Fokus Menschenrechte Nr. 29 / Dezember 2015 Wiedergeburt mit weniger Grundrechten Berlin billigt indirekt Ungarns Entdemokratisierung Dr. Borek Severa Seit der Regierungsübernahme der nationalkonservativen Partei FIDESZ in Ungarn steht dieser EU-Mitgliedsstaat heftig in der Kritik – und dies nicht nur seitens der Europäischen Institutionen. FIDESZ-Chef und Ministerpräsident Viktor Orban leitete die Politik der „nationalen Wiedergeburt“ bereits kurz nach der Parlamentswahl Anfang 2010 mit einem restriktiven Mediengesetz ein. Umfassenden Verfassungsänderung folgte auf dem Fuß. Zusammenfassung Die „Wiedergeburt“ des Nationalismus hat sich die nationalkonservative Partei FIDESZ nicht nur auf die Fahnen geschrieben, sondern sie arbeitet konsequent daran. Nach der Parlamentswahl Anfang 2010 verabschiedete das Parlament neue Gesetze wie am Fließband. Den alten Traum von Großungarn spiegelt auch das neue Staatsangehörigkeitsgesetz wider. Viele der neuen Regelungen widersprechen eindeutig dem Geist einer liberalen, pluralistisch verfassten Demokratie. Rechtsordnung, Medien, Wirtschaft – alles wird beschränkt. Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung 2012 übernahm FIDESZ auch die Kontrolle über die Justiz. Die Europäische Volkspartei (EVP) – Gründungsmitglied ist auch die deutsche CDU – schweigen zu seiner Politik und dem schleichenden Demokratieabbau in Ungarn. Indirekt billigt Berlin damit die Entdemokratisierung des EU-Mitglieds. Seit der Regierungsübernahme der nationalkonservativen Partei FIDESZ in Ungarn steht dieser EU-Mitgliedsstaat heftig in der Kritik – und dies nicht nur seitens der Europäischen Institutionen. FIDESZ-Chef und Ministerpräsident Viktor Orban leitete die Politik der „nationalen Wiedergeburt“ bereits kurz nach der Parlamentswahl Anfang 2010 mit einem restriktiven Mediengesetz ein. Umfassenden Verfassungsänderung folgte auf dem Fuß. Weitere Gesetze verabschiedete das Parlament – also faktisch die alleinregierende nationalkonservative Partei FIDESZ – wie am Fließband. Sie konnte das geradezu ungehemmt tun, denn bis Februar 2015 verfügte sie in der Abgeordnetenkammer über eine Zweidrittelmehrheit und damit über die Möglichkeit von Verfassungsänderungen. Die „Wiedergeburt“ des Nationalismus hat sich FIDESZ nicht nur auf die Fahnen geschrieben, sondern sie arbeitet zügig und konsequent daran. Den alten Traum von Großungarn spiegelt so beispielsweise das neue Staatsangehörig- Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit | Fokus Menschenrechte Wiedergeburt mit weniger Grundrechten | Nr. 29 - Dezember 2015 keitsgesetz wider, dem zufolge alle Auslandsungarn die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen können. Viele der neuen Regelungen widersprechen eindeutig dem Geist einer liberalen, pluralistisch verfassten Demokratie und ha- | 2 fentlich-rechtlichen Medien. Sie kann willkürlich auch private Medien für redaktionelle Inhalte bestrafen und in den wirtschaftlichen Ruin treiben. Durch den Lizenzentzug können auch die letzten kritischen Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Als besonders kurzsichtig dürften sich die dirigistischen Eingriffe in die freie Marktwirtschaft erweisen. Fast ausschließlich große ausländische Unternehmen sollen u. a. rückwirkend mit Sondersteuern die riesigen Löcher im Staatshaushalt Ungarns stopfen. Besorgnis erregt auch die Abschaffung der privaten Rentenversicherung. Orban scheute sich nicht, zu Jahresbeginn 2011 mit einer „Rentenreform“ in die Eigentumsrechte der Bürger einzugreifen, die einer realsozialistischen EntParlamentsgebäude in Budapest gleichkommt. Mitte Foto: Stiftung für die Freheit eignung November 2015 lief wiederum eine „Bodenreform“ an, bei der knapp ein Dritben in der EU keine Parallele. An der an Tempo tel der staatlichen landwirtschaftlichen Nutzflägewinnenden Wandlung Ungarns von einer pluchen privatisiert werden soll. Der Opposition ralistischen Demokratie zum autoritären Obrigzufolge geht es um nichts anderes, als um den keitsstaat ändert auch die Tatsache nichts, dass finalen Ausverkauf ungarischen Bodens an FIeinige Gesetze auf Druck Brüssels geändert DESZ-Günstlinge, die sich ohnehin nach 2010 werden mussten. die besten Pachtverträge gesichert hatten. Rechtsordnung, Medien, Wirtschaft – alles wird Bedenklich im Falle Ungarns ist die Kumuliebeschränkt. Mit dem Inkrafttreten der neuen rung der restriktiven Bestimmungen und damit Verfassung Anfang 2012 übernahm FIDESZ, die totale Umgestaltung der Rechtsordnung. der zuvor den gesamten Staatsapparat bis in Die Regierung Orban zementiert seit ihrem die letzte Gemeinde auf sich ausgerichtet hatAmtsantritt Ende Mai 2010 ihre Macht auf allen te, auch die Kontrolle über die Justiz. Durch Gebieten mit immer neuen Gesetzen, die jeder die Wahl parteinaher Verfassungsrichter wurNachfolgeregierung die Umsetzung einer reforde der ohnehin schon in seinen Kompetenzen morientierten Regierungspolitik praktisch unbeschnittene Verfassungsgerichtshof de facto möglich machen werden. in eine FIDESZ-Filiale umgewandelt. Demokratische Kontroll- und Beteiligungsmechanismen wurden dadurch erheblich eingeschränkt. Das Orban und die EU Verfassungsgericht, das neue Gesetze wegen Dass Viktor Orban ein Demokratieverständnis fehlender Verfassungskonformität blockieren hat, das schwerlich mit den europäischen Stankönnte, darf zudem keine Regelungen mehr bedards in Einklang zu bringen ist, dokumentierurteilen, die den Staatshaushalt betreffen. te er endgültig im Juli 2014 mit seiner Rede im Die von FIDESZ beherrschte mächtige Medirumänischen Baile Tusnad. Seiner Auffassung enbehörde NMHH kontrolliert nicht nur die öfnach muss eine funktionierende Demokratie ilFriedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit | Fokus Menschenrechte Wiedergeburt mit weniger Grundrechten | Nr. 29 - Dezember 2015 liberal sein und den nationalen Interessen dienen. Die meisten NGOs und zivilgesellschaftliche Initiativen seien vom Ausland bezahlte Aktivisten, die von der Regierung beaufsichtigt werden müssten. Ungarn müsse sich von der westlichen Ideologie freimachen und einen neuen und starken ungarischen Nationalstaat aufbauen, der im globalen Wettbewerb bestehen kann. Seine Vorbilder auf diesem Wege seien China, Singapur, Russland und die Türkei, erklärte Orban. | 3 Sozialisten als auch den liberalen Bund Freier Demokraten (SZDSZ), die in den letzten fünf Jahren ihrer gemeinsamen Regierungsarbeit durch innerparteiliche Grabenkämpfe und personelle Querelen Aufsehen erregten, statt eine klare Alternative zu Orbans nationalkonservativer Politik anzubieten. Deshalb klingt auch das heutige Wehklagen früherer Regierungsvertre- Es ist an Opportunismus nicht zu überbieten, dass Orbans Freunde in der Europäischen Volkspartei (EVP) – Gründungsmitglied ist auch die deutsche CDU – zu seiner Politik der nationalen Wiedergeburt und dem schleichenden Demokratieabbau in Ungarn schweigen. Indirekt billigt Berlin damit die Entdemokratisierung des EU-Mitglieds. Orbans Weg in eine paternalistische Autokratie passt nicht in das Europa von heute und nicht zur jüngeren Geschichte Ungarns, das sich mit seinem „Gulasch-Kommunismus“ stets als das „liberalste“ unter den früheren Ostblockstaaten präsentierte und bleibende Verdienste um den Zerfall dieses Ostblocks hat. Die Doppelmoral der europäischen christdemokratischen und konservativen Parteien zeigt sich besonders in der aktuellen Flüchtlingskrise: Nachdem Ungarn lange Zeit mit den für das kleine Land kaum zu bewältigenden Flüchtlingsströ- Zoltan Kesz, der neu gewählte unabhängige Abgeordnete, me im Stich gelassen wurde, nutz- leitet eine Demonstration in Veszprem. Foto: Stiftung für die Freiheit te Orban die entstandene Situation zur Stärkung seiner Position soter über den eklatanten Machtmissbrauch durch wohl innenpolitisch als auch innerhalb der ViFIDESZ wenig glaubwürdig. Auch die Gründung segrad-Gruppe (Ungarn, Slowakei, Tschechien, neuer Parteien - teilweise mit alten Köpfen, die Polen) und letztendlich innerhalb der EU. ein Teil des Problems waren– ist keine Lösung, Die anhaltende große Popularität Orbans bei nicht zuletzt, weil der Zivilsektor jegliche Zuder eigenen Bevölkerung ist aber auch eine sammenarbeit mit Parteien ablehnt, die von PoFolge des Versagens der pro-europäischen litikern der Vor-Orban-Ära repräsentiert werden. Eliten in Ungarn selbst. Dies gilt sowohl für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit | Fokus Menschenrechte Wiedergeburt mit weniger Grundrechten | Nr. 29 - Dezember 2015 So blieb auch das Abschneiden der Wahlallianz „Gemeinsam 2014“ von Sozialisten, Liberalen und Grünen sowohl bei den damaligen nationalen Parlamentswahlen als auch den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 weit hinter den Erwartungen zurück und machte die Uneinigkeit der Opposition deutlich. Wegen der schwierigen und in einem EU-Land eigentlich kaum vorstellbaren politischen Rahmenbedingungen kommt der Arbeit nichtstaatlicher Organisationen wachsende Bedeutung zu. Da die schwache parlamentarische Opposition | 4 ner zunehmend bürokratische und teilweise auch schikanöse Beschränkungen in Kauf nehmen, mit denen die Regierung versucht, die Arbeit der unabhängigen NGOs unter ihre Kontrolle zu bringen und in Einzelfällen Fördermittel zu konfiszieren. Hierzu wurde ein eigener Apparat geschaffen, und es ist bereits vorgekommen, dass Veranstaltungen der Partner von Amtsträgern observiert und Fragen nach der Herkunft der aufgewendeten Mittel gestellt wurden. Dennoch, die FNF wird diese Institutionen weiter unterstützen und ihre Integration in proeuropäische Netzwerke wie das von der FNF initiierte 4.liberty.eu forcieren. Dieser Ansatz wurde zuletzt bestätigt, als der liberale Kandidat Zoltan Kesz bei einer Nachwahl im Februar 2015 die Regierungspartei FIDESZ um ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament brachte. Kesz, Gründer und Direktor des liberalen ThinkTanks und FNF-Partners Free Market Foundation, siegte mit 43 Prozent der Stimmen und damit einem überraschend deutlichen Vorsprung vor dem FIDESZ-Kandidaten Lajos Nemedi, der auf 34 Prozent kam. Zoltan Kesz zählt ebenfalls zu den Gabor Fodor (Abgeordneter, MLP) spricht während einer FNF-Republikon Konferenz. führenden Akteuren im Foto: Stiftung für die Freiheit. regionalen Netzwerk 4Liberty.eu und hat in den nicht in der Lage ist, eine klare Alternative zu letzten Jahren bei vielen Veranstaltungen der Orbans rechtspopulistischer Politik anzubieten, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, des sind die Institutionen der Zivilgesellschaft und European Liberal Forums und der IAF in Gumunabhängige Think-Tanks die wirklichen Hoffmersbach aktiv mitgewirkt. Der 41-Jährige tritt nungsträger für die Rückkehr zu mehr Liberalikonsequent für die freie Marktwirtschaft ohne tät in Ungarn. Staatsdirigismus, einen liberalen Rechtsstaat und ein starkes Europa ein. Die FNF in Ungarn Die FNF arbeitet in Ungarn mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Think Tanks zusammen, um Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu stärken. Bei ihrer Arbeit müssen die FNF-Part- Seit vier Jahren arbeitet die FNF in Ungarn gleichfalls mit dem Think-Tank Republikon zusammen, dessen Leiter Csaba Toth zu den wichtigsten Akteuren im liberalen Netzwerk 4liberty. eu zählt. Republikon ist außerdem Mitglied im Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit | Fokus Menschenrechte Wiedergeburt mit weniger Grundrechten | Nr. 29 - Dezember 2015 European Liberal Forum ELF. Daneben kooperiert die Stiftung projektweise mit der Hungarian Europe Society und dem Think-Tank Political Capital. Auf regionaler Ebene werden Projekte der liberalen Partei SZEMA unterstützt, die sich vor allem für eine bessere Integration der Minderheit der Roma in Ostungarn einsetzt. | 5 Unabhängig von ihrem Hauptziel, die Kräfte der Zivilgesellschaft dabei zu unterstützen, eine glaubwürdige und für die Bürger attraktive politische Alternative zu Orbans national-konservativer Politik zu entwickeln, setzt die FNF in ihrer Projektarbeit auch Gespräche mit moderateren Kräften fort, die der Regierung nahestehen. Dr. Borek Severa leitet seit 1991 das Prager Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und wurde später zum Repräsentanten für die neuen EU-Länder in Mitteleuropa und im Baltikum. Impressum Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Fachbereich Internationales - Referat Asien und Menschenrechte Karl-Marx-Str. 2 14482 Potsdam [email protected] www.freiheit.org Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit | Fokus Menschenrechte