3.1 Habitus

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3. Praxis (Grundbegriffe)
3.1
Habitus
Wenn sich die Menschen nun nicht nach Regeln richten, sondern anpassungsfähige Strategien verfolgen, fragt es sich, wie die Alltagspraxis überhaupt eine
Konstanz und Regelmäßigkeit aufweisen kann. »Wie können Verhaltensweisen
geregelt sein, ohne dass ihnen eine Befolgung von Regeln zugrunde liegt?«
(1992b: 86) Diese Frage bezeichnete Bourdieu als seine »Ausgangsfrage«
(ebd.). Er beantwortete sie mit dem Begriff des Habitus. Der Begriff ermöglichte es, die Handelnden nicht nur als strukturalistischen Träger der Struktur zu
erfassen, ohne dabei jedoch in den Individualismus zu verfallen (1997c: 61f ).
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3.1 Habitus
Zahlreiche epistemologische Paare – wie Bewusstes/Unbewusstes, Finalismus/
Mechanismus, Strukturalismus/Phänomenologie – wurden in diesem Begriff
aufgehoben (1997c: 61). Er sollte dem Anspruch genügen, das Wissen der Akteure und den Beitrag dieses Wissens zur Konstruktion des Sozialen in die Sozialwissenschaft zu integrieren und gleichzeitig der Regelmäßigkeit des Handelns gerecht werden (1982c: 728). Gerhard Fröhlich hat wesentliche Charakteristika des Habitusbegriffs zusammengetragen, die eine erste Annäherung an
seine Bestimmung ermöglichen: Der Habitus ist Produkt und Produzent von
Praktiken, unter anderem »System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen zu praktischem Handeln«, »Prinzip beschränkter Erfindung«, »Erzeugungsgrundlage für Praktiken«, »kohärentes System von Handlungsschemata«
(Fröhlich 1994: 38).
Ein wichtiges epistemologisches Paar, das mit dem Habitusbegriff überwunden werden sollte, war der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft. Beate
Krais kontrastiert den Begriff des Habitus vor diesem Hintergrund mit dem
einflussreichen Konzept der sozialen Rolle (Krais 2004a: 94f ). Es postuliere
den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft und die Freiheit bzw. Kontextabhängigkeit des Handelns. Demgegenüber sei mit Bourdieus Habitus jedes Individuum immer schon gesellschaftlich (siehe auch Krais, Gebauer 2002:
66). Der Habitus beruht auf der Aneignung sozialer Handlungsformen. Er reproduziert tendenziell diese Formen, setzt sie aber mit den Handlungssituationen in Relation. Da es zahllose unterschiedliche Situationen gibt, die nie vollständig mit der Situation des Habituserwerbs identisch sind, stellen die Handlungen auch selten genaue Kopien früherer Handlungsweisen dar. Der Habitus
ist determiniert und schöpferisch zugleich. Es wurde oft darauf hingewiesen,
dass er darin Noam Chomskys generativer Grammatik ähnelt (Chauviré, Fontaine 2003: 49). Wie Chomsky meint Bourdieu, dass Menschen über ein »System generativer Strukturen« verfügen, das unbegrenzt viele Handlungen hervorbringen kann. Diese Handlungen sind typisch für den Stil des Menschen
und für die Art von Situation. Anders als Chomsky hält Bourdieu den Habitus
nicht für angeboren. Menschen folgen zwar keiner äußeren Grammatik, aber
sie lernen ihr Verhalten gesellschaftlich, sie sind immer schon in der Gesellschaft (Krais, Gebauer 2002: 32f ). »Nicht das Regelwerk macht die Grammatik aus, sondern die Aktivitäten der Subjekte, ihre Regel-erzeugende Produktion.« (Ebd.)
Wie alle Begriffe hat Bourdieu den des Habitus nicht am Schreibtisch erdacht oder axiomatisch vorausgesetzt, sondern im Forschungsprozess entdeckt
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3. Praxis (Grundbegriffe)
und verarbeitet (1997c: 63). Das gilt es im Auge zu behalten, bevor man ihn
übernimmt oder verurteilt. Das Problem, auf das er reagierte, hat Bourdieu
schon in Algerien thematisiert. Er beobachtete die Ungleichzeitigkeit von
Handlungsmustern. Trotz der Modernisierung und Ausbreitung des Kapitalismus blieben Handlungsmuster erhalten, die einer Logik der Ehre gehorchten
und weder Lohnarbeit noch Kapitalakkumulation verstanden (2000c: 21; siehe oben 1.2). Bourdieu meinte später selbst, der Habitusbegriff sei genau aus
dieser Problemstellung hervorgegangen (Schultheis 2000: 166). In seiner vollen Bedeutung scheint er mir zum ersten Mal 1962 in einem Aufsatz über Ehelosigkeit im Béarn aufzutauchen (1962a: 322). Systematisch entwickelt wird er
allerdings erst in Bourdieus Nachwort zu Erwin Panofskys Arbeit über gotische
Architektur, die Bourdieu 1967 in französischer Übersetzung herausbrachte
(deutsch in 1970b: 125-156).
Der Begriff des Habitus hat eine lange Geschichte (vgl. zum Folgenden
Wacquant 2004). Bourdieu fand ihn bei Panofsky, der sich in seiner Arbeit auf
Thomas von Aquin stützte (Krais, Gebauer 2002: 26). Gilbert Rist hat zahlreiche Textstellen Bourdieus entsprechenden Passagen aus Thomas’ »Summa theologiae« gegenübergestellt, die eine direkte Beeinflussung vermuten lassen.
Bourdieu leugnete, jemals vom heiligen Thomas inspiriert worden zu sein (Rist
1984: 212). Es ist auch nicht notwendig, die Vermutung erhärten zu wollen,
weil viele seiner Sätze zum Fundus der Geistesgeschichte gehören. Sie gehen
auf Aristoteles zurück, der den Begriff in seiner Kategorienschrift einführte.
Der aristotelische Begriff der »hexis« wurde mit »habitus« ins Lateinische übersetzt und gelangte über die arabischen Aristoteliker zu Thomas und der scholastischen Philosophie, mit der sich Panofsky beschäftigte. Er wurde allerdings
auch von Weber, Mauss, Hegel und vielen anderen Denkern verwendet. Bourdieu zufolge griff man auf den Terminus zurück, um mit dem kantischen Dualismus zu brechen und Dispositionen erfassen zu können (1992b: 30). Aristoteles führte den Begriff der hexis (Haltung oder Disposition) in Absetzung vom
Begriff »Zustand« ein (Kategorien 8b-9a). Jede Haltung sei ein Zustand, aber
nicht jeder Zustand eine Haltung. Zustände seien leicht veränderbar. Als Beispiele könnten Wärme oder Krankheit gelten. Wenn jedoch die Krankheit lange währe und »zur Natur« werde, könne man nicht mehr von einem Zustand
sprechen. Es liege dann eher eine Haltung vor. Als Paradebeispiel für eine Haltung nannte Aristoteles das Wissen. Das Wissen sei bleibend und schwer veränderlich, wer dagegen nichts wisse, sei leicht veränderlich.
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3.1 Habitus
Auch wenn Bourdieu den Habitusbegriff erst 1967 systematisch einführte,
wird er durch sein Philosophiestudium mit den Begriffen des Habitus und der
Disposition vertraut gewesen sein. Er hatte seine universitäre Abschlussarbeit
in Philosophie über Leibniz geschrieben. Das war die einzige wissenschaftliche
Arbeit, die er bis zu seinem Algerienaufenthalt verfasst hatte. Es liegt nahe, dass
er zur begrifflichen Durchdringung der sozialen Welt Algeriens gedanklich auf
diese Arbeit zurückgriff. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise möglich,
dass ihm die Differenzen zwischen Subjektivität und Gesellschaft, zwischen
kolonialer Terminologie und traditionalem Alltag, zwischen Bewusstsein der
Zukunft und Leben in der Gegenwart auf der Basis von Leibniz’ Monadenlehre ins Auge sprangen. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass Bourdieu
die »Harmonie« zwischen Subjekt und Gesellschaft verschiedentlich auf eine
»lex insita« zurückführte, einen Begriff von Leibniz (z. B. 1982a: 134; 1992c:
49). Das dem Subjekt bzw. der Monade innewohnende Gesetz kann zur Differenz von Subjekt und Gesellschaft führen, wenn diese sich gleichsam unverhofft ändert. Von dieser Vorstellung ist es nur ein kleiner Schritt bis zum Begriff des Habitus, in dem die lex insita ihren Ort hat.
Zwischen 1962 und 1965 hat Bourdieu anstelle des Habitusbegriffs im Anschluss an Weber von »Ethos« gesprochen, um eine bleibende Haltung begrifflich zu fassen (Rist 1984: 203). Den Begriff behielt er lange bei, um eine spezifische Haltung zu bezeichnen, nämlich eine geistig-moralische. Später hielt
er den Begriff des Ethos jedoch für redundant, da er vollständig im Habitus
aufgehe (1993b: 126). Nach der Auseinandersetzung mit Panofsky führte
Bourdieu den Habitusbegriff 1968 in »Soziologie als Beruf« (1991a) mit Verweisen auf Panofsky ein (siehe Rist 1984: 203). Danach wurde er in der endgültigen Funktion benutzt, aber ständig weiter ausgearbeitet und den jeweiligen Forschungsprojekten angepasst.
Markus Schwingel verweist darauf, dass der Begriff des Ethos bei Bourdieu
auch gemeinsam mit den Begriffen Eidos (Idee, Vorstellung) und Geschmack
als Fortsetzung der drei Kritiken Kants gelesen werden kann (Schwingel 1995:
63). Kant hatte eine Kritik der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und
der Urteilskraft geschrieben, sie aber nicht an die soziale Welt zurückgebunden
– was bereits Hegel kritisierte. Bei Bourdieu spielen Kants drei Kritiken an vielen Stellen implizit und explizit eine wichtige Rolle, meist eine negative. »Die
feinen Unterschiede«, deren Untertitel »Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft« lautet, können als soziologische Antwort auf Kants dritte Kritik gelten.
Allerdings geht Bourdieus Habitusbegriff über die Reichweite der drei Kritiken
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3. Praxis (Grundbegriffe)
hinaus und erschöpft sich nicht in den Begriffen Eidos, Ethos und Geschmack.
Er umfasst neben dem Wahrnehmen, Denken, Handeln und Urteilen auch das
Unbewusste, die Psyche und den sozialisierten Körper. Im Folgenden werde ich
der Einfachheit halber stets vom Handeln sprechen, zumeist aber die gesamte
Praxis des Habitus meinen.
Kern des Habitusbegriffs ist die Tendenz, ähnlich zu handeln. Der Habitus
ist eine Art psychosomatisches Gedächtnis. In ihm sind frühere Handlungsweisen gespeichert, die in ähnlichen Situationen abgerufen werden. Das heißt, der
Habitus ist eine Tendenz, so zu handeln, wie man es einmal – insbesondere
beim ersten Mal – gelernt hat. Beim Lernen orientiert man sich nicht an Modellen, sondern an Handlungen anderer Menschen (1976: 189). Mit dem Lernen übernimmt man ein Muster, das für die Wiederholung parat bleibt (1976:
190).3 Durch mehrfache Wiederholung prägt sich das Muster ein, es wird habitualisiert. In der Habitualisierung wird eine Handlung zur Gewohnheit (siehe Fröhlich 1999, 2005). Das beinhaltet eine Typisierung der Anwendungsfälle und Somatisierung der Handlungsabschnitte. Gerhard Fröhlich unterscheidet drei Arten von Habitualisierung: unmerkliches Vertrautwerden, ausdrückliche Überlieferung und strukturale Übungen in Spielform (Fröhlich 1994:
39). Bourdieu zufolge wird die letzte Art von der Gesellschaft am stärksten unterstützt (1976: 192).
Was Bourdieu zur Ausbildung des Habitus schreibt, scheint die äußerst
knappe Skizze einer Sozialisationstheorie zu sein. Da jedoch im Habitus, wie
in den nächsten Absätzen genauer erläutert wird, lediglich die sozialen Strukturen verkörpert sind, bedarf es für Bourdieu keiner gesonderten Sozialisationstheorie. Die Untersuchung der sozialen Strukturen reicht für die Analyse
des Habitus im Wesentlichen aus (1993b: 29). »Eine Soziologie, die Sozialisation als Ausbildung des Habitus sieht, braucht auch keine Sozialisationstheorie
im strengen Sinne«, denn alles Lernen ist gesellschaftlich vermittelte Auseinandersetzung mit der Welt. »Man wird nicht Mitglied einer Gesellschaft, sondern
ist es von Geburt an.« (Krais, Gebauer 2002: 61) Orthodoxe Anhänger Bourdieus reagieren auf Versuche, seine Theorie um eine Sozialisationstheorie zu ergänzen, geradezu allergisch, weil die Genese des Habitus nur als soziale interessiert, nicht als psychologische oder individuelle. Der Begriff des Habitus ist
3
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Im Anschluss an Bourdieu haben Christoph Wulf und Gunter Gebauer die Habitualisierung unter
dem Begriff der Mimesis untersucht (siehe z. B. 1995 und 1998). Habitualisierung geschieht demnach durch Formen des probierenden Mitmachens und Nachahmens. Ganz ähnlich skizzierte sie
Bourdieu, der ebenfalls von Mimesis sprach (1987b: 134ff ).
3.1 Habitus
für sie operational und braucht nicht weiter bestimmt zu werden. Das ist zwar
aus der Perspektive von Bourdieus Theorie richtig, tatsächlich aber hat sich
Bourdieu sehr für Sozialisationstheorien interessiert. Gewährsmann war ihm
hierbei vor allem sein guter Freund und theoretischer Gegenspieler, Aron Cicourel, einer der bedeutendsten Vertreter der Ethnomethodologie. Bourdieu
hatte einfach zu viele Interessen und Forschungsprojekte, um sich mit der Genese des Habitus zu befassen. Es ist daher nicht ganz fair, Bourdieu für das Fehlen einer Sozialisationstheorie zu tadeln (siehe Knoblauch 2003; Wagner
2003).
Der Habitus umfasst eine kleine Zahl von Schemata, die eine unendliche
Zahl an neue Situationen angepasster Praktiken ermöglichen (1976: 204). Die
Schemata zeigen sich nur in der Praxis, sie sind als solche nicht beobachtbar.
Bourdieu schreibt auch, der modus operandi sei nur als opus operatum zu beobachten (1976: 209). Als Beispiel führt er an, dass nicht jeder, der Tennis spielen
kann, es auch unbedingt lehren könne. Man kann etwas, weiß aber nicht, wie
man es macht. Das Können beruht auf den internalisierten Schemata, die
Bourdieu auch als Dispositionen bezeichnet. Die Dispositionen deutet er nun
im Gegensatz zum thomistischen Begriff des Habitus nicht als Eigenschaften,
sondern als Relationen (Chauviré, Fontaine 2003: 30). Die Dispositionen sind
gleichsam die durch Wiederholung eingeprägten psychosomatischen Erinnerungen. Bourdieu zufolge beruhen die meisten Handlungen nicht auf einer
(bewussten) Intention, sondern auf einer (unbewussten) Disposition (1994a:
183f ). Sie dienen den Interessen des Menschen ebenso wie bewusste Intentionen, ohne an ihnen orientiert zu sein.
Bourdieus Betonung des Unbewussten gegenüber der Intention beruht auf
seiner Vorstellung vom menschlichen Körper, die eng mit der von Maurice
Merleau-Ponty verwandt und von ihr vielleicht beeinflusst ist (Chauviré, Fontaine 2003: 26). Nach Merleau-Ponty haben wir keinen Körper, sondern wir
sind Körper, wir sehen nicht mit dem Auge, sondern wir sind sehend bei den
Dingen, wir führen nicht die Hand, sondern die Hand hat ein eigenes Gedächtnis (Merleau-Ponty 1964: 150f, 183f ). Als Menschen sind wir Körper,
die sich in der Welt bewegen (ebd.: 54f ). Bourdieu fasst die alltägliche Praxis
ganz ähnlich wie Merleau-Ponty.4 Die soziale Ordnung ist auch eine Ordnung
4
So schreibt Charles Taylor, der sich in dieser Hinsicht als Schüler Merleau-Pontys über Bourdieu
äußert: Der intellektualistischen Tradition zufolge sei das Individuum etwas Inneres, Geist. Durch
diese Konzeption werde zweierlei vernachlässigt, der Leib und der Andere (Taylor 1993: 49). Der
Leib rehabilitiert beide (vgl. auch Wacquant 2003e).
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3. Praxis (Grundbegriffe)
der Körper und ihrer Haltung. Sie drückt sich beispielsweise im aufrechten
Gang des Stolzen und im geduckten des Beherrschten aus. Die Handlungsmuster prägen sich Bourdieu zufolge nicht so sehr dem Bewusstsein wie dem
Körper ein (1976: 194). Der Körper ist sozialisiert, die soziale Vergangenheit
lebt in ihm fort (1997c: 156). Ja, die soziale Welt prägt in den Körper ein regelrechtes Programm ein, einen Charakter im wahren Sinn des Wortes, also wie
der Griffel etwas in die Schreibtafel graviert (1997d: 168). Und wie die
Schreibtafel ist auch der Körper eine Art Gedächtnisstütze – für die Handelnden wie für die Beobachtenden (1976: 199). Im »Sozialen Sinn« erläutert das
Bourdieu mit Worten, die so von Merleau-Ponty kommen könnten: »Was der
Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen,
sondern das ist man.« (1987b: 135)
Für die Haltung des Körpers, genauer gesagt: für das leibliche Bewegen in
der sozialen Welt, greift Bourdieu auf den Begriff der Hexis zurück, der ja der
griechische Originalbegriff für den Habitus ist. In der Hexis sind die Vorstellungen der Gesellschaft zugleich verwirklicht und symbolisiert (1976: 195).
Die sozialen Haltungen des Menschen und die Haltung der Gesellschaft zu
ihm drücken sich in seiner Hexis aus, die seiner sozialen Laufbahn und Position entspricht (siehe auch Fröhlich 1999). Letztlich ist allerdings auch die Hexis
wie der Ethos nur ein Aspekt des Habitus.5
Der Habitus setzt sich aus Dispositionen zusammen. Die Disposition
kommt in einer Anzahl ähnlicher Situationen zur Anwendung. In diesen Situationen tendiert man zu einer bestimmten Handlungsweise. Aber keine einzelne Situation ist deduktiv mit einer bestimmten Disposition verknüpft, und
keine Disposition legt eine Handlungsweise bzw. Handlungskette exakt fest.
Die Disposition ist vielmehr eine negative Freiheit, eine Grenze, die Eröffnung
einer Möglichkeit (1976: 166). So sagt Bourdieu auch, der Habitus sei ein System von Grenzen (1992c: 33). Anders ausgedrückt: Der Habitus ermöglicht
eine freie Tätigkeit, die durch die Grenzen der Bedingungen des Habitus selbst
eingegrenzt ist (1987b: 102f ).
Die Bedingungen des Habitus zerfallen in die der Entstehung und die der
Anwendung. Beide sind soziale Strukturen. Da im Habitus soziale Strukturen
eingeprägt sind, tendiert er zur Reproduktion dieser Strukturen, insbesondere
wenn die Bedingungen zum Zeitpunkt der Anwendung noch mit den Entste5
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Der Habitus umfasst im Übrigen neben den Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmustern auch die
Muster der Empfindungen und Emotionen. Er bezeichnet weder ausschließlich Körperliches noch ausschließlich Geistiges oder Seelisches, sondern all das, insofern es sozial ist (Krais, Gebauer 2002: 75).
3.1 Habitus
hungsbedingungen identisch sind. Der Habitus organisiert das Handeln so,
dass es dazu tendiert, die Bedingungen, unter denen er geschaffen wurde, zu
reproduzieren (1976: 165).
»Deshalb, weil die von den objektiven Bedingungen [...] dauerhaft eingeprägten Dispositionen gleichermaßen Aspirationen wie Praxisformen
erzeugen, die mit den objektiven Bedingungen in Einklang stehen und
gleichsam vorgängig deren objektiven Erfordernissen und Anforderungen angepasst sind, werden die unwahrscheinlichsten Ereignisse ausgeschlossen« (1976: 167f ).
Nur wenn man absieht von der Relation von sozialen Strukturen der Entstehung, Habitus und sozialen Strukturen der Anwendung, kann man dem Subjekt mit Sartre eine völlige Freiheit zuschreiben und die Wirklichkeit durch
jede beliebige revolutionäre Aktion für veränderbar halten (1976: 173ff ). Der
Habitus ist träge, wenn er einmal konstituiert ist (1987b: 113f ). Die Trägheit
bezeichnet Bourdieu als Hysteresis. Sie ist beispielsweise für den Generationenkonflikt verantwortlich. Während den Jüngeren die Bedingungen, unter denen
ihr Habitus sich entwickelte, vernünftig und sinnvoll erscheinen, finden die
Älteren sowohl die Bedingungen wie auch das Verhalten der Jüngeren abstoßend (1976: 170).
Bourdieu hebt die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft (sowie von
Körper und Geist, Subjekt und Objekt, Determinismus und Freiheit) in der
Dichotomie von Habitus und sozialer Welt auf. Viele Probleme, die aus der
Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft resultieren, sind damit gelöst – auch wenn andere Probleme die Folge sind. Insbesondere ist Bourdieus
Ausgangsfrage nach der Regelmäßigkeit des Handelns beantwortet, die ihrerseits eng mit der Frage nach der Reproduktion von Herrschaft verknüpft ist.
Diese Reproduktion ist aus Bourdieus Perspektive ebenso erklärungsbedürftig
und verwunderlich wie die Regelmäßigkeit des Handelns. Wenn man die Annahme überzeitlicher Strukturen aufgibt, gerät plötzlich alles in Fluss. Wie
kann es sein, dass trotz ständigen historischen Wandels soziale Strukturen unverändert bleiben? Noch schärfer formuliert: Wie ist es möglich, dass Menschen die soziale Welt bewusst verändern können und die Strukturen der Herrschaft sich trotzdem nicht verändern? Diese Fragen liegen Bourdieus großen
empirischen Untersuchungen zu Grunde, die in den nächsten Kapiteln diskutiert werden.
93
3. Praxis (Grundbegriffe)
Die begriffliche Antwort auf die Fragen ist der Habitus. Auf der Basis des
Habitus ist Handeln weder spontan noch determiniert, sondern Ergebnis einer
notwendigen Verbindung von Disposition und objektivem Ereignis (1976:
182). Beide beruhen auf ähnlichen und im Grenzfall identischen Strukturen.
Der Habitus tendiert nicht nur zur Reproduktion früheren Verhaltens, sondern er sucht auch nach Bedingungen, die denen seiner Erzeugung entsprechen – eben weil er für sie gerüstet ist. Die inkorporierten Bedingungen sind
den Entstehungs- und Anwendungsbedingungen nicht entgegengesetzt, sondern sie entsprechen ihnen. Das Individuum ist bis ins Innerste gesellschaftlich, wie Adorno stets wiederholt hat. »Wer die Wahrheit übers unmittelbare
Leben erfahren will, muss dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen [...] die Gesellschaft ist wesentlich die Substanz des Individuums« (Adorno 1979: 7, 10). In Bourdieus Worten: Die Dispositionen sind Teil der objektiven Bedingungen und erzeugen daher subjektive Erwartungen, die mit den
Bedingungen übereinstimmen (1987b: 100). Die Erklärung einer Handlung
ist die Rekonstruktion genau des Zusammenhangs von Entstehung und Anwendung des Habitus (1976: 170). Dabei ist die Anwendung auch ein Eingriff
in die Bedingungen. Sie kann zumindest die sozialen Strukturen verändern,
wenn der Habitus nicht vollständig mit ihnen übereinstimmt.
»Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden Existenzbedingungen), die
empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung
verbundenen Regelmäßigkeiten gefasst werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken« (1976:
164f ).
Gemeinhin geht man von Individuen aus. Daneben stellt man sich noch Strukturen und Institutionen vor, die über das Individuum hinausgehen. Für Bourdieu sind beide soziale Strukturen. Gesellschaft besteht einerseits in der Form
von materiellen und ideellen Institutionen, andererseits in Form von Dispositionen (1993b: 28). An anderen Stellen fasst er die Begriffe als objektive Strukturen und inkorporierte Strukturen (1987b: 106). Noch klarer ist Loïc Wacquants Trennung der Strukturen in zwei Ebenen:
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3.1 Habitus
»Die Soziologie hat laut Bourdieu die Aufgabe, die verborgensten Strukturen der sozialen Welt aufzudecken, aus denen das soziale Universum
besteht, sowie die Strukturen der Mechanismen, die auf die Reproduktion oder Transformation dieser Welten hinarbeiten [...] Dieses Universum weist die Besonderheit auf, dass die Strukturen, aus denen es besteht, sozusagen ein Doppelleben führen. Sie existieren zweimal, einmal
in der ›Objektivität erster Ordnung‹, die durch die Distribution der materiellen Ressourcen und der Möglichkeiten der Aneignung von gesellschaftlich seltenen Gütern und Werten (Kapitalsorten in Bourdieus
Sprache) gegeben ist, und ein zweites Mal in der ›Objektivität zweiter
Ordnung‹, die aus den mentalen und körperlichen Schemata besteht, die
als symbolische Matrix des praktischen Handelns fungieren, also der
Verhaltensweisen, Gedanken, Gefühle und Urteile der sozialen Akteure.«
(Wacquant 1996: 24)
Bourdieu spricht nach Möglichkeit nicht von Subjekten oder Individuen, sondern von Akteuren. Das soll die Doppelung der sozialen Strukturen ausdrücken. Das Konzept des Akteurs (französisch »agent«) zeigt klar die Anwesenheit
des Sozialen in den intimsten Regungen. In ihm verschränken sich objektive
Zwänge der sozialen Strukturen und subjektive Determinationen des Habitus
(Chauviré, Fontaine 2003: 10).6 Ein Akteur ist, so könnte man sagen, eine
handlungsfähige Verkörperung sozialer Strukturen.
Woher sollen die Handlungsmuster stammen, wenn nicht aus der Gesellschaft?7 Sie könnten natürlich biologisch vererbt oder von Gott übertragen
werden. Bourdieu wird das für unwahrscheinlich gehalten haben, vor allem
aber widerspräche eine derartige Annahme seiner Wissenschaftstheorie, nach
der das Soziale durch das Soziale erklärt werden soll. Und vor dem Hintergrund der genannten epistemologischen Paare oder Dichotomien ist die (dauerhafte) Inkorporierung von sozialen Strukturen in den Habitus eine äußerst
elegante und effiziente Lösung (siehe Saalmann 2003: 50). Nun sei auch der
am häufigsten zitierte Passus zum Habitusbegriff angeführt, weil er auf der Basis der vorangehenden Ausführungen verständlich wird:
6
7
Akteure können für Bourdieu allerdings auch Gruppen sein. Der Begriff ersetzt also nicht trennscharf
den des Individuums, eher schon den des Subjekts.
Siehe hierzu auch Taylor 1993: 50; Wacquant 1996: 31f.
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3. Praxis (Grundbegriffe)
»Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme
dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren
[...], die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv
aufeinander abgestimmt sind« (1987b: 98f ).
Die Erzeugungs- und Anwendungsbedingungen von Habitus sind in vieler
Hinsicht nicht singulär, sondern gelten für mehrere Menschen, für Gruppen
und Klassen. Zum einen wird der Habitus von Angehörigen einer Gruppe unter ähnlichen Bedingungen ausgebildet, zum anderen kommt er unter ähnlichen Bedingungen zur Anwendung, so dass die Handlungen (sowie Wahrnehmungen, Urteile und Äußerungen) den Eindruck vermitteln, magisch aufeinander abgestimmt zu sein (1976: 177, 187). In jeder Interaktion treten nicht
nur Individuen, sondern ganze Dispositionssysteme und die Bedingungen, unter denen sie erzeugt wurden, einander gegenüber (1976: 180). Das bedeutet
auch, dass Sinn nicht subjektiv und singulär zu erforschen ist wie in der Ethnomethodologie, sondern eine Analyse der sozialen Voraussetzungen beinhalten muss (1976: 181). Diese Analyse umfasst auch die Konstruktion von
Gruppen oder Klassen, die einen ähnlichen Habitus haben. Die »Geschichte
des Individuums [ist] nie etwas anderes als eine gewisse Spezifizierung der kollektiven Geschichte seiner Gruppe« (1976: 189). Bourdieus Soziologie interessiert sich für die Gruppe, nicht für das Individuum (Schwingel 1995: 71).
Die Beziehungen zwischen Klasse, Habitus und Individualität sind subjektiv, aber nicht individuell, weil sie bis zu einem gewissen Grad austauschbar
sind (1976: 187f ). Innerhalb der Klasse herrschen homologe Bedingungen,
deshalb sind auch die Ausprägungen des Habitus bei den Angehörigen der
Klasse homolog – und die Individuen einander ähnlich. Damit zerstört Bourdieu weiter unsere alltägliche Vorstellung von Individualität und Willensfreiheit, was zunächst empörend wirkt und viel zum Determinismusvorwurf beigetragen hat. Mindestens zwei Punkte gilt es jedoch zu bedenken, bevor man
der Empörung freien Lauf lässt. Erstens tritt Bourdieus Soziologie nicht mit
dem Anspruch auf, jede menschliche Regung zu erklären (1976: 206f ). Er verwies gerne auf Leibniz’ Spruch, dass wir in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten seien.8 Vor allem auf diese Handlungen bezog er den Habitusbegriff.
Allerdings fragt sich dann natürlich, wie die anderen Handlungen zu erklären
96
3.1 Habitus
sind. Gilt für das letzte Viertel der Voluntarismus? Zweitens – und das ist überzeugender – sind Bourdieus Erklärungen, wie erwähnt, statistischen Charakters, ein Handeln wird also nicht mit logischer Notwendigkeit aus dem Habitus abgeleitet, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erklärt. Im
Übrigen sollte man sich einmal fragen, was am scheinbar Individuellen mit Gewissheit individuell, also singulär ist: Was tue ich, das kein anderer Mensch tut?
Was tue ich, das ich nirgendwo erfahren oder gelernt habe?
Ferner interessiert sich Bourdieu zwar nicht für Individualität, wohl aber für
Subjektivität. »Die Soziologie behandelt alle biologischen Individuen als identisch, die als Erzeugnisse derselben objektiven Bedingungen mit denselben Habitusformen ausgestattet sind.« (1987b: 111) Die Beziehungen zwischen Klasse, Habitus und Individualität haben keine individuelle Seite, weil sie bis zu einem gewissen Grad austauschbar sind. Aber sie haben eine subjektive Seite der
Erfahrung. Diese subjektive Seite hat Bourdieu sehr wohl interessiert. Das kiloschwere Werk über das »Elend der Welt« (1997b; siehe 7.1) besteht nur aus
Einblicken in die Subjektivität, in die Erfahrung von Menschen, von sozialen
Akteuren. Auch in Bourdieus anderen Werken kommen reale Menschen häufiger und mit stärkerer Intensität zum Ausdruck, als das in der Soziologie gewöhnlich der Fall ist. Wer ihm Objektivismus und Strukturalismus vorwirft,
sollte wenigstens auch diese Passagen zur Kenntnis nehmen. Es ist richtig, dass
die subjektive Erfahrung stets aus den sozialen Strukturen erklärt wird. Innerhalb statistischer Grenzen und wissenschaftlicher Hypothesenbildung ist das
Subjektive dann tatsächlich durch das Objektive determiniert. (Und Bourdieu
tendiert dazu, die Determinierung über das statistisch Zulässige auszudehnen.)
Aber der Habitus ist ein System von Grenzen, er enthält notwendige, nicht
hinreichende Bedingungen. Und die subjektive Erfahrung wird durch den Habitus erklärt, jedoch nicht ausradiert.
Bourdieu tritt mit dem Anspruch auf, das Subjektive in seine Soziologie zu
integrieren (1996b: 161). Es soll zwar im ersten Schritt mit den Vorstellungen
des Alltags gebrochen werden, aber in einem zweiten Schritt sind diese Vorstellungen wieder einzuführen (siehe 2. Kapitel). Sie sind einzuführen, weil sie
die soziale Welt mitgestalten. Der Habitus ist nicht nur eine »strukturierte
Struktur«, sondern auch eine »strukturierende Struktur«. Über das Handeln
wird die Welt verändert. Ferner wird die Welt und in Vorstellungen (im Wahr8
Oben war Hempels ähnliche Formulierung angeführt worden, dass die meisten Handlungen auf Dispositionen zurückzuführen seien (Hempel 1972: 257).
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3. Praxis (Grundbegriffe)
nehmen und Denken) verarbeitet. Das Interesse hieran hat Bourdieu im Studium und durch die Beschäftigung mit der Phänomenologie entwickelt. Er
wollte über die (subjektive) Erfahrung der Zeit seine Abschlussarbeit schreiben. Dabei stützte er sich auf Husserl. Bourdieus Nähe zu dem Husserl-Schüler Merleau-Ponty wurde oben hervorgehoben. Ohne die Situierung in der
phänomenologischen Tradition wäre der Habitusbegriff gar nicht verständlich, zumindest nicht in seiner endgültigen Form als Oberbegriff für Hexis
und Ethos. Er setzt die phänomenologische Perspektive auf die Erfahrung, das
In-der-Welt-sein, voraus. Leider hat sich Bourdieu mit den Besonderheiten
subjektiver Erfahrung ebenso wenig auf theoretische Weise beschäftigt wie mit
der Sozialisation.9
9
98
Zur subjektiven Erfahrung siehe auch Rehbein 1997: 118ff.
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