Welche Rolle spielt das Unbewusste beim Erinnern und Verhalten?

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11.07.2012
Welche Rolle spielt das Unbewusste
beim Erinnern und Verhalten?
Wie können die Grundannahmen der
Psychoanalyse zum Ubw im Licht der modernen
Hirnforschung gesehen werden?
Wolfgang Söllner
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Klinikum Nürnberg
Unbewusst und vorbewusst
Das Unbewusste
Jener Bereich der
menschlichen Psyche, der
dem Bewusstsein nicht
direkt zugänglich ist. Die
Tiefenpsychologie geht
davon aus, dass
unbewusste psychische
Prozesse das menschliche
Handeln, Denken und
Fühlen entscheidend
beeinflussen, und dass die
Bewusstmachung
unbewusster Vorgänge
eine wesentliche
Voraussetzung für die
Therapie von Neurosen ist.
Das Vorbewusste
Alle psychischen Vorgänge
und Inhalte, die im
Augenblick nicht aktiviert
aber im Gegensatz zum
Unbewussten prinzipiell
zugänglich sind und im
Bedarfsfalle jederzeit
wieder aktiviert werden
können.
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Was ist unbewusst?
Erinnerung: Nicht alles was wir wahrnehmen
und erleben, können wir uns wieder ins
Bewusstsein abrufen
Verhalten: Ubw. Verhaltensmuster,
Fehlleistungen
Emotionen: Ubw. Motive, Instinkte, Triebe
Kognitionen: Entscheidungen „aus dem
Bauch“
Träume
Hypnose
Freud‘s Modell:
Das dynamische Unbewusste
ES:
Triebe, Instinkte,
Temperament, Motivationen
angeboren, hormonell
gesteuert, unbewusst
ICH:
Fühlen, Denken, Erinnern,
Handeln
Abwehr-/ Austauschmechanismen
V. a. durch Erfahrung
erworben
Tlw. bewusst, tlw. ubw.
ÜBER-ICH:
Gewissen
erworben
Tlw. bewust, tlw. ubw.
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Das Unbewusste in der Hirnforschung
„Wir haben
herausgefunden, dass im
menschlichen Gehirn
neuronale Prozesse und
bewusst erlebte geistigpsychische Zustände
aufs Engste miteinander
zusammenhängen und
unbewusste Prozesse
bewussten in bestimmter
Weise vorausgehen.“
Das Manifest: Elf führende
Neurowissenschaftler
über Gegenwart und
Zukunft der
Hirnforschung
Christian E. Elger, Angela D.
Friederici, Christof Koch,
Heiko Luhmann, Christoph
von der Malsburg, Randolf
Menzel, Hannah Monyer,
Frank Rösler, Gerhard Roth,
Henning Scheich, Wolf Singer
Gehirn und Geist 6; 2004
Unbewusste Anteile des Gedächtnisses:
Beobachtungen nach Hirnschädigungen
Blind Sehen: Kortikale Blindheit durch Schädigung des
visuellen Cortex
Implizites Gedächtnis: Amnesien durch
Hirnschädigungen; Patienten raten richtig
Split-brain-Untersuchungen: Nach Durchtrennung des
Balkens; Beeinflussung des Verhaltens des Patienten
durch Stimulation der rechten Hirnhälfte, ohne dass er
dies bewusst wahrnimmt (Roger Sperry)
Schädigung des orbitofrontalen Cortex: Enthemmtes
Verhalten; Unvermögen emotionale Lerninhalte zu
behalten (Antonio Damasio)
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Gedächtnis: 3 Phasen
Registrierung
Sinnesorgane
1. Kodierung (Erwerb
neuer Information)
2. Speicherung (Behalten
der Information)
Konsolidierung
(Assoziationsbildung mit
vorhandenen Inhalten;
Festschreibung der
Erinnerung auf immer
tieferen Speicherebenen;
während des Schlafs)
3. Abruf (Wiederbewusstmachung)
Abruf
Kodierung
Cortex
Limb. System
Limb. System,
Hippocampus
Parahippocampaler Cortex
Assoziationscortex
Subcorticale
Zentren
Kurzzeit-G.
Arbeits-G.
Speicherung
Langzeit-G.
Konsolidierung
Limbisches System,
Assoziationscortex
nach Solms & Turnbull 2008
Wie passiert Gedächtnisspeicherung?
Kurzzeit-Gedächtnis:
Funktioneller Prozess
Zellverbände verdrahten
sich und feuern
gemeinsam
Langzeit-Gedächtnis:
Anatomischer Prozess
In den „feuernden“
Zellen werden genet.
Mechanismen in Gang
gesetzt (Proteinsynthese), die das
Wachstum weiterer
Synapsen an diesen
Verbindungen fördern
Zellen wachsen und
verdrahten sich an
ständig aktivierten
Verbindungen
Erhöhte Dichte des
neuronalen Gewebes
Sehr langlebig, robust
An verschiedenen Orten
kodiert
Auf unterschiedliche
Weisen kodiert (viele
Gedächtnis-Subsysteme)
Ausgedehnte
Neuronenverbände
(Netzwerke)
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Vergessen
Längere Zeit nicht
aktive Synapsen
sterben ab („Use it
or loose it“)
Der Mensch wird mit
viel mehr Anlagen zu
Synapsen geboren,
als er benötigt
Die Umwelt bewirkt,
dass ein Teil dieser
Synapsen aktiviert
wird, die anderen
bleiben auf der
Stecke („Neuronales
Purging“)
Bildung von
„Schablonen“ in der
frühen Kindheit
Aktives und passives Vergessen
Nicht alles wird
konsolidiert und im LZGedächtnis abgespeichert
Auswahl: Teil des
Materials wird aus dem
Arbeitsgedächtnis
(„Puffer“ ) hinausgedrängt
wahrscheinlich im REMSchlaf (Träume als
„Mülleimer“ unserer
Erinnerung? Crick &
Mitchison 1983)
Aktives und passives
Vergessen: Verdängen
und „Spurenverfall“
Kehrt Verdrängtes im
Traum wieder?
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Die „Aktenschränke“ unseres
Gedächtnisses
Explizit: Bewusst oder
bewusstseinsfähig
Semantisches
Gedächtnis: speichert
Informationen;
Wissenssystem
Episodisches
Gedächtnis: Bewusstes
Wiedererleben früherer
Erfahrungen; Bezug zum
Selbst; autobiographisches Gedächtnis
Implizit: (In der Regel)
Unbewusst
Prozedurales
Gedächtnis:
Körperliches
Gedächtnis; habituelle
motorische Fertigkeiten
Priming/Emotionales
Erfahrungsgedächtnis:
Unser zentrales
Bewertungssystem
nach Roth 2004; Tulving 2005;
Markowitsch 2009
Episodisches Gedächtnis
Bewusstes Wiedererleben
früherer Erfahrungen
ABER: Jedes
Wiedererleben ist ein
bisschen anders
Einflüsse vom emotionalen
Erfahrungsgedächtnis
(„Schablonen“)
Geprägt von neueren
Erfahrungen
Geprägt von der aktuellen
Situation
Erinnerungen an frühere
Situationen des Selbst in
Beziehung zu Objekten
z. T. bewusst, z. T. ubw.
Autobiographisches Selbst
(Damasio)
Entspricht dem ICH der
Psychoanalyse
Lokalisation: Hippocampus
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Läsion/Stimulierung des Hippocampus
Läsion:
durch OP, herpetische
Enzephalitis, Hypoxie,
M. Alzheimer
Erhaltenes prozedurales
Gedächtnis
ABER: Die Fähigkeit,
bewusst zu erinnern und
darüber nachzudenken,
geht verloren
Stimulierung:
Kann künstlich das
Gefühl „das ist mir
passiert“ produzieren
Deja-vu
Halluzinationen
False memory
z. B. bei partieller
temporaler Epilepsie
Pat. HM
Emotionales Erfahrungsgedächtnis
Zentrales Bewertungssystem unseres Gehirns
„...bewertet alles, was
durch uns und mit uns
geschieht, danach, ob es
vorteilhaft oder lustvoll
war und entsprechend
wiederholt werden sollte
oder nachteilig und
schmerzhaft und zu meiden
ist.“ (Roth 2003)
Lust-Unlust-Prinzip; völlig
unbewusst
Limbisches System: Eng
verknüpft mit
Hippocampus, Basalganglien, präfrontalem
Cortex
Kontrolliert den Hippocampus und
damit das epxlizite (deklarative)
bewusstseinsfähige Gedächtnis
aus Roth 2011
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Emotionales Erfahrungsgedächtnis
Sorgt dafür, dass wir alle
bewussten und ubw.
Handlungsentscheidungen
immer im Licht
vergangener Erfahrung
treffen.
Bei neuerlicher Erfahrung,
wird ubw. das EEGedächtnis aktiviert:
Erzeugt Gefühle von
Interesse, Neugier, Freude,
Belohnungserwartung
ODER Aufregung, Furcht,
Abneigung.
Erzeugt Erfahrungsmuster
und Handlungsschablonen
Neurobiologische Basis
des psa. Konzepts der
„Übertragung“
bzw. des lerntheoretischen
Konzepts der „Schemata“
„Verinnerlichtes Modell der Lebenserfahrung“
„Wir Erwachsenen
projizieren fortwährend
unsere Erwartungen (die
Resultate früherer
Erfahrungen) auf die
Welt, sodass wir unsere
Umwelt in weit höherem
Maß konstruieren als
wahrnehmen“ (Solms &
Turnbull 2002)
Das Unbewusste ist ein
„Zensor“ der
Wahrnehmung
(Fokussierung)
Unbewusste
Erfahrungen
(„Schablonen“,
Erwartungen)
organisieren die
Speicherung des LZGedächtnisses
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Der Einfluss von Stress und
Traumatisierung auf die Erinnerung
Hippocampus hat eine sehr
hohe Zahl von
Glucocorticoid-Rezeptoren
Extremer Stress –
Adrenalin – Cortisol –
neurotoxisch – kann
Neurone im Hippocampus
zerstören
Bei massivem Stress,
Traumatisierung
(Kriegserlebnisse, sexueller
Missbrauch):
Abnahme des
Hippocampusvolumens
Abnahme der Synapsendichte
im präfrontalen Cortex
Störung der
Gedächtnisleistung: Erinnerung
an Trauma nur eingeschränkt
episodisch kodiert (Schutz?),
aber implizite ubw.
Erinnerungsspuren (z. B.
Körperreaktion, Dissoziation)
Steuerung des Verhaltens
Limbisches System steuert
Verhalten, beeinflusst den
präfrontalen Cortex beim
Entstehen von Wünschen
und dem Reifen von Plänen
(„Bewusster Cortex
braucht die Zustimmung
des limbischen Systems“)
95% unseres Verhaltens
sind unbewusst (Bargh &
Chartraud 1999)
Angeborene
Basisemotionen
(Neugierde/Interesse,Wut,
Furcht, Panik):
lebenserhaltend
Triebe: funktionieren nach
dem Lust-Unlust-Prinzip
(Dopamin- und Opioidgesteuert)
Erlernt: Emotionales
Erfahrungsgedächtnis
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Formung der Persönlichkeit
EE-Gedächtnis
entscheidend
Besonders aktiv in den
ersten Lebensjahren
(Cortex erst ab dem 3. Lj.
stärker ausgereift)
Abhängig von den
Reaktionen der Umwelt;
frühen Beziehungserfahrungen
Eng verknüpft mit dem
Bindungssystem
Kortikale Netzwerke
(deklaratives
Gedächtnis) bleiben
langfristig plastisch und
können sich schnell
verändern
Das limbische System
lernt langsam und ist
resistent gegen
Veränderung
Im späteren Leben nur
mit großem Aufwand
veränderbar (z. B. in
Lebenskrisen)
Sind wir Herr im eigenen Haus?
Bewusste
Entscheidungen: Ebene
der bewusstseinsfähigen
Großhirnrinde;
Wahrnehmung und
Beurteilung komplexer
Situationen;
Bewältigung von
Situationen, für die es
kein gewohntes Rezept
gibt
Die Letztentscheidung
wird jedoch emotional
getroffen („aus dem
Bauch“)
Kränkung des ICH (Freud)
Widerspricht unserem
Wunsch nach Autonomie
Die kortikale
Bewusstseinsebene nimmt
die subkortikale nicht wahr
bzw. leugnet sie
„Das ICH konfabuliert, d.h. es
liefert - aus der Sicht des
Beobachters – Pseudoerklärungen
und zwar in der Regel solche, die
einerseits dem Selbstwertgefühl
und andererseits den Erwartungen
der sozialen Umwelt am besten
entsprechen“ (Roth 2009)
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Veränderung durch Psychotherapie?
Hypothesen aus neurowissenschaftlicher Sicht
(1) Stärkung des ICH (kortikale
Ebene) gegenüber den ubw.
subkortikalen
Verhaltensmustern:
Freud: „Wo ES war, soll
ICH werden“
(emanzipatorischer
Anspruch der
Psychoanalyse)
Verstärkung der
Impulskontrolle durch
Mentalisierung (Fonagy)
Das verändert aber nicht die
„verknoteten Netzwerke“ im
limbischen System (LeDoux:
„Die Amygdala vergisst
nie“)
(2) Positive emotionale
Erfahrung schafft
„Ersatzschaltungen in
Amygdala“ mit eigenem
Zugang zu
Handlungssteuerung im
präfrontalen Cortex
(kompensatorische
Netzwerke)
Positive emotionale Lebenserfahrungen
können - wenn sie lange genug und oft
genug erlebt und geübt werden – alte
seelische Verletzungen und Traumata
„heilen“.
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Grenzen der Neurowissenchaften
Eine "vollständige" Erklärung der Arbeit des menschlichen
Gehirns, das heißt eine durchgängige Entschlüsselung auf der
zellulären oder gar molekularen Ebene, erreichen wir dabei
dennoch nicht. Insbesondere wird eine vollständige Beschreibung
des individuellen Gehirns und damit eine Vorhersage über das
Verhalten einer bestimmten Person nur höchst eingeschränkt
gelingen. Denn einzelne Gehirne organisieren sich aufgrund
genetischer Unterschiede und nicht reproduzierbarer
Prägungsvorgänge durch Umwelteinflüsse selbst – und zwar auf
sehr unterschiedliche Weise, individuellen Bedürfnissen und einem
individuellen Wertesystem folgend. Das macht es generell
unmöglich, durch Erfassung von Hirnaktivität auf die daraus
resultierenden psychischen Vorgänge eines konkreten Individuums
zu schließen.
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