7 Siemens Alltag während der Berlin-Blockade

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CHRISTINA SIEMENS
Alltag während der Berlin-Blockade 1948/49
Die Auswirkungen der Luftbrücke auf die Ernährung der Westberliner
Einleitung
„Dann kam es zur Luftbrücke. Das ging am Anfang ziemlich langsam, und ein paar Vorräte waren ja auch noch in der Stadt. Es gab wenig zu essen, und im Winter hatten wir
nichts, um zu heizen. Strom gab es auch nicht, bestenfalls zwei Stunden am Vormittag und
mal zwei Stunden in der Nacht.“1
Mit diesen Worten beschreibt Gerda Spitz die Anfänge der Berlin-Blockade, ausgelöst durch
die sowjetische Besatzungsmacht, die am 23. Juni 1948 die Schienen-, Straßen- und
Wasserwege nach West-Berlin sperrt. Desweiteren unterbricht die Sowjetunion die
Stromversorgung und stellt die Lebensmittellieferungen zu den West-Sektoren ein. Zu diesem
Zeitpunkt ist die junge Frau gerade 30 Jahre alt. Sie ist eine von über zwei Millionen WestBerlinern, die in der blockierten Stadt Monate voller Not, Angst und Entbehrungen erleben.
Versorgt wird die belagerte Millionenstadt von den Westmächten lediglich über den Luftweg
mit dem absolut Lebensnotwendigen. Folglich hat die Blockade Berlins Auswirkungen auf
alle Bereiche des Alltags der Menschen. „Die Umwälzungen wurden ein Teil des alltäglichen
Lebens, und das Anormale wurde eine Selbstverständlichkeit.“,2 erklärt Rut Brandt, eine
weitere Zeitzeugin.
Zu einer Selbstverständlichkeit wird im Zuge der bisher größten Luftbrückenoperation für die
Menschen unter anderem der herrschende Krach über Berlin. Monatelang befinden sich
mindestens drei schwerbeladene Flugzeuge zu jeder Tages- und Nachtzeit auf dem Einflug zu
den drei Westberliner Flughäfen Tegel, Tempelhof und Gatow. Das Dröhnen der Luftfrachter
hört nie auf, falls doch, werden die Menschen unruhig.3 Bei Rut Brandt löst der Krach der
Flugzeugmotoren ein Gefühl der Sicherheit aus: „Die Luftbrücke geriet zur beruhigenden
Lärmkulisse, mit der man lebte und schlief. Man wachte nachts auf, wenn es still wurde, weil
die Flüge aus irgendeinem Grund unterbrochen worden waren.“4
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die vorliegende Hausarbeit im Rahmen der Veranstaltung Globale Krisen - lokaler Alltag: Kulturwissenschaftliche Perspektiven mit dem Thema Alltag während der Berlin-Blockade 1948/49. Ziel dieser Arbeit ist es, herauszufinden,
inwiefern die Berlin-Blockade den Alltag der Menschen beeinflusst. Dabei wird der Fokus auf
das Verhalten der Menschen und ihren Umgang mit der Krisensituation im alltäglichen Leben
gelegt. Diese Forschungsfrage wird exemplarisch anhand der Auswirkungen der Luftbrücke
auf die Ernährung der West-Berliner vertieft.
Zunächst wird das Thema dieser Arbeit in den volkskundlichen Fachkontext eingeordnet sowie ein Überblick über den Forschungsstand gegeben. Anschließend werden die Begriffe Kri1
Prell, Uwe / Wilker, Lothar: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49. Analyse und Dokumentation. Berlin
1987, S. 121.
2
Brandt, Rut: Freundesland. Erinnerungen, 3. Aufl. Hamburg 1992, S. 99.
3
Vgl. Arnold-Forster, Mark: Die Belagerung von Berlin. Von der Luftbrücke bis heute. Berlin / Frankfurt 1980,
S. 113.
4
Brandt: Freundesland (1992), S. 99.
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KulTour 23/2012
se und Alltag definiert. Der Hauptteil wird durch einen geschichtlichen Hintergrund eingeleitet. Nach einer allgemeinen Beschreibung der Alltagssituation der West-Berliner vertieft die
vorliegende Arbeit in diesem Kontext den Aspekt der Ernährung durch die Luftbrücke. Hierbei geht es um die Problematik der Trockennahrung und Möglichkeiten der zusätzlichen Nahrungsmittelbeschaffung. Letztlich wird das Fazit gezogen.
Fachkontext und volkskundlicher Forschungsstand
Seit ihren Anfängen befasst sich die Volkskunde mit Alltäglichem.5 Dabei geht es „um die
Erkenntnis des Alltagslebens, das mit all seinen Facetten als Alltagskultur zum Ausdruck
kommt“.6 Laut Kaschuba können „im Raum des ‚Alltäglichen‘ die Orte und Situationen sozialen Lebens“7 beobachtet werden. In diesem Kontext lässt sich die Untersuchung der Auswirkungen der Berlin Blockade auf den Alltag der Menschen innerhalb der Volkskunde verorten.
Da der Begriff Alltag einen weiten Bereich umfasst,8 legt die Verfasserin den Schwerpunkt
innerhalb dessen auf die Betrachtung der Lebensmittelversorgung während der BerlinBlockade. Die Ernährung nimmt „als täglich wiederkehrende[r] Handlung zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten sozialen Raum“9 eine wichtige Position im alltäglichen Leben ein. Innerhalb der Volkskunde lässt sich die Analyse der Ernährung dem Bereich der
ethnologischen Nahrungsforschung zuordnen. Diese fasst die „Ernährung als eine Form des
sozialen Handelns“ auf und analysiert sie „als ein kulturelles System“.10 Dabei wird die Nahrung „unter dem spezifischen Aspekt eines Kulturguts betrachtet.“11 Die volkskundliche Nahrungsforschung sieht die Mahlzeit „als Grundeinheit und Ausgangspunkt ethnologischer Betrachtungen“12 an. Besonders relevant für die vorliegende Arbeit ist der Aspekt, dass Kriege
und wirtschaftliche Krisen starke Ernährungsmängel bei der Bevölkerung bedingen.13
Im Rahmen dieser Arbeit soll der Alltag und die Ernährungssituation der West-Berliner zu der
Zeit der Berlin-Blockade, einer Krisensituation, untersucht werden. Innerhalb der Volkskunde
beschäftigen sich zwar aktuell einige Forscher mit dem Thema Krise sowie Katastrophe,14 die
volkskundliche Krisenforschung wird allerdings bislang nicht unter den kanonisierten Forschungsbereichen des Fachs in den Einführungswerken aufgeführt.15
An dieser Stelle möchte die Verfasserin anmerken, dass das Thema Luftbrücke innerhalb der
Volkskunde bisher kaum bearbeitet wurde. Daher erfordert die literaturbasierte Analyse dieses Gegenstandes die Rezeption fachübergreifender Lektüre. Aus diesem Grund dient Literatur unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche, die insbesondere aufgrund der enthaltenen Dokumente, Zeugnisse, Bilder und teilweise Interviews mit Zeitzeugen von Interesse sind, als
Quelle dieser Arbeit und wird unter der kulturanthropologischen Fragestellung betrachtet.
5
Vgl. Jeggle, Utz: Alltag. In: Hermann Bausinger et al. (Hg.): Grundzüge der Volkskunde, 4. durchgesehene und
um ein Vorwort erweiterte Aufl. Darmstadt 1999, S. 88.
6
Gerndt, Helge: Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volkskundliche Markierungen. Münster
u.a. 2002, S. 239.
7
Kaschuba, Wolfgang: Einführung in die Europäische Ethnologie. 3. Aufl. München 2006, S. 115.
8
Vgl. ebd., S. 126.
9
Tolksdorf, Ulrich: Nahrungsforschung. In: Rolf W. Brednich (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in
die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl. Berlin 2001, S. 239.
10
Ebd., S. 240.
11
Ebd., S. 240.
12
Ebd., S. 241.
13
Vgl. ebd., S. 245.
14
Vgl. Themenheft Katastrophenforschung. Volkskunde in Rheinland-Pfalz 22 (2007).
15
Vgl. Brednich, Rolf W.: Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen
Ethnologie, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl. Berlin 2001.
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Die Verfasserin möchte an dieser Stelle kritisch darauf hinweisen, dass bei den Gesprächen
mit Zeitzeugen, die in dem Band Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49. Analyse und Dokumentation abgedruckt sind, nicht nachvollziehbar ist, wann die Interviews geführt wurden.
Für die Auswertung des erhobenen Materials ist die Information, wie weit das Erlebte für die
Befragten zurückliegt, jedoch von großer Bedeutung. Bekannt ist allerdings, dass Uwe Prell,
einer der beiden Herausgeber des Bandes, die Interviews geführt hat, desweiteren sind biografische Angaben zu den Interviewpartnern gegeben. Da die Herausgeber das Thema Luftbrücke
insgesamt wissenschaftlich bearbeiten, werden die Zeitzeugenaussagen, trotz des oben genannten Kritikpunktes, in dieser Arbeit zitiert.
Begriffsdefinition
Krise
Der Begriff Krise wird in der Alltagssprache inflationär gebraucht und meint in der populär
sprachlichen Verallgemeinerung meist eine „schwierige Situation“.16 Die Verwendung des
Ausdrucks im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit erfordert daher eine problemorientierte Definition. Da bislang keine volkskundliche Festlegung des Begriffs Krise existiert, werden
im Folgenden fachübergreifende Erklärungen dessen diskutiert.
Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert Krise als „eine über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems.“17 Wobei diese zugleich die Möglichkeit zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung beinhaltet.18 Da der Alltag innerhalb der Volkskunde eine zentrale Rolle einnimmt, muss diese Definition aus volkskundlicher Perspektive um die Beeinträchtigung
des Alltags der Menschen erweitert werden, die eine Krisensituation auslöst. Aus der Enzyklopädie der Neuzeit geht hervor, dass eine Krise „Gefühle von Ungewissheit bis hin zu Gefahr
assoziiert und zugleich einen Appell zu sofortigem Handeln impliziert“.19
Übertragen auf die Berlin-Krise lässt sich demzufolge festhalten, dass die Blockade WestBerlins eine massive Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens der Menschen hervorruft. Sie
stellt eine politische, wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Ausnahmesituation dar, die
schwer beherrschbar scheint und daher von den Menschen als Gefahr empfunden wird. Ferner
erfordert die Berlin-Krise konkrete Handlungsentscheidungen von den Westmächten als auch
den Berlinern.
Alltag
Die Verwendung des weiten Begriffs Alltag erfordert im Rahmen einer wissenschaftlichen
Arbeit eine präzise Definition. Wie bereits erwähnt, stellt der Alltag von Menschen ein zentrales Thema innerhalb der Volkskunde dar. Aus diesem Grund lassen sich diverse Definitionen
zu diesem Begriff innerhalb des Faches finden.
Gerndt definiert Alltag als „das ‚Normale‘, das Selbstverständliche und Gewöhnliche, das in
Abwandlungen stets Wiederholte“.20 Kaschuba bezeichnet die Alltagswelt „als den jeweils
16
Paul, Hermann: Art. Krise. In: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres
Wortschatzes, 10. überarbeitete und erweiterte Aufl. Tübingen 2002, S. 570.
17
Schubert, Klaus / Klein, Martina: Art. Krise. In: Das Politiklexikon, 4. aktualisierte Aufl. Bonn 2006, S. 179.
18
Vgl. Schubert: Art. Krise (2006), S. 179.
19
Ramonat, Oliver: Art. Krise. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7. Stuttgart 2008, Sp. 227.
20
Gerndt: Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung (2002), S. 239.
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konkreten Ort und die konkrete Zeit […], in denen Kultur ‚gelebt‘ und zugleich beobachtet
wird“.21 Ferner zeigen sich in den Mikrostrukturen des Alltags und in den Handlungslogiken
seiner sozialen Akteure die Wirkungen des kulturellen Bedeutungsgewebes.22
In einer Krisenzeit wird die „problemlose, normale, wiederholbare, sicher auch mühevolle,
aber auch darin akzeptable und akzeptierte Routinewirklichkeit“ des Alltags „plötzlich unvertraut“.23 Das Selbstverständliche „wird schwierig, fremd, bedrohend“.24 Diese beschriebene
Veränderung des Alltags wird auch bei der Berlin-Blockade deutlich, da sich „das ‚Normale‘“25 schlagartig für die Bevölkerung wandelt. Dennoch wiederholen sich neue Gegebenheiten innerhalb der Krisensituation regelmäßig und werden somit wiederum zu einer Selbstverständlichkeit. Dementsprechend formiert sich ein neuer Alltag innerhalb der Krise.
Analytische Erarbeitung
Historischer Kontext
Die Luftbrücke, Juni 1948 bis Oktober 1949, bildet die erste große Schlacht im Kalten Krieg.
Anfang Juni 1948, drei Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, herrscht ein offener Konflikt
zwischen den vier Siegermächten, bestehend aus Amerika, Großbritannien, Frankreich und
der Sowjetunion, darüber wie es mit Deutschland weitergehen soll.26 Die Westalliierten
wollen aus ihren Zonen einen separaten Staat nach westlichem Vorbild schaffen. Moskau
dagegen fordert die Einheit eines kommunistischen Deutschlands. Aufgrund des
unterschiedlichen Demokratieverständnisses der Besatzungsmächte, scheitert eine
gemeinsame Besatzungspolitik.27
Dabei gerät die Vier-Mächte-Stadt Berlin in den Brennpunkt des Konflikts. Mitte Juni
kündigen die Westmächte für ihre amerikanische, britische und französische Zone eine
Währungsreform an und treiben damit die Bildung eines demokratischen Separatstaates
voran. Moskau kündet im Gegenzug eine eigene Währungsreform für Ostdeutschland und
ganz Berlin an, die Westsektoren demzufolge eingeschlossen. Daraufhin führt USBefehlshaber, General Clay, für West-Berlin die Bärenmark ein, bestehend aus alten
Reichsmarkscheinen, auf die ein B gestempelt wird.28
Im Zuge des Währungskrieges verkündet die sowjetische Seite am 23. Juni 1948 die Sperrung
der Zufahrtwege nach West-Berlin. Es gibt keine Verträge oder Abkommen, die die freie
Fahrt auf den Straßen-, Schienen und Wasserwegen durch die Ostzone garantieren.29 Daher
kann die Sowjetunion die Straßen- und Bahnstrecken, Kanäle und Flüsse zu dem Westsektor
blockieren. Darüber hinaus stellen die Sowjets die Stromlieferung ein, da West-Berlin über
die Elektrizitätswerke in der Ostzone versorgt wird.30 Die Westmächte haben nur eine
Möglichkeit das isolierte West-Berlin zu versorgen, diese besteht in der Errichtung einer
21
Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie (2006), S. 125.
Vgl. ebd., S. 125.
23
Jeggle: Alltag (1999), S. 81.
24
Ebd., S. 81.
25
Gerndt: Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung (2002), S. 239.
26
Vgl. Prell: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49 (1987), S. 16.
27
Vgl. ebd., S. 18.
28
Vgl. König, Guntram / Biedermann, Bernd: Frontstadt Berlin. Vom Potsdamer Abkommen bis zum Mauerbau
(Dokumente, Fakten, Zeugnisse und Bilder). Aachen 2010, S. 52.
29
Vgl. Op de Hipt, Ulrich: Rosinenbomber. Luftbrücke in der Berlin-Blockade. Bonn 1996, S. 14.
30
Vgl. König: Frontstadt Berlin (2010), S. 54.
22
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Luftbrücke. Dafür nutzen die Alliierten die drei vertraglich festgelegten Luftkorridore nach
West-Berlin. Am 26. Juni startet die Operation Luftbrücke.31 Täglich versorgen
amerikanische und britische Flugzeuge über zwei Millionen Menschen mit Lebensmitteln,
Kohle und Rohstoffen.32 Am 27. Tag der Blockade bietet die Sowjetunion die Übernahme der
Versorgung von West-Berlin an. Die Bewohner des Westsektors haben damit die
Möglichkeit, Lebensmittelkarten des Ostsektors zu beziehen. Dieses Angebot nehmen
lediglich drei Prozent der West-Berliner im Herbst und Winter an.33
Nachdem West-Berlin auch den Winter mit der Luftbrücke übersteht und die Westmächte
sogar in der Lage sind, die täglichen Tonnagen zu steigern, sieht Stalin ein, dass die
sowjetische Blockade gescheitert ist und die Westalliierten ihre Sektoren nicht aufgeben
werden.34 Am 12. Mai 1949 öffnet die Sowjetunion wieder die Zufahrtswege nach
Westberlin.35 Wenige Tage nach der Blockadeaufhebung setzt die sowjetische Seite jedoch
erneut kleinere Behinderungen des Verkehrs als Druckmittel ein. Aus Sicherheitsgründen
führen die Westmächte daher die Luftbrücke bis zum 30. September 1948 weiter.36 Insgesamt
verlieren achtundsiebzig Menschen ihr Leben während der Blockade, darunter befinden sich
überwiegend amerikanische und britische Piloten.37
Alltag während der Blockade
Bereits wenige Tage nach Beginn der Blockade spürt die Bevölkerung deren Auswirkungen.
Drastische Einsparungen sind nötig, da die Kohlenvorräte der Kraftwerke lediglich zehn Tage
und die Lebensmittelvorräte einen Monat reichen.38 Daher müssen die West-Berliner in allen
Bereichen des alltäglichen Lebens erhebliche Einschränkungen hinnehmen. Insbesondere
Brennstoffe sind für den privaten Bedarf knapp bemessen. Die Kälte des Winters von 1948
auf 1949 wird von den Berlinern, in ihren durch den Krieg zerstörten Häusern, als besonders
hart empfunden.39 Die wöchentliche Kohlezuteilung, die die Menschen in einer
Einkaufstasche heimtragen können, reicht nicht aus, um eine Familie eine Woche lang zu
wärmen. Die Menschen werden in ihrer Not einfallsreich und suchen Holz in Ruinen und
Bombentrichtern, verstreute Kohlen auf den Flugplätzen und entlang der Gleise. 40 Letztlich
müssen als Vorbereitungsmaßnahme auf den Winter 1948 etliche Bäume aus Berlins
Wäldern, Straßen und Hinterhöfen gefällt werden.41
Auch die verfügbaren Stromstunden werden streng rationiert. Private Haushalte erhalten
lediglich jeweils zwei Stunden am Tag und in der Nacht Strom.42 Die Hausfrauen passen sich
den neuen Umständen an und richten die Erledigung der Hausarbeit nach den verfügbaren
Stromstunden. „Damit man in der Nacht, wenn es Strom gab, aufwachte, knipste man das
Licht an. Natürlich wachte man dann auf und machte, was man wollte, Hemden plätten oder
kochen. Aber nachts um drei können Sie kein „Mittagbrot“ essen. Man ist müde, und es
31
Vgl. Op de Hipt: Rosinenbomber (1996), S. 14.
Vgl. König: Frontstadt Berlin (2010), S. 56.
33
Vgl. Prell: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49 (1987), S. 42.
34
Judt, Tony: Die Geschichte Europas seit dem zweiten Weltkrieg. München; Wien 2006, S. 175.
35
Vgl. Op de Hipt: Rosinenbomber (1996), S. 38.
36
Vgl. König: Frontstadt Berlin (2010), S. 298.
37
Vgl. Arnold-Forster: Die Belagerung von Berlin (1980), S. 117.
38
Vgl. Prell: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49 (1987), S. 39.
39
Vgl. Arnold-Forster: Die Belagerung von Berlin (1980), S. 113.
40
Vgl. Op de Hipt: Rosinenbomber (1996), S. 32.
41
Vgl. Arnold-Forster: Die Belagerung von Berlin (1980), S. 120.
42
Vgl. Op de Hipt: Rosinenbomber (1996), S. 32.
32
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schmeckt einfach nicht.“43 Wie Gerda Spitz es beschreibt, werden die nächtlichen
Stromstunden dazu genutzt Wäsche mit warmem Wasser zu waschen, zu bügeln und das
Essen vorzukochen. Die Speisen werden anschließend in Kochkisten oder unter die Bettdecke
gestellt, um sie über Stunden hinweg lauwarm zu halten.44 In der Krisenzeit werden
Thermosflaschen zu Kostbarkeiten, die Wasser oder Kaffee über die stromlose Zeit warm
halten.45 Aufgrund der langen Stromsperren tagsüber bietet auch der Friseur seine
Dienstleistung zu den Stromstunden in der Nacht an.46
Ferner erlangen Kerzen sowie Handgeneratoren zur Stromerzeugung und Gaslampen in der
Krisenzeit für die West-Berliner einen hohen Wert, da sie eine alternative Notlösung
darstellen, in der stromlosen Zeit Licht zu erhalten, um beispielsweise Zeitung lesen zu
können. Die westlichen Besatzungsmächte achten darauf, ausreichend Zeitungen einzufliegen,
damit die freie Presse in Berlin aufrecht erhalten bleibt und sich die Menschen über die
aktuellen Geschehnisse informieren können.47 Da die Berliner in der stromlosen Zeit kein
Radio hören können, ersetzen die durch die Straßen fahrenden Lautsprecherwagen des RIAS
den Nachrichtendienst. Der Name RIAS ist die Abkürzung der ursprünglichen Bezeichnung
Radio in the American Sector und stellt in den Westsektoren Berlins den Hauptsender dar.48
Aufgrund des Strommangels schränken auch die U-Bahnen und Straßenbahnen den Verkehr
ein und fahren verkürzt zwischen sechs und 18 Uhr.49
In ganz West-Berlin herrscht materielle Not, da die Lebensmittel streng rationiert und
Betriebe aufgrund des mangelnden Stroms still gelegt werden müssen. Von Juni 1948 bis Mai
1949 steigt die Arbeitslosenzahl um 250 Prozent, das heißt nahezu 15 Prozent der
Bevölkerung ist arbeitslos.50
Nach dieser Beschreibung der Alltagssituation der West-Berliner wird im Folgenden die
Umstellung der Ernährungsweise der Menschen im Zuge der Luftbrückenversorgung
betrachtet.
Lebensmittelversorgung über die Luftbrücke
Neben all den Einschränkungen im Alltag trifft die Berliner Bevölkerung die karge
Versorgung mit Lebensmitteln am härtesten. Dabei fehlt es weniger an den
Grundnahrungsmitteln als an frischem Obst, Gemüse und Fleisch. Die tägliche Ration der
meisten Berliner mit der Lebensmittelkartengruppe III besteht aus 400 Gramm Brot, 400
Gramm Trockenkartoffeln, 40 Gramm Nährmittel, 20 Gramm Zucker, 40 Gramm Fleisch und
10 Gramm Fett. Damit erreichen die Menschen im Juni 1948 rund 1570 Kalorien pro Tag.
Durch geringe Zugaben an Nährmittel, Fett, Zucker und 5 Gramm Käse kann im November
desselben Jahres eine Steigerung der täglichen Kalorienzahl auf knapp 1850 Kalorien erreicht
werden.51 Auch dieser Wert liegt unterhalb des täglichen Kalorienverbrauchs eines
erwachsenen Menschen, der durchschnittlich, je nach Körpergröße und Gewicht variierend,
bei 2000 bis zu 2200 Kalorien liegt.
43
Prell: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49 (1987), S. 121.
Vgl. Keiderling, Gerhard: „Rosinenbomber“ über Berlin. Währungsreform, Blockade, Luftbrücke, Teilung.
Die Schicksalsvollen Jahre 1948/49. Berlin 1998, S. 239.
45
Vgl. Arnold-Forster: Die Belagerung von Berlin (1980), S. 116.
46
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 239.
47
Vgl. Arnold-Forster: Die Belagerung von Berlin (1980), S. 116.
48
Vgl. ebd., S. 123.
49
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 23.
50
Vgl. Op de Hipt: Rosinenbomber (1996), S. 28.
51
Vgl. Liebe, Hans: Die Ernährung. In: Berlins Wirtschaft in der Blockade 3 (1949), S. 24.
44
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Trockennahrung statt Frischkost
Mit dem Beginn der Blockade wird von den West-Berlinern „eine einschneidende Umstellung
in den Ernährungsgewohnheiten verlangt“.52 Im Zuge der Luftbrücke müssen sie sich mit
entwässerter, das heißt getrockneter Nahrung abfinden.53 Über den Luftweg werden die
Lebensmittel durchweg in gewichtssparender Form, demzufolge konserviert oder getrocknet
aus den USA und Großbritannien eingeflogen. Unter anderem werden Trockenkartoffeln,
Dörrgemüse, Dörrobst, Ei- und Milchpulver, Hülsenfrüchte, Maismehl, Büchsenfleisch,
Tubenkäse sowie altbackenes kanadisches Weizenbrot geliefert.54
Der Ersatz der beliebten Frischkartoffel durch entwässertes Kartoffelpulver, das bis zu 40
Prozent leichter ist, weniger Frachtraum beansprucht und somit den Luftbrückentransport
entlastet,55 macht den Berlinern besonders zu schaffen. Gerda Spitz erinnert sich an das
Kartoffelpulver POM:
„Die ersten Trockenkartoffeln waren besseres Schweinefutter. Die haben gestunken, das
können Sie sich nicht vorstellen. Die konnte man nur mit langen Zähnen essen. Die
Schnitzel, die in so einer Packung waren, wurden gekocht, das gab einen Kartoffelbrei.
Richtige Kartoffeln, Pell- oder Salzkartoffeln, das gab es gar nicht.“56
Der Journalist und Zeitzeuge, Mark Arnold-Foster, beschreibt das Kartoffelpulver, als ein
Nahrungsmittel, dass nur in Zeiten der Not gegessen wird. „Niemand, der diese Zeit durchlebt
hat, wird beabsichtigen, je einmal wieder Trockenkartoffeln zu essen.“57
Die Menschen müssen sich jedoch nicht nur bei den Kartoffeln auf Veränderungen einstellen.
Als Zuckerersatz wird der leichtere und künstlich erzeugte Süßstoff Sacharin geliefert. Das
Fleisch wird vor dem Transport nach West-Berlin entbeint, um Gewicht zu sparen und fast
ausschließlich in Dosen geliefert. 58
Insgesamt müssen sich die West-Berliner in der Blockadezeit mit einer konzentrierten und
wenig abwechslungsreichen Standardnahrung abfinden, die den Hausfrauen die Zubereitung
einer sättigenden, abwechslungsreichen Mahlzeit erschwert. Die hochkonzentrierten,
wasserarmen Lebensmittel erfordern demnach einen starken Wandel innerhalb der
Zubereitung.59 Seit dem zweiten Weltkrieg haben die Menschen jedoch gelernt mit Hunger
und Not umzugehen. Die Älteren können sogar auf Erfahrungen aus dem ersten Weltkrieg
zurückgreifen. Daher weiß sich die Bevölkerung auch in der Zeit der Berlin-Krise zu helfen.
Mit Sparrezepten bringen sie auch mit wenigen Zutaten Ersatzspeisen auf den Tisch. Der
Einfallsreichtum der Hausfrauen schafft für alles nicht Vorhandene Ersatz. So wird falsche
Leberwurst mit Hafer zubereitet und dergleichen.60
Vom Brot bis zum Kaffee wird jedes Nahrungsmittel rationiert. Dabei werden besondere
Rationen an Diabetiker, Blutspender, stillende Mütter und die Altersschwachen verteilt.61
Politiker erhalten am Wahltag eine Sonderzuteilung, damit sie den langen Tag überstehen.
Desweiteren heben die Westmächte Feiertage von dem Alltag der Menschen ab, indem sie
52
Ebd., S. 26.
Vgl. Arnold-Forster: Die Belagerung von Berlin (1980), S. 119.
54
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 242.
55
Vgl. Op de Hipt: Rosinenbomber (1996), S. 28.
56
Prell: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49 (1987), S. 122.
57
Op de Hipt: Rosinenbomber (1996), S. 29.
58
Vgl. ebd., S. 119.
59
Vgl. Liebe: Die Ernährung (1949), S. 26.
60
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 242.
61
Vgl. Arnold-Forster: Die Belagerung von Berlin. (1980), S. 119.
53
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Schokolade als besondere Weihnachtszuteilung verschenken. An Ostern geben die Alliierten
neben der Sonderschokolade für die Kinder auch 75 Gramm Kaffee an die Erwachsenen
aus.62 Diese Sonderzuteilungen an Festtagen unterbrechen kurzzeitig den harten Alltag der
West-Berliner und geben den Menschen in der Krisenzeit ein Gefühl der Sicherheit, da sie
trotz der schwierigen Situation auf bewährte Verhaltensmuster zurückgreifen können. Für die
Identitätsbildung der Bevölkerung ist die Wahrung traditioneller Muster von großer
Bedeutung.63
Die Folgen der Trockenkost
Die einseitige Ernährungsweise macht viele Menschen krank.64 Die West-Berliner klagen
über andauernde Müdigkeit, ein Gefühl der Schlappheit und ein fehlendes Sättigungsgefühl.65
Diese Symptome beschreiben die Auswirkungen der getrockneten Nahrung. Den größten
Nachteil der konzentrierten Lebensmittel bildet der Vitaminmangel, da durch den Entzug des
Wassers auch Nährstoffe verloren gehen. Aus diesem Grund müssen die West-Berliner die
unausgewogene Ernährung mittels Vitamintabletten und Lebertran kompensieren.
Häufig ist die beförderte Menge an Fleisch nicht ausreichend. Daher muss die Bevölkerung
den Eiweißbedarf mittels Trockenei decken.66 Aufgrund der mangelnden Fülle und
Ballaststoffe stellt sich desweiteren kaum ein Sättigungsgefühl bei den Menschen ein. Es lässt
sich demnach festhalten, dass die Trockennahrung nicht als vollwertiger Ersatz für Frischkost
angesehen werden kann. Die wasserarmen Nahrungsmittel ermöglichen jedoch den
Westmächten, die Millionenstadt Berlin über die Luftbrücke zu ernähren.67
Möglichkeiten der Zusatzversorgung
Um ihre mageren Rationssätze aufzubessern, bieten sich den Berlinern legale und illegale
Wege. Zum einen stellt das Pflanzen von Gemüse auf Feldern, in Kleingärten und Balkonen
eine zusätzliche Versorgungsmöglichkeit dar. Spendenpakete bieten den Menschen eine
zusätzliche Unterstützung und Schokoladenflieger bereiten den Kindern Abwechslung und
Freude. Illegale Möglichkeiten der Zusatzversorgung bilden der Schwarzmarkt sowie private
Hamsterfahrten.68
Gemüseanbau
Berliner, die einen Schrebergarten, ein Wochenendgrundstück oder einen Vorgarten besitzen,
nutzen das Land, um Kartoffeln, Gemüse und Obst anzubauen.69 Auch die im Ostsektor und
Umland gelegenen Grundstücke bleiben für die West-Berliner während der Krise erreichbar.
Desweiteren wird Pachtland auf stillgelegten Rieselfeldern oder in öffentlichen Anlagen in
Westberlin vergeben. Auf dem Balkon pflanzen sich die Menschen Tomaten, Tabakpflanzen,
62
Vgl. ebd., S. 120.
Vgl. Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute.
Frankfurt; New York 2001, S. 238.
64
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 242.
65
Vgl. Op de Hipt: Rosinenbomber (1996), S. 31.
66
Vgl. ebd., S. 30.
67
Vgl. Liebe: Die Ernährung (1949), S. 27.
68
Vgl. Schmidt, Jürgen: Rote Rüben auf dem Olivaer Platz. Quellen zur Ernährungskrise in der Nachkriegszeit
Berlins 1945-1949. Berlin 2008, S. 27.
69
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 242.
63
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Salat und Küchenkräuter an.70 Gerda Spitz erinnert sich:
„Man hat Sachen angepflanzt, nicht nur im Garten, sondern auch auf dem Balkon. Wir
zogen Tomaten in den Balkonkästen, die wurden zwar nicht sehr groß, aber immerhin. Da
wurde ein Beutel darunter gehängt, daß ja nicht eine der Tomaten auf die Straße fiel.
Jeden Tag wurde bewundert, wie sehr sie schon gewachsen waren.“71
Diese Versorgungsmöglichkeiten fallen mit dem Einbruch der Kälte in den Wintermonaten
weg.72
Schwarzmarkt
Auch der Schwarzmarkt stellt für die Berliner eine Möglichkeit dar, die geringen Rationen
aufzubessern und spaltet zugleich die städtische Bevölkerung bezüglich der moralischen
Vorstellungen. Dort werden Lebensmittel aus dem Osten und Waren aus den Lagern der
Alliierten verkauft. Desweiteren kommen unterschlagene Anteile der Landwirte sowie
Diebstahlgut auf den Markt. Die Beteiligten werden durch ihren Hunger gelenkt und
verdrängen ihr Moral- und Rechtsempfinden.73
Besonders begehrt sind die Zigaretten und Schokolade der Amerikaner auf dem
Schwarzmarkt. Viele können sich die Westmark-Preise jedoch nicht leisten.74 Daher tauschen
die Menschen auch Brauchbares gegen Butter, Schokolade oder andere Kostbarkeiten, sofern
sie nicht von der Polizei erwischt werden.75 Gerda Spitz beschreibt, wie sich der
Schwarzmarkt im Zuge der schärferen Kontrollen und Bestrafungen entwickelt.
„Mit dem Schwarzmarkt war es dann nicht mehr so gut, weil sie die Pakete für die
Soldaten einschränkten. Die Soldaten konnten sich nicht mehr so viele Pakete schicken
lassen, um den Schwarzmarkt zu versorgen. Die brauchten die Sachen nun selber, für sich
und ihre Freundinnen, erst dann kam der Schwarze Markt.“76
Hamsterfahrten
Eine weitere illegale Strategie der Berliner zur Aufbesserung der Rationen stellt das so
genannte Hamstern dar. Darunter wird das Eintauschen von Sachgütern und Dienstleistungen
bei den Bauern der Umgebung gegen Lebensmittel verstanden.77
„Man fuhr natürlich rüber in die Zone und versuchte, Gemüse zu organisieren. Alles, was man
ergattert hatte, kam in einen Topf und wurde gekocht. Eintopf. Eintopf. Eintopf. Oder
Mehlsuppe.“78 Zehntausende Westberliner nutzen wie Gerda Spitz diese Möglichkeit der
Zusatzversorgung.79 Dabei unterscheiden sich zwei Gruppen von Hamsterern. Die einen
fahren mit leeren Rucksäcken und Taschen zu bereits abgeernteten Feldern, um dort
liegengebliebene Kartoffeln, Getreideähren oder Rüben aufzusammeln. Die anderen fahren
mit prall gefüllten Taschen aufs Land, in der Hoffnung Textilien, Porzellan, Tafelsilber oder
70
Vgl. ebd., S. 243.
Prell: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49 (1987), S. 121.
72
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 243.
73
Vgl. Schmidt: Rote Rüben auf dem Olivaer Platz (2008), S. 28
74
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 242.
75
Vgl. Prell: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49 (1987), S. 42.
76
Ebd., S. 121.
77
Vgl. Hirschfelder: Europäische Esskultur (2001), S. 235.
78
Prell: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49 (1987), S. 122.
79
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin. (1998), S. 250.
71
Alltag während der Berlin Blockade 1948/49
KulTour 23/2012
Schmuck gegen Lebensmittel, wie Kartoffeln, Eier oder eine Wurst eintauschen zu können.
Die Rückfahrt ist jedoch gefährlich, wer von den Ostkontrollen erwischt wird, verliert alle
erhamsterten Vorräte.80 Diese Form der zusätzlichen Nahrungsmittelbeschaffung wird zwar
juristisch nicht verfolgt, bleibt jedoch verboten.81
CARE-Pakete
Eine zusätzliche Hilfe für die Bevölkerung in West-Berlin bilden die CARE-Pakete. Diese
gehen daraus hervor, dass 22 Wohlfahrtsorganisationen in Washington am 27. November
1945 eine private Hilfsorganisation gründen, die Cooperative for American Remittances to
Europe. Das Kürzel CARE steht dabei symbolisch für das englische Verb care (sich
kümmern, Sorge tragen). Millionen Bürger der Vereinigten Staaten spenden jeweils zehn
Dollar, mit Hilfe dieser Spendengelder werden Pakete mit Grundnahrungsmitteln
zusammengestellt. Diese werden mit Büchsenfleisch, Büchsenfett, Büchsenkäse, Nährmittel,
Dosenmilch, Zucker, Keksen, Fruchtpudding, Kakao, Schokolade, Kaffeepulver, Erdnüssen,
teilweise sogar mit Zigaretten, Seife, Streichhölzern und Toilettenpapier gefüllt. Während der
Berlin-Blockade werden über 200.000 dieser CARE-Pakete über die Luftbrücke, überwiegend
mit Maschinen von Privatgesellschaften, verschickt. Jedem Paket liegt ein Zettel mit dem
Namen und der Anschrift des Spenders bei. Somit besitzen die Berliner die Möglichkeit sich
bei den Absendern der CARE-Pakete zu bedanken. Auf diese Weise werden häufig
Freundschaften nach Amerika geschlossen.82
Schokoladenbomber
Gail Halvorsen ist der erste amerikanische Pilot, der auf die Idee kommt Süßigkeiten für die
Kinder Berlins von seinem Flugzeug abzuwerfen. In einem Gespräch mit Blockadekindern
erkennt der Pilot, wie reif diese mit der schwierigen Situation umgehen. Er ist beeindruckt
davon, dass die Kinder bereits in so jungen Jahren klare Vorstellungen über die Bedeutung
von Freiheit besitzen.83 Daher verspricht er den kleinen Berlinern bei einem Landeanflug
dicht über den Dächern der Wohnhäuser, Schokoladentafeln und andere Süßigkeiten an vorgefertigten Fallschirmen aus dem geöffneten Cockpit-Fenster abzuwerfen.84 Das vereinbarte
Erkennungszeichen, die wackelnden Trägerflächen seines Flugzeuges, lösen bei den Kindern
Aufregung und Enthusiasmus aus. Sie geben ihm den Namen Onkel Wackelflügel. Bald verbreitet sich die Bezeichnung Schokoladenflieger unter der Bevölkerung. Von amerikanischen
Journalisten wird der Begriff Candy-Bomber, als Anspielung darauf, dass vor wenigen Jahren
noch Bomben über Berlin abgeworfen wurden, übernommen und ins Deutsche mit dem Wort
Rosinenbomber übersetzt.85 Kurz darauf beteiligen sich immer mehr Piloten an Halvorsens
Aktion und es fallen im ganzen Stadtgebiet kleine Süßigkeiten-Fallschirme, aus Taschentüchern gebastelt, für die Kinder aus den Flugzeugen.86 Desweiteren werden sogenannte
Shmoos abgeworfen, diese Art Gutschein können die Finder in einem CARE-Büro gegen ein
80
Vgl. ebd., S. 251.
Vgl. Schmidt: Rote Rüben auf dem Olivaer Platz (2008), S. 29.
82
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 243.
83
Vgl. Huschke, J. Wolfgang: Die Rosinenbomber. Die Berliner Luftbrücke 1948/49. Eine Geschichte der
Menschen und Flugzeuge. Berlin 1999, S. 241.
84
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 253.
85
Vgl. Huschke: Die Rosinenbomber (1999), S. 243.
86
Vgl. ebd., S. 247.
81
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Christina Siemens
zehn Pfund Schmalzpaket einlösen.87
Auf diese Weise erleichtern die amerikanischen und britischen Piloten den kleinsten Berlinern
die schwere Blockadezeit, indem sie ihnen einen Anlass zur Freude geben. In Zeiten der Entbehrung und des Lebensmittelmangels erlangt die Nahrung einen viel höheren Stellenwert, als
in Zeiten des Nahrungsmittelüberschusses. Schokolade und Kaugummis stellen für die Blockadekinder Luxusartikel dar. Selbst das wertlos scheinende Papier, in das die Kaugummis
eingewickelt sind, wird von ihnen sorgfältig aufgehoben und wie ein Geldschein in die Tasche gesteckt.88 Da dem Lebensmittel in Zeiten der Not eine hohe Bedeutung zugeschrieben
und es als Kostbarkeit angesehen wird, erlangt alles was dazu gehört, eben auch die Verpackung, eine Aufwertung für die Kinder.
Fazit
Die Analyse hat gezeigt, dass die Berlin-Blockade eine massive Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens der Menschen hervorruft. Die West-Berliner müssen sich in der Krisenzeit mit
materieller Not, der Kälte, bedingt durch die Kohleknappheit, dem Strommangel, der Lebensmittelrationierung und einseitigen Ernährungsweise abfinden. In ihrer Notlage entwickeln
die Menschen Verhaltensweisen, die sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Auf diese Weise werden die Umwälzungen des Alltags wieder zur Normalität.
Der permanente Lärm der Flugzeuge wird zu einer Selbstverständlichkeit. Es wird zur Normalität für die West-Berliner die nächtlichen Stromstunden für die Erledigung von Hausarbeiten zu nutzen, da sie ihren alltäglichen Rhythmus nach den verfügbaren Stromstunden richten.
Mittels Sparrezepten und Einfallsreichtum versuchen die Berliner Hausfrauen, so gut es geht,
die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten auf hochkonzentrierte Trockennahrung zu bewerkstelligen. Desweiteren nutzt die städtische Bevölkerung kreative Wege der Zusatzversorgung durch den privaten Gemüseanbau, Schwarzmarkt oder Hamsterfahrten. Eine weitere Unterstützung der West-Berliner stellen Spendenpakete dar sowie die Schokoladenflieger, die
insbesondere für die Kinder bedeutsam sind.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass in Zeiten der Not und des Lebensmittelmangels, die Menschen der Nahrung einen höheren Wert als in Zeiten des Überschusses beimessen. Insbesondere die Entbehrung in einer Krisensituation öffnet den Menschen die Augen für die wesentlichen Dinge im Leben. Das gemeinsame Ziel der Westmächte und Berliner, der sowjetischen
Blockade zu trotzen und gemeinsam für die Freiheit der Stadt einzustehen, lässt die Bevölkerung an Kraft gewinnen. Das Gefühl der Gemeinschaft und des Zusammenhalts macht die
Menschen stark, um die Entbehrungen zu ertragen. Die Berlin-Krise verdeutlicht den Menschen der heutigen Zeit, dass es sich lohnt gemeinsam für etwas zu kämpfen. Die heutige Gesellschaft ist geprägt von Materialismus und Überschuss, daher werden die kleinen Dinge des
Lebens kaum noch wahrgenommen. Die Notlage der West-Berliner während der Luftbrücke,
kann den Menschen heutzutage Mut geben, für etwas einzustehen, Entbehrungen dafür in
Kauf zu nehmen, um letztlich ein höheres Ziel zu erreichen. In diesem Sinne beendet die Verfasserin die Arbeit mit den Worten der Zeitzeugin Gerda Spitz: „Gut, für uns Westler war die
Blockadezeit nicht einfach, vor allem der Winter war sehr schwer, aber das Ziel, wenigstens
die Westsektoren vor der russischen Herrschaft zu bewahren, war das Opfer wert.“89
87
Vgl. Keiderling: „Rosinenbomber“ über Berlin (1998), S. 254.
Vgl. Huschke: Die Rosinenbomber (1999), S. 243.
89
Prell: Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49 (1987), S. 122.
88
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