen
Forschungsdesigns üblichen Äquivalente (z.B. Interraterreliabilitäten) auch dort Gültigkeit
beanspruchen dürften. Bock (1984, zitiert nach Reichertz 2002: 141) kommt zu folgender
Beurteilung der ‚Objektiven’-Hermeneutik:
„Die theoretische Grundlegung (…) ist unvollständig (…), die Methodologie ist
aporetisch (…), und die Explikationen selbst sind ohne soziologische Relevanz“.
Auch wenn man diese radikale Perspektive nicht teilen muss, lassen sich theoretische
Inkonsistenzen und Brückenkonstruktionen in Oevermanns Theorie nicht von der Hand
weisen - insbesondere in seinen pädagogischen Konzeptionen. Liebau (1987) geht sehr
wertschätzend mit der theoretischen Begriffsbestimmung von Oevermanns um, weist aber
ebenso auf deren Schwächen hin und räumt Bourdieu quantitativ und qualitativ in seinem
Theorienvergleich einen größeren Platz ein - vielleicht nicht ohne Grund. Reichertz (2002:
141) ist – strenggenommen – in seinem Urteil über die objektive Methodologie deutlicher
radikaler, wenn er sie in Zusammenhang mit ‚Sektenbildung’ bring. Anlass für diese
Zuordnung bietet die starke Personenorientierung in diesem methodischen Zugang und die
Tatsache, dass Oevermann eine strukturierte und strukturierende Einführung in die
‚Objektive’ Hermeneutik bisher vermissen lässt (vgl. ebd.: 140). Dies wurde bereits von
Liebau festgestellt (vgl. Liebau 1987: 20) und birgt die Gefahr kein kohärentes Bild der
theoretischen und praktischen Implikationen der oevermannschen Theorie zu erhalten.
24
Will man das Habituskonzept von Bourdieu tatsächlich in die Professionalisierungstheorie
von Oevermann überführen, dann ist eine theoretische (und empirische!) Adaption
notwendig. In der Studie von Müller und Becker-Lenz wurde mit der Methode der objektiv
hermeneutischen Sequenzanalyse gearbeitet (vgl. Müller/ Becker-Lenz 2008: 30). Eine so
komplexe Methode (oder gar ‚Kunstlehre’), wie die Sequenzanalyse sollte allerdings mindestens exemplarisch - verdeutlicht werden, will man dem Anspruch an konsensueller
Validierung von ‚Texten’ wirklich gerecht werden. Dies ist umso stärker angezeigt, wenn
man daraus eine historisch-aktualisierte Normalitätsfolie für Soziale Arbeit entwickeln will.
25
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