Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) KZ-Gedenkstätte Neuengamme | Reproduktion nicht gestattet 2 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die ersten Kriegsjahre bis 1942 Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 wurde das KZ-System ausgebaut. Die Inspektion der Konzentrationslager (IKL) unter der Leitung von Richard Glücks richtete bis 1942 fünf neue Konzentrationslager ein: Auschwitz und Lublin-Majdanek im besetzten Polen, Neuengamme in den Hamburger Landgebieten, Natzweiler-Struthof im Elsass und Groß-Rosen bei Breslau in Niederschlesien. Zwei bestehende Lager, das KZ Niederhagen (Wewelsburg) bei Paderborn und das SS-Sonderlager Hinzert im Hunsrück, wurden zusätzlich der IKL unterstellt. Im Januar 1942 wurde ein seit September 1939 bei Danzig bestehendes Gestapo-Lager zu einem Konzentrationslager, dem KZ Stutthof, umgewandelt. Diese Lager fungierten als Haftstätten für politische Gegnerinnen und Gegner aus den besetzten Ländern Europas, waren aber auch an Standorten errichtet worden, an denen die Häftlinge für die SS-eigene Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DESt) Zwangsarbeit leisten sollten, z. B. in unmittelbarer Nähe von Steinbrüchen. Nach Kriegsbeginn stieg die Zahl der in die Konzentrationslager verschleppten Menschen sprunghaft an. Im August 1939 waren 21 000 Menschen in Konzentrationslagern inhaftiert, im Frühjahr 1942 hatte sich die Zahl mit etwa 70 000 bis 80 000 Häftlingen vervierfacht. Überwiegend waren es Menschen, die in den besetzten Gebieten verhaftet worden waren, vor allem in Osteuropa. Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Modell von Albert Speer für die Neugestaltung Berlins,1939. Der Ausschnitt zeigt die geplante Nord-Süd-Achse. KZ-Häftlinge mussten für die monumentalen Vorhaben Zwangsarbeit leisten. Mit Kriegsbeginn verlagerte sich die Häftlingsarbeit auf die Kriegswirtschaft. (Landesdenkmalamt Berlin) 3 4 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Errichtung des KZ Auschwitz Am Rande der polnischen Stadt Oświęcim wurde im Mai/ Juni 1940 in einer ehemaligen Kaserne das KZ Auschwitz errichtet. Ziel war die Unterdrückung des polnischen Widerstands und der polnischen Intelligenz sowie die Ausbeutung der Häftlinge in SS-eigenen Produktionsstätten. Im März 1941 kündigte Heinrich Himmler den Aufbau eines zusätzlichen Lagers in etwa drei Kilometern Entfernung vom KZ Auschwitz an – ursprünglich geplant zur Unterbringung von 100 000 sowjetischen Kriegsgefangenen. Häftlinge des KZ Auschwitz mussten beim Aufbau dieses neuen Lagers Schwerstarbeit verrichten. Im März 1942 wurden die ersten Häftlinge in Steinbaracken des neuen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau untergebracht. Von Beginn an war es auch ein Vernichtungslager: Die Häftlinge ankommender Transporte wurden nach ihrer „Arbeitsfähigkeit“ selektiert – Alte, Kranke, Schwache und Kinder wurden sofort in zwei zunächst provisorisch eingerichteten Gaskammern ermordet. Bereits im Dezember 1940 bestanden Überlegungen, in Auschwitz eine Produktionsstätte für synthetischen Kautschuk der I. G. Farben zu errichten. 1941 begannen die Bauarbeiten am Buna-Werk, bei denen mehrere Tausend Häftlinge eingesetzt wurden. Im Oktober 1942 wurden diese Häftlinge in einem werksnahen, gesonderten Lager untergebracht, das etwa sechs Kilometer vom KZ Auschwitz entfernt lag. Die drei Lager werden heute als Auschwitz (Auschwitz I), Birkenau (Auschwitz II) und Monowitz (Auschwitz III) bezeichnet. Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Rudolf Vrba wurde im Juni 1942 in das KZ Auschwitz verschleppt und musste dort beim Aufbau des Buna-Werkes der I. G. Farben arbeiten: Männer rannten und stürzten, wurden getreten und erschossen. Wild dreinblickende Kapos bahnten ihren blutgefleckten Weg durch Gefangenenpulks, während SS-Männer aus der Hüfte schossen [...]. Gruppen stiller Männer in untadeliger Zivilkleidung [suchten sich] ihren Weg zwischen Leichen, die sie nicht sehen wollten, maßen Balken mit leuchtend gelben Zollstöcken [...], ohne das Blutbad wahrzunehmen. [...] Nur gelegentlich murmelten sie einige Worte zu einem SS-Unterführer [...]. Der SS-Mann gab dann dem Kapo wütend einen Tritt und brüllte: „Bring diese Schweine in Trab, du faules Stück. Weißt du denn nicht, daß bis um elf diese Mauer fertig sein muß?“ Der Kapo rappelte sich dann auf und schlug mit der Peitsche auf die Häftlinge ein, schneller, schneller, schneller. Aus: Rudolf Vrba/Alan Bestic: Ich kann nicht vergeben, München 1964, S. 125. Teilansicht des Häftlingslagers des KZ Auschwitz, 1945. Foto: Makarewicz. (APMO, Nr. 1004) 5 6 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Errichtung des KZ Neuengamme Die SS errichtete im Dezember 1938 im Hamburger Ortsteil Neuengamme in einer stillgelegten Ziegelei zunächst ein Außenlager des KZ Sachsenhausen. 100 Häftlinge nahmen diese vom SS-Unternehmen Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH erworbene Fabrik wieder in Betrieb. Im Frühjahr 1940 wurde Neuengamme zu einem eigenständigen Konzentrationslager erklärt und ausgebaut. Die Stadt Hamburg, die eine Neugestaltung des Hamburger Elbufers mit „Führerbauten“ plante, finanzierte den Bau einer neuen Großziegelei und den Ausbau der Wasserstraße, die vom Konzentrationslager zum Hamburger Hafen führte. Klinkerwerk des KZ Neuengamme. Foto: SS, nicht datiert. (NARA, M 890, Roll 27, Affidavit Goerges, Bild 3) Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Hans Gross, der mit dem ersten Häftlingstransport aus dem KZ Sachsenhausen nach Neuengamme kam, berichtete über den Aufbau des Lagers: Am 13. Dezember 1938 kam ich auf Transport ins KZ Neuengamme. [...] Hier sollten wir als Arbeitskommando von Sachsenhausen eine alte Ziegelei in Gang bringen. [...] Im Januar 1940 besichtigte der Reichsführer SS Himmler das Kommando Neuengamme. Bald danach wurde der Auftrag gegeben, ein selbständiges Lager zu bauen. [...] Von morgens früh bis spät am Abend wurde geschuftet. [...] Das ganze Gelände war von Wassergräben durchzogen und nur eine kleine schmale Holzbrücke führte zu den vier Baracken. Über diese Brücke mussten wir jeden Morgen zur Arbeit ausrücken. Mancher Häftling flog mit Hilfe der SS ins Wasser. [...] Je nachdem die Baracken fertig geworden waren, kamen auch neue Transporte an. Aus Sachsenhausen, aus Dachau und aus Buchenwald. Mit der Zeit kamen auch andere Nationen ins Lager, Polen, Belgier, Holländer, Russen usw. Hans Gross. Bericht, nicht datiert. (ANg, NHS 13-7-0-1) 7 8 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Errichtung des KZ Natzweiler-Struthof Das Konzentrationslager Natzweiler wurde im Mai 1941 südwestlich von Straßburg im Elsass für 1500 Häftlinge errichtet. Maßgeblicher Grund für die Wahl des Ortes war ein örtlicher Steinbruch. Der rote Granit, der dort abgebaut wurde, sollte für geplante „Führerbauten“ in Berlin und Nürnberg verwendet werden. Die SS-eigene Firma Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH hatte das Gelände und die Abbaurechte von der Gemeinde Natzweiler gepachtet. Zunächst waren die durchschnittlich 400 Häftlinge in einem Tanzsaal des Hotels Struthof untergebracht. Sie hatten die Aufgabe, ein neues Lager zu errichten und den Steinbruch freizulegen. Ende 1942 waren sieben Baracken des neuen Lagers fertig; in diesem Jahr wurden ca. 1500 weitere Häftlinge in das KZ Natzweiler eingewiesen. Zeichnung des Franzosen Henri Gayot, der seit 1944 im KZ Natzweiler-Struthof inhaftiert war. (Musée du Struthof) Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Max Nevers, ein französischer „Nacht und Nebel“-Häftling, war ab Juli 1943 im KZ Natzweiler-Struthof inhaftiert. Über die Zwangsarbeit im Steinbruch berichtete er: Abends bin ich zu Roger Linet, einem Kameraden, gegangen und habe ihn gefragt, wie lange er schon hier sei. „Vier Tage.“ „Und schon in dem Zustand?!“ „Ja, wir schleppen die Steine auf unserem Rücken, die Sonne brennt in den Steinbruch. Dieser SS Ehrmanntraut uriniert auf diejenigen, die am Boden liegen ...“ [...] Ich war Mitglied eines Kommandos von circa sechzig Kameraden, im Inneren des Lagers, vor einem großen Hügel. Wir hatten Schubkarren, wir hackten, wir luden die Steine auf und schütteten sie in einen Graben. Wir mussten eine Terrasse errichten. Ich dachte an das, was mir Willy Behnke [einer der ersten deutschen Deportierten des Lagers Natzweiler-Struthof] gesagt hatte: „Versuch deine Kräfte einzuteilen, aber immer in Bewegung bleiben ... und mit den Augen arbeiten, schauen, wo die SS sind. Wenn der SS ankommt, dann hackst du.“ Max Nevers. Interview, 26.6.2003. In: Zeugenberichte zum KL Natzweiler, Internet: http://www.struthof.fr/de/zeugenberichte/zeugenberichte-zumbr-kl-natzweiler/max-nevers. 9 10 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Errichtung des KZ Groß-Rosen Das Konzentrationslager Groß-Rosen wurde 60 Kilometer südwestlich von Breslau in unmittelbarer Nähe eines Steinbruchs errichtet. Zunächst ein Außenlager des KZ Sachsenhausen, wurde Groß-Rosen im Mai 1941 ein selbstständiges Konzentrationslager. Zu diesem Zeitpunkt waren dort 722 Häftlinge untergebracht. 1942 begann der Ausbau des Lagers, um eine Aufnahmekapazität von mehreren Tausend Häftlingen zu erreichen. Im Juli 1942 befanden sich 1890 Häftlinge im Lager. Die schwere Zwangsarbeit im Steinbruch und im Granitwerk, beide seit Mai 1940 im Besitz der SS, führte zu einer sehr hohen Sterblichkeit unter den Häftlingen. Arthur Rödl (Mitte), Kommandant des KZ Groß-Rosen von Mai 1941 bis September 1942, bei einem Besuch des Höheren SS- und Polizeiführers Heinrich Schmauser (3. von links) im Steinbruch des Lagers. Foto: unbekannt. (ADa, 15 Schmauer-Rödl) Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Jerzy Giergielewicz war im polnischen Widerstand aktiv, bis die Gestapo den 17-Jährigen im September 1942 in Warschau verhaftete. Im Februar 1943 wurde er in das KZ Lublin-Majdanek deportiert und von dort in die KZ Flossenbürg, Groß-Rosen und Neuengamme. Über das KZ Groß-Rosen berichtete er: Nach einigen Monaten des Aufenthalts in Groß-Rosen traute ich mich, durch das Fenster der am Rande einsam stehenden Baracken des Sterbelagers hinein zu gucken. Über das Schicksal der Menschen aus dieser Baracke redete man sehr wenig, mit leiser Stimme, mit gesenktem Kopf oder mit machtloser Wut. Wir durften uns dieser Baracke nicht nähern, schon dafür konnte man bestraft werden [...]. Über die ganze Breite der Baracke waren unten sich zugeneigte, aus rohen Brettern gemachte und mit nichts bedeckte Pritscheneinheiten gebaut. Auf diesen lagen ein paar dutzend nackte Menschen, die wortwörtlich mit Haut bedeckte Skelette waren, sie hatten überdimensional große Köpfe, die zu schwer für ihre dünnen Hälse waren. Sie lagen kraftlos da, nur langsame, schneckenartige Bewegungen ihrer Extremitäten zeugten noch davon, dass sie lebten. Aus: Jerzy Giergielewicz: Endstation Neuengamme, Außenlager Drütte. Der Weg eines 17-jährigen aus Warschau durch vier Konzentrationslager, Bremen 2002, S. 62. 11 12 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Errichtung des KZ Lublin-Majdanek Erste Festlegungen zum Aufbau eines Konzentrationslagers in Lublin wurden im Juli 1941 bei einer Besprechung Heinrich Himmlers mit dem für den Lubliner Distrikt zuständigen SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik getroffen. Nach den Plänen Himmlers sollten in Lublin zentrale SS-Behörden eingerichtet, eine SS-Division stationiert und ein SS-Industriekomplex aufgebaut werden. Das Konzentrationslager, von vornherein für 25 000 bis 50 000 Häftlinge geplant, sollte im gesamten Distrikt ein Arbeitskräftereservoir für die SS bilden. Bis März 1942 wurden die Baupläne erweitert. 150 000 Häftlinge sollten in über 500 Baracken auf einer Fläche von 500 Hektar untergebracht werden. Da die SS davon ausging, Verfügungsgewalt auch über Kriegsgefangene zu erlangen, bezeichnete sie das Konzentrationslager bis Februar 1943 offiziell als „Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS in Lublin“. Die gigantischen Pläne für das Konzentrationslager wurden nicht realisiert; die Zahl der meist polnischen und jüdischen Häftlinge betrug Anfang 1942 ungefähr 1000 und stieg im April 1943 auf einen Höchststand von 25 000. Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Sowjetische Luftaufnahme des KZ Majdanek vom August 1944. In der Bildmitte befinden sich Werkstätten und Magazingebäude, im Hintergrund die Häftlingsbaracken, links der Selektionsplatz und das Krematorium (Markierung). (AMaj) 13 14 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Errichtung des KZ Stutthof Blick auf das KZ Stutthof, nicht datiert. Foto: unbekannt. (ASt) Das „Sonderlager Stutthof“ bei Danzig, das der Staatspolizeileitstelle Danzig unterstand, wurde am 7. Januar 1942 als Konzentrationslager der Inspektion der Konzentrationslager unterstellt. Stufenweise wurde das Lager vergrößert; bis 1943 wurden für 10 000 Häftlinge weitere Baracken errichtet. Wirtschaftliche Nutznießer der Häftlingsarbeit waren örtliche Niederlassungen SS-eigener Betriebe wie der Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH mit einer Ziegelei und der Deutschen Ausrüstungswerke mit verschiedenen Werkstätten. Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Der Norweger R. Olaf Walle war seit Dezember 1943 im KZ Stutthof inhaftiert: Im November [1944] waren etwa 2000 Menschen durch Krankheiten gestorben, im Dezember etwa 3600. Im Januar wurde es noch schlimmer. Der Flecktyphus entwickelte sich zu einer großen Epidemie und war durch nichts mehr aufzuhalten. Die Ladung der Leichenwagen wurde jeden Tag schwerer. Das neue Krematorium [...] war mit drei Öfen Tag und Nacht in Betrieb, trotzdem reichte es nicht aus. Es wurden deshalb zusätzliche Feuer errichtet. [...] Die Leichen wurden mit Öl übergossen. [...] Das Feuer brannte zwei Tage und zwei Nächte lang. Zitiert nach: Hermann Kuhn (Hg.): Stutthof. Ein Konzentrationslager von den Toren Danzigs, Bremen 1995, S. 180. Gertrude Schneider aus Österreich wurde im August 1944 in das KZ Stutthof deportiert: Am 6. August 1944, als es schien, daß unsere Befreiung schon vor der Tür stand, wurden wir von Riga, Lettland, über die Ostsee zuerst nach Danzig und dann nach Stutthof gebracht. [...] Die Zustände im Lager waren entsetzlich. Da war der Schmutz, das Ungeziefer, der Hunger, die Schläge, der Mangel an Schlaf, und das Ärgste war die Angst, fürs Gas ausgesucht zu werden. [...] Jüdische Lagerinsassen warnten und sagten den Frauen über 40 sowie den Mädchen unter 14, sie sollten andere Geburtsdaten angeben. Zitiert nach: Hermann Kuhn (Hg.): Stutthof. Ein Konzentrationslager von den Toren Danzigs, Bremen 1995, S. 146. 15 16 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Das KZ-System 1942–1944 1942 kam es nach dem Scheitern der deutschen Blitzkriegsstrategie zu einem Funktionswandel der Konzentrationslager. Die Häftlingsarbeitskraft sollte nun vordringlich der Rüstungsproduktion dienen. Hierfür wurde die Inspektion der Konzentrationslager dem neu gebildeten SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt unterstellt. Arbeiten in den SS-eigenen Wirtschaftsbetrieben wie auch die Realisierung der „Führerbauten“ verloren an Bedeutung. Die Zahl der registrierten Häftlinge in den „Arbeitslagern“, die aus allen Teilen Europas, aber vor allem aus den besetzten osteuropäischen Ländern kamen, stieg bis zum Sommer 1944 stetig an. Rüstungsbetriebe verlegten Teile ihrer Produktion in die Konzentrationslager; neue Lager wurden nach dem Bedarf der Kriegswirtschaft eingerichtet. So entstanden 1944 zunehmend Konzentrationslager, die gigantischen Verlagerungsprojekten dienen sollten: Kriegswichtige Produktionsanlagen sollten in Hochbunkern und ausgebauten Stollenanlagen vor den Luftangriffen der Alliierten gesichert werden. Der Bau erfolgte unter dem Einsatz Zehntausender Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, die aufgrund der schweren Arbeit und der völlig unzureichenden Verpflegung und medizinischen Versorgung in großer Zahl starben. 1943/44 entstanden über 1000 Außenlager, die den 22 großen Konzentrationslagern, die 1944 existierten, unterstanden. Dort war bald die Mehrheit der Häftlinge inhaftiert. Von insgesamt 70 000 bis 80 000 KZ-Häftlingen im Frühjahr 1942 stieg die Zahl auf über 700 000 Anfang 1945. 17 18 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Errichtung des KZ Mittelbau-Dora Im KZ Mittelbau-Dora, einem seit Oktober 1944 eigenständigen KZ im Harz, mussten die Häftlinge ein riesiges Stollensystem für die Produktion und Montage der von der NS-Propaganda als „Wunderwaffen“ ausgegebenen so genannten V1- und V2-Raketen anlegen. Bis zur Inbetriebnahme der Fabrik hatten die 10 000 Gefangenen, die auf der Baustelle arbeiteten, keine Unterkunft: Sie lebten wochenlang ohne Frischluft und Tageslicht im Stollen. Von den 60 000 Häftlingen, die in das KZ Mittelbau-Dora und seine etwa 40 Außenlager deportiert wurden, überlebte etwa ein Drittel nicht. Häftlinge des KZ MittelbauDora bei der Herstellung der V2-Rakete in der Stollenanlage „Mittelwerk“, 1944. Foto: Frentz. (ullstein bild, 395957) Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Jean Mialet aus Frankreich berichtete über die Arbeitsbedingungen im Stollen: Kleine Lokomotiven mit Waggons rollten mit betäubendem Getöse vorbei, die Lokomotive pfiff unentwegt. Ständig liefen Gruppen von vier Häftlingen, die eine Schiene trugen, vorbei. Die Anstrengung ließ ihre Gesichter grinsen. Jeden Meter stand ein Mann, der mit automatischen Bewegungen, starr vor sich hinblickend, mit den Gesichtszügen eines Toten vor sich hinschaufelte. Die Meister brüllten und schlugen. [...] Eine Sprengung wurde vorbereitet. Wenige Minuten später betäubte die Explosion die Ohren der Männer endgültig, und alle verstummten. Die Luft wurde noch schlechter. Zitiert nach: Das KZ Mittelbau-Dora. Katalog zur historischen Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, hg. v. Jens-Christian Wagner, Göttingen 2001, S. 21 f. Der deutsche Häftling Erich Neumann über die Arbeit in den Stollen: In sämtlichen Gängen, Hallen, Stollen und Nebenstollen Tote oder Sterbende und Erschlagene. Alles im Lauftempo. Erbarmungslos wird von der SS hineingeschlagen, um das Tempo zu beschleunigen, mit Gummiknüppeln, Gewehrkolben, Eisenstangen und Holzstücken. Egal, wo der Schlag trifft, ob auf den Kopf, auf Schultern, wahllos – alles zu dem einen Zweck: Produktion der V-Waffen. Zitiert nach: Das KZ Mittelbau-Dora. Katalog zur historischen Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, hg. v. Jens-Christian Wagner, Göttingen 2001, S. 22. 19 20 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Errichtung von Vernichtungslagern Ab 1942 war das KZ-System sowohl durch die Ausbeutung der Häftlinge für die Kriegswirtschaft als auch durch rassistisch motivierten Völkermord geprägt. Während die Konzentrationslager als „Arbeitskräftereservoir“ für die Kriegswirtschaft genutzt und die meist nicht jüdischen Häftlinge gnadenlos ausgebeutet wurden, wurden zur gleichen Zeit Vernichtungslager errichtet und der Völkermord an den europäischen Juden und Jüdinnen sowie den Sinti und Roma vorangetrieben. Chełmno, Bełżec, Treblinka und Sobibór waren „Todesfabriken“, die sich grundlegend von den Konzentrationslagern unterschieden. An diesen Orten wurden fabrikmäßig seit Ende 1941 binnen weniger Monate zwei Millionen Menschen ermordet – polnische Jüdinnen und Juden sowie Sinti und Roma. 21 22 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Errichtung des Vernichtungslagers Chełmno („Kulmhof“) Am 7. Dezember 1941 begann in einem Schloss in Chełmno, 70 Kilometer westlich von Lodz, die systematische Ermordung von Jüdinnen und Juden sowie Sinti und Roma aus dem gesamten so genannten „Warthegau“. 100 Polizisten, die vorher in Tötungsanstalten des „Euthanasie“-Programms eingesetzt waren, bildeten das „Sonderkommando Kulmhof“. Die ankommenden Transporte wurden in Gruppen eingeteilt, in fahrbare Gaswagen getrieben und mit Auspuffgasen ermordet. KZ-Häftlinge mussten die Leichen in einem Wald verscharren bzw. ab Sommer 1942 in Feldkrematorien verbrennen. Im März 1943 waren nahezu alle Jüdinnen und Juden aus dem Warthegau ermordet; Schloss und Verbrennungsöfen wurden gesprengt und das „Sonderkommando Kulmhof“ nach Jugoslawien zur Partisanenbekämpfung verlegt. Im Frühjahr 1944 kehrte das Kommando zurück, um mit fahrbaren Gaskammern die letzten Überlebenden des Gettos Lodz zu ermorden. Geflohene Häftlinge konnten die polnische Untergrundarmee informieren, so dass der polnischen Exilregierung seit Juni 1942 die Massenmorde an über 150 000 Männern, Frauen und Kindern bekannt waren. Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) „Szlamek“, ein Häftling, der als Totengräber im Vernichtungslager Chełmno arbeiten musste, gelang im Januar 1942 die Flucht in das Warschauer Getto. Dort wurde sein Bericht niedergeschrieben, aus dem Getto geschmuggelt und 1943 in New York veröffentlicht. Aus dem Bericht: Das Fahrzeug hatte eine besondere Konstruktion. Es sah ungefähr so aus: Es war so groß wie ein normales Lastauto, in grauer Farbe, das mit zwei Türen hinten hermetisch abgeschlossen war. Sein Innenraum war mit Blech ausgeschlagen, es hatte keine Sitzplätze, auf dem Boden lagen Holzroste, wie in einem Baderaum, und darauf lag eine Strohmatte. Zwischen dem Aufbau und der Fahrerkabine befanden sich zwei kleine Scheiben, durch die man mit elektrischen Lampen nachgesehen hat, ob die Opfer schon tot sind. [...] Aus dem Lastauto wurden die Vergasten wie Abfall auf einen Haufen geworfen. Sie wurden an den Beinen oder an den Haaren geschleppt. Oben standen zwei SS-Männer, die die Leichen in die Grube hinunterwarfen, und in der Grube standen zwei andere Männer, die sie aufschichteten und die Leichen mit dem Gesicht zur Erde legten. Zitiert nach: Manfred Struck (Hg.): Chelmno/Kulmhof – ein vergessener Ort des Holocaust?, Bad Honnef 2001, S. 59 f. 23 24 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Vernichtungslager Sobibór, Bełżec und Treblinka Im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ wurden über zwei Millionen polnische Jüdinnen und Juden aus dem „Generalgouvernement“ in den Vernichtungsstätten Sobibór, Bełżec und Treblinka ermordet. Diese drei Lager waren mit ihrer Größe von 400 mal 600 Metern eher klein und mit wenigen Baracken ausgestattet, denn es wurden nur wenige Menschen benötigt, um in einem festgelegten Verfahren den Massenmord zu begehen: pro Lager waren es 20 bis 30 deutsche SS-Männer, 100 sowjetische Kriegsgefangene sowie 200 bis 300 KZ-Häftlinge, die in regelmäßigen Abständen ebenfalls ermordet und durch neue Häftlinge ersetzt wurden. Die drei Lager befanden sich an abgelegenen Orten in den Distrikten Lublin und Warschau, waren aber auf dem Schienenweg erreichbar. Wie in Chełmno erfolgte der Massenmord in den drei Lagern nach festgelegten Abläufen. Güterzüge brachten die Deportierten in die Lager. Zwischen ihrer Ankunft und ihrem Tod in den Gaskammern lagen nur Minuten. Stunden später waren die Leichen bereits verbrannt oder in Massengräbern verscharrt und die Kleider und Wertgegenstände in das Magazin gebracht. In den Lagern, die im Frühjahr und Sommer 1942 eingerichtet worden waren, wurde bis Ende des Jahres fast die gesamte jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements ermordet: in Sobibór 150 000 bis 250 000, in Bełżec über 430 000 und in Treblinka mindestens 900 000 Menschen. Anschließend wurden bis zum Sommer 1943 alle Spuren der dort begangenen Verbrechen systematisch beseitigt. Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Zeichnung von Samuel Willenberg, einem Überlebenden des Vernichtungslagers Treblinka, zeigt das Auffanglager, die Entkleidungsbaracken, den Sortierungsplatz und die Rampe mit ankommenden Gefangenen. In der Mitte des Platzes sind die Kleidung und der Besitz der Ermordeten gestapelt. Aus: Samuel Willenberg: Surviving Treblinka, Oxford u.a. 1989. 25 26 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Am 14. Oktober 1943 konnten bei einem Aufstand in Sobibór etwa 300 Gefangene fliehen. 46 von ihnen überlebten das Ende des Krieges, darunter Thomas Blatt, der als 15-Jähriger mit seiner Familie nach Sobibór verschleppt worden war. Über den Aufstand schrieb er: Alles machte den Eindruck eines ganz normalen Tages. Im Hof standen ahnungslose Häftlinge Schlange und warteten auf ihre Ration Kaffee und Brot. [...] Um 18 Uhr würde wie gewöhnlich das deutsche Personal eintreffen, um den Abendappell abzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt würde man die Abwesenheit der anderen SS-Leute [die von den Aufständischen getötet worden waren] bemerken und Alarm schlagen. [...] Die Menge der Häftlinge, die aus einem Großteil der europäischen Nationen mit den unterschiedlichsten Sprachen stammten, begriffen jetzt, was geschehen war. [...] Eine kleine Gruppe stürmte die Zäune von Lager I, riß wie besessen mit Äxten und Schaufeln den Stacheldraht nieder [...]. Die zweite, größere Gruppe, die verschiedene Waffen bei sich trug, bahnte sich ihren Weg zum Ausgang von Lager I, um zum Haupttor zu gelangen. [...] Gewehrkugeln sausten dicht an meinem Ohr vorbei. Vor mir starb ein Freund, dann stürzten weitere Häftlinge zu Boden. [...] Es war uns lieber, auf der Stelle zu sterben, als noch einen Augenblick länger in dieser Hölle zu bleiben. Aus: Thomas T. Blatt: Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór, Berlin 2000, S. 200 ff. Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Lublin-Majdanek Der Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden sowie Sinti und Roma fand ab 1942 auch in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Lublin-Majdanek statt. Auschwitz-Birkenau wurde zu einem riesigen Lagerkomplex erweitert: Ende des Jahres 1942 trafen monatlich etwa 20 000 Menschen ein. 1944 war die Höchstbelegung mit über 100 000 Häftlingen erreicht. Bei ihrer Ankunft wurden sie von SS-Ärzten und Angehörigen des Kommandanturstabes selektiert, etwa 80 % wurden sofort in den Gaskammern ermordet. Die Menschen, die die SS als „arbeitsfähig“ einstufte, überlebten oftmals aufgrund der unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen nur wenige Wochen oder Monate. Mit mindestens 1,1 Millionen Toten war Auschwitz das größte Vernichtungslager. Von den 960 000 Menschen, die unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurden, waren die meisten Jüdinnen und Juden, 70 000 bis 75 000 waren Polinnen und Polen, 21 000 waren Sinti und Roma und 15 000 sowjetische Kriegsgefangene. Ähnlich wie Auschwitz-Birkenau war das KZ Lublin-Majdanek seit Mitte 1942 gleichzeitig Vernichtungs- und Arbeitslager. Insgesamt starben dort etwa 78 000 Frauen, Männer und Kinder in den Gaskammern sowie an Hunger, Seuchen und Entkräftung, darunter etwa 60 000 Jüdinnen und Juden. Im November 1943 führte die SS die „Aktion Erntefest“ durch, bei der ca. 42 000 Jüdinnen und Juden des Distrikts Lublin ermordet wurden. Allein im KZ Lublin-Majdanek wurden in neun Stunden 18 000 Menschen erschossen. 27 28 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die SS zwang die Häftlinge des so genannten „Sonderkommandos“, ihre Mithäftlinge zu den Gaskammern zu führen und sie nach der Ermordung in Gruben oder Krematorien zu verbrennen. Nur wenige der zu diesen Arbeiten eingesetzten 400 bis 1000 Männer überlebten Auschwitz. Leon Cohen, der im November 1943 als 33-Jähriger nach Auschwitz deportiert wurde, berichtete über das „Sonderkommando“: Was hätten Sie an meiner Stelle getan? Ich hatte doch keine andere Wahl. Ich hätte mich nicht anders verhalten können. Zu jener Zeit hatten wir keinerlei Gefühl, waren völlig leer. Wir hatten unsere Herzen verschlossen, hatten nichts Menschliches mehr an uns. Wir arbeiteten wie Maschinen. Wir waren Menschen ohne menschliche Gefühle. Wir waren richtige Tiere, keine Menschen. Das ist schrecklich, aber so war es – eine Tragödie. Zitiert nach: Gideon Greif: Wir weinten tränenlos ... Augenzeugenberichte der jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz, Köln 1995, S. 280. Der Bau des Krematoriums IV in Auschwitz-Birkenau im Winter 1942/43. Foto: Kamann, SS. (APMO, Nr. 20995/502) Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Die Räumung der Konzentrationslager Mit dem Näherrücken der Fronten wurden nach und nach KZ-Hauptlager und ihre Außenlager geräumt und aufgelöst. Oftmals vernichtete die SS Akten und beseitigte Spuren ihrer Verbrechen. 1944 begann die Räumung der Konzentrations- und Arbeitslager in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und die Verschleppung der Häftlinge Richtung Westen. Im Herbst 1944 wurden das KZ Natzweiler und das KZ Vught (Herzogenbusch) in den Niederlanden „evakuiert“. Viele Häftlinge starben während der Transporte. „Marschunfähige“ Häftlinge wurden erschossen oder durch Giftinjektionen getötet. Auf tage- und wochenlangen Irrfahrten in Güterzügen oder auf Fußmärschen („Todesmärschen“) gelangten die KZ-Häftlinge in Lager, die im Reichsgebiet lagen. Oftmals wurden sie in KZ-Außenlagern untergebracht, die zum Teil erst kurz zuvor provisorisch errichtet worden waren und in denen primitivste Lebensbedingungen herrschten. Mit dem Näherrücken der alliierten Truppen wurden auch Lager im Reichsgebiet geräumt und die Häftlinge in andere Lager getrieben. Im Zuge der Lagerräumungen und „Todesmärsche“ kamen mindestens 200 000 Häftlinge ums Leben. 29 30 Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Joanna Kiaca-Fryczkowska berichtete über den Fußmarsch von einem Außenlager des KZ Neuengamme in Salzgitter über Celle in das KZ Bergen-Belsen: Wir gingen zu Fuß, ohne Trinken und Essen, ausgezehrt durch die vorherige schwere Arbeit und Unterernährung. [...] Ich weiß nicht mehr, ob wir zwei oder drei Tage marschiert sind. Wir wußten nicht, wohin. Wir übernachteten im Walde, legten uns auf gesammeltes Unterholz und schliefen [sofort] ein, furchtbar erschöpft. Nachts aber konnten weder wir noch unsere Wächter vor Kälte schlafen. Die Tage waren dann warm und sonnig. Der Durst quälte uns am meisten. [...] Jeder Tag schlimmer als der vorherige. Mit jedem Tag wuchs die Erschöpfung und schwanden die Kräfte. Es war verboten, den Marsch zu verlangsamen, sich in den Gräben hinzusetzen. Dies war meist gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Wir wußten, was die Schüsse am Ende der Kolonne bedeuteten. Zitiert nach: Katharina Hertz-Eichenrode (Hg.): Ein KZ wird geräumt. Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945, Bd. 1, Bremen 2000, S.163. Das KZ-System in der Kriegszeit (1939–1945) Józef Łapiński, der dem polnischen Widerstand angehörte, wurde 1941 verhaftet und 1943 in das KZ Stutthof überstellt, wo er bis Kriegsende inhaftiert blieb. Seine Zeichnung zeigt Häftlinge auf einem „Todesmarsch“. (ASt, MSt-I-2-66) 31