Dornröschen Ballett von Goyo Montero Musik von Peter Tschaikowski MATERIALMAPPE Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebes Publikum, wer das Märchen um Dornröschen, die Dornenhecke und den befreienden Prinzenkuss kennt, wird erstaunt sein, was die Bearbeitung und Choreographie von Goyo Montero aus diesem Klassiker zu zaubern wusste. Den Kampf um Gut und Böse bringt er in einer völlig eigenen Interpretation auf die Bühne. Um sich vorab über das Stück zu informieren, stellen wir Ihnen vorliegende Materialmappe zur Verfügung. Ein Gespräch mit Dirigent Philipp Pointner und Ballettchef Goyo Montero bietet aufschlussreiche Hintergrundinformationen zur Historie des Stücks und zur Verbindung von Musik und Choreographie. Ein Artikel aus unserem Theatermagazin „Impuls“ und Gedanken vom produktionsbetreuenden Dramaturgen Johann Casimir Eule sowie Pressestimmen runden die Materialmappe ab. Die Theaterpädagogik des Staatstheaters bietet zur Inszenierung von „Dornröschen“ sowohl vorstellungsvorbereitende als auch vorstellungsnachbereitende Workshops und Gespräche für Schülerinnen und Schüler an. Wenn Sie Fragen haben oder weitere Informationen sowie szenisch-musikalische Arbeitsmaterialien zur Unterrichtsgestaltung benötigen, können Sie sich gerne an mich wenden. Mit herzlichen Grüßen, Gudrun Bär Theaterpädagogin Kontakt: Staatstheater Nürnberg u18plus: junges publikum Theaterpädagogin Gudrun Bär Telefon: 0911-231-6866 Email: [email protected] 2 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ DORNRÖSCHEN: FANTASTISCH, VISUELL BEEINDRUCKEND, MODERN! AB DEM 22. JANUAR KEHRT GOYO MONTEROS „DORNRÖSCHEN“ ZURÜCK INS OPERNHAUS Die Erwartungen waren bereits hoch, als bekannt wurde, dass Goyo Montero seine Interpretation des Dornröschen-Stoffes zur Musik von Peter Tschaikowsky auch am Staatstheater Nürnberg zeigen würde. Denn die Produktion, die der Choreograph bereits 2006 in Valencia herausgebracht hatte, wurde 2008 zum renommiertesten italienischen Festival, dem Maggio Musicale Fiorentino, eingeladen, dort neu erarbeitet und prompt im Jahresrückblick der Fachzeitschrift „Danza & Danza“ zur besten italienischen Produktion des Jahres gewählt! Das Nürnberger Publikum und die Presse konnten sich dann in der vergangenen Spielzeit selbst ein Bild machen von Monteros ebenso mutiger wie ungewöhnlicher Lesart und Choreographie des berühmten Ballettklassikers – und waren begeistert. Tatsächlich hat Goyo Montero das Märchen vom hundertjährigen Schlaf der Prinzessin Aurora und ihrer glücklichen Wiedererweckung durch den Kuss des Prinzen Désiré für sich neu entdeckt, um es von den Füßen auf den Kopf zu stellen. Er erzählt die Geschichte von ihrem Ende, der glücklichen Hochzeit her, um anschließend den Prinzen auf eine tour de force durch die düsteren Welte n der bösen Fee Carabosse im Kampf um seine Liebe zur Prinzessin zu schicken. Mit gutem Ausgang. [...] (aus: „Impuls“, monatliches Theatermagazin, Ausgabe Januar 2011) G h 3 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ NACH DEM KUSS BEGINNT DAS DRAMA DIRIGENT PHILIPP POINTNER UND BALLETTCHEF GOYO MONTERO IM GESPRÄCH Wenn man die Reaktionen auf die Uraufführung von Tschaikowskis „Dornröschen“ aus dem Jahre 1890 im Mariinski-Theater in Moskau Revue passieren lässt, dann überraschen vor allem zwei Einschätzungen: zum einen die negativ gemeinte Feststellung, dass „Dornröschen“ ausschließlich Märchencharakter habe, und dass die Musik dazu nicht passe, weil sie zu ernst und zu schwer sei ... Goyo Montero: Ja, das ist heute nur mehr schwer vorstellbar. Tschaikowskis beste Ballettkomposition und eines der berühmtesten Ballette überhaupt, hatte es am Anfang durchaus schwer, sich seinen Platz im Repertoire zu erobern. Spannend ist ja auch, dass „Dornröschen“ im Westen zuerst 1921 in einer starken Bearbeitung von Sergei Diaghilews Ballets Russes – zum Teil mit fremden Musiknummern und neuer Instrumentation von Igor Strawinski – bekannt wurde; seinen stilprägenden Siegeslauf aber erst in der Nachkriegszeit beginnen konnte. Damit ist „Dornröschen“ ein Ballett, das – wenn man von unserer inneren Vorstellung ausgeht – zwar bereits seit Urzeiten zu unserem Vorstellungsschatz gehört, sich aber erst so richtig vor 60 Jahren kanonisiert hat. Philipp Pointer: Ich finde es ja immer wieder spannend, wie sich dabei die Perspektiven verändern - auf Dinge, die man zu kennen meint. Und diese frühen Kritiken sind doch wunderbar! Denn sie machen für mich deutlich, wie gut Goyo Monteros Interpretation der Geschichte zu „Dornröschen“ passt. Die Choreographie zu „Dornröschen“ wurde bereits 2006 in Valencia uraufgeführt und 2008 mit großem Erfolg auf dem Festival Maggio Musicale Fiorentino gezeigt. Die Kritik war so begeistert, dass sie „Dornröschen“ zur besten Choreographie Italiens des Jahres 2008 wählten. Was ist das Besondere an deiner Interpretation? Goyo Montero: In meiner Auseinandersetzung nehme ich das, was bei der Uraufführung von „Dornröschen“ noch Grund zur Kritik war, ganz ernst: Die Geschichte, die Tschaikowski uns musikalisch erzählt, ist ein Märchen. Dabei dürfen wir uns aber nicht von dem romantisch überzuckerten Bild, das von Walt Disney und Co. geprägt wird, täuschen lassen. Die alten Märchen sind oftmals grausam und erzählen auf drastische Weise von uns Menschen. Nicht umsonst gab es deshalb auch eine Zeit, in der man sich nicht sicher war, ob Märchen überhaupt etwas für Kinder sind. Bruno Bettelheim, der ja hier in Deutschland sehr bekannt ist, hat darüber ein wichtiges Buch geschrieben: „Kinder brauchen Märchen“. Ich habe dieses Buch während meiner Auseinandersetzung mit „Dornröschen“ gelesen - und darin wichtige Anregungen gefunden. Was war für dich wichtig? Goyo Montero: Bettelheim setzt das Märchen von Dornröschen in Verbindung mit der Zeit der Pubertät, dem sich notwendigen Abkapseln der Jugendlichen von den Eltern, dem Schlafen ... der junge Mensch braucht in dieser Phase des Übergangs viel Zeit für sich, zieht sich zurück, bricht mit den Eltern und nimmt mit neuen Welten Kontakt auf. Es ist also wie ein „hundertjähriger“ Weg zu sich selbst, den der junge Mensch gehen muss ... 4 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ Im Märchen funktioniert dieser Reifungsprozess ja einigermaßen konfliktfrei – das würden sich manche Eltern wohl wünschen, dass ihre Teenager einschlafen und irgendwann geläutert wieder aufwachen ... Goyo Montero: Ja, und hier setzt meine Deutung an, hier weiche ich vom „märchenhaften“ Charakter der Erzählung ab: Bei mir ist es mit dem Einschlafen, Küssen und Aufwachen nicht getan. Bei mir beginnt nach dem Kuss erst die Geschichte, das eigentliche Drama ... Philipp Pointner: Und um das erzählen zu können, hat Goyo die Partitur von „Dornröschen“ komplett umgebaut und choreographisch neu gedeutet! Geht das aus Sicht des Dirigenten überhaupt? Philipp Pointner: Das ist das Verblüffende: Es geht wunderbar. Sonst würde ich das auch nicht machen. Aber, wir haben ja bereits bei „Romeo und Julia“ zusammengearbeitet, Goyo ist ein hochmusikalischer Choreograph. Und es erstaunt mich immer wieder, mit welchem Gespür für die Musik und ihre Anforderungen er arbeitet. „Dornröschen“ gilt als Tschaikowskis reifste Ballettmusik ... Philipp Pointer: Unbedingt! Wenn man die Komposition durchgeht, wird auch noch einmal deutlich, wie stark spätere Komponisten wie Prokofjew oder Strawinski auf Tschaikowski zurückgriffen. Da weist vieles an rhythmischen Verschiebungen, tonalen Auflösungen etc. bereits in die Moderne. Tschaikowski war einfach der Beste und progressivste russische Komponist seiner Zeit – der vor allem auch die Kunst der Instrumentierung hervorragend beherrschte. Andererseits war gerade in der Ballettmusik von Tschaikowski vieles, ich nenne es mal etwas respektlos so, „Meterware“. Komponiert für den choreographischen Bedarf von Marius Petipa. Da bei Goyo Montero die Erzählstruktur und die Erzählweise aber radikal anders ist als im klassischromantischen Ballett, ist es nur logisch, dass wir viele Nummern nicht nur umgestellt, sondern auch gestrichen haben. Und dafür bin ich aus musikalischer Sicht sogar dankbar! Denn so kommen die Stärken, der Facettenreichtum und die Bandbreite der Komposition viel präziser zur Wirkung. Wenn nach dem Erweckungskuss zwischen Prinzessin Aurora und Prinz Désiré die Geschichte erst beginnt, wie wird „Dornröschen“ dann weitererzählt? Goyo Montero: In meiner Deutung beginne ich im ersten Teil mit dem Schluss der klassischen Geschichte, mit Kuss und Hochzeit. Dieser Teil ist, dem Anlass angemessen, schließlich erleben wir Glück, Hochzeit, allgemeinen Jubel, durchaus märchenhaft gehalten. Wir zitieren hier auch in der Ausstattung vergangene märchenhafte Ballett-Zeiten, die Farben sind freundlich und die Choreographie habe ich in Teilen an die Tradition des klassisch-romantischen Balletts angelehnt. Nur gibt es auch hier bereits Zeichen für das drohende Unheil, Carabosse ist bereits zugange... Im zweiten Teil wird es dann richtig wild. Denn Carabosse hat den Wunschtraum perfekten Liebesglücks zerstört und Dornröschen in seine Welt entführt. Jetzt ist es an dem Prinzen Désiré, um Dornröschen zu kämpfen, um die junge Frau wirklich für sich zu erringen. Bei mir steht als handelnde Figur also der Prinz im Zentrum der Geschichte. Der muss den langen steinigen Weg der Erkenntnis gehen, sich mit Sehnsüchten, Albträumen, Verlockungen und Vexierspielen auseinandersetzen, ihnen widerstehen, um sich schlussendlich für Dornröschen reif zu erweisen. 5 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ Welche Auswirkungen hat das auf die Ausstattung? Goyo Montero: Im Gegensatz zu den Produktionen in Valencia und in Florenz habe ich hier einen neuen Kostümbildner, Angelo Alberto. Angelo hat schon oft für Ballett gearbeitet und ein wunderbares Gespür für Kostüme, und ich glaube, dass das Ergebnis noch besser sein wird als bisher. Im ersten Teil werden die Kostüme dabei – ähnlich wie die Choreographie – „klassischer“ gehalten sein, in freundlichen Farben, licht, hell, optimistisch, elegant. Umso stärker ist dann der Bruch zum zweiten Teil, der sehr düster wird. Hier sind wir im Reich des Bösen, die Tanzsprache wird moderner, radikaler ... die Kostüme tragen die Spuren der Vergänglichkeit. Und alles entwickelt sich hin zu einer Reduktion, alles Überflüssige wird überwunden. Für die Bühne arbeite ich wieder mit dem Team Josep Simon und Manuel Zuriaga zusammen. Hier gilt, was übrigens auch für die Kostüme gilt: Die Produktionsbedingungen sind hier in Nürnberg für uns deutlich besser – und so können wir auch die Ausstattung optimieren. Der Bühnenraum hat bei Dornröschen vor allem die Funktion, die unterschiedliche emotionale Qualität der beiden Teile zu verstärken und zu unterstützen. Das wird unter anderem dadurch gelingen, dass das Bühnenbild nun leuchten kann... Der Zuschauer kann sich also auf eine höchst spannende Neuinterpretation einer vermeintlich bekannten Geschichte gefasst machen ... Philipp Pointner: Und sich darauf freuen! Die Szene und die Musik entwickeln so viel Magie ... wenn sie mit so viel Begeisterung erzählt wird wie hier – und wenn sie live ist! Deshalb freue ich mich auch so, dass wir das Ballett mit den Nürnberger Philharmonikern begleiten... Goyo Montero: Das hat einfach eine völlig andere, unmittelbarere Energie. Das spüren natürlich vor allem auch die Tänzer, wenn dann das Orchester dazu kommt ... Aber noch einmal zurück zu „Dornröschen“: Meine Lesart von „Dornröschen“ erscheint auf den ersten Blick vielleicht etwas ungewöhnlich, ist aber von tiefem Respekt vor der Geschichte, der Musik und auch der Tradition, in der ich ja selbst verwurzelt bin, getragen. Und die Liebhaber werden alle wichtigen Nummern auch bei mir wiederfinden ... allein nicht immer dort, wo sie es vermuten, und in neuen Konstellationen. Die Fragen stellte Johann Casimir Eule. (aus dem Programmheft zu „Dornröschen“) 6 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ VON DER FEERIE ZUM PSYCHODRAMA ZU „DORNRÖSCHEN“ VON JOHANN CASIMIR EULE I. Die Reaktionen auf die Uraufführung von Peter Tschaikowskis „Dornröschen“ in der Choreographie von Marius Petipa waren alles andere als erwartet. Anstatt das hochadelige Auditorium zu Beifallsstürmen und hemmungsloser Begeisterung hinzureißen, schien es, als sei das Publikum selbst ob der märchenhaften Geschichte um den hundertjährigen Schlaf der schönen Aurora und ihre Erweckung durch den Prinzen Désiré in eine Art emotionales Wachkoma verfallen. Der Applaus war mäßig, die Begeisterung gering. Und der anwesende Zar Alexander III. bemerkte nur kühl, das Ballett sei „sehr nett“. Ein Märchen? Als Stoff für ein Handlungsballett? Das erschien wohl manch einem als eine Art intellektueller Unterforderung, ein eher kindisches denn hochkünstlerisches Vergnügen; und was von den einen als zu leicht befunden wurde, fanden die Musikkritiker teilweise zu schwer, zu düster, zu symphonisch und nicht für ein Ballett dieser Art geeignet. Dem Erfolg beim breiten Publikum taten diese ersten Reaktionen keinen Abbruch, die Tänzerbesetzung war herausragend, die an Gustav Dorés Illustrationen zu Charles Perraults Märchen orientierte Ausstattung schwelgerisch, und unschwer war zu sehen und zu hören, dass hier Peter Tschaikowski als Komponist auf dem Höhepunkt seines Könnens agierte. Aber – die anfänglichen Irritationen kamen nicht von ungefähr, und es schadet nicht, nach ihren Ursachen zu fragen, um das Besonde re des Werkes zu erfassen. II. Heute ist man allgemein der Ansicht, dass „Dornröschen“ zur Musik von Peter Tschaikowski und mit der Choreographie von Marius Petipa den glanzvollen Höhepunkt der St. Petersburger Ballettklassik darstellte. Wenn man allerdings erwartet, wie es 1890 wohl auch der Fall war, umweglos einem Plot folgen zu können, wird man erst einmal enttäuscht. Bis man Aurora zum ersten Mal tanzen sieht, sind bereits die ersten vierzig Minuten des Prologs und des Ersten Aktes vergangen. Und wenn Prinz Désiré sie schließlich mit seinem Kuss erweckt hat und das Märchen nun eigentlich mit dem Finale des Zweiten Aktes vorbei sein könnte, folgt noch das Hochzeitsfest, der Dritte Akt, mit seinen Reminiszenzen an höfische Ballkultur und französische Märchentradition – d.h. man darf ebenfalls rund vierzig Minuten Hochzeitsgästen beim Tanzen zusehen ... Spätestens hier wird überdeutlich, dass die konzentrierte Entfaltung des dramatischen Geschehens nicht vorrangiges Interesse der Schöpfer dieses Werkes war und somit auch nicht als Kriterium für die Größe und Qualität des Werkes herhalten kann. III. „Dornröschen“ ist vielmehr in dem Sinne eines klassisch symphonischen Werkes zu verstehen, das sich in überlegener architektonischer Meisterschaft, von großer S trukturiertheit und einem Reichtum der Beziehungen vor uns ausbreitet. Die vier sich entsprechenden Teile der ursprünglichen Gliederung – Prolog, I., II. und III. Akt haben wenig mit der Struktur eines Dramas aber viel mit dem Aufbau einer klassischen Symphonie zu tun. Jeder Satz ist in sich eigenständig gebaut und ein geschlossenes Ganzes, ein Gewebe von Tänzen und Pantomimen, deren Wesen nicht im möglichst stringenten Erreichen eines Kulminationspunktes liegt, sondern in der Entfaltung eines quasi „symphonischen Geschehens“. Dafür muss 7 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ man wissen, dass sich Tschaikowski, als er von I. A. Wsewoloschki, dem Direktor des Kaiserlichen Theaters in St. Petersburg, den Auftrag zu der märchenhaften Feerie erhielt, gerade in einer ausgesprochen fruchtbaren Arbeitsphase befand. Er arbeitete an seiner fünften Symphonie (das Cello-Solo aus „Dornröschen“ ist ein fast wörtliches Zitat aus der fünften Symphonie) und auch „Pique Dame“ entstand in dieser Zeit. Allerdings hatte er sich seit „Schwanensee“, das mehr als zehn Jahre zurücklag, nicht mehr mit Ballett beschäftigt, und sich seither kompositorisch weiterentwickelt. Hier tritt nun ein Meister des symphonischen Tongemäldes vor uns, nicht zuletzt in der Art und Weise, wie er Leitmotive einsetzt, um die Geschichte zu entfalten. Und „Dornröschen“ ist – nicht nur für die Tänzer auf der Bühne - eine virtuose Komposition für das Orchester und gibt allen Instrumenten wichtige, glanzvolle Aufgaben, der Violine und dem Cello, der Oboe wie der Klarinette bis hin zum Triangel. Dadurch erweist sich Tschaikowski als Komponist, der für das Ballett nicht nur Brosamen vom Tisch seines Genies übrig läßt, sondern seine ganze Größe in den Dienst des Tanzes stellt. Und er tut dies mit Demut, wenn er in seinen Solo-Variationen mit einfacher Textur dem Tänzer dient, um dem Dirigenten ein Höchstmaß an Flexibilität zu ermöglichen, die wiederum dem Tänzer Gestaltungsfreiheit in Tempo und Phrasierung gibt ... IV. Da es seinerzeit mit „Schwanensee“ einige Probleme gegeben hatte, wurde gleich nachdem Tschaikowski seine Einwilligung zu I. A. Wsewoloschkis Ballettentwurf gegeben hatte, Marius Petipa zur Zusammenarbeit herangezogen. Petipa war damals siebzig Jahre alt, seit sechsundzwanzig Jahren Ballettmeister des kaiserlichen Balletts und hatte bere its nahezu alle seiner 42 Ballettchoreographien kreiert. Von diesen „Balletts à grand spectacle“ sollte „Dornröschen“ das berühmteste werden. Dafür verfasste Petipa eine detaillierte Szenenabfolge, die so genannte „Minutage“, in der jeder Abschnitt und jed er Tanz detailliert festgelegt war. Zu diesem Entwurf stellte Tschaikowski dann innerhalb von 40 Tagen die Komposition fertig. Aber auch wenn sich die Instrumentation als etwas schwieriger erwies, so berichtete Tschaikowski doch seiner Mäzenin Nadeschda von Meck mit großem Enthusiasmus er sei sicher, es würde eine seiner besten Arbeiten werden. Igor Strawinski, der selbst die Uraufführung von „Dornröschen“ erlebte und später im Auftrag von Sergei Diaghilev einige Teile des Werkes für die Aufführungen in London 1921 neu instrumentieren sollte, schrieb über die Komposition in einem Brief an den Impresario: „Für mich als Musiker ist es eine große Befriedigung, ein Werk, das einen so unmittelbar anspricht, aufgeführt zu sehen, und zwar zu einer Zeit, in der so viele Menschen, die weder einfach noch naiv oder spontan sind in der Kunst Einfachheit, Ursprünglichkeit und Spontanität suchen. Tschaikowski besaß von Natur aus diese drei Gaben in höchstem Maße. Deshalb fürchtete er sich nicht davor, sich gehen zu lassen. Die Prüden hingegen waren schockiert von der ungehemmten, ungekünstelten Sprache der Musik. Tschaikowski besaß eine große melodische Kraft und diese bildete bei ihm den Schwerpunkt in jeder Symphonie, in jeder Oper und in jedem Ballett. Er war ein Schöpfe r der Melodie und dies ist eine sehr seltene und kostbare Begabung.“ V. Blickt man in der Folge auf die Geschichte der „Dornröschen“-Rezeption, so lassen sich zwei große Tendenzen – eine an Petipa orientierte, eher restauratorische Sicht und ein reformatorischer Zugriff – im Umgang mit dem Werk festmachen, die sich gleich zu Beginn der 8 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ Verbreitungsgeschichte etablieren sollten. Anders als man es vielleicht erwartet, stand aber zu Beginn der Aufführungstradition nicht der samthandschuhene Umgang mit einem a ls sakrosankt empfundenen Meisterwerk, sondern der zum Teil pragmatisch begründete, zum Teil durch eigene künstlerische Ideen bedingte gestalterische Zugriff auf das Werk. Und, während es in Russland an den Theatern in St. Petersburg und Moskau eine weitge hend kontinuierliche Aufführungstradition gab, dauerte es letztlich bis zur Londoner Produktion von 1946, dass sich das heute in der Vorstellungswelt vieler eingeprägte Bild vom klassisch romantischen Ballett russischer Provenienz im Westen etablieren konnte. VI. Nach der Uraufführung 1890 am Mariinski Theater in St. Petersburg wurde bereits 1896 an der Mailänder Scala in der Choreographie von Giorgio Saraccos glücklos „La bella del bosco dormiente“ herausgebracht – weitreichend und wichtig in der Wirkung hingegen war die Produktion von Sergei Diaghilevs Ballets Russes aus dem Jahre 1921. Unter dem Titel „The Sleeping Princess“ – um Verwechslungen mit einer traditionellen englischen Pantomime zu vermeiden – brachte der russische Impresario nach einer Reihe moderner Ballettproduktionen in London „Dornröschen“ heraus. In der von Nikolai Sergejew einstudierten Choreographie Marius Petipas gab es allerdings einschneidende Veränderungen, für die Bronislava Nijinska als Choreographin hinzugezogen wurde. Außerdem wurden zum Teil neue, fremde Musiknummern hinzugefügt und Diaghilev beauftragte Igor Strawinski, einige Nummern Tschaikowskis neu zu instrumentieren. So kam es, dass einerseits – auch durch die Mitwirkung einiger Tänzer der Uraufführung, so des herausragenden Enrico Cecchetti, der den Carabosse und den Blauen Vogel tanzte, und dank der Aufzeichnungen Sergejews – ein hohes Maß an Kontinuität sichergestellt schien, dass aber andererseits die Eingriffe und Neuerungen derart massiv waren, dass Nikolai Sergejew noch vor der Premiere empört ausschied. Die Produktion, die u.a. auch durch die prächtigen Bühnenbild- und Kostümentwürfe von Léon Bakst, extrem kostspielig war, konnte leider das enorme künstlerische und finanzielle Risiko nicht ausgleichen und musste vor zeitig abgesetzt werden. Bereits 1922 brachte Sergei Diaghilev in Paris schließlich eine gekürzte Fassung als unter dem Titel „La Mariage d’Aurore“ heraus, die nur die Feenvarationen des Prologs und den (fast) vollständigen III. Akt umfasste. Ironischerweise wurde diese Arbeit zu einem der populärsten Ballette der Ballets Russes und später von zahlreichen Kompagnien übernommen. VII. Erst mit Nikolai Sergejews Produktion von „Dornröschen“ für das Sadler’s Wells Ballett in London im Jahre 1939 kann von einer kontinuierlichen Tradition unter Berücksichtigung von Petipas ursprünglicher Choreographie gesprochen werden. Diese Produktion stellte quasi das Vorspiel zu der repräsentativen Inszenierung, die die Kompagnie 1946 am Covent Garden herausbrachte, dar. Die stilprägende Ausstattung stammte von Oliver Messel, Robert Helpmann tanzte in einer interessanten Doppel-Deutung den Prinzen und Carabosse und die junge Margot Fonteyn die Aurora. Mit beiden triumphierte das Sadler’s Wells schließlich 1949 in New York, wo die Inszenierung seitdem als das maßgebliche Modell für eine Klassikerproduktion der Petersburger Tradition galt und den Protagonisten als „Bobby and Margot“ zu unsterblichem Ruhm verhalf. 9 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ VIII. In Deutschland lernte man das Tschaikowski-Ballett zuerst in einer Petipa-unabhängigen Choreographie von Tatjana Gsovsky an der Staatsoper Berlin im Jahre 1949 kennen. Nicholas Beriozoffs Stuttgarter Inszenierung 1957 hingegen orientierte sich wieder an Petipa. Bald sollte aber auch hier die Moderne Einzug halten: Bereits 1978 brach John Neumeier in Hamburg radikal mit den hergebrachten Seh- und Erzählgewohnheiten. Sein Prinz trug keine Seidenstrümpfe und Kniehosen mehr, sondern kam in Jeans auf die Bühne, um die Geschichte als Traum zu erleben. Und auch Marcia Haydee erweiterte 1986 in ihrer Choreographie für das Stuttgarter Ballett das Interpretationsspektrum - bei aller Klassikverbundenheit - über die harmlose Feerie Petipas hinaus. Sie baute den Part Carabosses deutlich aus und erzählte das Märchen „Dornröschen“ unter dem Aspekt des auch bei Tschaikowski musikalisch-motivisch angelegten archetypischen Kampfes zwischen Gut und Böse. Den bisherigen Höhepunkt radikaler Neudeutung stellt aber Mats Eks Interpretation des „Dornröschen“ -Stoffes aus dem Jahre 1996 dar. Zur Tonbandeinspielung von Tschaikowskis Musik ließ Mats Ek quasi „keinen Schritt auf dem anderen“ als er das Ballett für die Hamburger Kompagnie neu interpretierte. Bei ihm ist die Geschichte ganz im Heute, in der Gosse des Drogen- und Fixermilieus angesiedelt. Als Ausweg sind hier zwar Rausch- und Traumfluchten möglich, den Figuren ist aber kein Happy Ending mehr vergönnt. IX. Es bleibt bei diesem punktuellen Ausschnitt aus der Dornröschentradition festzuhalten, dass sie, wie sich gezeigt hat, von Anfang an von starken Bearbeitungen und Umformungen geprägt war, dass aber gleichsam parallel dazu eine Restaurationsbewegung einsetzte – passenderweise im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg – die Petipas ursprünglichen Geist zu bewahren suchte; z.B. auch in der Choreographie von Stefan Liška am Staatstheater München 2003. Daraus resultiert heute – auch dank der Verfügbarkeit zahlreicher unterschiedlicher Deutungen auf DVD – in weiten Teilen des begeisterten Ballettpublikums eine Kennerschaft und die Möglichkeit aus der Tradition und ihren Variationen Neues zu gewinnen. Hier setzt Goyo Monteros choreographische Auseinandersetzung mit dem Stoff und seiner Tradition ein, die er bereits 2006 für Valencia erarbeitet hat und 2008 beim Maggio Danza Fiorentino zeigte (diese Aufführung wurde rückblickend zur besten Choreographie des Jahres 2008 gewählt): Seine Sicht auf den Entwicklungsprozess der jungen Menschen lässt ihn die Geschichte in neuer Abfolge erzählen, die Nummern straffen und vor allem auf der Ebene der Zitation und Umdeutung neue Bedeutungszusammenhänge entstehen. Die einst in breiter Architektur und Statuarik flächig angelegte Feerie hat sich unter der Hand zu einem stark beschleunigten Drama gewandelt, das im bewussten freien Spiel mit choreographischen un d musikalischen Mustern neue Einblicke in die Tiefe und Schönheit der Partitur eröffnet und unter der Oberfläche des Märchens ungeahnte Tiefen und Abgründe entdeckt. 10 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ PRESSESTIMMEN In Monteros dunkler Version hat Carabosse das Sagen – fantastisch getanzt von Saúl Vega als eine Mischung aus Schlange und Skorpion. Désiré wird zu seiner Marionette, schwach und lüstern und erliegt gleich mehreren Frauen. Doch der Prinz wächst an seinen Schwächen und besiegt Carabosse erneut. Eindrucksvoll streckt er ihn mit einem langen Kuss nieder und tanzt in einem Pas de deux seine schlafende Aurora zurück ins Leben. Zum Schluss folgt die zweite Auflage des Finales – weniger märchenhaft, mit einem ernüchterten Désiré. Goyo Montero zeigt in seiner Version von Dornröschen ein weiteres Mal seine Begeisterung für das große Gefühl und überrascht mit seinem goldenen Einstieg. Bisher punktete er vor allem mit seinen düsteren Inszenierungen. Auch der zweite düstere Teil des Stücks besticht mit Bildern, die so noch lange in den Köpfen der Zuschauer nachwirken werden, wie der Pas de Deux von Désiré und der schlafenden Aurora – scheinbar nackt getanzt im gleißenden Scheinwerferlicht. Neben den beiden herausragenden Solisten, Iván Gil Ortega als Prinz Désiré und Tamara Michalczyk als wunderbar emanzipierte Prinzessin Aurora, zeigt vor allem auch das Gesamtensemble seine Klasse. Im ersten Teil unterstreichen die Tänzer in goldenen Roben, wie ein Körper, das große Gefühl, im zweiten Teil kämpfen sie als schwarzer Mob der Versuchung gegen Désirés Willen. Untermalt von den Nürnberger Philharmonikern, die immer respektvoll, aber mit würziger Frische an die Musik Tschaikowskis herangehen, schafft Goyo Montero den Spagat. Aus beiden Teilen der Inszenierung entsteht eine fantastische, visuell beeindruckende, moderne Version von Dornröschen, mit der auch Freunde der klassischen Aufführung ihren Spaß haben werden. Matthias Rüd Bayerischer Rundfunk - 14.12.2009 Einen großen Publikumserfolg landete das Ballett Nürnberg mit seiner Einrichtung des Tanzklassikers «Dornröschen« von Peter Tschaikowsky im Opernhaus. Alles fließt. Alles dreht sich. Galant und geschmeidig schälen sich Figuren und Figurinen aus den schnell wechselnden Formationen. Ecken und Kanten sind Goyo Monteros Sache nicht. Nürnbergs Chefchoreograf steht für leidenschaftliches, von hoher Körperspannung geprägtes, Athletik immer in den Dienst der Musik stellendes, aber eben auch neoklassisches Tanztheater. [...] Der andernorts geläufige Name für die Titelheldin, «schlafende Schönheit«, hier wird er zum ästhetischen Prinzip. Ob Hochzeitsdefilee, einsames Umherwirren im Geisterwald oder Nahkampf mit dem Magier: Alle spartanisch möblierten Bilder (Bauten: Josep Simon und Manuel Zuriaga) sind wunderbar durchkomponiert in Licht, Schattenriss, Farben, Timing und klassisch geschulter Bewegung, atmen die Musik perfekt nach, dass man schon fast erschrickt vor so viel tänzerischer Präzision und Akribie. Gerade die kreisrunden Ensemble-Spiralen gestaltet Montero virtuos, aber eben dadurch auch ein bisschen zu glatt, zu gefällig und weiht das Bühnenleben oft zu sehr der Schönheit. Auf seine Tänzer kann sich Nürnbergs Ballettdirektor absolut verlassen. Tamara Michalczyk gestaltet im rosa Ballerinen-Outfit eine selbstbewusste, ganz unpubertäre Prinzessin, die nicht wie ein Ding behandelt, sondern erobert sein will. Iván Gil Ortega verlebendigt den Gutmensch-Prinzen 11 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Dornröschen“ mit Energie und Eleganz, aber es liegt in der Natur der Sache, dass das Böse den interessanteren Charakter hat. Saúl Vega verkörpert den schwarzen Schatten Carabosse ebenso sportiv wie diabolisch durchtrieben. Auch wenn (zum Glück) etliche Variationen wegfielen, auf die SingvögelFee oder den seit Petipas Tagen sprungtechnisch ungemein anspruchsvollen Blauer-Vogel-Part mochte man nicht verzichten. Auch hier ein ironischer Verweis: Hirotaka Seki flattert über einen Trampolin-Parcours zum Pas de deux mit Sayaka Kado. Dazu schlagen die Nürnberger Philharmoniker unter der behenden, mit den Tänzern verständig kommunizierenden Leitung von Philipp Pointner einen satten, wo nötig auch fülligen und pathetischen, aber nie schwerfälligen Tschaikowsky-Ton an. Das abwechslungsreich instrumentierte Konzentrat enthält das Beste aus der Komponierstube. Gerade die pavaneähnliche Mazurka zum Schlussbild, in dem Désiré die tote Aurora trägt, unterstrich die Archaik der Szene. [...] Jens Voskamp Nürnberger Nachrichten - 14.12.2009 Nürnbergs Ballettchef Goyo Montero strafft (um rund eine Stunde) und stellt die Musik Peter Tschaikowskis kräftig um, bläst den Staub aus dem Stoff, lädt ihn mit viel Tempo und akrobatischer Bewegung auf – um danach doch die altbekannte Geschichte zu erzählen. Aber er tut es mit so viel Esprit und bildstarker Fantasie, dass das Tanzstück seit seiner Uraufführung im Jahr 2006 im spanischen Valencia (damals unter dem Titel «La bella durmiente«) und dem Kritiker-Preis 2008 beim Festival Maggio Danza Fiorentino den Erfolg wie einen Bauchladen vor sich herträgt. Kein Wunder, dass in der dritten Auflage bei der Premiere im Opernhaus am Samstagabend der Sprung zum umjubelten Erfolg kürzer war als Désirés Weg zum Herzen Auroras. Was in der jungen Dame zwischenzeitlich vorgegangen sein mag, können wir nur ahnen, denn Montero zeigt sie lediglich als begehrenswertes Objekt: fröhlich-keck (Tamara Michalczyk setzt diese Frische wunderbar im Tanz um) mit blütenartig-bauschendem Röckchen in der von der «guten« Weißen Fee (Denise Churchward) beschützten Gesellschaft der Ensembletänzer oder in den Klauen der schwarz-betuchten, qualmenden Welt der «bösen« Fee Carabosse (Saúl Vega tanzt dämonisch schöne, flinke Soli). [...] In der zweiten, deutlich düsteren Hälfte ringt Désiré mit der Verführung in Form von Dornröschens vierfachem Schatten und den lüstern-schwarz gekleideten Helferinnen Carabosses. Gastsolist Iván Gil Ortega gewinnt hier tänzerisch ausdrucksstark Profil und schüttelt die ihm auferlegte staunende Passivität – der «reine Tor« Parsifal ist ihm ein Bruder im Geiste – erst ab, als er die wie eine Klette an ihm klebende Carabosse kräftig würgt und in die Schranken weist. Wie Klingsors Zauberreich zerfällt Carabosses finsterer Spuk, weder schwarz noch weiß, sondern hautfarben unspektakulär reihen sich Désiré und Aurora ein in den kollektiven Reigen der heterosexuellen Paare. [...] Viel Schönheit, aber vor allem viel dramatischen Pfeffer und temporeiche Unruhe fanden die Philharmoniker mit Philipp Pointner im gestrafften Tschaikowski. Vom Jubel haben sie sich einen ordentlichen Anteil verdient. Thomas Heinold Nürnberger Zeitung - 14.12.2009 12