Zur Wiedergewinnung des Subjekts - Ruhr

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Zur Wiedergewinnung des Subjekts –
Erkenntnistheoretische Grundlagen
subjektorientierter Sportwissenschaft
DISSERTATION
zur
Erlangung des akademischen Grades
eines Doktors der Sportwissenschaft
der Fakultät für Sportwissenschaft
der Ruhr-Universität Bochum
vorgelegt von
ANDRÉ HEMPEL
Ruhr-Universität Bochum, 2008
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ................................................................................................ - 1 1
Das mechanistische Weltbild ...................................................... - 7 1.1
1.2
1.3
1.4
2
Der dualistische Ausgangspunkt ................................................ - 8 1.1.1
Mathematisierung der Welt ........................................... - 10 -
1.1.2
Der Zweifel als Fundament der Erkenntnis................... - 14 -
1.1.3
Dualismus von Geist und Körper .................................. - 18 -
1.1.4
Descartes’ Wirkung ....................................................... - 20 -
1.1.4.1
Freiheit als Befreiung ins Leere .................................... - 20 -
1.1.4.2
Dogmatik ....................................................................... - 23 -
1.1.4.3
Der Erfolg des mechanistischen Paradigmas ................ - 25 -
1.1.5
Das Objektivitätspostulat .............................................. - 27 -
1.1.6
Die Mechanisierung des Denkens ................................. - 31 -
Auswirkungen der Mechanisierung im Sport ........................... - 35 1.2.1
Der okzidentale Leistungsbegriff .................................. - 37 -
1.2.2
Die Transformation des Leibes zum Körper ................. - 42 -
1.2.3
Das Beispiel Bildungsstandards .................................... - 51 -
Grenzen des objektivistischen Paradigmas............................... - 56 1.3.1
Am Beispiel des Kognitivismus .................................... - 56 -
1.3.2
Am Beispiel der Quantenphysik ................................... - 64 -
1.3.3
Die Frage nach dem Beobachter ................................... - 68 -
1.3.3.1
Beobachterproblem in der Physik ................................. - 68 -
1.3.3.2
Beobachterproblem in der Biologie .............................. - 72 -
1.3.3.3
Beobachterproblem in der Soziologie ........................... - 75 -
1.3.3.4
Beobachterproblem in der Kunst .................................. - 76 -
Zwischenbilanz ......................................................................... - 77 Phänomenologie ........................................................................ - 80 -
2.1
Ansätze zur Bestimmung des Begriffes.................................... - 80 -
2.2
Erkenntnistheoretische Ausgangssituation ............................... - 83 -
2.3
Ursprung der phänomenologischen Denkweise ....................... - 87 -
2.4
Grundlagen der Husserlschen Phänomenologie ....................... - 97 2.4.1
Phänomenologie als Wesenslehre ................................. - 97 -
2.4.2
Eidetische Reduktion .................................................. - 102 -
2.4.3
Phänomenologische Reduktion ................................... - 104 -
2.4.4
Intentionalität des Bewusstseins ................................. - 110 -
2.5
3
2.4.5
Fruchtbarkeit der Phänomenologie Husserls .............. - 115 -
2.4.6
Kritische Betrachtungen .............................................. - 119 -
Überlegungen zu einem weiterführenden Ansatz ................... - 124 2.5.1
Die französische Philosophie der leiblichen Existenz - 124 -
2.5.2
Mein Leib als Tatsächlichkeit ..................................... - 126 -
2.5.2.1
Zur-Welt-sein .............................................................. - 128 -
2.5.2.2
Präobjektivität ............................................................. - 131 -
2.5.3
Der Leib-für-Andere ................................................... - 133 -
2.5.4
Phantomglied............................................................... - 135 -
2.5.5
Ambiguität des Leibes................................................. - 140 -
2.5.6
Der Leib als Erkenntnismonopol? ............................... - 145 -
2.5.7
Das ontologische Konzept der Schichtung ................. - 148 -
Prozesse leiblichen Erkennens ................................................ - 152 3.1
Wahrnehmung als intentionale Aktivität ................................ - 153 -
3.2
Die habituelle Konstitution von Erfahrung ............................ - 155 -
3.3
4
3.2.1
Habitualität des Leibes ................................................ - 155 -
3.2.2
Doppelter Erfahrungsbezug von Erkennen ................. - 158 -
3.2.3
Inkorporierte Sozialstrukturen .................................... - 162 -
3.2.4
Der Leib als Erkenntnisquelle ..................................... - 165 -
3.2.5
Leibliches Verstehen ................................................... - 167 -
3.2.6
Die Methode der Ideierung ......................................... - 170 -
Qualitative Forschung ............................................................ - 174 3.3.1
Zur Kritik an der quantitativen Sozialforschung ......... - 175 -
3.3.2
Zentrale Prinzipien qualitativer Forschung ................. - 177 -
Sportpädagogische Implikationen ........................................... - 180 4.1
Konturen einer subjektorientierten Selbstbewegungstheorie . - 181 -
4.2
Das Bildungspotenzial des Sports… ...................................... - 189 -
4.3
…und gesellschaftliche Bedingungen für dessen Realisierung- 197 -
4.4
Zur Verbesserung der Lehrerausbildung ................................ - 200 -
4.5
Fazit ........................................................................................ - 205 -
5
Literaturverzeichnis ................................................................ - 208 5.1
Husserls Werke (Husserliana = Hua) ..................................... - 208 -
5.2
Auswahlbibliographie............................................................. - 208 -
Einleitung
-1-
Einleitung
Der Ausgangspunkt für die heute noch tief verwurzelten Vorstellungen
von der Welt und den Dingen reicht bis zu den alten Denkern zurück,
deren Ideen in unserer heutigen okzidentalen Kultur teilweise
wiedergeboren sind. Platon verurteilte Unmessbarkeit, Unwägbarkeit und
Unvernunft des Bildhaften; Galilei prägte der abendländischen
Gesellschaft ein, alles müsse gemessen und gewogen werden, und was
nicht messbar und wägbar sei, solle mess- und wägbar gemacht werden.
Alles aber, was nicht mess- und wägbar zu machen sei, existiere nicht.
Solange wir messen und wiegen können, fühlen wir uns auf sicherem
Grund, alles andere scheint uns verdächtig, wird uns von Jugend an
verdächtig gemacht. Zwar kennen wir Hamlets „Es gibt mehr Dinge auf
Himmel und Erden, als eure Schulweisheit sich träumen lässt“, aber wir
wollen es nicht hören, halten uns für Realisten und sind auch noch stolz
darauf.
Vor
allem
Zahlenmaße
suggerieren
eine
Welt,
die
potenziell
beherrschbar ist. Die Übersetzung der Welt in Zahlen und quantitative
Maßeinheiten verheißt Sicherheit durch mögliche Kontrolle und
Vorhersehbarkeit. Dieses Maß, das wir gesetzt haben und nach dem wir
alles zu beurteilen versuchen, ist eine künstliche Einheit, dazu erdacht,
die Dinge messbar zu machen, zu objektivieren.
Wissenschaft bedarf eines solchen Systems der Objektivierung. Schon
die Aktivform „objektivieren“ verrät, dass ein aktives Eingreifen nötig
ist, um zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen, und lässt ahnen, wie
es um Objektivität bestellt sein muss. Dennoch brauchen wir Systeme
und Skalen, gleichsam Raster der Weltsicht, um uns in der Welt
zurechtzufinden.
Gleichgültig, wie die Maß-Skala, die wir aufstellen, aussieht, ihr Maß ist
immer linear. Die gegebene Ordnung bestimmt, dass zwei nie vor eins
kommt. Die Menschheit verfügt über sehr genaue Skalen, um die Dinge
zu messen. Da unsere Skalen teilbar sind und die Einheiten dank der
Einleitung
-2-
modernen Wissenschaft immer kleiner werden, sind die Messergebnisse
genauer denn je, die Objektivität scheinbar objektiver denn je.
Nun könnte man meinen, dass dieses Weltbild das Angemessenste, weil
Nützlichste sei - zumal es die Voraussetzung für beachtliche Erfolge der
Menschheit
darstellt.
Dabei
übersieht
man,
dass
durch
jene
objektivierende Haltung eine Trennung in analytische und intuitive
Informationen betrieben wird, wobei eine Überwertung des Rationalen
gegenüber dem Emotionalen augenfällig ist. Es gibt nun aber einmal
Dinge, Strömungen, Informationen, die nicht messbar sind auf den
linearen Skalen, sich weder messen noch wiegen lassen mit den Mitteln,
die
der
Verstand
bereithält.
Das
Gefühl,
die
Intuition,
die
Vorstellungskraft und Sinnlichkeit bleiben unter diesen Voraussetzungen
ausgeschlossen; die so genannte exakte Wissenschaft setzt Messbarkeit
voraus, also muss das nichtlineare Gefühl als störend empfunden,
möglichst ausgegrenzt werden. Dem allgemeinen Denken wohnt nach
wie vor eine Fixierung auf das Rationale und auf lineare Messbarkeit
inne. Wie oft hören (oder sagen) wir den Satz: Die Sache müssen wir
einmal ganz emotionslos angehen! Damit geben wir uns erneut der
Illusion hin, die Dinge ließen sich alle in die lineare Ordnung bringen, für
die unsere Skalen taugen.
Die Welt sei eine Maschine, und wenn wir im Teilen ihrer Teile lange
genug fortfahren, werden wir endgültig wissen, wie sie funktioniert, „was
die Welt im Innersten zusammenhält“. Mit der Bevorzugung des
Teilungsgedankens vor dem Ganzheitsgedanken hängt auch die enorme
Wissenschaftsgläubigkeit des Okzidents zusammen. Die wurde zuletzt in
der politisch aufgeladenen Zeit der 1960er Jahre als ungebremster
Fortschrittsoptimismus enthüllt, der besagt: Alles was machbar ist, ist
wünschenswert und wird ausgeführt. Für die damaligen Kritiker war
positivistisches Denken das Problem und der Atombombenabwurf über
Hiroshima das Exempel. Heute erscheinen die ethischen Debatten über
Gentechnik als Neuauflage der Thematik des Positivismusstreits. Längst
müssen sich Naturwissenschaften die Frage gefallen lassen, was über die
Konstruktion von Tatsachen hinaus eigentlich sein soll. Gleichwohl
Einleitung
haben
-3-
die
Naturwissenschaften
zunehmend
frühere
„Lebenswissenschaften“ wie Philosophie und Theologie abgelöst.
Man braucht aber nicht bis in weltpolitische Zusammenhänge
vorzudringen um einzusehen, dass solcherart Fortschrittsgläubigkeit auch
in anderen, kleineren Bereichen wirkmächtig ist. Prägnant ist in diesem
Zusammenhang die gegenwärtige Diskussion um Standards für Bildung.
Im Rahmen der Bestrebungen, Lernergebnisse von Schülern überprüfbar
zu machen und also evaluieren zu können, wird die Neigung zum Messen
besonders auffällig. Man versucht, Bildung in Skalen zu erfassen, die
gesellschaftlich vereinbarte Maßstäbe spiegeln. Die Maßstäbe sind in
industriellen Gesellschaften auf praktische und wissenschaftliche
Tüchtigkeit bezogen. Bei der Fokussierung auf diese Maßstäbe scheint
Entscheidendes aus dem Blick zu geraten:
„Zusammenhang herstellen, Sinn geben, bewerten (nicht nur
begründen), etwas auf sich beziehen, etwas genießen können,
Vergangenes
rekonstruieren,
Künftiges
entwerfen,
Einzigartiges verstehen, Ambiguität oder Aporie aushalten“
(v. Hentig, 2003, V28).
Die
Entfaltung
und
Gestaltungsvermögens,
Verfeinerung
die
des
Beobachtung
Wahrnehmungs-
und
und
der
Beachtung
Mitmenschen, das Gemeinwohl, all dies sind Kompetenzen, die durch
PISA oder TIMMS nicht gemessen werden können und deshalb
außerhalb jeder evaluierenden Bestandsaufnahme verbleiben müssen.
Solche Tests orientieren sich anscheinend zu sehr an formalen
Kompetenzen. Nimmt man ausschließlich die Rechen- und Lesefähigkeit
als Maßstab für Bildung, so überrascht es nicht, dass Japan trotz (oder
wegen) seines autoritären Unterrichtsstils und einer entsprechend hohen
Selbstmordrate unter Schülern im direkten Vergleich mit deutschen
Schulen besser abschneidet. V. Hentig (2003, V9-V10) warnt zu Recht
davor, sich an solchen Maßstäben zu orientieren und Standards für
Bildung an solchen Vorbildern auszurichten. Was Bildung ausmacht,
nämlich was der sich bildende Mensch aus sich macht, muss bei
standardisierten Verfahren, die auf Rankingplätze schielen, notwendig
übersehen werden.
Einleitung
-4-
Dass musische Fächer wie Sport von PISA gar nicht erst erfasst und
daher auch deren Optimierung den Kommissionen zur Erstellung von
Standards
nicht
übertragen
wurde,
kann
zugleich
als
eine
gesellschaftliche Geringschätzung „nicht-kognitiver“ Schulfächer oder
als
Glücksfall
verstanden
werden.
Dennoch
gibt
es
durchaus
Bestrebungen, Sportunterricht im Rahmen einer „Qualitätsoffensive“ zu
verbessern, wobei sich dasselbe Phänomen zeigt wie in den drei von
PISA bewerteten „Hauptfächern“:
„Je mehr versucht wird, die gewünschten Ergebnisse des
Unterrichts operational und damit testtauglich zu
beschreiben, desto mehr drängen sich sportmotorische
Leistungen und körperliche Fähigkeiten sowie abprüfbare
Wissensbestände in den Vordergrund“ (Kurz, 2006a, 5).
Was Kurz hier beschreibt, ist ein weiteres Beispiel für den
gesellschaftlich
inkorporierten
Messfetischismus,
der
alsbald
im
Sportunterricht zutage tritt.
Leistung wird generell als Messbares definiert. Nicht Messbares
betrachtet man bestenfalls als nebensächlich, wenn nicht gar als nicht
existierend. Die Testbatterie von FoSS1 für geplante NRW Sportschulen
verdeutlicht die Virulenz dieses Phänomens. Die vorgesehenen Tests
erfassen
motorische
Dimensionen
und
die
„Konstitution“,
die
ausdrücklich durch „Wiegen, Messen und BMI“ konstruiert wird. Das
Leistungsverständnis im Sportunterricht wird so auf testtaugliche
motorische Fähigkeiten reduziert, wobei die Pointe darin liegt, dass der
BMI auf Gewicht und Länge rekurriert, wodurch die Waage ernsthaft zur
Testmethode für Schulen eingeführt werden soll (vgl. Beckers, 2006, 59).
Die Aussagekraft des Tests erschöpft sich damit in der Feststellung
äußerlicher
Körpermaße,
die
nach
willkürlich
festgelegten
Normwerttabellen bewertet werden2. Das damit zugrunde liegende
1
Forschungszentrum für den Schulsport und den Sport von Kindern und
Jugendlichen, Karlsruhe.
2
Die Willkürlichkeit von Normwertfestsetzungen durchleuchtet Körner (2008).
Seine systemtheoretische Analyse ergibt, dass die Normierung und also Entsubjektivierung der „adipösen“ Kinder durch motorische Testverfahren und BMI das
gesellschaftlich nicht ohne Hysterie kommunizierte Problem Übergewicht erst kollektiv
Einleitung
-5-
Menschbild ist erschreckend mechanistisch, zumal es in pädagogischen
Einrichtungen zur Anwendung kommen soll3. Der Sinn solcher
Messungen wird offenbar dem Messen an sich untergeordnet. Das hängt
damit zusammen, dass quantitative Angaben einzig geeignet scheinen,
Entscheidungsträger dieser Gesellschaft zu überzeugen.
Viel wichtiger scheint jedoch die Frage, ob eine Verbesserung von
Sportunterricht nicht gerade durch die Konzentration auf nicht-messbare
Faktoren erzielt werden könnte. Folgerichtig sind Maßnahmen zur
Erkenntnis solcher für den Unterricht generell maßgeblicher Faktoren,
wie bspw. soziale Kompetenzen, also Empathie, Rücksichtnahme und
Kooperation, zu eruieren. Dazu ist die Aufmerksamkeit von Objekten,
wie
Inhalten,
Bedingungen
und
Fertigkeiten
zu
den
in
den
Sportunterricht verwickelten Subjekten zu verlagern. Um die ins
Blickfeld zu befördern, ist allem Anschein nach von Standardisierungen
und Perspektiven der „dritten Person“ abzurücken und vielmehr die Sicht
der „ersten Person“, also die individuelle Erfahrung des Subjekts - des
Schülers und des Lehrers - aufzuschließen. Zu diesem Zweck erscheinen
hermeneutische und phänomenologische Perspektiven zielführender als
vermeintlich objektive Messungen von Äußerlichkeiten.
erzeugt, weil die als fettleibig stigmatisierten Kinder die kolportierte soziale Verachtung
auch selbst gleichsam durch ihre Erfahrung hindurch reproduzieren. Es scheint darauf
anzukommen, „dass man durch die Ergebnisse, die man vorlegt, die Bedingungen für
eine Vertragsverlängerung erfüllt“ (Luhmann. Zit. nach: ebd., 134). „Geld fungiert hier
als Energieäquivalent“ (ebd.). Luhmann spricht hierbei von einer „Kybernetik des
Heuschreckenschwarms“: Die gleichen Diagnostiker, die Übergewicht durch
Eindeutigkeit suggerierende Daten feststellen, lancieren anschließend entsprechende
Therapiekonzepte. Schließlich geht eine mittlerweile hoch ritualisierte Betroffenheitsund Alarmrhetorik in der Sache deutlich über das hinaus, was sich letztlich halten lässt
(vgl. ebd., 135). Untermauert wird dieser Befund durch den Umstand, dass über
untergewichtige und essgestörte Jugendliche aufgrund des aktuellen Schlankheitsideals
nicht in dieser Form kommuniziert wird, obwohl es derer genauso viele gibt (vgl.
Beckers, 2006, 61). Außerdem ist es zur Bewältigung des „Legitimationsproblems der
Schulsportpädagogik bzw. -didaktik“ (Körner, 2008, 157) nicht ausreichend, entlang
solcher Zahlen zu argumentieren, weil Sport gegen Übergewicht keine pädagogische
Relevanz aufweist und - folgt man der rein quantitativen Argumentation - in den
außerschulischen Bereich verlegt werden könnte.
3
Dies betrifft in zunehmendem Maße auch andere Fächer. Da alles was wir
geistig tun, seelisch fühlen und in Beziehungen gestalten, seinen Niederschlag in
körperlichen Strukturen findet (vgl. Bauer, 2002), macht, wie es Thure von Uexküll
auszudrücken pflegt, eine Medizin für „Körper ohne Seelen“ ebenso wenig Sinn wie
eine Psychologie für „Seelen ohne Körper“.
Das mechanistische Weltbild
-6-
Das Denken in Objekten ist derartig tief in unserer Vorstellung von Welt
eingegraben, dass es notwendig erscheint, etwas auszuholen um die
Wurzeln dieses Denkens sichtbar zu machen, das anscheinend einem
generellen Verlust des Subjekts Vorschub leistet. Um einen Beitrag zur
Kompensierung des vorläufig festzustellenden Defizits - des Verlusts des
Subjekts - zu leisten, werden im Verlauf der vorliegenden Untersuchung
zunächst die Bedingungen der Möglichkeit analysiert, die zur Entstehung
der
aktuellen
mechanistischen
Erkenntnisperspektive
führen.
Anschließend werden die, sich sukzessive abzeichnenden, Grenzen
dieses Paradigmas ausgelotet. Von dort aus wird unter Anwendung
phänomenologischer Methodik die Suche nach alternativen bzw.
komplementären Erkenntnisperspektiven aufgenommen.
Die vorliegende Untersuchung zielt zwar auf Sportwissenschaft, aber
deren Probleme können erst durch eine wissenschaftstheoretische
Analyse verdeutlicht werden. Ziel der Analyse ist die Entfaltung
erkenntnistheoretischer
Begründungen
für
eine
Theorie
subjektorientierter Sportwissenschaft, die natürlich nicht erschöpfend
ausgearbeitet, sondern vielmehr nur konturhaft vorgezeichnet werden
kann. Die Elemente, die im Untersuchungsverlauf aufgegriffen werden,
können als Fundament für weiter reichende sportwissenschaftliche
Betrachtungen fungieren.
Diese Dissertation wird der sportwissenschaftlichen Fakultät der RuhrUniversität Bochum vorgelegt. Ich danke meinen akademischen Lehrern,
Edgar Beckers für die ausgezeichnete Betreuung und Torsten SchmidtMillard für Korrekturen und Hinweise, sehr herzlich. Besonders möchte
ich meinen Eltern danken, die mein Studium zu jeder Zeit und in
jedweder Form unterstützt haben. Deshalb ist ihnen dieses Buch
gewidmet.
Köln, im Dezember 2008
André Hempel
Das mechanistische Weltbild
1
-7-
Das mechanistische Weltbild
Um Quellen des neuzeitlichen Weltbildes zu ermitteln, scheint es
hilfreich,
aus
historischer
Perspektive
auf
die
Schwelle
vom
mittelalterlichen, mystischen Denken zur neuzeitlichen Wissenschaft
hinzuweisen, da hier die Vernunft, als Bedingung der Mechanisierung,
entscheidend aufgewertet wurde.
Im 16. und 17. Jahrhundert formt sich jene weltanschauliche
Grundeinstellung, die heute als „neuzeitliche“ bezeichnet ist4. Mit der
Veröffentlichung von Kopernikus Werk De Revolutionibus Orbitum
Coelestium (1543) wird nicht nur ein Weltmodell durch ein anderes
ersetzt, „sondern ein neuer und universaler Wahrheitsanspruch etabliert“
(Blumenberg, 1965, 41), der aber nicht auf der göttlichen Offenbarung,
sondern auf dem rationalen Denken beruht. Die Kopernikanische
Revolution war eine Revolution der Denkart; sie schuf ein neues
Paradigma.
4
Blumenberg identifiziert diese Zeit als Epochenschwelle, indem er den letzten
noch als sicher mittelalterlich zu charakterisierenden Denker (Nikolaus von Kues 14011464) mit dem ersten schon neuzeitlichen (Giordano Bruno 1548-1600) konfrontiert
und zwischen ihnen die Periode des Umdenkens ansiedelt. Das Ereignis des
Epochenwandels sei fließend und innerhalb dieser Zeitspanne zu verorten (vgl.
Blumenberg, 1966, 436f.). Die genannten Gestalten sind allerdings keineswegs
Prototypen, an denen das Wesen der jeweiligen Epoche festgemacht werden kann.
Das mechanistische Weltbild
-8-
1.1 Der dualistische Ausgangspunkt
Die prägende Figur für den Beginn der Neuzeit war Galileo Galilei
(1564-1642). Er legte für die „Mechanisierung“, mithin den „Übergang
vom antik-mittelalterlichen zum klassisch naturwissenschaftlichen
Denken“ (Dijksterhuis, 1956, 372), den Grundstein, denn er unternahm
den Versuch, die Welt allein durch mathematische Hinsichten zu
erklären.
„Die Philosophie steht in diesem großen Buch geschrieben,
dem Universum, das unserem Blick ständig offenliegt. Aber
das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die
Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut
gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache
der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind
Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die
es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu
verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth
umher“ (Galilei. Zit. nach: Bellone, 2002, 84).
Galilei beschränkte seine Studien auf Merkmale, die gemessen und
quantifiziert werden können: Formen, Zahlen und Bewegungen von
materiellen Körpern. Andere Eigenschaften wie Farbe, Geschmack,
Klang, Geruch und Gefühle seien demnach unwissenschaftlich, da sie der
quantitativen Messung nicht zugänglich sind (vgl. Bellone, 2002, 28).
Durch Galilei wird das Weltbild mathematisiert, indem Welt als
mechanisch bestimmbar angenommen wird. Bei ihm lässt sich der erste
Ausgangspunkt für die folgenreiche Mechanisierung des Weltbildes
feststellen.
„Dahin schwinden Sicht, Klang, Geschmack, Berührung und
Geruch, und mit ihnen sind seither dahin Ästhetik und
moralische Empfindsamkeit, Werte, Qualität, Form; dahin
sind auch Gefühle, Motive, Absichten, Seele, Bewusstsein,
Geist. Die Erfahrung an sich ist aus dem Reich
wissenschaftlicher Forschung ausgestoßen worden“ (Laing.
Zit. nach: Capra, 1983, 53).
Das mechanistische Weltbild
-9-
Durch die Reduzierung der Natur auf Quantitäten findet offenbar eine
Verengung der Weltsicht statt. Fortan wird die Welt als materielle, als
Objektwelt angesehen.
„Man kann wohl sagen, dass erst durch Galilei die Idee einer
Natur als einer in sich real abgeschlossenen Körperwelt an
den Tag tritt. In eins mit der zu schnell zur
Selbstverständlichkeit gewordenen Mathematisierung ergibt
das als Konsequenz eine in sich geschlossene Naturkausalität,
in der alles Geschehen eindeutig und im Voraus determiniert
ist. Offenbar ist damit auch der Dualismus vorbereitet, der
alsbald bei Descartes auftritt“ (Hua VΙ, 61).
Das mechanistische Weltbild ist eng verbunden mit einem strengen
Determinismus, mit der Auffassung einer kausalen und völlig
determinierten kosmischen Maschine. Nach dieser Auffassung hat alles,
was geschieht, eine definitive Ursache und eine definitive Wirkung.
Kristallisiert hat sich diese Position später im „Laplaceschen Dämon“
(nach Pierre Simon de Laplace 1749-1829). Jener sei in Kenntnis
sämtlicher Naturgesetze und in der Lage, wenn ihm einmal der Zustand
der Welt zu einem einzigen Zeitpunkt vollständig bekannt sei, alle
nachfolgenden und auch vorhergehenden Zustände der Welt aus den
Naturgesetzen zu berechnen (vgl. Heiden, 1996, 99). „Objektiver Zufall“
(ebd.) sei demnach ausgeschlossen. Deshalb könne die Natur prinzipiell
objektiv beschrieben werden. Diese Objektivität wurde zum Ideal der
gesamten
Naturwissenschaften
und
damit
zur
Triebfeder
der
Mechanisierung des Weltbildes.
Die Gedanken Kopernikus’, Keplers sowie die mathematischen Erfolge
Galileis bildeten den Nährboden für die Philosophie Rene Descartes’
(1596-1650), die das aristotelische Weltbild ablöste. Die Vorherrschaft
des rationalen Denkens, die mit Descartes ihre Erfolgsgeschichte antritt,
bringt ungeheure Fortschritte im menschlichen Können und Wissen und
damit starke Veränderungen der Weltanschauung. Die Quellen der
Mechanisierung des Weltbildes sind durchaus bei Galilei, aber
insbesondere im Cartesianismus, der allgemeingültigen Interpretation
von
Descartes’
Philosophie,
zu
vermuten.
Deshalb
wird
das
cartesianische Denken im Folgenden auf diese Quellen untersucht, um im
Das mechanistische Weltbild
- 10 -
weiteren Untersuchungsverlauf Anhaltspunkte für Entstehung und
Struktur der mechanistischen Erkenntnisperspektive ausmachen zu
können.
1.1.1 Mathematisierung der Welt
Die „radikale Revolution der Weltansicht vollzieht sich in der
Philosophie der Neuzeit“ (Heidegger, 1985, 17). Diese Philosophie
erscheint zum ersten Mal voll ausgebildet in dem System des Descartes.
Er schuf ein neues, systematisierendes und allumfassendes Weltbild,
welches die Scholastik der Kirche seinerzeit immer weniger glaubwürdig
bereitstellen konnte.
„Descartes inauguriert eine völlig neuartige Philosophie:
ihren gesamten Stil ändernd, nimmt sie eine radikale
Wendung vom naiven Objektivismus zum transzendentalen
Subjektivismus, der in immer neuen und doch immer
unzulänglichen Versuchen auf eine notwendige Endgestalt
hinzustreben scheint“ (Hua Ι, 46).
Der Subjektivismus ist bei Descartes gekennzeichnet durch die zentrale
Stellung des menschlichen Denkens sowie der daraus hervorgehenden
Ideen. Descartes kapriziert den Subjektbegriff auf das Denken.
Ähnlich der scholastischen Philosophie verfolgt er die Absicht, ein
Weltbild zu entwerfen, das im Prinzip fertig ist und an dem nur noch
Detailarbeit verrichtet zu werden braucht (vgl. Russell, 1970, 196). Er
strebt nach absoluter Gewissheit und einem vollkommen zuverlässigen
Erkenntnisfundament. Die Welt könne vollständig erkannt werden. Und
die notwendige Methode dazu sei die der Mathematik. Das Ziel musste
also sein, ein neues philosophisches Gedankensystem zu errichten,
welches wahre Gewissheit durch Intuition und mathematische Deduktion
erreicht.
Dieser Glaube an absolute Gewissheit entspricht einer deterministischen
Einstellung. Der Glaube an die Gewissheit wissenschaftlicher Erkenntnis
bildet die eigentliche Grundlage der cartesianischen Philosophie und der
daraus abgeleiteten Weltanschauung.
Das mechanistische Weltbild
- 11 -
Es war die Grundannahme Descartes’ - der hierin Galilei folgt - dass die
Struktur der Außenwelt dem Wesen nach mathematischer Art sei und
dass zwischen dieser Struktur und dem mathematischen Denken des
menschlichen Geistes eine natürliche Harmonie bestehe. Die neue
Methodologie von Galilei beinhaltet die
„Mathematisierung der natürlichen Erkenntnis. Auf dieser
Basis entwickelte sich der Objektivismus: sobald Galilei die
Welt als angewandte Mathematik entdeckte, verkleidete er
sie wieder als Bewusstseinsleistung“ (Lyotard, 1993, 54).
Descartes hat diesen, als Subjektivismus eskamotierten, objektivistischen
Gedanken bis zu seinen äußersten Konsequenzen weiterverfolgt. Das
heißt, er hat Mathematik, Denken und Naturwissenschaften praktisch
gleichgesetzt.
Und
zwar
nicht,
indem
die
Mathematik
den
Naturwissenschaften nur diene, sondern indem der menschliche Geist das
Wissen über die Natur in gleicher Weise aus sich selbst heraus erzeugt,
wie er dies mit der Mathematik tue. Das gleiche macht Descartes bei
seiner Philosophie.
„Die gesamte Philosophie ist (also) einem Baume
vergleichbar, dessen Wurzeln die Metaphysik, dessen Stamm
die Physik und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften
sind, die sich auf drei hauptsächliche zurückführen lassen,
nämlich auf die Medizin, die Mechanik und die Ethik“
(Descartes, 1992, 8).
Über die Fundierung der Metaphysik und über die Mathematik wird hier
nichts gesagt. Daraus kann man schließen, dass das mathematische
Denken nach Descartes’ Auffassung diese Fundierung bietet (vgl.
Dijksterhuis, 1956, 356). Im Cartesianismus avanciert die Mathematik
zur Metaphysik5.
5
Das Ideal der Mathematisierung, dessen Wurzeln bis zu Pythagoras
zurückreichen, kennzeichnet den europäischen Zeitgeist schon vor der Aufklärung. Man
ist fasziniert von der Schönheit mathematischer Proportionen, in denen scheinbar das
Geheimnis der Welt beschlossen liegt. Selbst in der Kunst der Renaissance entfaltet sich
zunehmend ein mathematischer und experimenteller Charakter. Die „Erfindung der
Zentralperspektive in der Malerei beispielsweise, die die Möglichkeiten der bildenden
Kunst revolutionieren, ist primär ein mathematisches Problem“ (Beckers, 1997, 178).
Albrecht Dürer
erläutert um 1500 die wissenschaftlichen Voraussetzungen
perspektivischen Zeichnens. Damit ist für Kunst nicht länger das individuelle,
ästhetische Gefühl maßgebend, sondern die Proportionen des „Goldenen Schnitts“, der
Das mechanistische Weltbild
- 12 -
Descartes war ebenfalls überzeugt von dem, was Galilei vor ihm zum
Ausdruck brachte: Dass die Erkenntnis des Mathematikers sich zwar an
Umfang von Gottes Erkenntnis unterscheide, aber an Qualität mit dieser
gleichwertig sei (vgl. Mittelstrass, 1969, 104). Dementsprechend trägt die
cartesianische
Naturphilosophie
einen
durchweg
mathematischen
Charakter. Dieser besteht in dem Voranstellen von unanfechtbaren
Grundsätzen und in der deduktiven Herleitung der Erscheinungen.
Die Mathematik bekleidet dementsprechend im cartesianischen Denken
eine Monopolstellung. Ihr wird das Potenzial zugesprochen, auch in den
anderen
Einzelwissenschaften
sowie
einem
philosophischen
Welterklärungssystem unzweifelhafte Erkenntnis zu gewährleisten, da
die Struktur der Natur als durchweg mathematisch ergründbar
angenommen wird. Aus dieser Idee leitet Descartes die Überzeugung ab,
dass „perfektes Wissen“ (Schrödter, 2000, 121) existiere. Das
stabilisierende
Element
für
diesen
Absolutheitsanspruch
seines
rationalistischen Systems findet Descartes in Gott.
Der Weg zur Gewissheit sei nach Descartes auf mathematischanalytischem Wege zu bestreiten6. Zu diesem Zweck ersann Descartes
seine intuitiv-deduktive Methode, die in der Mathematik auch gewaltigen
Erfolg hatte. Dem Menschen stehe kein Weg zur sicheren Kenntnis der
Wahrheit offen - ausgenommen die augenfällige Intuition und die
notwendige Ableitung (vgl. Descartes, 1955, Regel 3). Sicheres Wissen
erlange man also durch Intuition und Deduktion, und dies sind die
Werkzeuge, die Descartes bei seinem Versuch benutzt, das Gebäude des
Wissens auf einem neuen Fundament zu errichten. In dem Glauben, die
konstruiert und berechnet werden kann (vgl. ebd., 179). „Die Harmonie der Natur war
Vorbild für das vom Menschen hergestellte, die Kunst“ (Wagner, 1984, 114). Auch
Leonardo da Vinci, als „Künstler-Ingenieur“ (Beckers, 1997, 179) sowie die Erfindung
der doppelten Buchführung illustrieren den mathematischen Zeitgeist dieser Epoche
(vgl. ebd., 183).
6
Seinerzeit gab es die Theorie der Evolution noch nicht, weshalb Descartes
nichts von den Ideen eines „Weltbildapparates“ (Lorenz), oder „perceiving apparatus“
(Popper) wissen konnte.
Das mechanistische Weltbild
- 13 -
Welt sei durchweg mathematisch determiniert, sah Descartes diese
Methode als Königsweg zur Erkenntnis der Wahrheit. Die cartesianische
Methode bezweckt also tatsächlich, alle Naturwissenschaften zu
mathematisieren. Zu diesem Zweck postuliert Descartes eine universelle
Mathematik, die alle bislang getrennten Wissenschaften zu einer
Gesamtwissenschaft (mathesis universalis) zusammenfassen soll7. Dabei
werden die auftretenden Merkmale eines beobachteten Dinges deduktiv
geordnet, um die erworbene Erkenntnis anschließend zu axiomatisieren.
Die geschaffenen letzten Beweise sind also nur durch mathematisches
Denken entstanden. Das naturwissenschaftliche Denken wird in die
Bahnen der Mathematik gelenkt, die ihre Erkenntnisse und Ergebnisse
durch Ableitung aus Axiomen sowie Berechnungen gewinnt. Descartes
begründete ein Ideal der Mathematisierung der Naturwissenschaften, in
dem
theoretisch
alle
Naturerscheinungen
durch
Ableitung
von
mathematisch eruierten Gesetzen erkannt werden können (vgl. Peters,
1979, 60f.). Zur zweifelsfreien Erkenntnis dieser mechanischen Gesetze
der Natur sei nur der denkende Geist fähig, der sich in ähnlich
mathematisch-analytischen Bahnen bewegt8.
7
Descartes entwickelte auch die analytische Geometrie: Er verband die beiden
mathematischen Grunddisziplinen Geometrie und Arithmetik (Analysis) zu einem
Gebiet. Dadurch lassen sich geometrische Körper mit algebraischen Mitteln erfassen
und beschreiben, umgekehrt lassen sich algebraische Verknüpfungen im Vektorraum
darstellen: mit den Gesetzen der analytischen Geometrie kann man (arithmetische)
Formen als (geometrische) Kurven darstellen und Geometrisches arithmetisch
berechnen (vgl. Rombach, 1980, 28). In der Antike und im Mittelalter waren Geometrie
und Arithmetik getrennte Disziplinen, die zwei verschiedenen Vermögen des Menschen
zugerechnet wurden: Sinnlichkeit und Verstand. Deshalb schreibt Rombach: „Zwischen
Arithmetik und Geometrie verlief daher eine radikale Grenze zwischen der
unsterblichen Vernunft und dem vergänglichen Sinnenbereich. Als Descartes die
grundlegende, beide Wissenschaften zu einer Disziplin verbindende Disziplin
entdeckte, (…) hatte die Vernunft die Grenze ihrer bisherigen Geltung überschritten und
ein riesiges Feld der Sinnlichkeit als ihr zugehörig in Besitz genommen. Sie hatte damit
entdeckt, dass etwas, was bislang als sinnlich galt, in Wahrheit vernünftig war und der
vollständigen Aufdeckung durch die Vernunft harrte“ (ebd.). Diese Entdeckung des
Zusammenhangs von Sinnlichkeit und Vernunft ermöglichte allererst das Vorstoßen der
Vernunft in Gebiete, die zuvor der Sinnlichkeit vorbehalten waren: Vernunft vertreibt
Sinnlichkeit.
8
„Das Denken - die res cogitans“ - funktioniert „als Regelwerk selbst wie eine
Maschine“ (Meyer-Drawe, 1996, 35).
Das mechanistische Weltbild
- 14 -
1.1.2 Der Zweifel als Fundament der Erkenntnis
In seinem Streben nach absoluter Gewissheit zweifelte Descartes an
allem, was seine Sinne ihm aus der Welt übermittelten. Dabei ging er von
der Vermutung aus, dass „ein böser Geist“ ihn täusche und „alle
Außendinge nichts als das täuschende Spiel von Träumen seien“
(Descartes, 1994, 16). Er wolle hartnäckig an dieser Art der Betrachtung
festhalten. „Ich werde so zwar nicht imstande sein, irgendeine Wahrheit
zu erkennen, doch bin ich entschlossenen Sinnes, mich in Acht zu
nehmen, soviel an mir liegt, nicht Falschem zuzustimmen“ (ebd.).
Descartes misstraut den
Sinnen und verlässt sich nur auf seinen
denkenden Geist. Da dieser zweifelt, mithin denkt, steht für ihn immerhin
fest: Ich bin ein „denkendes Ding“ (res cogitans) (ebd., 27). Dadurch,
dass ich denke, bin ich. Das Denken ist für ihn letztlich das Einzige, was
nicht angezweifelt werden kann, und das allein seine Existenz als
Mensch beweist; gleichsam das einzig Gewisse: „Dubito, Cogito, ergo
sum“.
Durch diesen Ausspruch wollte Descartes das allein Gewisse des
subjektiven Denkens, im Gegensatz zum Zweifelhaften aller räumlich
ausgedehnten Dinge (res extensa), hervorheben. Das einzig Wirkliche
und unbedingt Gegebene sei das Selbstbewusstsein. Nach Descartes sind
wir auf unser eigenes Bewusstsein beschränkt und die Welt ist uns nur
als Vorstellung gegeben. Er deckte also das Missverhältnis zwischen dem
Subjektiven, oder dem Idealen, und dem Objektiven, oder Realen, auf.
Diesen Gedanken äußerte er in dem radikalen Zweifel an der Existenz
der Außenwelt. Die Gewissheit des „Ich bin“, die angenommene
Existenz eines Zweiflers, bot für Descartes einen so festen Punkt, dass er
damit die Welt wieder in die Angeln heben konnte.
Die Kluft zwischen subjektiv Wahrgenommenem und objektiv Realem
wusste Descartes nicht anders zu überbrücken, als einen Gott zu erfinden,
der uns nicht betrügen würde. Dieser gewagte Versuch hängt sicher auch
mit der Verfolgung von Gotteszweiflern durch die Inquisition zusammen,
Das mechanistische Weltbild
- 15 -
die Descartes bei Galilei beobachtete. Überdies lässt er auf die
Schwierigkeit, vielleicht Unlösbarkeit des Problems schließen. Jedenfalls
zieht sich Descartes durch folgenden, „entscheidenden Denkfehler, wie
einst Münchhausen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf des Zweifels“
(Wittschier, 2004, 98; vgl. Schopenhauer, 1999a, 16): Er erfand einen
vollkommenen Gott, den sich der Zweifler vorstellen kann. Und zu der
Vollkommenheit Gottes gehört die Tatsache, dass es ihn wirklich gibt.
Dieses „höchst vollkommene Wesen“ (Descartes, 1994, 60) kann aber
nach Descartes’ Überzeugung keine Erfindung eines unvollkommenen
Wesens sein - nämlich des Menschen. Nur der umgekehrte Vorgang ist
für Descartes denkbar, womit bewiesen wäre, dass es Gott gibt. Wenn es
ihn aber gibt, wird er uns bei der Wahrheitssuche immer dann tatkräftig
unterstützen, wenn wir mit Hilfe des Verstandes etwas so klar und
deutlich erkennen, wie ihn selbst (vgl. ebd., 78)9. Dieser ontologische
Gottesbeweis erscheint scholastisch und wissenschaftlich kaum haltbar,
weil er auf reiner Spekulation basiert.
Die Instrumentalisierung des methodischen Zweifels führt Descartes zu
der Vorannahme, dass nur das Denken gewiss sei und nur Gedachtes
existiere. Somit ist die erste Bedeutung des Zweifels die Begründung des
Rationalismus. Wahrheit sei nur auf das begründet, was der Verstand als
richtig erkennt. „Das Denken ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt
werden. Ich bin, ich existiere, das ist gewiss“ (Descartes, 1994, 23).
Dieser Einsicht folgend wird die reale, sinnliche Erfahrung nivelliert.
Notwendig wahr ist für Descartes nur, dass er ein „denkendes Ding“ (res
cogitans) sei. Dieser Gedanke findet sich allerdings auch schon bei
9
Den Beweis für die Existenz Gottes kann man jedoch als Zirkelschluss
auffassen, da sich hierbei zwei Argumente wechselseitig bedingen: 1. Nur durch Gott
wird sichergestellt, dass das, was wir klar und deutlich erfassen wahr ist. 2. Durch
klares und deutliches Erfassen der Idee eines unendlichen Wesens wird bewiesen, dass
Gott existiert (vgl. Descartes, 1994, 298/299). Obwohl der Vorwurf in dieser Schärfe
nicht greifen kann, da Descartes Gott zuerst aus der Idee des unzweifelhaft bewiesenen
Ichs ableitet, bleibt dennoch unklar wodurch die zweifelsfreie Existenz der ewigen
Wahrheiten bewiesen ist (vgl. Röd, 1992, 70 sowie die Kritik der Gottesbeweise bei
Kant, 1966).
Das mechanistische Weltbild
- 16 -
Augustinus10. Das Argument des cogito und der methodische Zweifel
können also nicht allein Ursache für das mechanistische Denken und den
Beginn der neuzeitlichen Philosophie sein, wenn Augustinus dieses
schon lange vorher gedacht hatte.
Die Genese des mechanistischen Weltbildes scheint vielmehr aus
Descartes’ Interpretation des cogito als res cogitans hervorzugehen. Die
gesamte reale Welt wird nach dieser Auslegung nämlich als aus Dingen
zusammengesetzt angenommen. Auch das Denken, das Bewusstsein, das
Ich wird als Ding, als Objekt betrachtet. „Die Seele sei Reales eines
gleichen
Sinnes
wie
die
körperliche
Natur,
das
Thema
der
Naturwissenschaft“ (Hua VΙ, 216)11. Durch den einfachen Gedanken,
dass er ein denkendes Ding sei, hat Descartes das Denken verdinglicht.
Er macht das Denken, den Prozess des Denkens, den Gedankenfluss zu
einem Ding, woraus dann das Bewusstsein, das Subjekt wird (vgl.
Heidegger, 1950, 91f.). Durch das „Denken in Objekten“ (vgl.
Weizsäcker, 1954, 30) wird das Denken schließlich selbst zum Objekt.
Vielleicht
ist
das
Objektdenken auch
anders
herum aus
der
„Verobjektivierung“ des Denkprozesses hervorgegangen. Merleau-Ponty
hält es für das „Wesen des Bewusstseins (…) vor (Hervorheb. im
Original) sich selbst seine eigenen Gedanken sein zu lassen wie Dinge“
(1966, 158). Von hier aus erscheint es unvermeidlich, dass die
Aufwertung des Denkens mit einer Zunahme der Verdinglichung
einhergehen muss.
Dem „denkenden Ding“ (res cogitans), dem Geist, stellt Descartes das
„ausgedehnte Ding“ (res extensa), die Natur, gegenüber. „Diese
10
„Wenn ich mich täusche, bin ich ja. Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht
täuschen; also bin ich, wenn ich mich täusche. Da ich demnach bin, wenn ich mich
täusche, kann es keine Täuschung sein, dass ich bin; denn es steht fest, dass ich bin,
wenn ich mich täusche. Da ich also, auch wenn ich mich täusche, sein müsste, um mich
täuschen zu können, täusche ich mich darin gewiss nicht, da ich weiß: ich bin“
(Augustinus, 1955, 43).
11
Husserl sieht dieses cartesianische Vorurteil, dass die Seele und das
Bewusstsein körperlich und deshalb physikalischen Messmethoden zugänglich seien,
als Hauptursache für das Scheitern der Psychologie, die ja mit der Seele befasst ist,
diese jedoch vollkommen falsch auffasse (vgl. Hua VΙ, 215-222). Daher seine
Psychologismuskritik.
Das mechanistische Weltbild
- 17 -
Unterscheidung bestimmt künftig ontologisch die von ‚Natur und Geist’
(Hervorheb. im Original)“ (Heidegger, 1993, 89). Seitdem wird die Welt
als aufgeteilt in zwei verschiedene Seinsweisen betrachtet: Innen und
Außen12.
Die Sicherheit der Erkenntnis betreffe allerdings nur den Geist (res
cogitans) des erkennenden Subjekts. Sein Gegenstück, der Körper (res
extensa), das Objekt der Erkenntnis, dessen einziger Charakter die
Ausdehnung sei, könne nach Descartes ebenso gut geträumt sein. Die
sinnlich wahrgenommenen Informationen über die ausgedehnte Welt
seien daher zu bezweifeln. Unzweifelhafte Gewissheit sei nur durch
analytisches Denken, Einsicht einzig und allein durch den Verstand
möglich (solius mentis inspectio) (vgl. Descartes, 1994, 22). Descartes
zufolge sei der Verstand das probate Mittel, um zuverlässige Erkenntnis,
gar letztgültige Wahrheit zu erlangen: „Denn wenn ich selbst träumte, so
ist dennoch sicher alles wahr, was meinem Verstand einleuchtend ist.“
(ebd., 60). „Bloß der Verstand ist fähig, die Wahrheit zu erfassen.“
(Descartes, 1955, Regel 12). Vom Denken schließt er auf die Seele; diese
sei Trägerin des Gedankens mithin gewiss. Dagegen seien die
körperlichen Dinge zweifelhaft, ungewiss und dem Menschen, der
wesentlich außerweltliches Subjekt sei, im Grunde wesensfremd.
Deswegen
spielen
der
Körper
und
seine
sinnlichen
Wahrnehmungsorgane in diesem Rationalismus eine untergeordnete
Rolle (vgl. Franke, 2003, 21), da sie ja nur Täuschungen bzw. subjektive
Projektionen hervorbringen, die zur Erkenntnis der Wirklichkeit
ungeeignet seien.
Der
cartesianische
Zweifel
besagt,
dass
nichts
dem
Körper
Vergleichbares zum Wesen unserer Seele gehöre. Zweifeln heißt nicht
nur, die Seele vom Körper unterscheiden, sondern auch ihre wirkliche,
substantielle Unterschiedenheit vom Körper anzuerkennen (vgl. Röd,
1995, 91).
12
Das klassische Körpermodell beinhaltet die „Vorstellung der seelischen
Innenwelt in Gestalt der Unterstellung eines Bewusstseinskastens“ (Schmitz, 1980,
105). Das „gegenwärtige Spüren am eigenen Leibe“ habe in dieser
„Innenwelthypothese“ keinen Platz (vgl. ebd., 106).
Das mechanistische Weltbild
- 18 -
1.1.3 Dualismus von Geist und Körper
Descartes betrachtete den Körper (res extensa oder res corporea) und den
Geist (res cogitans qua ego cogito) als zwei unterschiedliche und
voneinander getrennte Substanzen, die über die Zirbeldrüse im Gehirn
miteinander
kommunizierten
und
über
den
Blutkreislauf
auf
mechanischem Wege Informationen in die Peripherie des Körpers
transportieren, um diese Körperteile zu „beseelen“ (Metzler, 1989, 178).
Daraus, dass der Geist unabhängig von allem Materiellen zu betrachten
sei, folgt jedoch nicht zwingend, dass er auch „der Wahrheit der Sache
nach“ (Röd, 1995, 95) vom Körper verschieden ist. Descartes glaubte
jedoch dies annehmen zu dürfen. Den Beweis dafür, dass sich alles, was
sich distinkt denken lässt, in Wirklichkeit verschieden ist, sieht er in der
unzweifelhaften Existenz eines wahrhaften, nicht betrügenden Gottes.
Allerdings könnte man ebenso gut annehmen, dass unsere Vorstellung
von Körpern und diese Körper selbst Eins und Dasselbe seien. Spinoza
fand beispielsweise, dass beide ein und dieselbe Substanz wären, nur von
verschiedenen
Seiten,
also
aus
unterschiedlichen
Perspektiven
angesehen: „Einmal als substantia extensa, das andere als substantia
cogitans aufgefasst“ (Zit. nach: Schopenhauer, 1999a, 17). Aufgrund
dieses ungelösten Problems, der Kluft zwischen Idealem und Realem,
welches Descartes als Erster aufzeigte, wurde eine Trennung von Körper
und Geist in der Geistesgeschichte und der Wissenschaft postuliert.
Ob Descartes’ philosophisches Denken wirklich auf die Formel „cogito
ergo sum“, also den Cartesianismus, reduziert werden kann, oder ob es
sich dabei schlicht um eine Fehlinterpretation handelt, ist in unserem
Zusammenhang nicht von Belang, weil es gerade der Cartesianismus ist,
der einen massiven Einfluss auf das neuzeitliche Denken genommen hat.
Die cartesianische Spaltung von Geist und Materie wurde zur Grundlage
der modernen Wissenschaften. Die von Descartes „als Faktum
hingenommene Vereinigung der beiden grundverschiedenen Substanzen
im Menschen ist die Achillesferse seiner Theorie“ (Metzler, 1989, 182).
Das mechanistische Weltbild
- 19 -
Der hieraus abgeleitete Dualismus von Geist und Materie hat das
philosophische Denken bis heute geprägt.
„Die Spaltung (ist) in den drei Jahrhunderten, die auf
Descartes gefolgt sind, sehr tief in das menschliche Denken
eingedrungen, und es wird noch lange Zeit dauern, bis sie
durch eine wirklich neue Auffassung vom Problem der
Wirklichkeit verdrängt ist“ (Heisenberg, 1959, 61).
Durch die Spaltung zwischen „Geist“ und „Körper“, die „wie ein Fluch
auf der Philosophie lastet“ (Nietzsche, 1955, 306), ist es zu zwei
getrennten Anschauungsformen gekommen: Dem Realismus und dem
Idealismus, bzw. „Sensualismus und Positivismus“ (Weizsäcker, 1954,
95). Während der reine oder naive Realismus nur mit den Objekten der
Außenwelt befasst ist und eine an sich seiende Materie annimmt
(Locke)13, beschäftigt sich der Idealismus nur mit dem Inneren des
Subjekts, insbesondere mit dem Denken und leugnet in seiner krassesten,
solipsistischen Spielart sogar eine an sich existierende Materie
(Berkeley).
Durch die dualistische Auffassung von Körper und Seele
„geriet die ursprüngliche Einheit in Vergessenheit, so dass
man schließlich zu der Vorstellung kam, im Körperlichen und
Seelischen zwei verschiedene Seinsbereiche vor sich zu
haben“ (Uexküll, 1963, 127).
Bruno Snell schreibt, dass „Wissenschaft überhaupt nur möglich ist,
wenn zwischen Geist und Materie unterschieden wird“ (Zit. nach:
Herbig, 1991, 260). Körper und Geist sind jedoch zwei Bestandteile eines
Ganzen und können deshalb nicht einfach gespalten und isoliert
betrachtet werden. Es scheint daher bemerkenswert, dass diese Spaltung
über lange Zeit betrieben worden ist, so dass eine „harmonische
Vereinigung von Körper und Geist bis heute nicht stattgefunden hat“
(Dijksterhuis, 1956, 482). Dieser Umstand führt dazu, dass „den
Forschern, die stets das Ganze im Auge behalten, immer andere
13
Die unabhängig vom erkennenden Subjekt angenommene Materie entspricht
dem materialistischen Glauben an eine absolute Objektivität. Deshalb schreibt
Schopenhauer: „Der Materialismus ist die Philosophie des bei seiner Rechnung sich
selbst vergessenden Subjekts“ (1966, 595).
Das mechanistische Weltbild
- 20 -
gegenüber stehen, die den schon erklärten Teil mit dem Ganzen
verwechseln“ (Weizsäcker, 1954, 20). Die Spaltung von Körper und
Geist bezeichnet eine
„undurchdringliche Scheidewand, die mitten durch die
unbezweifelbare Einheit unseres Wesens geht, indem sie die
Vorgänge unseres subjektiven Erlebens von dem objektiv und
physiologisch erfassbaren Geschehen in unserem Körper
trennt“ (Lorenz, 1973a, 225).
Es ist dies „ein klaffender Hiatus in der Seinsstruktur“ (Hartmann, 1966,
137). Die Spaltung ist künstlich und in Gedanken vorgenommen worden
und entspricht nicht dem Wesen der Natur. „Wenn erst einmal die
Spaltung in Selbst und Ego, Innen und Außen, Gut und Böse geschieht,
ist alles übrige ein infernalischer Tanz falscher Dualitäten“ (Laing, 1970,
67). Denn anscheinend kann man das Sein nicht in der Mitte spalten.
Scharf unterscheiden sollte man überhaupt nicht zwischen Materie und
Geist, sondern zwischen den Erkenntnisquellen der reinen Mechanik und
den Erkenntnisquellen, die uns im Kontakt mit lebenden Wesen zur
Verfügung stehen (vgl. Weizsäcker, 1954, 21f.). Die ontologische
Verschiedenartigkeit der realen Gegenstände bringt - im Sinne Nicolai
Hartmanns - eine erkenntnistheoretische Verschiedenartigkeit mit sich.
„Daher sind zwei Komponenten des Erkennens zu erörtern; Verstand und
Sinnlichkeit“ (Jaspers, 1985, 30).
1.1.4 Descartes’ Wirkung
Zusammengefasst wirkt das cartesianische Weltbild durch die isolierte
Betrachtung der zwei Seinsbereiche Körper und Geist. Innerhalb dieser
Aufteilung dominiert der Verstand; die sinnliche Erfahrung hingegen
wird abgewertet. Hinzu kommt eine dogmatische Grundhaltung.
1.1.4.1 Freiheit als Befreiung ins Leere
Mit seinem analytischen Urteil „cogito, ergo sum“ hat Descartes eine
größere Wahrheit ausdrücken wollen, als es ein analytisches Urteil kann.
Er meinte eigentlich, dass nur
Das mechanistische Weltbild
- 21 -
„dem Subjektiven, dem Selbstbewusstsein unmittelbare
Gewissheit zukomme, dem Objektiven, also allem anderen,
hingegen als dem durch jenes erst Vermittelten bloß
mittelbare; daher dieses, weil aus zweiter Hand, als
problematisch zu betrachten sei“ (Schopenhauer, 1966, 614).
Der Wert dieser Einsicht ist durch die gängige Interpretation der
cartesianischen Lehre nicht angemessen vermittelt worden. Man machte
die Sinnlichkeit zur
„Hauptquelle der Immoralität, während gerade die Sinne, da
sie im Verein mit den apriorischen Funktionen des Intellekts
die Anschauung hervorbringen, die lautere und unschuldige
Quelle aller unserer Erkenntnisse sind, von welcher alles
Denken seinen Gehalt erst erborgt“ (ebd., 855).
Es erscheint wenig sinnvoll, das Denken als edelste Erkenntnisform zu
isolieren:
„Besagtermaßen machte man also beim Prozess des
Erkennens das allerletzte Produkt desselben, das abstrakte
Denken, zum Ersten und Ursprünglichen, griff demnach die
Sache am verkehrten Ende an“ (ebd.).
Auch Descartes selbst vermochte von seinem genialen Einfall aus kaum
zu weiteren wahrheitsgemäßen Erkenntnissen vorzudringen. Denn seine
Philosophie beschränkt sich auf das subjektive Denken und analogen
mechanischen Abläufen; sie kapriziert sich auf diese Anschauung: „Für
die Cartesianer existiert nur das Denken“ (Chardin, 1965, 166). Dabei
wird
die
Erfahrung
ausgeblendet,
obwohl
sie
der
eigentliche
Bezugspunkt für jeden Gedanken ist. Wozu nützt das Denken noch, wenn
es sich nicht auf die alltägliche, sinnliche und höchst reale Erfahrung
bezieht? Dem forschenden Geist des Subjekts kommt die zu erforschende
subjektive Erfahrung abhanden. Er denkt im leeren Raum, so dass es zu
einer Übermacht des Verstandes kommt, in die
„die von ihm selbst entworfene mechanistische
Weltanschauung den lebendigen Körper und sogar die Seele
in ihrer Abhängigkeit von dem Körper hineinzieht. In
Descartes’ Philosophie geht das Sein selbst verloren, obwohl
sie in ihrem Anfang das Denken mit aller Kraft gerade auf
das Sein lenkt. Nicht im Ursprung seiner Philosophie,
Das mechanistische Weltbild
- 22 -
sondern im Ergebnis ist der Verlust handgreiflich.“ (Jaspers,
1966, 79).
Der ontologische Bezug zum Subjekt tritt hinter funktionalen
Überlegungen zurück. Der Erfahrungsverlust des Menschen wird zu
einem individuellen Sinnverlust.
Dadurch, dass Descartes den denkenden Menschen auch ohne Körper
schon für ganz hält,
„vereinzelt (Hervorheb. im Original) er eine wesentliche und
unerlässliche Möglichkeit des Menschen – die Möglichkeit
eines reinen, von allem absehenden Denkens, aber er zeigt
darin nur den unbestimmten und unerfüllten Raum einer
leeren Freiheit“ (ebd., 80).
Indem das reine Denken die sinnliche Anschauung überwindet, verliert
es auch die Erfahrung. Es entfremdet sich der Natur und führt in eine
„Welt ohne Menschen“ (Sartre, 1991, 402). Vor die wirkliche sachnahe
Forschung schiebt sich die ausgedachte, unwirkliche Konstruktion. Die
Vernunft, die sich isoliert und die sich löst von aller Erfahrung und allem
Erfüllenden wird seinsleer. Descartes ist nicht bei der Erforschung der
Sachen. Das reine Denken hat mit der Wirklichkeit des Lebens, mit der
Erfahrung, mit dem Sein am Ende kaum noch etwas zu tun (vgl. Jaspers,
1966,
82f.).
Durch
diesen
Grundsatz entfernt sich Descartes’
mechanistisches Denken von dem sinnlichen Menschen und seiner
Realität. Dieses Problem erscheint heute im Schulunterricht, wenn
Schülerleistungen auf ihre messbaren Merkmale (im Sport - motorische
Fertigkeiten) reduziert werden, weil die quantifizierbar und also
verallgemeinerbar sind. Ein hier verwandter allgemeingültiger Standard
ist abstrakt und nirgends in der individuellen Erfahrung auffindbar. Er ist
Emanat rationaler Deduktion.
Nicht der Gehalt eines Ganzen, nicht der volle Mensch und die erfüllte
Welt sind Gegenstand oder Ursprung von Descartes Philosophie, sondern
sein abstraktes Denken ist wie
„ein Bohrer, der eindringt mit aller Vorsicht, doch schließlich
unbekümmert um das, was er anrichtet. Diese Radikalität ist
Das mechanistische Weltbild
- 23 -
für den Nachahmer leicht nachzuvollziehen. Bei seiner
entschiedensten Gewissheit durch unabhängiges Denken
spielt das andere, das Sinnliche, die Geschichte keine Rolle,
konnte beim Denken selbst vergessen werden. Durch dieses
Absehenkönnen entsteht ein Freiheitsgefühl, ein Zauber sogar
der grenzenlosen Möglichkeiten“ (Jaspers, 1966, 95).
Dieser „Zauber der grenzenlosen Möglichkeiten“ (ebd.) kompensiert die
„Entzauberung der Welt“ (Weber) durch die Wissenschaften, mit der er
zusammengeht, und begründet den Fortschrittsoptimismus der modernen
okzidentalen Welt. Auf diesem Grund scheint der von Fromm
eingebrachte Begriff der „Fortschrittsreligion“ durchaus treffend, zumal
das durch die rationalen Wissenschaften verursachte spirituelle Vakuum
offenbar irgendwie ausgefüllt werden will.
Descartes’ isolierte Vernunft mündet in einer leeren Freiheit, die zwar
Unabhängigkeit verspricht, doch im Grunde weltfremd ist, da sie sich
ausschließlich mit abstraktem Denken befasst. Die entsprechende
naturwissenschaftliche Methode, die den Erfolg der Wissenschaften und
die Entwicklung der Technologie ermöglicht hat, wird aus dieser Haltung
heraus als Universalmethode angesehen.
Es ist Descartes’ großes Verdienst, den Einfluss des Subjektiven auf das
Erkannte klar benannt zu haben; es ist der Fehler insbesondere seiner
Epigonen,
diese
Subjektivität
nur
als
eskamotierten
rationalen
Objektivismus wirksam werden zu lassen, indem das Subjekt als
extramundan Denkendes und nicht als weltlich Erfahrendes angenommen
wird.
1.1.4.2 Dogmatik
Die cartesianische Philosophie weist überdies einen dogmatischen Zug
auf. Descartes verkennt nämlich allem Anschein nach den partikularen
und relativen Charakter der naturwissenschaftlichen Methoden, indem er
eine absolute Universalmethode etabliert. Von daher verkörpert seine
Philosophie insgesamt die historische Wirkung des Einseitigen. Von ihm
geht das Anregende des Radikalen aus, das keinen Widerspruch gelten
Das mechanistische Weltbild
- 24 -
lässt. In dieser Hinsicht ist eine Parallele zum kirchlichen Dogmatismus
augenscheinlich.
Mit seinem vermeintlich geschlossenen System der Wissenschaft vertritt
Descartes das entgegengesetzte Prinzip Wilhelm von Humboldts:
„Alles beruht darauf, das Princip zu erhalten, die
Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie
ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als
solche zu suchen“ (zur Gründung der Berliner Universität,
1810).
Glaube und Wissen, Offenbarung und Vernunft stehen im cartesianischen
Denken in ständigem Widerspruch zueinander. Die Folge ist „eine
Lähmung der menschlichen Offenheit“ (Jaspers, 1966, 84) sowie der
Seele und eine dogmatische Stimmung14. Auf dem Gebiet der Erkenntnis
erscheint heute immer noch eine rationalistische Grundhaltung als
wissenschaftlich notwendig bindend. Es bleibt die Frage, ob dieses
positivistische Wissenschaftsverständnis das einzig denkbare ist.
Das Dogma der Verstandesherrschaft, seiner rationalen Gütemaßstäbe
und Methoden, scheint sich unbemerkt verselbständigt und ausgebreitet
zu haben: Nur Zahlen gelten als Beweis. Dieses Paradigma „diffamiert
alternative Denkweisen, die dem herrschenden Universum der Sprache
widerstreiten“ (Marcuse, 1964, 187). Neu erscheint dieses Phänomen
nicht. Weltanschauungssysteme und „ethische Pakete“ wurden auch im
Altertum sowie im katholizistischen Mittelalter mit dogmatischem
Gestus feilgeboten. Die Propaganda des Rationalismus wurde indes nicht
auf Kreuzzügen verkündet, sondern auf subtile Weise und mit dem
14
Alternativ könnte man den Glaubensaspekt einfach aus dem Cartesianismus
tilgen, um zu einer reinen widerspruchsfreien Vernunftphilosophie zu gelangen (was
auch später häufig getan wurde, denn in dem cartesianischen Dualismus war von Gott
immer weniger die Rede). Die Mechanisierung des Weltbildes führte mit
unwiderstehlicher Konsequenz zur Auffassung Gottes als eines „Ingenieurs im
Ruhestand“, und von da zu seiner völligen Ausschaltung war es nur noch ein Schritt
(vgl. Dijksterhuis, 1956, 549). Allerdings würde dem felsenfesten Ausgangspunkt und
der absoluten Rechtfertigung seines Gedankengebäudes mit der Entfernung des
vollkommenen Gottes endgültig das tragende Fundament entzogen. Jedenfalls konnten
sich Descartes sowohl vernunftbesessene Freigeister als auch orthodoxe
Kirchengläubige nähern, ohne ernstlich angefeindet zu werden (vgl. Jaspers, 1966,
88f.).
Das mechanistische Weltbild
- 25 -
Versprechen der Sicherstellung des bequemen Überlebens und der
unmittelbar einsichtigen, einfachen Logik in die Geisteshaltung der
industriellen Gesellschaften eingepflanzt.
Nach Jaspers herrscht Descartes’ Philosophie durch die Macht des
Denkens und die „Haltung einer unmerklich in seine Gefolgschaft
zwingende Gebärde“ (1966, 93). Andererseits erscheint die konsequente
Abstrahierung des cartesianischen Rationalismus als dogmatische
Weltanschauung gar nicht geeignet, weil sie ohne sinnlichen,
anschaulichen Gehalt keiner versteht. Den Darwinismus oder das überaus
anschauliche
heliozentrische
Weltbild
musste
die
Kirche
noch
bekämpfen, die moderne Genetik und die Relativitätstheorie braucht sie
als Konkurrenten auf dem weltanschaulichen Gebiet nicht zu fürchten, da
diese in ihrer abstrakten Unanschaulichkeit so kompliziert sind, dass
kaum ein Einzelner sie noch überblicken, geschweige denn begreifen
kann. Die jeweiligen Spezialisten sind aufgrund Zeitmangels häufig nicht
in der Lage, in anderen Disziplinen vollständig informiert zu bleiben.
Das Abstraktwerden der Welt, das durch Descartes’ Rationalismus
befördert wird, könnte also umgekehrt eine Stabilisierung der Religion
bewirken, die als einzige noch Begreifliches verspricht. Dies scheint
durch die Hinwendung zahlreicher westlicher Menschen zu östlichen
Bewegungsformen wie etwa Yoga und Tai-Chi belegt zu werden. Durch
die gründliche Tilgung von Sinnlichkeit zugunsten einer durchgreifenden
Intellektualisierung ist die Religion als Weltanschauungssystem erst
abgelöst und heute restauriert worden. Die Sehnsucht nach und der
Rückfall in Religion erscheinen als Reaktion auf eine zunehmende
Sinnleere, auf das spirituelle Vakuum der intellektualisierten Welt.
1.1.4.3 Der Erfolg des mechanistischen Paradigmas
Die enorme Wirkung und Durchsetzungskraft der cartesianischen
Philosophie speist sich anscheinend aus mindestens zwei Quellen:
Erstens: Descartes wollte von einigen als evident angenommenen
Einsichten ausgehend alle zu seiner Zeit bekannten Naturerscheinungen
Das mechanistische Weltbild
- 26 -
erklären. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg, welcher dem
Cartesianismus zuteil wurde, liegt demnach in der Einheit des
Weltbildes, zu dem sein Denken Naturwissenschaften, Religion und
Philosophie verband. Vor dem historischen Hintergrund wird dies umso
bedeutsamer, da eine solche Verbindung durch die erwiesene
Unhaltbarkeit der aristotelischen Physik und die Erstarrung der
scholastischen Philosophie verloren gegangen war. Es muss auf
systematisierende Gemüter15 beruhigend wirken, diesen verlorenen
Zusammenhang auf einer rationalen Grundlage wiederhergestellt zu
sehen (vgl. Dijksterhuis, 1956, 378f.). Hierdurch wird die Welt scheinbar
berechenbar.
Das spätestens seit Galilei wachsende Interesse für Mathematik
begünstigte ein philosophisches System, das von logischen Überlegungen
ausging, um in dieser Weise zu einer Wahrheit zu gelangen, die ebenso
sicher war, wie die mathematische Schlussfolgerung (vgl. Heisenberg,
1959, 59f.). Die innere Logik der Mathematik ist im Gegensatz zu der
rätselhaften inneren Komplexität der Wirklichkeit überaus verführerisch.
Vielleicht ist die Mathematik der Natur deswegen derart sorglos
übergestülpt worden.
Descartes’ rationale Gewissheit, die durch mechanisch-mathematische
Gesetze unzweifelhaft untermauert sei, scheint ideal, um die Theologie
zu ersetzen, von der die Naturwissenschaften zunehmend befreit wurden.
Die im radikalen Zweifel zerstörte Welt wird von einem in diesem
Zweifel gefundenen archimedischen Punkt aus rekonstruiert, wobei der
angeblich bewiesene Gott nun die Wahrheit der Erkenntnisse über diese
Welt garantieren soll16.
15
Es ist in der Art gebundener Geister, irgendeine Erklärung keiner vorzuziehen;
dabei ist man genügsam. Hohe Kultur verlangt, manche Dinge ruhig stehen zu lassen
(Nietzsche).
16
Es sei an dieser Stelle nur am Rande darauf verwiesen, dass die logischanalytische Denkform ihren Ursprung auch im Patriarchat zu haben scheint, weil die
männliche Affinität zum machtbewussten Fordern und (Be)herrschen die
insbesondere auch das Abendland geprägt hat - schon seit Jahrtausenden einen
fruchtbaren Nährboden für die Entwicklung rationaler Erklärungssysteme bietet (vgl.
dazu besonders: Capra, 1983, 29, 36ff.; Fromm, 2001, 139f.; Hölder, 1967, 76;
Das mechanistische Weltbild
- 27 -
Zweitens ist der Aufstieg der westlichen Hochkultur in erster Linie mit
ihrer mathematischen und also technologischen Entwicklung verknüpft.
Huntington weist darauf hin, dass die „unmittelbare Quelle der
westlichen Expansion eine technologische war“ (1993, 67). Die
„militärische Revolution“ (ebd.) sei das Ergebnis der Mechanisierung
und gleichzeitig die Ursache für die gewalttätige Ausdehnung Europas17.
Der Erfolg der Mechanisierung und die daraus resultierende Erfindung
von effektivem Kriegsgerät leisteten einer enormen okzidentalen
Machtzunahme Vorschub. Diese „Dominanz des Westens“ (ebd., 118)
äußert sich vor allem in der gelungenen Vernichtung und Unterjochung
fast aller anderen Hochkulturen. Dieser Siegeszug bestätigte die
Überlegenheit des mechanistischen Paradigmas stetig und nachhaltig.
1.1.5 Das Objektivitätspostulat
Grundsätzlich wird Objektivität durch eine Trennung von Subjekt und
Objekt, also durch dualistisches Denken, anzusteuern versucht. Die
Unterscheidung des Subjekts vom Objekt steht im Dienste der objektiven
Beschreibung der Natur, also auch des Subjekts selbst. Indem sich das
Subjekt von den zu beschreibenden Objekten distanziert, wird es selbst
zum zu beschreibenden Objekt.
Die durch Descartes begründete moderne Wissenschaft beruht auf einem
„reinen, für immer unbeweisbaren Objektivitätspostulat“ (Monod, 1973,
30). Die Wissenschaft ist mit dem Postulat der Objektivität
gleichzusetzen. Es hat ihre außerordentliche Entwicklung seit dreihundert
Jahren angeführt und es ist heute unmöglich, sich seiner zu entledigen,
ohne den Bereich der Wissenschaft zu verlassen.
„Man postulierte, dass unsere Erfahrung, bereits von Physik
und Biologie eingeschlossen, sich endlich gänzlich in
objektives Wissen auflösen müsse, wenn das System der
Wissenschaften sich vollendete“ (Merleau-Ponty, 1966, 120).
Thiersch, 1993, 39 sowie E. Fromms Analyse von Sophokles „Ödipus“ - Trilogie. In:
Fromm, 1981, 131ff. Zu Letzterem auch: Beckers, 1995, 113-122).
17
„Imperialismus ist reine (okzidentale) Zivilisation“ (Spengler, 1923, 48).
Das mechanistische Weltbild
- 28 -
Objektivierung, als Ideal der Wissenschaften, mündete in die Errichtung
wertneutraler Gütemaßstäbe. Objektivität selbst wird als Wert aufgefasst
und Quantifizierung ist das Mittel zu seiner Realisierung. Auch
Bewertungen
und
Urteile
erfolgen
dadurch
unter
quantitativen
Gesichtspunkten. Folglich werden nicht-quantitativ erfassbare Merkmale
wissenschaftlich kaum beachtet; sie fallen durch diese systemimmanente
Logik dem nicht-wissenschaftlichen Bereich zu, der als Mystik
desavouiert ist18.
Gleichwohl basiert die ethisch neutral konstruierte Ordnung der
Wissenschaft und der Gesellschaft heute auf dem Maßstab der
Funktionstüchtigkeit, der sich an dem Ziel des Profits orientiert, wodurch
die Verflechtung von Rationalismus und Kapitalismus sichtbar wird. Das
Ziel von Objektivität ist in der heutigen Zeit meist profitorientiertes
Funktionieren. Maximierung von Leistung erscheint als ein solches Ziel,
wobei Leistung nicht als Selbstverwirklichung des Organismus
aufgefasst wird, sondern als effektive Funktion im Hinblick auf externe
quantitative Vorgaben. Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang von
einem „real existierenden Funktionalismus“ (In: Bäumer, 1993, 27).
Dabei ist die
„menschliche Existenz (…) auf die Dimensionen des Leistens
und Funktionierens reduziert, wobei der Eindruck erweckt
wird, dass zu deren Beurteilung objektive Kriterien zur
Verfügung stehen“ (Beckers, 1986, 52).
Qualitäten, insbesondere des Menschen, werden ins Spektrum des
Irrealen verlagert oder in Quantitäten übersetzt, weil mit ihnen sonst
nicht wissenschaftlich weitergerechnet werden kann. Sie zählen nicht als
Ergebnis.
18
Dieses Wissenschaftsverständnis wird in der modernen Philosophie nur noch
von Popper und Eccles vertreten (vgl. Gissel, 2007, 9).
Das mechanistische Weltbild
- 29 -
Diese Denkhaltung kann auf den Cartesianismus zurückgeführt werden.
Denn nach dieser Auffassung können alle Geheimnisse der Welt mit dem
Schlüssel der Mathematik gelüftet werden.
„He had made of nature a machine and nothing but a
machine, purposes and spiritual significance has alike been
banished. He had reached the notion of seeking an
explanation of all things in the world in purely mechanical
terms. Give me extension and motion, and I will construct the
universe” (Randall, 1976, 241f.).
Mathematische Zahlen und Messungen finden nicht nur in der Technik
Anwendung, sondern auch bei der Erforschung von Sport, Musik und
lebenden Organismen.
„Life becomes a mere matter of physical and chemical
changes, all animals a mere automata, even the body of man
is a purely physical machine“(ebd., 242).
Die Unterscheidung zwischen zwei getrennten und voneinander
unabhängigen Bereichen - dem des Geistes und dem der Materie - führte
zu einer distanzierten Objektivierung selbst lebendiger Teile der
“ausgedehnten Welt”. In dem Bestreben, perfektes Wissen über die Natur
zu erlangen, dehnte Descartes seine mechanistische Anschauung der
Materie auf lebende Organismen aus. Auch Pflanzen und Tiere waren
Maschinen für ihn. „Das Tier, dem keinerlei Innen zugestanden wird, ist
ein bloßer Automat“ (Chardin, 1965, 166). „The bird is a machine
working through mathematical laws“(Randall, 1976, 236). Descartes
verglich Tiere mit einer „Uhr, die aus Rädchen und Sprungfedern
zusammengesetzt ist“, und transferierte diesen Vergleich auf den
Menschen:
„Für mich ist der menschliche Körper eine Maschine. In
Gedanken vergleiche ich einen kranken Menschen und eine
schlecht gemachte Uhr mit meiner Idee von einem gesunden
Menschen und einer gut gemachten Uhr“ (In: Rod-Lewis. Zit.
nach: Capra, 1983, 61).
Nach Descartes werden Tiere als seelenlose Maschinen, der menschliche
Körper als Maschine, als „Uhrwerk“ betrachtet. Die Menschen seien
zwar von einer vernunftbegabten Seele bewohnt, doch der Körper des
Das mechanistische Weltbild
- 30 -
Menschen sei ebenfalls nur eine animalische Maschine, vergleichbar mit
Kleists Marionette, deren Pendel tot sind, solange der Maschinist sie
nicht beseelt (vgl. Kleist, 1956, 9)19.
Tiere werden zu einer Art biochemischem Komplex entwürdigt; noch
heute gilt dem Gesetzgeber Tierquälerei als „Sachbeschädigung“. „Eine
positivistische Beschreibung des Tieres in solchen (mechanischen)
Begriffen eine Selbstentwürdigung durch Entwürdigung des Seienden
selbst“ (Laing, 1970, 53). Deshalb sei „Naturwissenschaftlichkeit der
Irrtum, Personen in Dinge zu verwandeln“ (ebd., 55). Positivistische
Erkenntnistheorie lässt nur Zahlen, Fakten und damit beschreibbare
Objekte gelten.
Aus epistemologischer Hinsicht erscheinen Objektivierungen jedoch
generell problematisch, weil auch Verobjektiviertes immer subjektiver
Erfahrung entstammt. Der Objektivitätsbegriff leugnet eo ipso das
menschliche Subjekt und seine konkrete, situationsabhängige und
individuelle Erfahrung, was zu einem Widerspruch führt, denn
„dieser Begriff lief letzten Endes auf den einer ‚leeren Welt’
oder einer ‚Welt ohne Menschen’ hinaus, d.h. auf einen
Widerspruch, denn eine Welt gibt es nur dank dem
Menschenwesen. So zerstört sich der Objektivitätsbegriff
(…) selbst, sobald man ihn völlig durchführt“ (Sartre, 1991,
402/403).
Trotzdem erscheint das Streben nach Objektivität als elementares
Merkmal der okzidentalen Kultur. Es ist tief in das Denken der
wissenschaftlichen Gesellschaft eingedrungen und bestimmt die Haltung
der Gesellschaftsmitglieder grundlegend.
19
Schopenhauer verweist auf die moralische Tragweite dieser Vorstellung: „Die
vermeinte Rechtlosigkeit der Thiere, der Wahn, daß unser Handeln gegen sie ohne
moralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, daß es gegen
Thiere keine Pflichten gebe, ist geradezu eine empörende Rohheit und Barbarei des
Occidents (...). In der Philosophie beruht sie auf der aller Evidenz zum Trotz
angenommenen gänzlichen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier, welche
bekanntlich am entschiedensten und grellsten von C a r t e s i u s ausgesprochen ward,
als eine nothwendige Konsequenz seiner Irrthümer.“ (Züricher Ausgabe, Werke in zehn
Bänden, Band VI [detebe 140/VI], S. 278).
Das mechanistische Weltbild
1.1.6
- 31 -
Die Mechanisierung des Denkens
Der Mensch ist eine perfekte Maschine, lobte auf dem Höhepunkt der
Mechanisierung auch Julien Offroy de La Mettrie (Man a Machine
1748). Ein materialistischer Gedanke, der trotz der Behauptung,
Menschen seien die besseren Maschinen, so viel Wut weckte, dass sein
Urheber aus seinem Heimatland fliehen musste. Die Verfolgung des
Denkers konnte die Umwälzung des Menschenbildes allerdings nicht
stoppen. Was seinerzeit eine heidnische Neuigkeit gewesen war,
entwickelte sich mit dem Eindringen der Technik in den Alltag zur
normalen Erfahrung.
Das menschliche Bewusstsein wird stets von den kulturell bevorzugten
Denkarten und Verhaltensweisen geformt, hält diese schließlich für die
einzig
vernünftigen
und
für
selbstverständlich.
Die
Bewusstseinsstrukturen, die Art und Weise, wie das Bewusstsein arbeitet,
verändern sich im Lauf der Kulturgeschichte und spiegeln das jeweils
aktuelle Paradigma der Epoche wider.
In der heutigen Zeit ist das Bewusstsein von mechanischer Denkform.
„Was den modernen Geist charakterisiert, das ist die logischmathematische Formalisierung“ (Lyotard, 1993, 53). An der Mechanik
entwickelte Denkweisen setzen sich in nicht-mechanischen Gebieten, wo
sie unangemessen sind, dennoch fort. Die Maßstäbe, die nur das
verstandesmäßig Erfassbare als real bewerten, haben den Geist der in
diese Vorgänge verwickelten Menschen nicht unbeeinflusst gelassen.
Diese Einstellung hat sich von der Naturwissenschaft, in der sie sich
entwickelt hat, über die Grenzen jener hinaus bis in andere, bis in
zwischenmenschliche
Bereiche
hinein
verbreitet.
Der
genuine
Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften ist auf alle „vormals
philosophischen oder nicht-naturwissenschaftlichen Gegenstandsbereiche
ausgedehnt“ (Janich, 2000, 70). Selbst der Mensch wird bisweilen aus
dieser Perspektive betrachtet.
Das mechanistische Weltbild
- 32 -
Mechanische Prinzipien, wie das des größtmöglichen Effektes bei
sparsamsten Mitteln, finden breiteste Anwendung. Der Gütemaßstab der
Optimierung ist heute nicht nur in mechanischen Konstruktionen
wirkmächtig, sondern ebenfalls in alltäglichen Situationen, die mit
lebenden Menschen zusammenhängen. „Instrumentelles Verhalten wird
damit zur Normalität des Umgangs“ (Heitmeyer, 2005)20. Das kann man
bspw. in der rationalisierten Arbeitsteilung und dem Hochleistungssport
erkennen, wo zweckrationale Prinzipien dominieren, deren Einhaltung
und Umsetzung am pekuniären Gewinn abzulesen sind.
Das Objektivitätspostulat führt anscheinend zu einer Versachlichung des
lebenden Menschen.
"Wenn alle Psychologie seit der des Protagoras den
Menschen erhöhte durch den Gedanken, er sei das Maß aller
Dinge, so hat sie damit von Anbeginn zugleich ihn zum
Objekt gemacht, zum Material der Analyse, und ihn selber,
einmal unter die Dinge eingereiht, deren Nichtigkeit
überantwortet" (Adorno, 1969, 248).
Folgt man Adorno, so scheint der Mensch sich selbst auf seine
Maschinendimension zu reduzieren. Er wird als solche betrachtet und
seine Bewusstseinsform gleicht sich maschinellen Strukturen an. Die
mechanistische Betrachtung des Körpers als Maschine kommt heute in
der alltäglichen Sprache deutlich zum Ausdruck: Seit es mechanische
Geräte gibt, läuft alles wie geschmiert, wenn wir auch bisweilen fürchten
müssen durchzudrehen. Die Erfindung von Hebeln und Getrieben
erlaubt, schneller zu schalten. Wie die Dampfmaschine arbeiten wir unter
Hochdruck und fragen uns, ob einer noch ganz dicht sei. Seit der
Elektrifizierung stehen wir unter Strom, fiebern in Hochspannung und
hoffen, dass uns nicht eine Sicherung durchbrennt und wir eine
Kurzschlusshandlung begehen. Diese Beispiele aus dem normalen
Sprachgebrauch sind Indiz für eine Umformung der Denkstrukturen.
20
Heitmeyers Studie zufolge führt die „Ökonomisierung des Alltags und des
Denkens“
dazu,
die
„Sicherung
des
Zusammenlebens
(…)
unter
Effizienzgesichtspunkten zu organisieren“.
Das mechanistische Weltbild
- 33 -
Nicht die Denkinhalte, sondern die Denkart spiegelt durch ihre Sprache
die Mechanisierung der Welt.
Das Selbst- und Weltverständnis des Menschen hat sich in seiner Sprache
niedergeschlagen. In verwandten Begriffen ist generell ein jeweils ganz
bestimmter Weltbezug schon immer enthalten. In den Wörtern selbst
schlummern bereits Assoziationen und Verdikte, die meist unbewusst
hingenommen und daher mitgetragen werden. Anhand der Sprache wird
offensichtlich,
dass
die
Strukturen
des
Denkens
durch
die
Mechanisierung verändert werden. Der Glaube an die „Maschinentheorie
des Lebens“ führt zu einer „Mechanisierung des Bewusstseins“ (Jaspers,
1966, 103), das durch die Naturwissenschaften und die Technik
entstanden ist, aber dann, durch deren enormen Erfolg in
„der gesellschaftlichen Wirklichkeit verankert, gleichsam die
freie Selbstmacht erlangte und jetzt als die progressive
Bewusstseinsform
dieses
Zeitalters
mit
der
Unwiderstehlichkeit eines Verhängnisses sich ausbreitet“
(Gehlen, 1957, 30).
Dieser moderne Geist ist nicht durch mechanische Inhalte charakterisiert,
sondern durch seine Form sich zu mathematisieren und den Nutzen
formaler Denkmittel optimal auszuschöpfen. Statt Herr der möglichen
Mechanismen zu sein, wird das Bewusstsein mechanisiert (vgl. Jaspers,
1966, 103f.; Gehlen, 1957, 45f.). Diese Denkart mag in technischen
Kontexten
ausgesprochen
hilfreich
sein,
in
pädagogischen
Zusammenhängen, die Menschen betreffen, ist sie es nicht. Von daher ist
das
Gesagte
insbesondere
auch
bei
sportpädagogischen
Theoriebildungsprozessen stets zu berücksichtigen, worauf später
zurückzukommen ist.
Die mechanisierten Denkstrukturen sind in der Tat infolge der
ungebremsten Objektivierung aufgetreten. Die Objektivierung des
Menschen.
„und die durch sie begründete Wissenschaft hat in drei
Jahrhunderten ihren Platz in der Gesellschaft erobert (…) und
Das mechanistische Weltbild
- 34 -
ist als neue und ausschließliche Quelle der Wahrheit
bestimmt worden“ (Monod, 1973, 208).
Sie ist in alle Lebens- und Wissenschaftsbereiche vorgedrungen und hat
beträchtliche Fortschritte im menschlichen Können und Wissen
ermöglicht. Andererseits reinigt sie den Menschen offensichtlich von
allen qualitativen Merkmalen, die der Objektivität im Wege stehen. Von
daher
schreibt
Marcuse:
„Wir
sind
gereinigte
Subjekte
des
wissenschaftlichen Messens“ (Marcuse, 1964, 199). Das objektivierende
Paradigma, führt zur Errichtung entsprechender Gütemaßstäbe, die sich
am „Uhrwerkprinzip“ orientieren. Die Gütemaßstäbe dieses Paradigmas
sind in den Denk- und Sprachformen der heutigen Menschen
auszumachen. Sie sind in die kollektiven Bewusstseinsstrukturen
eingelassen. Durch eine Verabsolutierung des Verstandes und die
gegenwärtige
Tendenz
zur
Objektivierung
ist
das
Bewusstsein
tendenziell mechanisiert.
Neuzeitliches wissenschaftliches Denken wird von der Annahme
getragen, die Welt sei eine Anhäufung von Einzelteilen, die nur durch
das Band der Kausalität verbunden seien. Solches Denken ist auf Objekte
kapriziert und findet seine Grenze im Verständnis von Lebendigem.
Deshalb ist die Mechanisierung des Denkens Ursache für einen Abbau
des Sinnlichen.
Das mechanistische Weltbild
- 35 -
1.2 Auswirkungen der Mechanisierung im Sport
Zur Erschließung und zum Verständnis menschlicher Selbstbewegung
werden allerdings sinnliche Erkenntnisvermögen benötigt. Für die
Ausbildung der menschlichen Leiblichkeit und also der Sinnlichkeit war
im Kanon der Wissenschaften die Leibeserziehung zuständig. Dieser
Name wurde nach der „Realistischen Wende“ in den 1960er Jahren in
„Sportwissenschaft“ verwandelt. Nicht zufällig ist darin das Wort „Leib“
verschwunden.
Die
Leibeserziehung
ist
nämlich
vor
allem
wegen
ihrer
Forschungsschwäche von der Sportwissenschaft abgelöst worden (vgl.
Prohl, 2006, 210). Die resultierte aus dem Umstand, den lebendigen Leib
nicht
objektiv
fassen
zu
können,
wie
es
das
moderne
Wissenschaftsverständnis jedoch einfordert. Um das Schicksal der
Leibeserziehung nicht zu teilen und um die Akzeptanz der Universitäten
zu
gewinnen,
übernimmt
naturwissenschaftliche
die
Methoden
Sportwissenschaft
und
sozial-
Erkenntnisse,
um
und
ein
hinreichendes Maß an „Wissenschaftlichkeit“ nachweisen zu können
(vgl., ebd.). Im Verlauf dieser Bemühungen hält der objektivierende
Zeitgeist Einzug in die Wissenschaft der menschlichen Leiblichkeit.
Sport ist daher keineswegs von der Mechanisierung des gegenwärtigen
Zeitgeistes ausgeschlossen. Mengden befindet bereits 1958, er habe
vielmehr „typische Attribute der Technokratie“ (18) angenommen.
Die Rationalisierung des Bewegungsverhaltens im modernen Sport mit
Quantifizierung, Leistungssteigerung und Regelbildung erscheint als
kausale Auswirkung der industriellen Arbeitswelt (vgl. Eichberg, 1986,
203). Dieser Wirkungszusammenhang ist heute kaum noch zu übersehen,
zumal Profisport offensichtlich von Profitdenken durchsetzt ist.
„Wie jede Zeit ihre artgemäße Kultur hat, so hat jede Kultur
auch die ihr wesensgleiche, von ihr geformte Leibesübung,
ihr wesensgemäß nach Form und Zielsetzung“ (Wildt, 1957,
4).
Das mechanistische Weltbild
- 36 -
Demnach ist Sport Ausdruck seiner Zeit; heute der Zeit der
Industriegesellschaft. Sport ist „Ausdruck der Industriekultur und ihrer
Lebensstrukturen“ (Kuchler, 1969, 170). Deren Zielsetzungen sind:
„Höher, schneller, stärker“ (Eichberg, 1986, 185f.). Noch härter bringt
Jünger (1959) diese These zum Ausdruck: „Die Sports (…) sind das
Kennzeichen einer maßlos gewordenen, mechanisierten Arbeitswelt, die
auch das Spiel umformt und unter mechanische Bedingungen stellt“
(168).
Der Sport ist nicht „Begleitphänomen, sondern Spiegel der Gesellschaft“
(Beckers, 1993, 16). In ihm spiegeln sich die westlichen Gütemaßstäbe
der Rationalisierung und Objektivierung. Deswegen kann der moderne
Sport auf Ausprägungen dieser Rationalität befragt werden, um sie
beispielhaft zu verdeutlichen. In diesem Zusammenhang sind besonders
zwei Aspekte abendländischer Rationalität aufschlussreich: Der moderne
Leistungsgedanke sowie die Instrumentalisierung des Leibes.
Das mechanistische Weltbild
- 37 -
1.2.1 Der okzidentale Leistungsbegriff
Eichberg (1986) hat durch die Untersuchung fremder Kulturen und ihrer
Bewegungsspiele nachweisen können, dass jede Kultur ihre eigenen
gültigen
Gütemaßstäbe
hervorbringt,
denen
entsprechend
Bewegungsmuster geformt werden. Umgekehrt kann man sportlichen
Erscheinungsformen Aufschlüsse über die aktuelle Kultur entnehmen.
„Spiel und Sport erweisen sich als Indikatoren gesellschaftlichen
Verhaltens und gesellschaftlicher Veränderungen“ (ebd., 266). Arbeitsund Sozialnormen sowie „Konfigurationen auf dem Spielfeld“ zeigen
„parallele Tendenzen“ (ebd.). Leistung bezieht sich auf dasjenige
Handeln, das sich „an den spezifischen Gütemaßstäben einer Gesellschaft
orientiert“ (Eichberg, 1986, 10). In verschiedenen Kulturen herrschen
unterschiedliche Gütemaßstäbe und damit andere Definitionen von
Leistung.
In Indonesien existiert beispielsweise eine „Relationsgesellschaft“ (ebd.,
15). Dort gelten Gütemaßstäbe, die weniger auf quantifizierbare Produkte
als auf qualitative Prozesse abzielen. Im indonesischen Sepak takrawSpiel beispielsweise (vgl. Jost, 1991, 137f.), oder auch beim
Basketballspiel der Navajo-Indianer (vgl. Allison, 1983, 116f.) ist die
Leistungsbewertung prozessorientiert, das heißt der Vollzug des Spiels
steht im Vordergrund und ist als Zweck legitimiert. Das genaue Zuspiel
und die Integration der Mitspieler werden honoriert und gewürdigt.
Leistung bezeichnet in den Kulturkreisen der Indianer und Indonesier
Interaktions- und Relationsleistung. Siegen erscheint dort nicht als
Zwang. Im Gegenteil würde es einem Dakota- Zuni- oder Hopi-Indianer
grausam vorkommen, sich über das Missgeschick Anderer zu freuen.
„Wettbewerb als Erfolgsgewinn aus dem Versagen anderer ist eine Form
der Folter, die wettbewerbsfreien Kulturen fremd ist“ (Laing, 1970, 62).
Leistung wird in Abhängigkeit von dem Kulturbereich, in dem sie
ausgeführt wird, bewertet. Sie ist nur unter den bestehenden
Bedingungen als solche gültig. Sie erfährt ihre Definition durch
Das mechanistische Weltbild
- 38 -
kulturspezifische Gütemaßstäbe. Dementsprechend ist auch der moderne
Leistungsbegriff des Westens, dessen Folgen nun nachgezeichnet
werden, keineswegs allgemeingültig, sondern relativ.
Im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts verändert sich der
Leistungsbegriff. Während die adelig-ständischen Exerzitien des 17. und
18. Jahrhunderts ohne zahlenmäßige Leistungsangaben auskamen und an
Normen orientiert waren, taucht mit der industriellen Gesellschaft die
Quantifizierung von Leistung auf. Normenmaße wurden durch
Zahlenmaße ersetzt (vgl. Eichberg, 1986, 17).
In der Folge werden u.a. Bewegungsmechanismen standardisiert, um
Leistung vergleichbar zu machen. Dadurch wird „Gerechtigkeit und
Chancengleichheit, aber auch Wettbewerb und Konkurrenz“ (Beckers,
1993, 20) garantiert. Diese Definition von Leistung entspringt den
kulturspezifischen Maßstäben des Okzidents. Andere Arten von
Leistung, wie z.B. Hilfsbereitschaft, Kooperation und Rücksichtnahme
seien nach Eichberg im westlichen Sport „weitestgehend abwesend“
(1986, 266).
In Abgrenzung zu anderen Kulturen ist daher im Westen eine
außergewöhnlich starke Produktorientierung feststellbar. Denn hier ist
das Ergebnis des Spiels von überragender Bedeutung, weil dadurch
Leistung „objektiv“ messbar gemacht werden kann, um vergleichbar zu
sein. Rekorde avancieren zum „Idol menschlichen Fortschritts“ (Kuchler,
1969, 104)21. Die Ziele der Fortschrittsgesellschaft - Maximierung,
Quantifizierung und Optimierung - sind allesamt dem
„Fortschritt durch Rationalität“ verpflichtet und werden als
Maßstäbe in Geltung gebracht. „In der westlichen Kultur
liefert die Messbarkeit (Quantifizierung) der Leistung den
Gütemaßstab“ (Beckers, 1993, 20).
Wie diese Maßstäbe den Sport affizieren, ist nun zu zeigen.
21
Diese sportliche Rekordorientierung spiegelt die gesellschaftlich-politische
Fortschrittsreligion der Neuzeit. Von hier aus wird auch verständlich, dass der
Systemvergleich des kalten Krieges im Medium Sport ausgetragen wurde.
Das mechanistische Weltbild
- 39 -
Der Leistungsbegriff, der auf Fortschritt durch Konkurrenz zielt, wirkt
sich nicht nur positiv aus. Gerade im Kulturbereich Sport sind ebenso
bedenkliche Folgen auszumachen. Beckers et al. (1986) haben darauf
hingewiesen, dass durch starke Reglementierung die persönliche
Entwicklung stagnieren kann, weil Freiheitsgrade eingeschränkt sind.
Dies beinhaltet pädagogische und gesundheitliche Konsequenzen.
Folgt man Huizinga, so geht dem Sport durch stets zunehmende
Systematisierung und Disziplinierung etwas von seinem reinen
Spielgehalt verloren, der durch das intentionale Subjekt der Bewegung
getragen ist. Er wird zur „unfruchtbaren Funktion, in der der alte
Spielfaktor zum großen Teile abgestorben ist. Der Sport ist allzu ernst
geworden, die Spielstimmung ist mehr oder weniger aus ihm gewichen“
(1956, 188). Der messbare Leistungsvergleich als Übertreibung des
sportlichen Wettkampfs münde in „unfruchtbarem Können, das die
geistigen Fähigkeiten nur einseitig schärft und die Seele nicht bereichert“
(Aristoteles. Zit. nach: ebd., 189). Folglich droht die Entwicklung des
Individuums im modernen Sport kaum noch gefördert zu werden.
Gleichzeitig spielt die Gemeinsamkeit, das Soziale, im Sport eine
herausragende Rolle. Für sehr viele Menschen gerade im Breitensport ist
dies ein zentrales Motiv. Schon beim gemeinsamen Lauf erfüllt die
gegenseitige Steigerung der Kräfte einen Sinn. Im Wettlauf des heutigen
Hochleistungssports wird allerdings nicht mehr gegen einen Mitbewerber
gelaufen, sondern gegen die Uhr. Es geht dabei um Rekorde, um
maximierte Leistung. Die gemeinsame Aufgabe wird bei dieser Form der
Konkurrenz nicht mehr erfahren. Zur Lippe bemerkt lakonisch: „Die
Bewegung ist zur Strecke gebracht“ (1991, 52). Das Wesentliche der
sportlichen
Bewegung,
das
gemeinsame
Erleben
der
einander
anspornenden Anstrengung, das die Beziehungen der Menschen
zueinander und zu der Sache, um die es geht, vertieft, kommt bei
gemessenen Rekorden abhanden. Selbst beim Tennismatch, wo doch
eigentlich zwei Rivalen direkt gegeneinander spielen und so miteinander
spielen müssen, ist die Motivation stark von Preisgeldmengen,
Das mechanistische Weltbild
Investitionen
in
- 40 -
Ausrüstung,
Training
und
Kondition
sowie
Übertragungsrechten und -bedingungen von außen festgelegt.
Der Maßstab der Maximierung zielt nicht auf Sinn und Freude von
Bewegung oder auf die Kräfte, die aus der gemeinsamen Betätigung
entspringen, sondern bloß auf Quantitatives wie finanzieller Erfolg oder
Marketingtauglichkeit.
Das
Ergebnis
wird
nach
Preisen
und
Mengenmaßen bewertet, nicht nach dem Sinn für das Ganze (vgl. Lippe,
1991, 56). Dadurch werde verhindert, dass Sport „sich zu einer
kulturschöpferischen Betätigung emporheben kann“ (Huizinga, 1956,
188). Neben „seelischen“ scheinen folglich auch soziale Kompetenzen
des Subjekts durch Objektivierung unzureichend angesteuert zu werden.
Bewegung kann nämlich ebenso durch ästhetische Zwecke, vielleicht
auch nur durch Freude am Spiel und am sozialen Zusammensein
motiviert
sein.
Wenn
Bewegungserfahrungen
nicht
über
den
mechanischen Zweck hinauskommen, verzichtet der Sportler auf diese
möglichen Sinngehalte der Bewegungshandlungen, wodurch sich das
bildende Potenzial des Sports bestenfalls in der Ausbildung motorischer
Fertigkeiten
erschöpft.
Tatsächlich
orientiert
sich
der
heutige
Sportunterricht zuweilen an idealen Technikvorbildern von Topsportlern,
die natürlich für Schüler nicht erreichbar sind. Können, Sollen und
Wollen klaffen dadurch auseinander, was Unzufriedenheit Vorschub
leistet.
„Aus einem unbedingten Gültigkeitsanspruch externer
Sollwerte entsteht eine Sinnverlagerung, durch die der Sinn
von Bewegungen primär an die Erfüllung soziokultureller
Werte gebunden und zum Maß individueller Zufriedenheit
wird“ (Beckers, 1986, 126).
Durch diese eigentümliche Außenorientierung scheint die freie und
individuelle Entfaltung des Sportlers inhibiert.
Übertriebenes Konkurrenzdenken im Sport kann darüber hinaus zu
gesundheitlichen Konsequenzen führen. Die Konkurrenzhaltung ist im
Hochleistungssport und insbesondere bei den modernen olympischen
Spielen sehr auffällig. Lenk schreibt 1964: „Unter den Olympiakämpfern
Das mechanistische Weltbild
- 41 -
selbst ist diese Haltung der Steigerung und des Willens zur höchsten
Leistung voll ausgeprägt“ (282)22. Durch die Fixierung auf den
„Binärcode Sieg-Niederlage“ (Bette, 1989), entsteht die Gefahr der
Übertreibung
des
Wettkampfgedankens,
der
für
Sportler
sogar
gesundheitliche Beeinträchtigungen mit sich bringen kann. Man denke in
diesem Zusammenhang an die Protagonisten des Turnens, des
Eiskunstlaufs sowie des Radsports, von denen manche bereits in frühen
Entwicklungsphasen zur Leistungsmaximierung bewogen werden und
später bisweilen psychische und physische Schädigungen aufweisen.
Doping ist an dieser Stelle ein gutes Beispiel für die Verschränkung von
drei Auswirkungen der Objektivierung: Die Auffassung des Leibes als
Werkzeug, die gesundheitliche Tragweite dieses Habitus und seine
gesellschaftliche Zementierung.
Doping wird trotz seiner moralischen Bedenklichkeit theoretisch
unentbehrlich für jeden Spitzensportler. Denn der aktuelle Rekord könnte
von einem gedopten Sportler aufgestellt worden sein und ist im
natürlichen Zustand nicht zu überbieten. Der ambitionierte Sportler muss
also zu solchen Hilfsmitteln greifen, sollte ein Rekordversuch
unternommen werden. Aus aktuellen Vorkommnissen im Radsport wird
ganz deutlich, dass flächendeckende Kontrollen und die Sanktionierung
der verantwortlichen Funktionäre nicht erwünscht sind. Die einschlägige
Berichterstattung ist mittlerweile verstummt. Sportler werden als Täter
hingestellt, obwohl sie der Eigendynamik des Systems zum Opfer
fallen23.
Hierdurch soll nur knapp angedeutet werden, dass objektivierende
Gütemaßstäbe ein überpersonales Motiv vorgeben, dem sich der Sportler
nicht entziehen kann, ohne sein berufliches Fortkommen zu gefährden.
Aus dieser Hinsicht erscheint die freie und selbständige Entfaltung des
Sportlers auf sublime Weise behindert. Sein fremdbestimmtes Handeln
22
Die Olympiade sei „eine Feier zu Ehren des Siegers, des Stärksten, des
Durchsetzungsfähigsten, wobei das Publikum bereit ist, die schmutzige Mischung aus
Geschäft und Publizität zu übersehen, die die heutige Version der griechischen
olympischen Spiele kennzeichnet“ (Fromm, 2001, 138).
23
Vgl. zur Dopingproblematik: Caysa, 2003, 212 ff.
Das mechanistische Weltbild
- 42 -
sorgt für das Fortbestehen eines Kreislaufs, dessen Funktionieren durch
die Gesetze der leistungsorientierten Kultur gewährleistet ist, die im
Sport ihr Abbild findet. Die Gesetze der „produktorientierten Kultur“
(Slusher, 1967, 210) lassen nur das eindeutige und zählbare Ergebnis zu.
Der Sport soll berechenbar sein. Alternative Sichtweisen werden vom
Kollektiv nur selten gebilligt und finden daher wenig Anerkennung.
Geht man den Gründen für die genannten erzieherischen und
gesundheitlichen Probleme der Objektivierung nach, so wird augenfällig,
dass das Denken den Körper offenbar „verdinglicht“, um über ihn zu
verfügen wie über einen Gegenstand der Umwelt24.
1.2.2 Die Transformation des Leibes zum Körper
Plessner (1975) hat völlig zu recht die Unterscheidung von „Leib sein“
und „Körper haben“ eingeführt. Von außen gesehen erscheint der Leib
zweifellos als Objekt, das in der Raumzeit ausgedehnt ist. Mein eigener
Leib hingegen tut sich mir durch meine Empfindungen kund. Diese zwei
Seinsarten des Leibes sind beide real. Durch die Trennung von Körper
und Geist werden allerdings nicht beide „Substanzen“ als gleichwertig
betrachtet. Vielmehr steht die Dominanz des Verstandes, der als höchste
Erkenntnisquelle eingestuft wird, einem bloß mechanischen Leib
gegenüber. Der Leib wird zum Körper, zum Ding unter anderen
ausgedehnten Dingen25.
Der berühmte Ausspruch „Cogito ergo sum“ lässt erkennen, wie sehr
Descartes das Denken gegenüber dem Körper bevorzugt. Er reduziert das
Subjekt auf sein Denken. Dieser Subjektbegriff führte zu der objektiven
24
„Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens“
(Nietzsche, 1930, 35). Nun zwingt anscheinend der eiserne Griff des Geistes den Leib
in seine Gewalt.
25
Ein Beispiel für die Tendenz zur Verdinglichung des lebendigen Körpers ist
das Phänomen des „Bodybuilding“. Bereits der Bezeichnung darf man entnehmen, dass
der Athlet seinem Körper gegenüber distanziert ist und ihn so zu einem
gegenständlichen Ding macht: Man kann an dem Körper (body) bauen (building) – wie
an einem leblosen Objekt (vgl. Beckers, 1988, 162f.). Auch die Wettkämpfe der
Bodybuilder verweisen auf diese Verdinglichung, denn sie entbehren jeglicher
Bewegung, so dass das posierend ausgestellte Muskelfleisch gleichsam leblos, tot
erscheint. Der Körper hat dabei „keine andere Funktion, als sich selbst zu produzieren“
(ebd., 172, vgl. Caysa, 2003, 227).
Das mechanistische Weltbild
- 43 -
Betrachtung des eigenen Körpers als Maschine. Der Leib und die
Sinneswahrnehmungen werden vor dem Hintergrund seiner Vorannahme,
dass nur das Denken gewiss sei, als „Träume“ (Descartes, 1994, 21)
betrachtet, die nicht dem wahren Wesen der Dinge entsprechen, sondern
lediglich subjektive Reaktionen seien. Da sinnliche Empfindungen nicht
exakt genug durch Begriffe wiedergegeben werden können, wie bspw. in
Form einer mathematischen Gleichung, handele es sich bei den
beschreibenden
Begriffen
wie
warm,
spröde,
sauer
usw.
um
Bewusstseinsinhalte und -projektionen des wahrnehmenden Individuums.
Deshalb seien diese Informationen über die Außenwelt in hohem Maße
subjektiv und können daher auch keine Wahrheit beanspruchen.
Intentionalität und zielgerichtetes Handeln des Menschen werden damit
ebenfalls dem Zweifel preisgegeben. Diese Annahme, dass praktisch nur
quantitative Merkmale eines Körpers, nur Ausdehnung, Figur, Lage und
Bewegung, apriori in diesem Körper gegeben sind, führt zu einer überaus
objektivierenden Sicht der Welt, die nur die (durch den Geist)
objektivierbaren Dinge anerkennt. Die Abwertung des Körpers und
seines Erkenntnisvermögens ist hierbei ostentativ. In dieser Hinsicht hat
Platons Definition von dem Körper „als Kerker der Seele“ durch
Descartes und seine Epigonen eine Renaissance erfahren.
Descartes res cogitans bezeichnet den linear-analytisch arbeitenden
Verstand, der nur die drei Ausdehnungen kennt und daher hervorragend
dazu geeignet ist, mechanische Aspekte der Welt zu begreifen. Wenn
dieser Verstand aber die absolute Erkenntnisfunktion innehat, welche
epistemologische Bedeutung kommt dann dem Leib zu? Wird er bei
dieser Haltung nicht auf seine reine Arbeits- und Werkzeugfunktion
beschränkt? Descartes prägte die Metapher des „Körpers als Uhrwerk“.
Der Körper fungiere nämlich als von dem Geist unabhängige Maschine
nach mechanischen Gesetzen, die mathematisch erklärt werden können.
Das mechanistische Weltbild
- 44 -
„Wir sehen künstliche Brunnen, Mühlen und ähnliche
Maschinen, die, obwohl nur von Menschenhand gemacht,
doch fähig sind, sich von selbst auf verschiedene Weise zu
bewegen. Ich sehe keinerlei Unterschied zwischen
Maschinen, die von Handwerkern hergestellt wurden, und
den Körpern, die allein die Natur zusammengesetzt hat“
(Descartes. Zit. nach: Russell, 1970, 192).
Descartes ging davon aus, dass alle materiellen Dinge aus kleinsten
Teilchen zusammengesetzt sind. Folglich könne man durch analytische
Reduktion der Dinge auf ihre kleinsten Bestandteile zum Verständnis der
Welt sowie des menschlichen Körpers gelangen.
Er anerkennt zwischen natürlichen Körpern und von Menschen
konstruierten Maschinen und Kunstwerken nur einen größenmäßigen
Unterschied. Zwischen einem wachsenden Baum und einem laufenden
Uhrwerk sei kein Unterschied. Tiere seien seelenlose Maschinen (vgl.
Descartes, 1992, 126). Da nun aber der Körper des Tieres und
folgerichtig ebenfalls der des Menschen als mechanische Maschine
aufgefasst wurden, musste, um
„den vollständigen Parallelismus zwischen Erfahrungen des
Geistes und des Körpers zu verstehen, auch der Geist völlig
bestimmt sein durch Gesetze, die denen der Physik und
Chemie entsprachen“ (Heisenberg, 1959, 60).
Diese ganze Beschreibung hat durchaus etwas Künstliches und zeigt die
schweren Mängel der cartesianischen Spaltung. Andererseits war diese
Spaltung in der Naturwissenschaft für drei Jahrhunderte außerordentlich
erfolgreich (vgl. ebd.). Durch die cartesianische Philosophie wird der
gelebte Leib zum Körper, der durch den Verstand dirigiert wird. Diese
Einstellung ist heute immer noch wirksam, obwohl kaum noch jemand
den Dualismus ausdrücklich befürwortet26.
Um die aktuelle Auffassung von Leiblichkeit näher zu erörtern, ist es
hilfreich,
zunächst
eine
analytische
Unterteilung
sowie
eine
Ausdifferenzierung des Körperbegriffes vorzunehmen. Eine grobe
26
Goethe schrieb dazu folgendes Gedicht: Wer will was Lebendiges
beschreiben, versucht erst den Geist herauszutreiben. Dann hat er die Teile in seiner
Hand. Fehlt – Leider! – nur das geistige Band.
Das mechanistische Weltbild
- 45 -
Aufteilung in „pathischen Leib“ und „Arbeitsleib“ schlägt Buytendijk
(1956) vor. Er weist damit auf die sinnliche und funktionale Dimension
des
Körpers
hin.
Die
zwei
Dimensionen
begründen
zwei
Betrachtungsweisen auf den menschlichen Körper, die allerdings in
permanenter Interrelation zueinander stehen. Sie seien keinesfalls als
isoliert voneinander zu begreifen. Der Mensch erfahre
„im Vollzug seines Daseins (…) seinen Leib sowohl als ein
Ding - als ein kompliziert konstruiertes, mehr oder weniger
vorstellbares, verfügbares System von Organen und zugleich
als das leibliche Ich, d.i. der unverstellbare, gelebte Zugang
zur Welt die er selbst erschließt“ (Buytendijk, 1956, 37).
Hier kann man auch die reale Manifestation der antiken Ideen von
Mythos und Logos wieder entdecken. Es ist jedoch ausschlaggebend,
dass Buytendijk, im Gegensatz zu Descartes, nicht das Maschinenmodell
des Menschen im Vordergrund sieht, sondern das Wesen des Menschen
jenseits der funktionalen Dimension verortet. Auch Merleau-Ponty
schreibt in der Phänomenologie der Wahrnehmung (1966), dass der Leib
nicht mit einem physikalischen Gegenstand, sondern eher mit einem
Kunstwerk zu vergleichen sei.
Aus objektivistischer Sicht erscheint der Leib jedoch primär als
„Werkzeugleib“, „Arbeitsleib“ (Buytendijk, 1956, 37), „instrumenteller
Leib“ (Grupe, 1976, 7), oder „Energiekörper“ (Preuss-Lausitz, 1987,
300). In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, den Unterschied
zu beachten, den die deutsche Sprache zwischen „Körper“ und „Leib“
macht. De Chardin bemerkt, es sei eine
„schlechte anthropozentrische Betrachtungsweise, wenn der
Geist sich durch die Zerstückelung der Natur nicht ihre
unermesslichen Weiten bewusst macht. Daher auch die bei
Männern der Wissenschaft noch fühlbare Abneigung, den
Menschen als Studienobjekt anders zu nehmen denn als
Körper“ (1965, 22).
Der
Terminus
anachronistisch,
„Leib“
gilt
im
weil
er
zur
heutigen
Sprachgebrauch
alltäglichen
Benennung
als
des
Menschenkörpers kaum noch verwandt wird. Der Leibbegriff stammt
Das mechanistische Weltbild
- 46 -
anscheinend aus einer Zeit, in der die Mechanisierung der Welt noch
nicht von so durchgreifender Wirkung war wie heute.
Der Begriff „Körper“ wird hingegen ebenso für leblose Dinge verwandt.
So wird bspw. ein abgetrenntes Glied gleichviel als Körper bezeichnet
wie ein Stein, oder der Menschenleib. Eigentlich sei der „Leib“ der
beseelte Körper des Menschen oder Tieres, wobei man unter „Körper“
die uns umgebenden sinnlich wahrnehmbaren Dinge zu verstehen habe
(vgl. Hoffmeister, 1955, 359/360). Die Unterscheidung von subjektiv
erlebtem Leib und objektiv feststellbarem Körper spiegelt die
cartesianische Auffassung, die im Grunde nur den äußerlich erfahrbaren
Körper anerkennt. Die nahezu ausschließliche Verwendung des Begriffes
„Körper“ im alltäglichen Sprachgebrauch gibt Aufschluss über den
Vorzug von mechanischen, leblosen gegenüber lebendigen Aspekten der
Welt.
Die
Sprache
des
gegenwärtigen
Zeitalters
enthüllt
die
mechanistische Perspektive auf den Menschen.
Der menschliche Leib wurde in Abhängigkeit von aktuellen kulturellen
Umständen stets verschiedenartig betrachtet und bewertet (vgl. Beckers,
1997, 206f.). Die Zähmung und Domestizierung des Körpers setzt
während der Entstehung der höfischen Gesellschaften ein (vgl. Elias,
1991, Band І, 153). Der vormals im Zentrum stehende Körper wird
zugunsten von zunehmenden Rationalisierungsprozessen zurückgedrängt
(vgl. Klinge, 1998, 42). Die gelungene Körperdistanzierung zeigt sich in
„courtoisen“ (Elias, 1991, Band І, 153) Verhaltensweisen und vorschriften wie geziertem Sprechen und Sitzen, verhaltenem Atmen,
gesittetem Essen und Trinken, Benutzen von Schnupftüchern etc. (vgl.
ebd.). Der Körper wird diszipliniert, sinnliche Bedürfnisse und Affekte
werden zugunsten des Werkzeug- und Symbolkörpers verdrängt.
Das mechanistische Weltbild
- 47 -
„Die den Körper priesen, die Turner und Geländespieler,
hatten seit je zum Töten die nächste Affinität, wie die
Naturliebhaber zur Jagd. Sie sehen den Körper als
beweglichen Mechanismus, die Teile in ihren Gelenken, das
Fleisch als Polsterung des Skeletts. Sie gehen mit dem
Körper um, hantieren mit seinen Gliedern, als wären sie
schon abgetrennt. Sie wiederholen in blinder Wut am
lebendigen Objekt, was sie nicht mehr ungeschehen machen
können: Die Spaltung des Lebens in Geist und seinen
Gegenstand“ (Adorno, 1969, 249).
Mit diesen Worten deutet Adorno die Konsequenzen einer uralten
Haltung an, die den lebendig sich bewegenden Menschen zum toten
Arbeitsmaterial macht. Diese Haltung geht bis auf das alte Testament
zurück, in dem der Befehl enthalten ist, sich die Erde untertan zu
machen.
Mit
dem Ackerbau
und
der
Viehzucht
beginnt
die
Unterdrückung der Natur (vgl. Kamper, 1976, 247). Die Einstellung
gegenüber dem Körper als einem zu beherrschenden Stück Natur,
beinhaltet die Vorstellung des Körpers und der Sinnlichkeit als etwas
Niederem.
Der Leib wird vom Selbst getrennt, so dass eine umfassende, stabile und
höchst differenzierte „Selbstzwangapparatur“ (Elias, 1991, Band ІІ, 378)
entstehen
kann,
in
der
der
gesamte
Mensch
unter
ständiger
Geisteskontrolle gehalten wird. Im zivilisierten Körper entstehen neue
Sinnes-Hierarchien, so z.B. die „Dominanz des Auges“ (Herzog, 1985,
279)27 und neue Zeit-, bzw. Beschleunigungsmechanismen. Die rationale
Kontrolle der Welt, die seit Bacon und Descartes wissenschaftliche
Forschung bestimmt, umfasst den „Prozess der Zivilisierung und
Disziplinierung des Körpers (…) seiner auf den Augenblick gerichteten
triebhaften Regungen“ (Beckers, 1997, 206) und erscheint als
subversives Herrschaftsprogramm, das unkontrollierbare Phänomene wie
den Leib mit seinen unwillkürlichen Prozessen nivellieren und möglichst
ausschalten will.
27
Das Gesicht, insbesondere das Sehen, sei der Sinn des Verstandes (vgl.
Schopenhauer, 1966, 610f.). „Demzufolge lebt der denkende Geist mit dem Auge in
ewigem Frieden, mit dem Ohr in ewigem Krieg“ (ebd.).
Das mechanistische Weltbild
- 48 -
In der heutigen Welt der Technik und Marktwirtschaft, die sämtlich
rationalen Prinzipien folgt, um funktionieren zu können, ist es
notwendig, den pathischen Leib auszuschalten, damit dem reibungslosen
Ablauf rationaler Planung keine Emotionen und Affekte im Wege stehen.
Der Mensch muss lernen, seinen seit der Geburt affektdurchdrungenen
Leib zu einem Instrument umzubauen, das je nach den Anforderungen
der Situation von einer Kontrollzentrale aus auf jeweils zweckmäßige
Affektdurchlässigkeit eingestellt werden kann (vgl. Rumpf, 1981, 44).
Allerdings zeichnet sich der Mensch wesentlich durch Assoziationen,
Gefühle wie Hoffnung, Angst, Schwermut, Heiterkeit und Erinnerung
aus. Sollten sich solche natürlichen Empfindungen durch spontane
Eindrücke oder Begebenheiten in Form von Lachen, Stöhnen, Zittern,
oder Schreien Ausdruck verschaffen, so ist dies in der zivilisierten
Gesellschaft häufig mit existentiellen Problemen verknüpft. Denn solche
Reaktionen fügen sich nicht den Forderungen nach sachlich-rationalen
Reaktionen auf Menschen, Dinge, Räumlichkeiten oder Situationen.
Gefühlsmäßiges Verhalten kann also in unserer Zivilisation schnell
peinlich sein, oder gar den Weg ins soziale Abseits ebnen. Besonders die
leiblichen Phänomene der Ausscheidung und Sexualität gelten immer
noch als obszön und vulgär (vgl. Bornhöft, 1997, 19-24)28.
Anscheinend gilt es auch heute noch, Aspekte des Körpers zu finden und
zu kultivieren, die den gesellschaftlich geforderten Formen von Arbeit,
Bewegung und von sozialen Beziehungen keinen nennenswerten
Widerstand entgegensetzen. Wenn der Leib zu einem handhabbaren,
kontrollierbaren und in seinen Reaktionen planbaren Apparat würde,
wäre das Ziel der möglichst weiten Unabhängigkeit von pathischen
Erfahrungsprozessen erreicht. Ein so gezüchtigter Leib soll die
objektiven Informationen aus der Welt herausfiltern, um effizient zu
28
Wahrscheinlich sind Frauen wegen ihrer leiblichen Phänomene der
Menstruation, Schwangerschaft und Geburt als „des Teufels“ Jahrhunderte lang
unterdrückt und in den Hexenprozessen sogar verfolgt worden. Leiblichkeit gilt
offenbar als „das Dämonische in ästhetischer Indifferenz“ (Kierkegaard, 1998, 98).
Das mechanistische Weltbild
- 49 -
reagieren. Die subjektiven, qualitativen Informationen aus der Umwelt,
wie Ermunterung, Verwirrung, Genießen, müssen weitestgehend
unterdrückt werden, weil sie sich der Beherrschung und Vorhersagbarkeit
entziehen. „Dieses falsche Bewusstsein hat sich im herrschenden,
technischen Apparat verkörpert, der es wiederum reproduziert“
(Marcuse, 1964, 161).
Übermäßiges
Denken
Mehrdimensionalität
widerspricht
des
jedoch
Menschen,
der
natürlichen
weswegen
es
Zivilisationskrankheiten verursacht. In dem zur Disposition stehenden
Fragenkreis ist allerdings wichtiger, dass die Kaprizierung des Subjekts
auf
Denken
eine
Degeneration
der
leiblichen
Sinne
evoziert.
Wahrnehmungsfähigkeiten liegen brach und verkümmern, was auf die
erkenntnistheoretische Sprengkraft der Umwandlung des Leibes zum
Körper hinweist.
Natürlich findet sich diese Entwicklung auch und gerade in den
Erziehungsanstalten wieder29. Die technische Rationalisierung der
heutigen Zivilisation übergeht die Sinnlichkeit. Rumpf hat zu dieser
Problematik erkenntnisreiche Arbeiten vorgelegt: Der sinnliche Leib
werde verdrängt. Die Lehranstalten verkommen zu „Schulen der
Körperlosigkeit“ (Rumpf, 1980, 452ff.), wo die Körper als „Prothese für
Hören, Sehen, Lesen, Schreiben“ (Rumpf, 1983b, 335) im Unterricht
benutzt und damit stillgelegt und störungsfrei werden. Hier werde der
Körper als Werkzeug und Instrument zur Erfüllung gesellschaftlicher
Erwartungen eingeübt und perfektioniert (vgl. ebd.). Sportunterricht wird
in der Tat häufig auf diese Aufgabe reduziert. Und die schulische
29
Aktuell sind Rationalisierungstendenzen an folgenden Phänomenen zu
beobachten:
1. Die Schulzeit wird verkürzt, um Absolventen schneller dem Arbeitsmarkt
zuzuführen. Die persönliche Entwicklung der Schüler tritt in den Schatten von
ökonomischem Nutzen. „Nebenfächer“ werden voraussichtlich weiter an Bedeutung
verlieren.
2. Studienreformen verkürzen Studiengänge auf Kosten der umfassenden Bildung der
Studenten.
3. Studiengänge werden verschult, um Beschleunigung und Kontrolle der Ausbildung
zu verschärfen.
Das mechanistische Weltbild
- 50 -
Ausbildung ist ohnehin fast ausschließlich von kognitiven Fächern
dominiert, was auf die Verabsolutierung der Außenperspektive hinweist,
die Bildung notwendig auf Wissen, Können und „Intelligenz“ reduziert,
auch um sie vermessen und vergleichen zu können.
In unserer vergeistigten Gesellschaft gibt es kaum noch Bereiche, in
denen der Leib eine ernst genommene Rolle jenseits seiner
Werkzeugfunktion spielt und demzufolge zu freier Entfaltung gelangen
kann. Selbst im Sportunterricht, der offenbar als eine Art Kompensation
für die Kinder der vergeistigenden Erziehung angesehen wird, steht
Funktionalität insbesondere für Lehrer der „alten Schule“ noch heute im
Vordergrund. Es geht häufig um die Beherrschung von vorgegebenen
sportlichen Fertigkeiten, die entsprechend geschlossen vermittelt werden.
Hier werden Bewegungsstandards „affektneutral und im Hinblick auf
einen vorausgesetzten Zweck optimiert“ (Klein, 1984, 10). Daher wird
der
Leib
im
Sportunterricht
meistens
den
genannten
„Beherrschungsprinzipien“ (Klinge, 1998, 44) untergeordnet: „Straff,
fertigkeitenorientiert, allzeit sprung- und startbereit, asketisch und
bedürfnislos“ (Rumpf, 1983b, 345). Nicht der „Menschenkörper“ (ebd.,
1983a, 10) mit all seinen Dimensionen steht im Mittelpunkt, sondern der
ausdifferenzierte,
entsinnlichte
„Bewegungsapparat“
(ebd.)
als
„Werkzeug- oder Sportkörper“ (ebd., 1983b, 333). Hier ist jene
Dimension des Leibes beschrieben, die durch eine mechanistische
Perspektive konstituiert wird.
Das mechanistische Weltbild
- 51 -
1.2.3 Das Beispiel Bildungsstandards
Diese
Sichtweise
spielt
auch
in
der
aktuellen
Debatte
um
Bildungsstandards eine gewichtige Rolle, da standardisierte Fähigkeiten
oder Kompetenzen ja immer von außen, also aus „objektiver“
Perspektive festgelegt werden, die dem rationalen Denken entspringt und
dem Ziel der Berechenbarkeit, bzw. Überprüfbarkeit dient. Die
Standardisierungsdebatte wird zumeist aus der Perspektive der dritten
Person geführt, wodurch das Subjekt der eigentlichen Erfahrung
übersehen wird30. In der Folge wird ein Schüler nicht mehr in seiner
ganzen Persönlichkeit beurteilt, sondern als Lernender, der Englisch,
Mathematik oder Geschichte, an einem Standard gemessen, besser oder
schlechter beherrscht. Grundlage der Beurteilung sind auch nicht
Zuneigung und Verständnis für die individuellen Besonderheiten,
sondern vereinbarte Kompetenzen, die von außen abprüfbar sind31.
Die moderne Neigung zum Messen kommt anscheinend daher, dass man
von außen auf Menschen schaut. Aus diesem Blickwinkel konstituiert
man den Menschen schon vor aller empirischen Forschung als Objekt
unter Objekten.
Dies kann exemplarisch an der aktuellen Debatte um Bildungsstandards
veranschaulicht werden. Bildungstheoretiker denken seit PISA besonders
intensiv darüber nach, wie man das deutsche Schulwesen verbessern
kann. Sie tun das insbesondere deshalb, weil zwischen Dezember 2001
und Juli 2002 im SPIEGEL, im FOCUS und in der ZEIT insgesamt 317
Artikel publiziert wurden, die sich auf PISA beziehen (vgl. Tillmann,
2004, 479). Der öffentlich inszenierte Druck auf die für die kolportierte
Bildungsmisere zuständigen Kultusminister hat jene dazu veranlasst,
30
Im Übrigen dringt im Verlauf dieser Debatte offenbar bildungspolitisches
Denken in bildungstheoretische Fragestellungen ein, insofern überwiegend
öffentlichkeitswirksame Steuerungselemente des KMK-Handlungskatalogs umgesetzt
werden (vgl. Tillmann, 2006, 33).
31
Die Vorstellung eines Körpers, den man hat und über den man wie über ein
Werkzeug verfügen kann, scheint zudem begünstigt durch das kapitalistische
Wirtschaftssystem, in dem alles zur Ware, zum Gegenstand wird (vgl. Fromm, 2001,
121, Eppler, 2008, 23). Der Körper und seine Bildung sind aber keine Waren, die
käuflich und messbar wären, sondern der Leib ist lebendig und Bildung ist ein
Menschenrecht (vgl. ebd.).
Das mechanistische Weltbild
- 52 -
einen Handlungskatalog vorzulegen, der den Ergebnissen von PISA
schnell und wirksam Rechnung tragen soll (vgl. Tillmann, 2006, 24).
Dieser Katalog umfasst sieben „Handlungsfelder“ 32, in denen zum Teil
langfristige und weitsichtige Maßnahmen vorgeschlagen sind. Im
Rahmen des „Umdenkens von der Input- zur Output-Steuerung“ (Kurz,
2006, 3) wird allerdings die Finanzierung und Umsetzung von „InputInstrumenten“, wie „Lehrplänen, Unterrichtsstunden, Lehrkräften und
deren Qualifikation, die Ausstattung der Schulen und die Lehrmittel“
(ebd.) zugunsten der Förderung von Output-Werkzeugen, also Ergebnis
messenden Verfahren, zurückgestellt. Die Förderung von Schulqualität
wird folgerichtig auf Handlungsfeld fünf kapriziert (vgl. Tillmann, 2006,
27f.), das zeitnah und vor allem quantitativ überprüfbar ist.
„Qualitätssicherung“ soll vor allem durch Evaluation erzielt und
gewährleistet werden. Die anderen sechs Handlungsfelder, die von der
KMK am Tage der PISA-Veröffentlichung vorgeschlagen wurden, sind
nur ausgesprochen rudimentär umgesetzt worden33, weil hier keine
standardisierten Tests möglich sind, die offenbar einzig die Öffentlichkeit
überzeugen, auf deren Sympathie die Politik sich angewiesen wähnt (vgl.
Tillmann, 2006, 30).
Zentrales Element in Handlungsfeld fünf sind „Bildungsstandards“, die
ein scheinbar adäquates Mittel an die Hand geben sollen, um die Qualität
von Unterricht zu sichern. Die Festlegung von Standards könne durchaus
helfen, sich auf die Vermittlung von Kernkompetenzen bei schwächeren
Schülern zu konzentrieren, diese „empirisch“ zu überprüfen und
32
1.
2.
3.
Handlungsfelder des KMK-Handlungskatalogs (06.12.2001):
Verbesserung der Sprachkompetenz
bessere Verzahnung von Vor- und Grundschule, frühzeitige Einschulung
Verbesserung der Grundschulbildung (Lesekompetenz, mathematischnaturwissenschaftliche Kompetenz)
4.
bessere Förderung bildungsbenachteiligter Kinder
5.
Qualitätssicherung durch verbindliche Standards und Evaluation
6.
Stärkung der diagnostischen und methodischen Kompetenz der Lehrkräfte
7.
Ausbauschulischer und außerschulischer Ganztagsangebote
33
„In den Handlungsfeldern, die auf verbesserte Lerngelegenheiten und auf
verstärkte Förderung zielen, finden sich zwar in verschiedenen Bundesländern einzelne
Aktivitäten; aber durchgängige oder gar länderübergreifende Maßnahmen lassen sich
kaum ausmachen“ (Tillmann, 2006, 28).
Das mechanistische Weltbild
- 53 -
Leistungen zu vergleichen (vgl. Fessler, 2006, 7). Kurz weist mit Blick
auf das Fach Sport darauf hin, dass dadurch die „Wirkungen des
Unterrichts bei den Schülern einer Überprüfung zugänglich“ (2006, 2)
gemacht werden können und fügt hinzu: „Dagegen kann man doch
eigentlich nichts haben…“ (ebd.).
Die Bildungsstandards, die zum bildungspolitischen „Heilswort“
(Schratz. Nach: Fessler, 2006, 6) geworden sind, sollen jedoch „in einem
weiteren Sinne als Standards für (sport)pädagogisches Handeln begriffen
werden, bei dem nicht nur Leistungsergebnisse berücksichtigt werden“
(ebd., 7), sondern auch „die - zugegebenermaßen schwer mess- und
erfassbare - Qualität der Schule als Lebens- und Erfahrungsraum“ (ebd.).
Die schwer messbare Schulqualität soll also messbar gemacht werden,
um sie anhand von Standards sichern zu können.
Offensichtlich muss dazu die „komplexe pädagogische Wirklichkeit“
(ebd.) erst maßstabsgerecht aufbereitet werden, um überhaupt Standards
zur Anwendung bringen zu können. Dies würde allerdings in einer
Reduzierung von Bildung auf Objekthaftes münden, das messbar ist.
Folgerichtig fällt eben das weg, was Bildung ausmacht; v. Hentig spricht
deshalb von „Vermessener Bildung“. Außerdem steht „objektiver“
Leistungsvergleich nicht nur im Dienste der Gerechtigkeit, sondern
befördert zugleich das über Gebühr ausgeprägte Problem der Selektion
im deutschen Schulwesen. So gesehen verschärfen Standards auch
Ungerechtigkeit.
Begriffe wie „Input“, „Output“ und „Standard“ - die an die
überkommene Denkweise des Behaviorismus erinnern - sind den
Wirtschaftswissenschaften entlehnt. Deren Maßnahmen „sollen nun dem
kranken Bildungssystem auf die Beine helfen“ (Kurz, 2006, 3). Eine
zunehmende Orientierung des Bildungswesens an ökonomischem
Denken ist also offenkundig (vgl. Schierz, 2005, 28f.). Deshalb geht es
bei der ganzen Diskussion „weniger um Bildung als um Standards“
(Beckers, 2006, 41).
Das mechanistische Weltbild
- 54 -
Problematisch ist dies, insofern Bildung dadurch automatisch nach
ökonomischen Maßstäben definiert wird34. Bockrath (2007a, 130) stellt
fest: „Bildung wird als Ware traktiert“. Diese Maßstäbe orientieren sich
nicht an der Entwicklung der einzelnen Person hin zu einem selbst
bestimmten Leben, sondern an deren Funktionstüchtigkeit mit Hinblick
auf externe Vorgaben. Beispielsweise geht es in standardisierten
Testaufgaben nie darum, die Bedeutung eines Lerninhaltes für den
individuellen Schüler selbst aufzudecken. Zusammenhang herstellen,
Sinn geben, bewerten (nicht nur begründen) und etwas auf sich beziehen,
wird nicht getestet. Die Maßstäbe sind viel weniger subjekt- als
objektorientiert.
Um auf diesem scheinbar objektiven Weg Schule nachweisbar zu
verbessern, finanzieren die Bundesländer das 2004 gegründete Institut
zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Das ist mit der
Erstellung von objektiv überprüfbaren „Testaufgaben, die passend für
den Computereinsatz gemacht werden“ (Wiarda, 2008, 63) beauftragt
worden. Durch dieses Vorgehen kommen anscheinend nur Aspekte von
„Bildung“ in den Blick, die von Computern erfasst werden können. Eine
Schwäche des hier zugrunde gelegten Bildungsbegriffs ist in der
Scheidung von tätig sich bildendem Subjekt und objektiv konstruierter
Überprüfung auszumachen. Die Tests zur Überprüfung gleichen einer
Schablone, die das Subjekt verdeckt. Nur erwünschte Ausschnitte werden
sichtbar. Folglich gilt es, das Subjekt wieder sichtbar zu machen.
Eine Erkenntnishaltung, die sich an Computerprozessen orientiert,
erscheint zu mechanisch, um kreatives und eigenständiges Denken
nachdrücklich fördern zu können. Köller, der IQB Institutsdirektor, räumt
ein: „Vom Testen wird kein Schüler besser“ (ebd.). Und er fügt hinzu:
„Aber keine Frage, bei der Unterrichtsentwicklung besteht ein enormer
Nachholbedarf, auch finanzieller Art“ (ebd.). Trotzdem kaprizieren sich
34
In seinem Vortrag Die Formen des Wissens und die Bildung liefert Scheler
eine angemessenere Definition: „Bildung ist nicht ‚Ausbildung für etwas, ‚für’ Beruf,
Fach, Leistung jeder Art, noch gar ist Bildung um solcher Ausbildung willen. Sondern
alle Ausbildung ‚zu etwas’ ist für die aller äußersten ’Zwecke’ ermangelnde Bildung da
– für den wohlgeformten Menschen selbst (Hervorhebungen im Original)“ (Scheler,
1925, 17).
Das mechanistische Weltbild
- 55 -
die landespolitischen Anstrengungen um Qualitätsverbesserung des
Unterrichts offenbar auf Handlungsfeld fünf35. Es scheint, dass Bildung
zugunsten von Standardisierung ins Hintertreffen gerät.
Die Entfaltung des sich bildenden Subjekts wird anscheinend hinter
Normierungen zurückgestellt. Die Vernachlässigung einer intensiven
Umsetzung der anderen sechs Handlungsfelder der KMK, die eine
ausdauernde und subjektorientierte Förderung anschieben wollen, und
die unverhältnismäßige Schwerpunktsetzung auf Evaluation durch Tests
erscheinen als Ausfluss dieses Habitus.
Für den vorliegenden Gedankengang ist festzuhalten, dass durch die
Abwertung
des
Leibes
zum
Objekt
gleichfalls
bedeutende
Erkenntnisvermögen des Leibes ausgeblendet und nivelliert werden. Aus
mechanistischer
Hinsicht
werden
erwähnenswerte
Erkenntnisfunktionen
dem
Leib
zuerkannt.
offenbar
Dies
kaum
erscheint
überdenkenswert, weil der Leib das entscheidende Medium zum
Erkennen der Welt ist. Er ist die Bedingung der Möglichkeit jedes
menschlichen Erkennens. Gleichwohl ist er dem seit Jahrhunderten
andauernden Rationalisierungsprozess gleichsam zum Opfer gefallen.
An den Beispielen der Transformation des Leibes zum Körper und der
Diskussion um Bildungsstandards zeigt sich das Paradigma, welches
Wissenschaft seit Descartes beherrscht: Die Welt und die Menschen
werden verdinglicht, um kontrollierbar zu sein. Das entscheidende
Defizit dieses Denkens wird in einem generellen Verlust und Abbau von
Sinnlichkeit handgreiflich. Um Erkenntnisse über jenes Areal zu
gewinnen, das sich dem objektivistischen Paradigma entzieht, müssen
dessen Grenzen ausgelotet werden, die eo ipso Demarkationslinien zu
sinnlicher Erkenntnis sind.
35
Nach der Standardisierung von Haupt- und Realschulabschlüssen soll
„demnächst die Entwicklung von Abi-Standards“ (Wiarda, 2008, 63) erfolgen. Deshalb
wird das IQB bereits ausgebaut.
Das mechanistische Weltbild
- 56 -
1.3 Grenzen des objektivistischen Paradigmas
Dass jede Perspektive wie auch jedes Paradigma notwendig begrenzt ist,
kann man bei Kuhn (1976) ausführlich nachlesen. Hier stellt sich die
Frage, wo Begrenzungen des geschilderten und heute wirkmächtigen
Paradigmas sich abzuzeichnen beginnen. Zur Darstellung der Grenzen
sind ganz bewusst zwei naturwissenschaftliche Disziplinen ausgewählt
worden, weil dadurch die generelle Notwendigkeit zur Erweiterung des
Blickwinkels - über Geisteswissenschaften hinaus - deutlich werden soll.
1.3.1 Am Beispiel des Kognitivismus
Wenn man über die Wahrnehmung des Menschen, über menschliches
Erkennen sowie die Leistungen des erkennenden Subjekts spricht, scheint
es geboten, die Kognitionswissenschaften zu befragen, wie es sich mit
der Funktion des Gehirns verhält.
Es ist derzeit von großen Fortschritten in dieser Disziplin die Rede. Doch
kann sie das Denken und das Wahrnehmen, also das Erkennen des
Menschen erklären und verstehen? Philosophen entgegnen schlicht: „Das
Gehirn denkt nicht“. Doch mögen die Erkenntnisse des Kognitivismus
am Beispiel eines seiner Entwicklungsstränge, der Hirnforschung,
zunächst auf ihren Gehalt überprüft werden.
Das erkenntnistheoretische Problem der Wahrnehmung wird aus
philosophischer
Sicht
schon
lange
kontrovers
diskutiert.
Die
Vorsokratiker und Aristoteles nähern sich der Frage nach der
Wahrnehmung auf zumeist spekulativem Weg. Vor allem Demokrit und
Leukipp vertreten eine Ansicht, die als Atomtheorie bezeichnet wird (vgl.
Heisenberg, 1959, 21). Danach bestehe die Welt aus kleinsten Teilchen,
den Atomen. Auf ihre mannigfaltige Zusammensetzung könne man die
Erklärung der Welt und die des menschlichen Erkenntnissystems
zurückführen.
Ohne
die
Errungenschaften
der
modernen
Experimentalphysik sind diese Naturforscher also durch bloßes
Nachdenken erstaunlich weit gekommen (vgl. ebd.).
Das mechanistische Weltbild
- 57 -
Die atomistische Lehre taucht vor allem seit Newton wieder in der
Geschichte auf und wird heute noch als Grundannahme vertreten. Der
stringente Determinismus, der sich aus der atomistischen Vorstellung
ergibt, lässt besonders in Anbetracht mancher kognitiver Leistungen des
Menschen einige Fragen offen. Zum Beispiel, wie wir moralisch
bewerten und frei entscheiden können, wenn doch unser Verhalten
durchweg bestimmt ist durch die Naturgesetze. Das sind Fragen, denen
sich die interdisziplinäre Hirnforschung stellen muss. Für unseren
Gedanken ist es wichtig zu sichten, welche Informationen die moderne
Hirnforschung zum Thema Wahrnehmung zur Verfügung stellt. Dies
insbesondere, da Wahrnehmung als Einheit von Empfinden und Sichbewegen aufgefasst werden muss (vgl. Marlovits 2001; Straus, 1956) und
von daher aufs engste mit sportwissenschaftlichen Forschungsgebieten
verwoben ist.
Vergleichbar mit den Vorstellungen der griechischen Atomisten geht
man in der Hirnforschung davon aus, dass durch die Untersuchung und
Analyse der anatomischen und physiologischen Struktur des Gehirns
seine Funktionsweisen ergründet werden können. Dieses Projekt nähert
sich nun nach jahrelanger Forschung seinem Abschluss. Fast alle
unterscheidbaren Strukturen sind mit Namen belegt. Bald wird es
möglich
sein,
strukturelle
und
funktionelle
Organisationen
der
wichtigsten Schaltkreise am Computer zu simulieren. Dadurch weiß man
immerhin, welche Nervenzellen miteinander verschaltet sind und wie sie
kommunizieren. Bemühungen, die Aktivitäten dieser Teile (Neuronen)
anhand von Bild gebenden Verfahren sogar sichtbar zu machen (vgl.
Elst, 2007, 22), sind jedoch nicht Ausdruck eines zunehmenden
Verständnisses
der
Prozesse.
„Die
bunten
Bilder
aus
dem
Kernspintomographen zeigen eben doch nur den Blutfluss im Gehirn und
nicht das Denken selbst“ (Schnabel, 2008, 38). Das kann nämlich aus der
Perspektive der dritten Person, die nur Physiologisches sehen kann, gar
nicht erkannt werden. Vielmehr geben solche Verfahren Aufschluss über
den Vorstellungsrahmen der Wissenschaftler, der durch konkrete,
sichtbare Objekte begrenzt scheint. Dies umso mehr, als diese bunten
Das mechanistische Weltbild
- 58 -
Bilder immer nur einen Schnitt durch das ganze Hirn abbilden und
überdies auch nur grobe Berechnungen von Daten repräsentieren (vgl.
Elst, 2007, 22). Von daher können sie nichts über die Bedeutung der
neuronalen Aktivitäten aussagen. Sie erscheinen als Manifestation
unserer Vorstellungswelt und sind daher als äußerst trügerisch zu
beurteilen. Wir können bspw. anhand dieser Bilder nichts über die
Absichten und die Motivationen des Probanden wissen (vgl. ebd.). Dieser
Eindruck wird dadurch untermauert, dass die Kognitionswissenschaften
das Gehirn als informationsverarbeitendes System auffassen und den
Geist folgerichtig mit Computermodellen zu erklären versuchen.
Problematisch erscheint dabei, dass solche Computermodelle ja Produkt
eben dieses Geistes sind und daher Voraussetzungen geltend gemacht
werden, die erst durch den zu erforschenden Geist erzeugt worden sind.
Es bleibt daher weiter ungeklärt, auf welchen informationsverarbeitenden
Prinzipien kognitive Leistungen des Gehirns, wie Empathie, soziale
Kompetenz und moralisches Urteilen beruhen. Es gibt nämlich kein
Zentrum,
in
dem
alle
Informationen
zusammenfließen
und
Entscheidungen getroffen werden. Das Gehirn stellt sich als ein dezentral
organisiertes System dar (vgl. Varela, 1992, 124f.). Offenbar hat die
Evolution das Gehirn mit Mechanismen zur „Selbstorganisation“ (ebd.)
ausgestattet, die auf eine übergeordnete Instanz verzichten können. Auf
welche Weise ohne eine solche Ordnungsinstanz Vorsätze gefasst
werden und Handlungsentwürfe entstehen, bleibt ungeklärt und eine
wichtige Herausforderung für die Hirnforschung (vgl. ebd.).
Der
Ansatz
zur
Lösungssuche
scheint
geprägt
von
einer
deterministischen Vorstellung. Die Hirnforscher stimmen nämlich in der
Grundannahme überein, dass sich die Funktionen des Gehirns - zumal
kontinuierlich evolutionär gewachsen - „naturwissenschaftlich erklären
und beschreiben lassen müssen“ (Singer, 2007). Die aktuelle Annahme
lautet: Jede Entscheidung beruht auf neuronaler Aktivität. Die folgenden
festen Naturgesetzen, die man bis heute herausfinden konnte. Freier
Das mechanistische Weltbild
- 59 -
Wille sei Illusion36. Diese ausgesprochen deterministische Haltung wird
von Hirnforschern kollektiv akzeptiert, weil sie noch nicht widerlegt
werden konnte.
Allerdings zeigen sich Lücken in dem streng kausalistisch konstruierten
Erklärungsmodell. Das wird besonders deutlich, wenn man auf das
Phänomen der Freiheit schaut. Bei totaler Determination des Individuums
durch seine neuronalen Schaltkreise kann man ihm nicht die Schuld für
seine Handlungen zuweisen. Auch ethische Fragen würden sich
erübrigen. Die kausalistische Grundannahme der heutigen Hirnforschung
steht also in „eklatantem Widerspruch“ (Singer, 2007) etwa mit unserem
Rechtsystem und generell unserer demokratischen Grundordnung, die
wesentlich
aus
selbständig
und
eigenverantwortlich
handelnden
Individuen bestehen muss. Normatives Handeln des Menschen lässt sich
nicht allein aus der Biologie ableiten (vgl. Wingert, 2007, 34). Dass dies
allen Widersprüchen zum Trotz weiterhin versucht wird, scheint dem
Kontrollfetischismus der neuzeitlichen Wissenschaften geschuldet, der
insbesondere mit Blick auf ethische Fragen menschenverachtende Züge
anzunehmen droht und deswegen als demokratiefeindlich abzulehnen ist.
Der zentrale Einwand gegen die deterministische Hypothese, der
vielleicht auch deren Absurdität („Der Mensch kann nicht entscheiden
was er tut“) auflösen kann, lautet: Neurophysiologische Prozesse könnten
ebenso gut die Folge von Entscheidungen sein und Entscheidungen des
Subjekts Ursache biologischer Abläufe. Aufmerksamkeitslenkungen des
Subjekts verändern nachweislich synaptische Verschaltungen im Hirn
und sogar genetische Dispositionen, also die biologische Struktur des
Menschen, wie der Mediziner und Genetiker Bauer jüngst ausgeführt hat
(vgl. Bauer, 2002). Überdies legen auch Erkenntnisse der modernen
36
Singer anerkennt die erfahrungsabhängige Ausprägung neuronaler
Verschaltungen und begreift das Gehirn als „soziales Organ“ (Singer, 2008a, 39), das
„nicht nur von genetischen Dispositionen geprägt, sondern auch von unserer Erziehung,
den Werten und moralischen Kategorien, die uns vermittelt wurden“ (ebd.). Der
„Übergang von neuronalen Prozessen zu subjektiv erfahrenen Bewusstseinsprozessen“
(ebd.) (Qualia) scheint von neurophysiologisch orientierter Gehirnforschung allerdings
nicht erschlossen werden zu können. Das ist auch logisch, weil man die Ursache von
physiologischen Prozessen - die Intentionalität des Subjekts - übersieht, um Kontrolle
inszenieren zu können.
Das mechanistische Weltbild
- 60 -
Genetik37 nahe, dass im Rahmen gängiger Auffassungen Grund und
Folge verwechselt werden. Mit dieser Grundannahme würde auch der
Entscheidungsfähigkeit des Subjekts besser entsprochen, deren Evidenz
schließlich offenkundig ist.
Die
Hirnforschung
übergibt
dieses
Problem
an
die
Humanwissenschaften. Singer spricht von einer „längst überfälligen
Rezeption
naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse
durch
die
Humanwissenschaften“ (2007). Es gibt keinen Anlass zu der Vermutung,
dass die Sportwissenschaft von dieser Herausforderung ausgenommen
sein sollte, zumal es ja auch hier um eine selbst verantwortete
Handlungsfähigkeit geht.
Wiewohl sich die moderne Hirnforschung anscheinend ausschließlich in
dem engen Rahmen der klassischen Naturwissenschaften bewegt und
ethische
Dimensionen
ihrer
vorläufigen
Erklärungen
an
die
Wissenschaften von dem Menschen delegiert, tauchen von ihrer Seite
zunehmend Überlegungen auf, die die deterministische Grundannahme
scheinbar untergraben. Man sei noch „weit davon entfernt, die Prinzipien
zu verstehen, nach denen sich die verteilten Prozesse im Gehirn zu
kohärenten Zuständen verbinden“ (Singer, 2007). In Ermangelung eines
alternativen Ansatzes versucht man nun zu einem Verständnis zu
37
Auch aus biologischer Perspektive werden Beschränkungen des
objektivistischen Denkens nun unübersehbar: Neueste Erkenntnisse der Genetik
sprengen deren bisherige Denkmuster, die sich bislang „auf dem Stand des
Augustinerpaters Gregor Johann Mendel (1822-1884) befinden, des Urvaters und
Begründers der Erblehre. Demgemäß beschränkt sich das Wissen über die Gene
vielfach darauf, dass Merkmale der biologischen Grundausstattung eines Organismus
im Rahmen eines festgelegten Erbganges an die Nachkommen weitergegeben werden“
(Bauer, 2002, 9). Die Genetiker müssen sich jetzt von der Vorstellung stabiler Gene
verabschieden; wie die Atomphysiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Annahme von
stabilen Elementarteilchen aufgeben mussten. Das Genom ist kein stabiler Text; es ist in
beständigem Umbau begriffen. Genetische Prozesse bilden ein offenes System, das
„keineswegs vorbestimmt ist“ (Bahnsen). Der Genetiker Venter räumt ein: „Unsere
Annahmen waren so naiv, dass es fast peinlich ist“ (ebd.). Nicht nur die
Genkonglomerate, sondern die Identität des einzelnen Gens verändert sich, jüngsten
Erkenntnissen zufolge, ständig. Unter der „Wucht der Befunde zerbröselt nun die Idee,
das Genom stelle eine naturwüchsige Konstante dar“ (ebd.). Auch eineiige Zwillinge
sind biologisch nicht identisch. Soziale und materiale Außenfaktoren verändern
Genfunktionen fortwährend. Erfahrung erzeugt biologische Strukturen. Die Komplexität
und Unbestimmtheit genetischer Prozesse entspricht quantenphysikalischen
Erkenntnissen auf subatomarem Gebiet. Damit ist gleichzeitig der simple Glauben an
die Determiniertheit des Subjekts mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden widerlegt
und seine Freiheit vorläufig bewiesen.
Das mechanistische Weltbild
- 61 -
gelangen, indem man die einzelnen neuronalen Prozesse als jeweilige
Entsprechungen eines kognitiven Objektes betrachtet. Sie seien als
komplexes raumzeitliches Erregungsmuster in der Großhirnrinde
gespeichert, gleichsam als Bestandteile der Erkenntnis. Diese Teile, die
Neuronen, werden mit einer begrenzten Zahl von Symbolen oder
„Buchstaben“ (ebd.) verglichen, deren Rekombination die Grundlage zur
Entstehung neuer Erregungsmuster bildet. Durch die kleinsten Teile
lassen sich dann „nahezu unendlich viele Objekte der Wahrnehmung
repräsentieren“ (ebd.). Man geht davon aus, dass
„wir uns als neuronale Entsprechung, als Korrelat
(Hervorheb. d. Verf.) von Wahrnehmungen komplexe,
raumzeitliche Erregungsmuster vorstellen müssen, an denen
sich jeweils eine große Zahl von Nervenzellen in
wechselnden Konstellationen beteiligt“ (Singer, 2007).
Es ist bemerkenswert, dass an dieser Stelle in Singers Aufsatz eine
Parallele zur phänomenologischen Bewusstseinsforschung auftaucht.
Phänomenologen sprechen ebenfalls von Bewusstseinsstrukturen als
Korrelat der objektiven Außenwelt, die sich diesen gegenüber als etwas
ausweist.
Das
„Herzstück“
(Gadamer,
1960,
231)
der
phänomenologischen Forschung - der Korrelationsgedanke - ist offenbar
auch eines der Resultate der Hirnforschung. Damit liefert die
Hirnforschung das als Resultat, was die phänomenologische Forschung
bereits vor gut hundert Jahren als Ausgangspunkt nutzte. Auch unter
diesem Aspekt sind die Erwartungen an die Hirnforschung erheblich
zurückzusetzen.
Hirnforscher
können,
aller
geleisteten
Erklärungen
zum
Trotz,
anscheinend nicht plausibel begründen, wie das Subjekt erkennt, denn
Singer schließt mit den Hinweisen darauf, dass die „wechselwirkenden
Neuronen (…) ein Maß an Komplexität aufweisen, das unser
Vorstellungsvermögen übersteigt“ (Singer, 2007). Er fügt hinzu, dass die
zukünftigen Beschreibungen der neuronalen Vorgänge „abstrakt und
unanschaulich“ sein werden und dass sie „keine Ähnlichkeit aufweisen,
mit den Vorstellungen, die auf diesen neuronalen Zuständen beruhen“
(ebd.). Das zeigt sich auch im so genannten Konnektivismus, der als
Das mechanistische Weltbild
- 62 -
Spielart des Kognitivismus ähnliche Schlüsse nahe legt (vgl. Varela,
1992, 125-147).
Am
Beispiel
der
Hirnforschung
wird
ein
atomistischer
Vorstellungsrahmen erkennbar. Man kann sich die Welt offensichtlich
nicht anders vorstellen als aus einzelnen Atomen zusammengesetzt.
Dieser
kausalistische
Rahmen
bereitet
heute
auch
den
Neurowissenschaftlern Probleme, weil er kaum über das Erklären des
anatomischen
Aufbaus
des
Gehirns
hinaus trägt.
Dieses
über
Jahrhunderte eingeübte Denkmuster ist derart wirkmächtig, dass es
Forscher wie bspw. Singer in seinem Bann zu halten scheint. Im Dialog
mit dem ehemaligen Molekularbiologen Matthieu Ricard, der sich
entschieden hat, kontemplative Erkenntnisquellen zu erforschen, führt
dieser aus, dass reines Bewusstsein mit dem Ozean vergleichbar ist und
mentale Prozesse mit den Wellen, die Teil des Ozeans, aber nie von
diesem getrennt sind. Singer vermutet hier einen „Dualismus“: „Ich kann
mir kein von allen Inhalten entleertes Bewusstsein vorstellen“ (Singer,
2008, 17)!
Unser eingeübter Vorstellungsrahmen scheint das entscheidende
Hindernis
für
prozessorientiertes
Denken
zu
sein.
Durch
die
Anerkennung einer prozessorientierten Ontologie - wie sie bspw. dem
Schichtungsgedanken (vgl. Kap. 2.5.7) zugrunde liegt - kann dieser
Rahmen für Einsichten geöffnet werden, die sich nicht aus der
Rekonstruktion
von
irgendwie
zusammengesetzten
elementaren
Bausteinen und deren Repräsentation im Bewusstsein herleiten lassen.
Die entscheidenden Fragen auch der Hirnforschung erscheinen
schließlich noch immer ungeklärt: „Wie bringt das Nervengeflecht in
unserem Kopf Gedanken hervor, auf welche Weise führt das
Neuronenfeuer zu so etwas wie Bewusstsein, kurz: Wie entsteht aus
Materie Geist?“ (Schnabel, 2008, 38). Die objektivistische Perspektive
der dritten Person kann diese Fragen anscheinend nicht klären.
Der skizzenhafte Exkurs in die faszinierende Welt der Gehirnforschung
soll
verdeutlichen,
dass
auch
hier
eine
Beschränkung
des
Vorstellungsrahmens vorliegt, die ein tiefer gehendes Verständnis des
Das mechanistische Weltbild
- 63 -
Subjekts nicht zulässt. Weil der Mensch eher ganzheitliche Gestalten
wahrnimmt als Einzelteile der Erfahrung, scheint es generell zweifelhaft,
ob man durch das Betrachten der einzelnen Neuronen und ihrer
Wechselwirkungen mit anderen überhaupt etwas über die Ausbildung
von Wahrnehmungen wissen kann.
Um der Wahrheit näher zu kommen, braucht es eine alternative Sichtund Denkweise, die andere Voraussetzungen in Betracht zieht und daher
andere Phänomene sieht. Hierbei handelt es sich nicht um eine neue
Interpretation alter Daten, die die Philosophie besorgen muss. Deutungen
können sich immer nur der Daten bedienen, die aus einer bestimmten
Perspektive erhoben wurden und also immer schon durch das in der
Perspektive wirksame Paradigma begrenzt sind. Objektive Tatsachen gibt
es nicht. Jede Erkenntnis ist zutiefst standpunktabhängig. Die Daten
selbst werden sich bei anderer Hinsicht verändern, so dass der von Singer
geforderten
„überfälligen
Rezeption
naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse“ durch die Philosophie ein Perspektivwechsel der
Naturwissenschaften vorausgehen muss. Die Wissenschaftler sollten
Datenerhebungen aus einer anderen Perspektive als der deterministischen
ins Auge fassen, was in letzter Konsequenz auch die Aufwertung
kontemplativer Erkenntnisquellen erforderlich macht. So generierte
Daten könnten mit den bereits verfügbaren Daten verglichen bzw.
ergänzt werden, um damit zu einer umfassenderen Ansicht fortschreiten
zu können. Mit der Anwendung von gleichen Instrumenten auf die
gleichen Objekte können dann neue Erkenntnisse gewonnen werden38.
Die Begrenztheit objektivistischen Denkens wird durch die folgende
Rezeption der Quantentheorie weiter untermauert.
38
Für die Sportpädagogik scheint das insofern relevant, als aus objektivistischer
Perspektive bspw. die Intentionalität der Wahrnehmung fast vollständig im Dunkeln
bleibt. Die Hirnforschung konnte zwar nachweisen, dass intentionale Akte
(Aufmerksamkeitsrichtungen) zu korrelierenden neuronalen Aktivitätsverschiebungen
führen. Das sagt aber nichts über Grund und Bedeutung dieser
Aufmerksamkeitsverschiebungen. Das geltende Paradigma bleibt auf Erklärungen und
Symptome beschränkt, weil physiologische Prozesse nicht als Folge von intentionalen
Erkenntnisakten angesehen werden.
Das mechanistische Weltbild
- 64 -
1.3.2 Am Beispiel der Quantenphysik
Die Entdeckung der Quantentheorie vor allem durch Bohr und
Heisenberg gibt Aufschluss über den Aufbau der Welt. Mit
zunehmendem Verständnis dieser Theorie39 gelangt man zwingend zu
einem sukzessiven Nachdenken über ihre epistemologische Bedeutung.
Denn die Gesetze der Quantenmechanik beinhalten eine Vorstellung vom
Wesen menschlichen Erkennens, das jener der klassischen Physik
gänzlich fremd ist, weil die quantenmechanischen Gesetze unseren
heutigen Vorstellungen und unserem kausalen Weltbild völlig zuwider
laufen. Die Ergebnisse der Deutung der Quantentheorie, die für das
vorliegende Anliegen von Bedeutung sind, sollen kurz erörtert werden40.
Am 14. Dezember 1900 stellte Max Planck an der Friedrich-WilhelmUniversität zu Berlin (heute Humboldt-Universität) seine Hypothese über
die Quantelung der Energie der elektromagnetischen Strahlung vor.
Dieses Ereignis wird allgemein als der Anfang der Quantenphysik
angesehen (vgl. Röthlein, 1999, 17). Plancks Forschungen gehen zurück
auf die alte Kontroverse um die Natur des Lichts. Newton postuliert die
so genannte Korpuskulartheorie (Opticks 1704). Danach bestehe das
Licht aus Partikeln, also aus Materie. Der niederländische Naturforscher
Huygens vertrat dagegen die Ansicht, das Licht bestehe wesentlich aus
Wellen. Obwohl dieser Streit nicht entschieden werden konnte, dachte
man bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, das Licht bestehe einfach aus
schnell fliegenden Teilchen (vgl. ebd.).
39
Heisenberg bemerkte, dass wer behauptet, er hätte diese Theorie verstanden,
sie nicht verstanden hat. Feynman, einer der gründlichsten Kenner der
Quantenmechanik: „(Im Gegensatz zur Relativitätstheorie) kann ich mit Sicherheit
behaupten, dass niemand die Quantentheorie versteht“ (1993, 159). Gemeint ist: Im
Gegensatz zur speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, die zwar eine gründliche
Revision des früheren Weltbildes verlangen, deren ungewohnte Vorstellungen von
Raum und Zeit sich jedoch aus logischem Denken ergeben, hält die Quantenmechanik
Rechenverfahren bereit, aus denen man die „exaktesten und erfolgreichsten
numerischen Vorhersagen in der Geschichte der Naturwissenschaften gewinnt und die
sich leicht ausführen lassen – ohne wirklich zu verstehen, warum die Verfahren klappen
oder was sie im Grunde bedeuten“ (Greene, 2000, 110).
40
Es kann hier nicht der Ort sein, um die Quantentheorie genauer zu beleuchten.
Für ausführlichere Einblicke vgl. u.a. Greene (2000), Heisenberg (1959 & 1969), Bohr
(1958), Röthlein (1999).
Das mechanistische Weltbild
- 65 -
Es war vor allem Einstein, der Plancks Entdeckung einen wirklichen
physikalischen Sinn verlieh (vgl. Greene, 2000, 117). Planck hatte
gezeigt, das Wellen jeder Art - er befasste sich zunächst mit
elektromagnetischen Wellen - aus Energiequanten bestehen. Also aus
kleinen Energiepaketen. Der Physiker Gamow beschrieb dies sehr
anschaulich: Es sei, als erlaube uns die Natur einen halben Liter Bier
oder gar kein Bier zu trinken, aber nichts dazwischen. Planck postulierte,
dass die Frequenz einer Welle immer proportional ist zu dem kleinsten
Energiebündel, das sie tragen kann. Dieser Proportionalitätsfaktor wird
heute als Plancksche Konstante bezeichnet und ist so winzig, dass er in
unserer täglichen Erfahrung nicht erscheint (vgl. ebd., 115). Für die
Experimentalphysiker bedeutete die Plancksche Konstante jedoch einen
großen Fortschritt.
Auf der von Planck geschaffenen Grundlage konnte Einstein nämlich
1905 bei der Untersuchung des Photoeffektes zeigen, dass Wellen - auch
Lichtwellen - aus Photonen bestehen, die kleine Pakete oder Quanten des
Lichts sind. Hatte Newton also Recht mit seiner Teilchenstromtheorie?
Der englische Physiker Thomas Young zeigte mit seinen Experimenten,
dass Newton unrecht gehabt hatte. Das berühmteste von Youngs
Experimenten ist das Doppelspaltexperiment.
Bei diesem Experiment wird ein Lichtstrahl auf eine Trennwand
geworfen, in der sich zwei Spalte befinden. Das Licht, das durch die
Trennwand
gelangt,
wird
von
einer
photographischen
Platte
aufgezeichnet, wenn ein Spalt oder beide offen sind. Wenn der rechte
Spalt abgedeckt wird, konzentriert sich das Licht auf den linken Bereich
der photographischen Platte und umgekehrt. Sind beide Spalte geöffnet,
führt Newtons Teilchenhypothese des Lichts zu der Vorhersage, dass
zwei Linien rechts und links auf der photographischen Platte sichtbar
werden. Man kann sich Newtons Lichtkorpuskel vorstellen, als wären sie
kleine Geschosse, die auf die Trennwand abgegeben werden. Die durch
die Spalten gelangen, müssten in den zwei Bereichen hinter der
Trennwand abgebildet werden. Die Wellenhypothese des Lichts lässt
einen ganz anderen Ausgang des Experimentes erwarten. Wellen sind
Das mechanistische Weltbild
- 66 -
nämlich an dem so genannten Interferenzphänomen zu erkennen. Sobald
Wellen aus dem Spalt hervorkommen, überlagern sie sich und zeigen bei
dem beschriebenen Experiment eine Sequenz von hellen und dunklen
Streifen; ein Interferenzmuster (vgl. Bohr, 1958, 36). Young führte eine
Version dieses Experimentes durch, er schickte Licht durch die zwei
offenen Spalten in der Trennwand und das Ergebnis war ein
Interferenzmuster
auf
der
photographischen
Platte.
Newtons
Korpuskulartheorie war widerlegt, die Wellentheorie des Lichts
scheinbar bewiesen.
Nun besteht auch Wasser aus Teilchen, aus Wassermolekülen und weist
trotzdem Interferenzeigenschaften auf. Es spricht also kein vernünftiges
Argument
dagegen,
dass
Welleneigenschaften
wie
etwa
Interferenzmuster auch möglich sind, wenn das Licht Teilchencharakter
hat. Doch Young setzte seine Experimente fort und gelangte zu
ausgesprochen kuriosen Ergebnissen. Er feuerte einzelne Photonen
(Elementarteilchen) eines nach dem anderen auf die Trennwand ab.
Erstaunlicherweise
ordnen
sich
die
Einzelpunkte
auf
der
photographischen Platte immer noch zu einem Interferenzmuster. Nach
herkömmlicher Vorstellung müsste jedes Photon entweder durch den
linken oder den rechten Spalt gelangen, doch das ist nicht der Fall. Einem
Elektron, das den rechten Spalt durchquert, sollte es egal sein, dass es
auch einen linken Spalt gibt, und umgekehrt. Doch das hervorgerufene
Interferenzmuster lässt darauf schließen, dass sich etwas, das auf die
Existenz beider Spalte reagiert, überlagert und vermischt. Irgendwie
verkörpern Photonen - obwohl sie Teilchen sind - auch die Wellennatur
des Lichts. Man muss sich mit der neuen Vorstellung abfinden, dass das
Licht sowohl Welle, als auch Teilchen ist. Obwohl es Worte gibt wie
Welle-Teilchen-Dualismus bleibt dieses Verhalten der Natur für uns
schwer vorstellbar und kaum verständlich (vgl. Greene, 2000, 135).
Der theoretische Physiker Feynman erklärte, jedes Elektron durchquere
beide Spalte. Es lege auf dem Weg von der Quelle zum Schirm jede
mögliche Bahn gleichzeitig zurück. Laut Feynman ist es so, dass das
Das mechanistische Weltbild
- 67 -
Elektron jede mögliche Bahn ausprobiert. Er konnte seine Annahme mit
der „Pfadintegralmethode“ untermauern.
“Die Natur, wie sie die Quantenmechanik beschreibt,
erscheint dem gesunden Menschenverstand absurd. Dennoch
decken sich Theorie und Experiment. Und so hoffe ich, dass
Sie die Natur akzeptieren können, wie sie ist - absurd“
(Feynman. Zit. nach: ebd., 137).
Das Teilchen wird anscheinend durch den Vorgang des Beobachtens auf
eine Bahn festgelegt. Dies ist die wahrscheinlichste Bahn. Deswegen
erscheint uns die makroskopische Welt als den Newtonschen Gesetzen
folgend. Das kommt daher, dass sich die Wahrscheinlichkeiten
ausmitteln. In Wirklichkeit haben wir in der Alltagswelt nur den
Eindruck, dass Objekte sich auf einer festgelegten Bahn bewegen. Bei
mikroskopischen Objekten zeigt Feynmans Methode, dass viele
verschiedene Wege zur Bewegung eines Objektes beitragen können und
dies in der Regel auch tun.
Die klassische Mechanik Newtons und das zugrunde liegende
Naturgesetzt der Kausalität funktionieren in der uns erscheinenden
(makroskopischen) Welt so gut, dass man mit deren Hilfe nicht nur in der
Technik, sondern sogar in Elektrodynamik und Wärmelehre ziemlich
genaue Aussagen formulieren kann. In kleineren (Atome) und größeren
(Kosmos) Bereichen werden Messverfahren der Mechanik allerdings so
ungenau, dass für den subatomaren Bereich die Quantentheorie und für
den kosmologischen Bereich die Relativitätstheorie entwickelt werden
mussten, um sinnvolle Ergebnisse generieren zu können. Die Grenze des
mechanistischen Weltbildes fällt offenbar mit den Grenzen des an der
makroskopischen
Welt
ausgebildeten
menschlichen
Erkenntnisvermögens zusammen, das ausschließlich an Objekte gewöhnt
ist und daher nur einen ausgesprochen kleinen Teil der Wirklichkeit
erfassen kann - eben den Teil, den es als Betrachter habituell konstituiert.
Anscheinend ist der Beobachter, also das Subjekt ein entscheidender
Parameter für alle Erkenntnis. Heisenberg nennt dies das Einbezogensein
des Beobachters.
Das mechanistische Weltbild
- 68 -
1.3.3 Die Frage nach dem Beobachter
Gibt es die objektive Welt, die Welt an sich. Oder liegt eine solch feste
Realität im Auge des Betrachters. Was Wissenschaft über die Welt
aussagen kann, ist ein großes philosophisches Problem. Denn jede
Erkenntnis, auch die eines jeden Wissenschaftlers, ist immer Jemandes
Erkenntnis, also durch ein Subjekt hervorgebracht. Daran ändert auch
Intersubjektivität nichts, weil die intersubjektive Welt in Form von
Begriffen zuvor von einem Kollektiv vereinbart wurde, um eine
Verständigung zu ermöglichen. Es ist ein Fehler, diese intersubjektive
Konstruktion mit Objektivität zu verwechseln. Dieser Fehler ist jedoch
zur
Grundlage
des
verinnerlichten
objektivistischen
Paradigmas
geworden, so dass der Wissenschaftler sich überhaupt nicht mehr als
Subjekt
wahrzunehmen
braucht.
Er
übergeht
deswegen
die
Beobachterfrage und nimmt sich selbst in seinem Wesen und Wirken als
Beobachter nicht an. Auf dem skizzierten Hintergrund und insbesondere
mit Hinblick auf die Intentionalität von Wahrnehmung erscheint dies
leichtfertig, was sich in zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen langsam
abzuzeichnen beginnt.
Um dies zu veranschaulichen, wird das Beobachterproblem entlang
ausgewählter Wissenschaftsdisziplinen aufgebrochen. Das ist allein
deswegen aufschlussreich, weil die Sportwissenschaften auf ihre
jeweiligen Mutterwissenschaften rekurrieren. Und die sind mit dem
Beobachterproblem konfrontiert.
1.3.3.1 Beobachterproblem in der Physik
Belastbare Beweise für die Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher
Erkenntnis sind - im Anschluss an, aber ohne ausdrückliche Bezugnahme
auf Husserl (vgl. 2.4.4) - durch die moderne Physik vorgebracht worden.
Denn im subatomaren Bereich gestaltet sich unsere Wirklichkeit als nur
eine von vielen möglichen Wirklichkeiten. Dieses Phänomen scheint in
dem vorliegenden Kontext von besonderer Bedeutung.
In der klassischen Physik sind Masse, Zeit und Raum die maßgeblichen
Beobachtungskategorien, die unabhängig von dem Erkenntnisvermögen
Das mechanistische Weltbild
- 69 -
des Beobachters postuliert werden. Schließlich sind sie ja kohärent. Das
heißt, alle Vorgänge werden in ihrem Sinne schlüssig erklärt. „Doch was
anderes sind Masse, Zeit und Distanz als Setzungen, also Produkte des
Beobachters?“ (Maturana 1994, 67). Er hat diese Kategorien der
Wirklichkeit begrifflich so festgelegt und erkennt deswegen zunächst nur
entsprechende Wirklichkeitsausschnitte. Diese Setzung des Beobachters
ist die stillschweigende Voraussetzung seines Standpunktes, der bislang
selten ausdrücklich thematisiert wird. Atomphysiker mussten hingegen
zur Kenntnis nehmen, dass dieses Vorgehen notwendig in Paradoxien
mündet, die zu alternativen metatheoretischen Überlegungen zwingen,
weil Erkenntnisse sich redundant als standpunktabhängig erwiesen.
Die Entwicklung der modernen Physik hat gelehrt, dass Wissenschaft
prinzipiell nichts beobachterunabhängig erklären kann. Das liegt daran,
dass die Welt relativen Charakter hat. Einstein hat das gezeigt, indem er
u.a. feststellte, dass ein Beobachter innerhalb eines Systems durch kein
Experiment bestimmen kann, ob das System in Ruhe oder in Bewegung
ist (vgl. Greene, 2000, 47). Wenn man diese These selbst nachvollziehen
will, genügt es, erst mit bloßem Auge, dann im Mikroskop die Bewegung
eines Körpers auf einen anderen hin zu beobachten. Im zweiten Fall
erscheint die hundertmal schneller, obwohl sich der in Bewegung
befindliche Körper seinem Ziel um nichts mehr genähert hat und doch
einen hundertmal größeren Raum durchlaufen hat. Alle Erkenntnis ist
standpunktabhängig, ist abhängig vom Beobachter41.
Aufgrund dieser Aporie waren die Atomphysiker gezwungen, sich
eingehend mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen auseinander zu
setzen. Bohr schreibt: „Wir können von der Wechselwirkung zwischen
Messinstrument und Untersuchungsobjekt nicht absehen“ (1958, 7). In
der Atomphysik trete „eine fundamentale Begrenzung unserer gewohnten
Vorstellung einer von den Beobachtungsmitteln unabhängigen Existenz
41
Hier liegt auch der Knackpunkt der Kontroverse um die Natur des Lichts:
Auch Licht erscheint in Abhängigkeit der Beobachterperspektive einmal als Welle und
einmal als Teilchen.(vgl. Röthlein, 1999, 19f.).
Das mechanistische Weltbild
- 70 -
der Phänomene“ auf (ebd.). Um dieser ursprünglichen Beziehung des
Menschen zu den Dingen und seinem Platz in der Welt Rechnung zu
tragen, entwarf Heisenberg schließlich die Unschärferelation. Und was
Broglie „Erfahrung“42 nennt, ist ein System eindeutiger Relationen, aus
dem der Beobachter nicht ausgeschlossen ist. Standpunktfreie Erkenntnis
kann es nicht geben, weil der Forscher zwangsläufig zu jeder Zeit an
seinem Platz in der Welt er selbst ist (vgl. Sartre, 1991, 420).
Wissenschaftlicher Erkenntnis geht also immer meine Entscheidung
darüber voraus, was ich als objektiv anzuerkennen bereit bin. Diese
Entscheidung wird gewöhnlich im Kollektiv getroffen. Die Gemeinschaft
entscheidet, was wahr und was Täuschung ist. Diese vereinbarten
Maßstäbe darf man nicht mit objektiver Wahrheit verwechseln.
Atomphysikalische Probleme zeichnen sich dadurch aus, dass
„sie eine unvermeidliche Wechselwirkung zwischen
Objekten und den Messgeräten sowie die Unmöglichkeit
einer scharfen Unterscheidung zwischen objektivem Inhalt
und beobachtendem Subjekt (beinhalten)“ (Bohr, 1958, 30)43.
Dieser Umstand ist nicht auf die Beobachtung lebloser Materie begrenzt.
Im Hinblick auf kulturelle Fragestellungen betont Bohr, dass
„Ethnologen ja nicht nur der Gefahr begegnen, solche (fremde) Kulturen
durch den unvermeidlichen Kontakt zu verderben, sie erfahren oft selbst,
wie tief ihre eigene Lebenseinstellung durch solche Studien beeinflusst
wird“ (ebd.). So werden Vorurteile von Entdeckungsreisenden in ihren
Grundfesten erschüttert. Umgekehrt kann man fremde Kulturen nicht
verstehen, wenn man von seinen eigenen Maßstäben ausgeht. Man
unterstellt den Fremden gewisse „Tatsachen“, die nur in der eigenen
kulturellen Vorstellungswelt gelten, und verzerrt durch seine subjektive
42
Zur sportpädagogischen Analyse von Erfahrung vgl. vor allem Beckers et al.
(1986), Thiele (1996), Prohl (2006, 163-176) und aktuell Giese (2007), der
sportunterrichtspraktische Implementierungen seiner Ergebnisse generiert.
43
Bridgman schreibt in einem Artikel über die erkenntnistheoretische Haltung
Bohrs: „The object of knowledge and the instrument of knowlegde cannot legitimately
be seperated , but must be taken together as a whole“ (Zit nach: Lorenz, 1973a, 12).
Das mechanistische Weltbild
- 71 -
Perspektive das beobachtete Verhalten der fremden Kultur44. Der
ethnographische Untersuchungsansatz, mit dem in der Soziologie
gearbeitet wird, versucht dieses Problem zu überbrücken. Dieser Ansatz
beinhaltet einen anthropologischen Blickwinkel des Forschers45. Dieser
Gedanke ist auch für Unterrichtsprozesse relevant, in denen eine
Verständigung von Lehrer und Schüler durch zuweilen divergierende
Vorstellungswelten erschwert sein kann.
Der Quantentheoretiker Schrödinger hat das Beobachterproblem in der
Atomphysik anhand eines Gedankenexperiments veranschaulicht. Das
Szenario könnte von einem Tierquäler stammen: Man stelle sich eine
Kiste vor, in die man nicht hineinsehen kann und aus der keine
Geräusche herauskommen können. In dieser Kiste sitzt eine Katze.
Neben ihr befindet sich ein Apparat, der darauf wartet, dass ein
radioaktives Präparat irgendwann in der nächsten Stunde zerfällt. Dann
setzt dieser Apparat ein Gift frei, an dem die Katze zugrunde geht. Nichts
von alledem ist außerhalb der Kiste wahrzunehmen. Keiner weiß, ob der
radioaktive Zerfall schon stattgefunden hat oder nicht. Radioaktive
Elemente besitzen nämlich die Eigenschaft, dass ihre Atome nicht zu
einem bestimmten Zeitpunkt zerfallen, sondern nur mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit innerhalb einer bestimmten Zeitspanne. Man kann
also nicht genau sagen, wann das Atom zerfällt, sondern nur, dass es
während der nächsten Stunde geschehen wird. Kein Beobachter kann
also wissen, ob die Katze noch lebt oder nicht. Sie ist gewissermaßen in
einem Mischzustand zwischen Leben und Tod. Man erlangt Gewissheit
erst dann, wenn man die Kiste öffnet (Nach: Röthlein, 1999, 9-14).
Schrödinger hat diese Versuchsanordnung gedanklich konstruiert, um
dem Laien die grundlegenden Gesetze der Quantenmechanik zu
veranschaulichen. Die sagen aus, dass alles und jedes in Wirklichkeit
44
Diesen Mechanismus konnte der Autor auf zahlreichen Reisen bestätigt
finden, indem er seine subjektive Erfahrung durch Introspektion einer kritischen
Analyse unterzog. Diesbezügliche Studien, die Wiederholbarkeit garantieren, versucht
vor allem Knorr-Cetina (2002a & 2002b), die wissenschaftliche „Erkenntnisfabrikation“
beispiellos dekonstruiert. In weiterem Sinne: Eichberg (1986) und Smidt (1991).
45
Vgl. Knorr-Cetina, 2002a; Gehrau, 2002, 18/19, 112-115.
Das mechanistische Weltbild
- 72 -
ungewiss ist. Kein Teilchen, kein Lichtstrahl befindet sich zu einer
bestimmten Zeit genau an einem bestimmten Ort. Diese seltsame,
ungewisse Welt des Verschwommenen und Ungenauen verwandelt sich
jedoch schlagartig in unsere gewohnte, fest gefügte Welt des
Erfahrbaren, wenn man daran geht, etwas zu messen. In dem Moment,
wo ein Messgerät ins Spiel kommt, verändert sich die Wirklichkeit so,
dass man sie exakt beschreiben kann. Bei der Katze ist das „Messgerät“
der Beobachter, der die Kiste öffnet und hineinschaut. Durch unser
bloßes Auftreten in der Welt entscheiden wir offenbar über Morphologie
und Identität von Betrachtetem.
1.3.3.2 Beobachterproblem in der Biologie
Auch in der Biologie waren die Forscher außerstande, experimentelle
Ergebnisse sinnvoll zu deuten, ohne die Beobachterfrage zu stellen.
Lorenz hat sie an einem eingängigen Beispiel verdeutlicht: Ich komme
von einem Winterspaziergang nach Hause und treffe meinen Enkel, der
am Kaminfeuer sitzt und spielt. Ich lege ihm meine kalte Hand auf die
Wange und stelle eine erhöhte Temperatur bei ihm fest. Erst danach wird
mir klar, dass es meine kalte Hand ist, die diese Feststellung hervorruft
und nicht die Wange meines Enkels (vgl. Lorenz, 1973a, 47).
Die Wahrnehmung des Beobachters erzeugt also sein subjektives
Erleben, seine Realität. Die Wange des Enkels ist nicht Forschungsobjekt
an sich, sie erscheint durch das Forschen der prüfenden Hand genau so,
wie es die Strukturiertheit der Hand vorgibt. Gleiches geschieht im
Hinblick auf andere Erlebnisse, die durch die Struktur unserer
Einstellung gefärbt sind. Die biologische Struktur des Beobachters
erscheint von konstitutiver Bedeutung, als die ultimative Bedingung der
Möglichkeit aller Beobachtung.
Aus biologischer Sicht versteht man apriorische Kategorien anscheinend
als evolutionär gewachsene Schemata. So argumentiert auch die
Evolutionäre Erkenntnistheorie. „Unser Erkenntnisapparat ist ein
Ergebnis
der
Evolution“
schreibt
Vollmer.
„Die
subjektiven
Das mechanistische Weltbild
- 73 -
Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der
Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben“
(2002, 102). Diese Erkenntnisstrukturen kann man zwar nicht direkt
verändern, doch man kann sie sich und ihren Einfluss auf das Erkennen
möglichst bewusst halten und sie analysieren. Molekularbiologische und
neurophysiologische Erkenntnisse bestätigen die Annahme, dass man
seine eigenen mentalen Prozesse erkennen und beeinflussen kann. Bei
Meditierenden konnte eine starke Zunahme von „Synchronisation
oszillatorischer Aktivität im Gamma-Frequenzband“ (Singer, 2008b, 52)
festgestellt werden, die mit Einsichten buddhistischer Philosophie
konform gehen, dass „ein Blick auf das Wesen kognitiver Prozesse“
(ebd., 23) möglich und in Anbetracht der vorliegenden Überlegungen
sogar notwendig erscheint, um sie als integralen Bestandteil von
Erkenntnis ausweisen zu können.
Nach Maturana (1994) und Varela (1992) sei der menschliche
Organismus ein „strukturdeterminiertes System“. Es mag aus den
Einflüssen der Umwelt hervorgegangen sein, doch es gehorcht seinen
eigenen, strukturimmanenten Gesetzen. Die Außenwelt kann nur Anstöße
zu
Reaktionen
geben.
Die
eigentümliche
Funktionsweise
des
systemischen Erkenntnisvorgangs wird dadurch nicht verändert. Deshalb
kann Maturana sagen:
„Als molekulare Systeme bilden sie (Lebewesen) Netzwerke
der Molekülproduktion, worin die aus Wechselwirkungen
hervorgehenden Moleküle sowohl das sie erzeugende
Netzwerk konstituieren als auch seine Ausmaße und Grenzen
bestimmen“ (1994, 35).
Lebewesen wirken innerhalb der Umwelt eigenständig. Von daher muss
man erst erkennen, was ihre Grenzen und Ränder als Dimension des
Ganzen konstituiert.
Alles, was in Lebewesen vorgeht, ist streng durch ihre Struktur
determiniert und äußere Einwirkungen können nur zuvor schon
determinierte strukturelle Veränderungen auslösen. Damit steht für
Maturana fest: Als strukturdeterminierte Systeme sind wir von außen
prinzipiell nicht gezielt beeinflussbar, sondern reagieren immer im Sinne
Das mechanistische Weltbild
- 74 -
der eigenen Struktur (vgl. ebd., 37)46. So legt nicht die Welt an sich fest,
was ich sehe, sondern meine Struktur, meine Befindlichkeit. Von daher
bin ich allein verantwortlich für das, was ich sehe. Deshalb muss in
Beobachtungssituationen ein „Doppelblick“ (Maturana, 1994, 45)
Anwendung finden, der einerseits nach außen und andererseits auf mein
Inneres gerichtet sein muss, um eine möglichst hohe Annäherung an ein
Verständnis
der
sich
mir
gegenüber
ausweisenden
Situation
gewährleisten zu können.
Nimmt man dies ernst und stellt die Beobachterfrage, so kann man nicht
darauf verzichten, den Ablauf anzugeben, der zum Beobachten führt.
Verwirft man die Frage, setzt man voraus, trotz seiner konstitutiven
Beobachterrolle eine unabhängige Außenwelt zu erklären. Der Körper
tritt dann nur als Ausdrucksmittel oder Werkzeug des Beobachters auf.
Wenn man die Beobachterfrage verwirft, instrumentalisiert man den
Leib. So bietet etwa die Röntgenabbildung meines Körpers dem Arzt
eine objektive Perspektive auf meinen Leib, den ich dagegen als gelebten
Zugang zur Welt erfahre und erst durch einen Vernunftschluss - also
mittelbar und sekundär - als Körperskelett. Die Wahl der Perspektive
(Außen oder Innen) erzeugt die entsprechende Erscheinung (Objekt oder
Subjekt). Der physiologische Sehvorgang gibt keine Aufschlüsse über
das blickende Subjekt, denn das Erkenntnissubjekt kann nicht im
Sehvorgang des Auges präsent sein.
Auch die bildgebenden Verfahren der modernen Hirnforschung zeigen
nur zahlreiche neuronale Aktivitäten, die jedoch nicht meine Erfahrung
abbilden
können.
Hier
wird
zwar
eine
Hinwendung
zum
Erkenntnisvermögen des Subjekts versucht; sie verbleibt dabei allerdings
im Denkschema der dritten Person und geht damit unvermeidlich an dem
Gegenstand - der individuellen Erfahrung - vorbei. Das wird notwendig
so
bleiben,
weil
physiologisches
Erkenntnisinteresse
wesentlich
kognitive Erkenntnis zur Anwendung bringt. Deshalb muss der
46
Zu Maturanas Begriff der „Autopoiese“ vgl. Holz (1996, 116-130), der dessen
Gedanken zur biologischen Eigenart von Kognition nachzeichnet.
Das mechanistische Weltbild
- 75 -
Meditierer Ricard seinen Freund, den Physiologen Singer, belehren: „Du
kannst deine Kognition nicht für die Introspektion deines Gehirns
benutzen!“ (In: Singer, 2008b, 34). Anscheinend muss menschliche
Erfahrung auf anderem Weg verstanden werden.
1.3.3.3 Beobachterproblem in der Soziologie
Luhmann, als Vertreter der Soziologie, dachte mit Blick auf die
Problematik des Beobachtens auf ganz ähnlichen Geleisen. Er schreibt
von ontologischen Theorien der Realität als einer „Umweltbeobachtung
erster Ordnung“ (1986, 59). Diese Theorien seien überhaupt nicht in der
Lage, ein Problem zu erfassen, weil die Frage nach dem Beobachter, der
„objektives Wissen“ über ein Problem sammelt, nicht gestellt wird. Bei
Beobachtungen erster Ordnung unterschlägt der Beobachter sich selbst
und seine unwillkürliche Einflussnahme auf das Beobachtete. Nach
Luhmann ist nur ein Reflexionspunkt zweiter Ordnung, also eine
Beobachtung des Beobachters, angemessener Ausgangspunkt. Danach
„muss man sehen können, dass man nicht sehen kann, was man nicht
sehen kann“ (Luhmann, 1986, 58). Es sei deshalb erforderlich, im
Hinblick auf das wissenschaftliche Objektivitätsideal ein Beobachten von
Beobachtungen auszudifferenzieren und mit Theorie zu versorgen.
Hierdurch
könne
man
zumindest
feststellen,
unter
welchen
Beschränkungen wissenschaftliche Erkenntnis entstehe. Diese trete oft
als „Besserwissen“ (ebd., 60) auf, obwohl es sich in Wahrheit doch nur
um eine besondere Art des Beobachtens der eigenen Umwelt handele. Es
bleibe also tatsächlich genügend Raum für Einsichtsgewinne anderer Art.
Allerdings gibt es strukturelle Beschränkungen jeder Beobachtung.
Darauf macht die Beobachtung zweiter Ordnung aufmerksam. Das so
erworbene Wissen um die Beschränkungen muss der Beobachter auf sich
selbst anwenden, um eine bessere Einschätzung der Lage zu
ermöglichen47.
47
Vgl. Zum Problem des Beobachters aus soziologischer Perspektive vgl. auch:
Glanville (1988) und Knorr-Cetina (2002a).
Das mechanistische Weltbild
- 76 -
1.3.3.4 Beobachterproblem in der Kunst
Auch manche Künstler und Wissenschaftler der Kunstgeschichte
thematisieren das Problem des Beobachters. Das kann man anhand
einschlägiger Werke deutlich erkennen.
Die
minimalistische
Kunst
(minimal
arts
und
arte
povera)
veranschaulicht die Bedingtheit eines Erkenntnisobjektes durch den
subjektiven Betrachter sowie seiner persönlichen Vorerfahrungen und urteile. Diese Kunstrichtung trägt dem werdenden Charakter der Welt
Rechnung, indem sie auf ein Wissen, das man vor der Begegnung mit
dem (Kunst-) Objekt hatte, hinweist und dieses bewusst macht.
„Die Arbeit kann nicht rational gesehen werden, vielmehr
kann sie nur wahrgenommen werden unter dem Aspekt ihres
gegenwärtigen Werdens, als ein Objekt, das uns gegeben ist“
(Krauss, 1995, 233).
Von hier aus wird bei D. Judd die subjektive, perspektivische Ansicht,
die nur eine mögliche Erscheinung des Objektes konstituiert, als Illusion
entlarvt. Die minimalistischen Künstler fordern dazu auf, ihre Skulpturen
nicht mehr als die „Summe der Serie von Feststellungen zu sehen, dass
sie diese oder jene Form hat, soundsoviel Raum einnimmt, mit dieser
Farbe gemalt und aus diesem Material gemacht ist“ (ebd., 230). Die
Arbeiten gehen nicht aus von
„Behauptungen über Materialien und Formen, also von
apriori gesetzten Behauptungen, die die Objekte zu
Beispielen eines Theorems oder eines allgemeineren Falles
machen würden, sondern sie sind offensichtlich als Objekte
der Wahrnehmung gedacht, Objekte, die in der Erfahrung
ihrer Betrachtung zu verstehen sind“ (ebd.).
Zu diesem Gedanken zitiert Krauss Merleau-Ponty, der in Sinn und
Unsinn (1948) schreibt: „Die Wahrnehmung gibt mir keine Wahrheiten,
wie die Geometrie, sondern Gegenwärtiges“.
Ein bedeutender Protagonist der arte povera (arme Kunst) ist der Italiener
Mario Merz. Eines seiner Ausstellungsstücke trägt den Schriftzug: „Objet
cache-toi“ (Objekt versteck Dich). Das Objekt soll nicht mehr als
alleiniger Erkenntnisträger aufgefasst werden, wie das naturalistische
Das mechanistische Weltbild
- 77 -
Denkstile fraglos tun. Es soll in den Hintergrund treten, sich verstecken,
damit sich die Aufmerksamkeit des Erkennenden einmal auf seinen
eigenen Erkenntnisvollzug richtet. Das erkennende Subjekt soll sich mit
dem Objekt wiedervereinen, um es wirklich zu erkennen. Somit verleiht
Merzens
Kunstwerk
Adornos
Gedanken
der
„Negation
der
Verdinglichung“ einen phänomenologischen Ausdruck.
1.4 Zwischenbilanz
In den genannten Gebieten ist es anscheinend unverzichtbar, die Wirkung
des beobachtenden Wissenschaftlers in die Erkenntnisgewinnung mit
einzubeziehen.
Dass
diese
Hinwendung
zur
subjektiven
Erkenntnisfähigkeit von den neuzeitlichen Wissenschaften insgesamt
offenbar nicht konsequent unternommen wird, ist ihre entscheidende
Schwachstelle. Dieses Versäumnis erscheint als Kardinalursache dafür,
dass unsere „Objektivität“ stets mangelbehaftet bleibt. Es mangelt an der
Betrachtung und Analyse des Objektivität konstruierenden Subjekts48.
Nimmt man die Ergebnisse der Quantenphysik ernst, so folgt hinsichtlich
des menschlichen Erkennens, dass wir als Betrachter durch unseren
momentanen Hinblick immer nur eine von anscheinend unendlich vielen
möglichen Welten konstituieren. Die Welt der Möglichkeiten gerinnt
durch unseren Hinblick zu einer festen Realität. Die cartesianische
Hypothese, dass die Welt aus Objekten bestehe, die unabhängig vom
Subjekt in ausschließlich kausaler Wechselwirkung stehen, erscheint
daher
als
48
nur
eine
mögliche
Sicht,
die
eine
entsprechende
Aus diesem Grund schlagen Varela (1992, 298ff.) und Ricard (In: Singer,
2008, 10/11) vor, die buddhistische Philosophie des Ostens, die viel mehr als
Wissenschaft des Geistes denn als Religion aufgefasst werden müsse (vgl. ebd.),
diesbezüglich zu befragen. Die empirische Erforschung des Subjekts habe dort, so
Ricard, in über 2000 Jahren einen ungeheuren Schatz an vergleichbarer und daher für
jeden Menschen überprüf- und wiederholbarer Erfahrung gehortet. Die Ergebnisse der
modernen Psychologie dagegen begann erst mit William James vor wenig mehr als
hundert Jahren. Die reine Datenmenge, die kontemplative Wissenschaften in die
Psychologie einbringen können, lässt komplexe Theorien über den Geist, wie sie bspw.
Freud entwickelt hat minderwertig erscheinen (vgl. In: ebd.). Solche intellektuellen
Abenteuer können 2000 Jahre direkter Erforschung der Arbeitsweise des Geistes
anhand ergründender Introspektion nicht ersetzen.
Das mechanistische Weltbild
- 78 -
Erscheinungswelt allererst erzeugt. Deswegen muss man von einer
Beschränkung durch das traditionelle Objektdenken ausgehen.
Als Zwischenbilanz ist festzuhalten, dass den Erkenntnissen der
Quantenphysik und Genetik zum Trotz keine dem Cartesianismus an
Durchsetzungskraft ebenbürtige Alternative existiert. In weiten Teilen
der Gesellschaft und selbst der wissenschaftlichen Gemeinschaft sind die
Ergebnisse der modernen Physik nicht einmal zur Kenntnis genommen
worden49. Soll sich diese „Krise der europäischen Wissenschaften“
(Husserl) nicht zum deren Verhängnis ausweiten, ist die Suche nach
Alternativen allgemein zu befürworten und zu fördern. Diese Suche ist
allem Anschein nach auf die Erforschung des Subjekts auszurichten, was
übrigens keinesfalls zu einem Rückfall in idealistische Denktraditionen
führen darf.
Das klassische Paradigma ist offenbar an eine Grenze gestoßen, weil der
„Verlust des Subjekts“ - also die mangelhafte Analyse des empirischen
Erkenntnisvermögens des Menschen - zu Defiziten in der Erkenntnis
führt. Auf dem Hintergrund der skizzierten Probleme, die durch die
überwiegende Anwendung rein kausalen Denkens auftauchen, erscheint
es
erforderlich,
nach
alternativen
Möglichkeiten
der
Erkenntnisgewinnung Ausschau zu halten, die folglich auf die
Wiedergewinnung des Subjekts in der Wissenschaft gerichtet sein
müssen. Im Sinne Kuhns (vgl. 1976, 107ff.) ist dies eine Phase des
Suchens und der konkurrierenden Theorien.
49
Man ist wenig informiert über die Fortschritte, die seit Anfang des 20.
Jahrhunderts in der Physik gemacht worden waren. Houellebecq beschreibt das in
seinem Roman Elementarteilchen so: „Die Biologen taten so, als seien die Moleküle
getrennte materielle Elemente; ihre Vorstellung vom Atom unterschied sich kaum von
jener, die bereits Demokrit vertrat. Sie trugen aufwendige, sich wiederholende Daten
zusammen, nur um sofort irgendwelche industriellen Anwendungen dafür zu finden,
ohne sich je klar zu werden, dass die theoretische Basis ihres Ansatzes unterminiert war
(…). Sobald man wirklich die atomaren Grundlagen des Lebens untersuchen würde,
würden die Fundamente der gegenwärtigen Biologie gesprengt werden“ (27). Dies ist
durch die Erkenntnisse der modernen Genetik ja seit 2007 belegt - allerdings ohne dass
Massenmedien darüber berichtet hätten.
Das mechanistische Weltbild
- 79 -
Bereits um 1900 ist eine Denkrichtung entstanden, die diese konsequente
Hinwendung zum Subjekt, das als zusammenhängend mit der Welt
begriffen
wird,
voranzutreiben
philosophische Erkenntnismethode.
sucht:
Die
Phänomenologie
als
Phänomenologie
2
- 80 -
Phänomenologie
Zur Überwindung des dominierenden Objektdenkens erscheint es
notwendig, dualistische Denkmuster aufzugeben. Diese (Wieder) vereinigung von Subjekt und Objekt wird durch phänomenologisches
Denken versucht, das als schwieriger Versuch wider den Zeitgeist
erscheint.
2.1 Ansätze zur Bestimmung des Begriffes
Der Termini „Phänomen“ und „Logos“ gehen auf das Griechische
zurück. Erstes bedeutet: sich zeigen; also als Substantiv: Das „Sichzeigende“ (Heidegger, 1993, 28). „Logos“ kann als Lehre, Rede, Sinn,
Gedanke, Begriff, aber auch als „ordnende, göttliche Vernunft; das
Weltgesetz“ (Kronseder, 2000) übersetzt werden.
Der Begriff Phänomenologie taucht erstmals 1762 bei dem Philosophen
Johann
Heinrich
Lambert
(1728-1777)
auf.
Dieser
definierte
Phänomenologie als die Lehre von den Beziehungen zwischen Schein
und Wahrheit. Er dachte darüber nach, wie man von der Erscheinung
zum wahren Sein vordringen kann (vgl. Holzhey, 2004, 134). In seinem
Neuen Organon trug er „Gedanken über die Erforschung und
Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und
Schein“ (Haym, 1846, 382) vor. Seitdem ist der Terminus in
verschiedensten Bedeutungszusammenhängen verwendet worden; immer
häufiger
in
der
Medizin,
wo
von
Symptomen
als
„Krankheitserscheinungen“ die Rede ist.
Hegel nahm Husserl die Devise „zu den Sachen selbst“ voraus und
veröffentlichte
1807
die
Phänomenologie
des
Geistes.
Die
Phänomenologie als eigene Denkrichtung ist allerdings hauptsächlich mit
dem
Namen
Edmund
Husserl
verbunden,
dessen
Logischen
Untersuchungen (LU) seit ihrem Erscheinen 1900/01 sehr viel Beachtung
zuteil wurde und die über die deutschen Grenzen hinaus einen massiven
Einfluss auf das Denken des 20. Jahrhunderts genommen haben.
Phänomenologie
- 81 -
Hedwig Conrad-Martius bezeichnet den Namen „Phänomenologie“ in
dem Vorwort zu Adolf Reinachs Vortrag Über Phänomenologie als
„keinen glücklichen“, weil es der Phänomenologie nicht nur um das
Beschreiben (Deskription) der bloßen Erscheinungen gehe, sondern
gerade auch um „ein An-sich und dessen fortschreitende Bloßlegung:
Des unerschöpflichen Reiches der Wesenheiten“ (1951, 5/6). Daher
findet sie den Namen „Wesenslehre“ angemessener. Dass unter
„Phänomenologie“ durchaus Unterschiedliches verstanden werden kann,
soll anhand von drei bedeutenden Vertretern dieser Denkrichtung
verdeutlicht werden.
Husserl versteht unter dem Begriff des Phänomens vor allem die
Erscheinung eines Objektes im Bewusstsein. Gegenstände wären für den
Erkennenden nämlich nichts, wenn sie ihm nicht „erschienen“, d.h. wenn
er von ihnen kein „Phänomen“ hätte (Hua XV, 70). Daher bezeichnet
„Phänomen“ für Husserl alle im Bewusstsein enthaltenen Bestände oder
Inhalte. Die Phänomenologie ist damit die Wissenschaft vom
Bewusstsein überhaupt, genauer gesagt die Wissenschaft von aller Art
Gegenständen, insofern diese als Bewusstseinsakte erscheinen. Die
Phänomenologie will feststellen
„wie jedes Denken das Gedachte phänomenal in sich ‚hat’
(Hervorheb. im Original), wie im ästhetischen Werten das
Gewertete, im handelnden Gestalten das Gestaltete als
solches aussieht usw. Was sich in dieser Hinsicht in
theoretischer allgemeiner Gültigkeit aussagen lässt, dass will
sie feststellen“ (ebd., 72).
Heidegger, ein Schüler Husserls, interpretiert „Phänomen“ dagegen als
das „Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare. Die „Phänomene“
seien dann, so schreibt er, „die Gesamtheit dessen, was am Tage liegt,
oder ans Licht gebracht werden kann“ (1993, 28). „Logos“ übersetzt er
als Rede und wovon „die Rede“ ist. Daher lautet Heideggers
Phänomenologiebegriff: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm
selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“ (ebd., 34).
Weil die Phänomenologie in Frankreich ein besonders großes Echo fand,
ist Lyotards Definition des Begriffes „Phänomenologie“ aufschlussreich:
Phänomenologie
- 82 -
„Es geht darum, dieses Gegeben zu erforschen, ‚Sache selbst’
(Hervorheb. im Original), die man wahrnimmt, denkt, von
der man spricht, und keine Hypothesen zu bilden, weder über
die Beziehung, die das Phänomen mit dem Sein der Sache
verbindet, deren Phänomen es ist, noch über die Beziehung,
die es an das Ich bindet, für das es Phänomen ist“ (Lyotard,
1993, 9/10).
Der
Ausdruck
Phänomenologie
bedeutet
Untersuchung
der
„Phänomene“, das heißt dessen, was gegeben ist50.
50
Dazu eine Anekdote: Raymond Aron, ein Freund von Jean-Paul Sartre hatte
1932 in Berlin die Schriften Husserls studiert. „Als er nach Paris kam, erzählte er Sartre
davon. Wir bestellten die Spezialität des Hauses: Aprikosen-Cocktail. Aron wies auf
sein Glas: ‚Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du
über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie!’ Sartre erbleichte vor Erregung; das
war genau, was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten
Gegenstand, und es ist Philosophie. Aron überzeugte ihn, dass die Phänomenologie
genau diese Forderung erfüllte: Überwindung von Idealismus und Realismus, Bejahung
der Souveränität des Bewusstseins und der Präsenz der Welt, wie sie uns gegenwärtig
ist. Sartre kaufte am Boulevard Saint-Michel das Werk von Lévinas über Husserl und
hatte es so eilig, sich zu informieren, dass er im Gehen das noch nicht aufgeschnittene
Buch durchblätterte“ (Beauvoir, 1969, 118/119).
Phänomenologie
- 83 -
2.2 Erkenntnistheoretische Ausgangssituation
Aus der Mechanisierung der westlichen Geisteshaltung ist eine
vorwiegend
kalkulierende
Erkenntnishaltung
entsprungen.
Dieser
„eiserne Rationalismus“ (Schmitz, 1980, 6) ist im vorigen Kapitel als
Konsequenz der Mechanisierung ausgemacht worden. Er führt zum
Reduktionismus, d.h. zur Nivellierung der qualitativen Nuancen der
Lebenserfahrung durch bloße Ableitung. Letztlich wird angeblich
Unerklärtes zu einem Noch-nicht-Erklärten; Stegmüller spricht von
„Erklärbarkeitsbehauptungen“ (1969, 128) die etabliert würden.
„Neuzeitliche Wissenschaften repräsentieren mit ihrem
permanenten Gestus des ‚noch-nicht’ das Reich unbegrenzter
Möglichkeiten. Sie gestalten die Welt zum ‚großen Objekt’
(Hervorheb. im Original)“ (Meyer-Drawe, 1996, 175).
Dieser Weg wurde durch Demokrit, Descartes und Galilei geebnet;
wiewohl der cartesianische Ursprungsgedanke phänomenologisch war,
weil Descartes am Anfang seiner Meditationen über die Grundlagen der
ersten Philosophie noch keine gewagten Gedankenkonstruktionen
vornimmt, sondern überaus kritisch einen festen Ausgangspunkt im
Gegebenen sucht (vgl. Hua Ι, 48/49; Schmitz, 1980, 14). Gleichzeitig
kann man den phänomenologischen Ursprungsgedanken als cartesianisch
auffassen, weil Husserl wie Descartes glaubte, mit der Begründung der
Philosophie und der Wissenschaften ganz von vorne beginnen zu können.
Beide wollen die Philosophie als universale Einheit der Wissenschaften
mit einer absolut rationalen Begründung etablieren; beide streben nach
der „absolut unzweifelhaften Grundlage der Erkenntnis“ (Kolakowski,
1986,
10).
Deshalb
kann
Husserl
Descartes
zu
Anfang
der
Cartesianischen Meditationen als den eigentlichen „Erzvater der
Phänomenologie“ (Hua Ι, 3) bezeichnen.
Es entsteht bei beiden eine subjektiv gewendete Philosophie, die
gleichzeitig nach einem zweifellos sicheren Anfang sucht. Der Rückgang
auf das ego cogito ist eine radikale Wendung „vom naiven Objektivismus
zum transzendentalen Subjektivismus“ (vgl. Hua Ι, 46; Peursen, 1969,
Phänomenologie
- 84 -
13). Husserl folgt Descartes in seiner Methode, zunächst nichts
wissenschaftlich anzuerkennen und nur die Sachen selbst zu befragen.
Zudem hält Husserl ebenso wie Descartes an der Unterteilung von res
cogitans und res extensa fest, so dass „wir in der Phänomenologie (…)
Zügen rationalistischer Tradition begegnen“ (Peursen, 1969, 11). Die
weiterhin
von
Descartes
unternommenen
Interpretationen
dieser
Einsichten lehnt Husserl allerdings fast vollständig ab (vgl. Hua Ι, 43).
Da die Differenz von Vorgestelltem und Vorstellen, die Beschreibbarkeit
der Welt gewährleistet und bestimmbare Gegenstände konstituiert, sei es
sinnlos, die subjektiv sinnstiftenden Leistungen des Bewusstseins durch
methodische Vorkehrungen zu neutralisieren.
„Denn mit ihnen würde auch die Objektwelt verschwinden.
Dass das vergessen wurde, war nach Husserl der Irrweg der
galileiisch-cartesianischen Wissenschaftsidee“ (Luhmann,
1996, 33/34).
Der cartesianische Dualismus verteilt den Menschen auf Körper und
Geist. Das Spüren des Subjekts sowie die Art, wie sein Bewusstsein auf
etwas gerichtet ist, liegen jedoch in diesem künstlich geschaffenen
Spannungsfeld zwischen Körper und Geist. Die Gefühle und sinnlichen
Wahrnehmungen wie bspw. Hunger, Angst, Beklommenheit, Müdigkeit,
Unlust,
Kitzeln
etc.
Gegenstandsbereiche,
sind
die
der
keineswegs
Illusionen,
Erforschung
würdig
sondern
sind.
Das
mechanisierte Weltbild ist dennoch auf berechenbare Quantifizierung
ausgerichtet und bemerkt deshalb vornehmlich Dinge, die in das
physikalische Erkenntnissystem passen. Daher kann es diese Erforschung
nicht leisten. Wie kann man also Erkenntnisse über die qualitativen
Aspekte der Realität gewinnen? Wie kann man diese Dinge erkennen,
wie sie wirklich sind?
Die
Fortsetzung
von
Descartes’
dualistischer
Philosophie
und
insbesondere die allgemeine Interpretation seines Denkens, also der
Cartesianismus,
verdinglichen die
mechanistischen
Perspektive,
Welt
die
und
münden
sich
im
in
einer
bisherigen
Untersuchungsverlauf als beschränkt und verengend herausgestellt hat.
Phänomenologie
- 85 -
Daher scheint es einleuchtend, dass eine offenere Perspektive als die
cartesianische erforderlich ist, um die gesamte Wirklichkeit zutreffend zu
erkennen.
Warum
kann
gerade
Blickwinkelverengung
die
Phänomenologie
korrigieren?
Die
die
eigentlichen
neuzeitliche
Phänomene
definieren sich durch ihre Zusammenhänge und durch die Perspektive,
aus der sie betrachtet werden. Die phänomenologische Methode ist dafür
zuständig,
diese
Bedeutungszusammenhänge
zu
beleuchten
und
unvoreingenommene Perspektiven zu erschließen, die den Sachen näher
kommen als einseitige Betrachtungsweisen. Sie scheint durch eine
Öffnung der Sichtweise, durch eine permanente Offenheit gegenüber der
Welt und gegenüber dem erkennenden Subjekt die verengende
Perspektive mechanistischen Denkens kompensieren zu können. Von
daher scheint es nahe liegend, die phänomenologische Perspektive als
Möglichkeit vorzustellen, die notwendige Blickwinkelerweiterung
herbeizuführen.
Heidegger hat bei der Betrachtung gegebener Gegenstände, konkret am
Beispiel eines Hammers, auf den grundlegenden Unterschied von
„Vorhandenheit“ und „Zuhandenheit“ hingewiesen. Der Hammer, der als
„Ding“ auf dem Tisch liegend „begafft“ wird, werde immer nur
hinsichtlich seines Gewichtes, seines Alters, seiner Länge oder Farbe
erforscht. Das Wesen des Hammers aber, das im Hämmern liegt, bleibe
dabei verdeckt. Das Feuerzeug, als lediglich Raum füllendes Ding, kann
nicht als Feuer schaffendes Ding oder Bierflaschenöffner erkannt
werden, solange man nicht diese, seine wesentliche Funktion erforscht,
sondern nur seine räumlichen Ausdehnungen (vgl. Heidegger, 1993, 68).
Die Funktion des „Zeugs“ bezeichnet Heidegger als „Zuhandenheit“.
Und die Seinsart von Zeug ist Zuhandenheit. „Zuhandenheit ist die
ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich’ ist“
(ebd., 71). Vor allem die Wissenschaften reduzieren die Gegenstände auf
ihre Vorhandenheit und verfehlen damit ihr Wesen, anstatt das Zeug in
Phänomenologie
- 86 -
seiner Zuhandenheit zu sehen (vgl. ebd., 361). Deshalb richtet sich die
phänomenologische Kritik an den Naturwissenschaften nicht prinzipiell
gegen diese und ihre empirische Denk- und Arbeitsweise, sondern
vielmehr dagegen, dass sie ihre Beschränktheit als ein bloßer Teil der
Wahrheit häufig vergessen haben und ihre Basis, ihre Fundiertheit in das
naive ganzheitliche Vorverständnis so aus dem Blickfeld verlieren51.
Um zu prüfen, ob die phänomenologische Methode diese Fundiertheit
wiederherstellen,
gleichsam
die
sakrosankten
objektivistischen
Denkens
sowie
die
Vorannahmen
des
Subjekt-Objekt-Spaltung
überwinden kann, um zu den Sachen, den Phänomenen an sich zu
gelangen, ist es zunächst erforderlich, genauer zu erörtern, welche
Ursprünge der phänomenologischen Geisteshaltung zugrunde liegen.
51
Vgl. dazu die sportpädagogischen Analysen zur Gesundheitsbildung von
Erlemeyer, 1997, 62f.
Phänomenologie
- 87 -
2.3 Ursprung der phänomenologischen Denkweise
Die Phänomenologie Husserls keimte in der Krise des Subjektivismus
und des Irrationalismus am Anfang des 20. Jahrhunderts. Husserl sieht
die Idee der Wissenschaft mit der abendländischen Kultur untrennbar
verbunden.
Mit der Renaissance verändert sich das Verhältnis von Wissenschaft und
Kultur in einer Weise, die bis heute bestimmend ist. Auf der einen Seite
entwickelt sich die exakte Naturwissenschaft, deren methodischanalytisches Vorgehen vorbildhaft für jedes wissenschaftliche Arbeiten
schlechthin
wird.
Auf
der
anderen
Seite
stehen
die
Geisteswissenschaften, die diesen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht
gerecht werden können, da sie sich nicht auf Allgemeines, sondern
vielmehr auf Individuelles beziehen. Es geht ein Riss durch die Kultur, so
dass derer zwei entstehen, die bis heute unverbunden sind (vgl. Snow).
Die zwei Kulturen der Naturwissenschaft und der Technik einerseits, der
Geisteswissenschaften
und
Künste
andererseits
stehen
fortan
nebeneinander. Diese Trennung ist nicht zuletzt durch die cartesianische
Spaltung von Körper und Geist geboren worden. Husserl fand, dass die
objektiven,
dem
Ideal
mathematischer
Exaktheit
verpflichteten
Wissenschaften nicht gehalten haben, was sie lange zu versprechen
schienen: Sie brachten uns der Wahrheit nicht näher; ihr Objektivismus
habe sich als falscher und unechter Rationalismus erwiesen, dessen Folge
die Sinn- und Kulturkrise der europäischen und europäisierten
Menschheit sei (vgl. Melle. In: Sepp, 1988, 46).
Die
von
Husserls
Wissenschaften“
werde
diagnostizierte
durch
das
„Krise
der
Supponieren
europäischen
mechanistischer
Vorausannahmen katalysiert. Einmal festgelegte letzte Beweise fungieren
als Grundlage für alle Wissenschaften. Husserl musste während der
Arbeit an den LU zu seinem Entsetzen feststellen, dass selbst die Logik
nicht zur wahrheitsgemäßen Fundierung der Wissenschaften taugt, weil
auch sie auf unbewiesenen Axiomen gründet, so dass das logischmathematische System, welches zweifellos in sich schlüssig und richtig
Phänomenologie
- 88 -
ist, genauso gut von entgegengesetzten Vorannahmen ausgehen könnte,
um in sich schlüssig zu sein (vgl. Reinach, 1951, 37f.). Die logischen
Lehrsätze vor allem der Mathematik sind leere Tautologien, die zwar
zuweilen Kausalverhältnisse abbilden können, jedoch nichts über die
Grundlagen der Welt aussagen. „Deduktives Denken impliziert stets eine
petitio principii, insofern die Schlüsse immer schon in den Prämissen
enthalten sind“ (Kolakowski, 1986, 16). Indem man sich auf eine
angenommene Objektivität der realen Welt beruft, verkennt man den
subjektiven Charakter derselben. Das subjektive Bewusstsein, die
individuelle Wahrnehmung mischt bei jedem Erkenntnisvorgang mit, so
dass es sich bei einer „objektiven Realität“, die intersubjektiv identisch
ist, um eine Illusion handeln muss - wenn auch um eine sehr bequem zu
handhabende.
Der Realismus gibt sich füglich das Ansehen, tatsächlich zu sein,
allerdings
„geht er von einer willkürlichen Annahme aus und ist mithin
ein windiges Luftgebäude, indem er die allererste Tatsache
überspringt oder verleugnet, diese, dass alles, was wir
kennen, innerhalb des Bewusstseins liegt“ (Schopenhauer,
1966, 587)52 .
Schließlich unterzieht Husserl in Formale und transzendentale Logik die
logischen Grundprinzipien einer Kritik ihrer Geltung (vgl. Hua XVΙΙ,
157f.) Die Vorannahmen aller Wissenschaft, für die die Philosophie
allererst die Verantwortung trägt, müssen nach Husserls Ansicht auf den
Prüfstand. Anderenfalls würde das „Versagen“ der Philosophie die
abendländische Kultur untergraben. Er sieht das „Versagen“ der als
strenge Wissenschaft sich ausgebenden Philosophie also in dem
Umstand, dass diese keine zuverlässige Grundlegung der letzten Beweise
bereitzustellen
52
vermag.
Diese
grundsätzliche
Unklarheit
am
Schopenhauer geht wie Berkeley sogar davon aus, dass die Welt nicht nur in
höchstem Maße durch das subjektive Erkennen definiert sei, sondern, dass die Welt
gänzlich verschwände, wenn es keine wahrnehmenden Subjekte mehr gebe; dass es ein
Widerspruch sei, wenn die Welt, „unabhängig von „allen Gehirnen, als eine solche,
dasein sollte“ (ebd., 1966, 588). Die Existenz der gesamten Objektwelt sei gleichsam
„im Subjekt prädisponiert“ (ebd., 590).
Phänomenologie
- 89 -
Ausgangspunkt jeder Wissenschaft, für deren Klärung die Philosophie
zuständig und verantwortlich ist, resultiere in einer geistigen Krise der
neuzeitlichen Wissenschaften und deren Menschentums. Wie einst
Descartes sah sich Husserl gezwungen, ein stabiles, tragfähiges und
gänzlich neuartiges Fundament für die Wissenschaften zu erarbeiten.
Seine Lebensaufgabe und damit auch die Aufgabe der Phänomenologie
war es, die Grundzüge einer ganz neuen, grundlegenden Wissenschaft
vorzulegen. Den Schlüssel zur wahren Erkenntnis der Welt vermutet er,
ähnlich wie Schopenhauer, in dem subjektiven Bewusstsein selbst. Von
daher ist in der phänomenologischen Idee eine durchaus idealistische
Affinität auszumachen. Dies umso mehr, als dass Husserl das Ziel der
Erneuerung
scheinbar
paradoxerweise
im
Rahmen
der
alten
rationalistischen Tradition verfolgt, weil er Descartes’ Anfang des
subjektiven Idealismus, das ego cogito, übernimmt.
Viele Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts fingen an, dem
stringenten Rationalismus zu misstrauen. Dies mag als Erklärung dafür
dienen, dass die phänomenologische Idee Husserls, trotz der eher
trockenen Darstellung seiner LU, auf derart fruchtbaren Boden fiel. Die
Voraussetzungslosigkeit dieser neuen Methode war gleichsam eine
Verheißung, eine Chance gerade auch für die Geisteswissenschaften,
deren
Untersuchungsgegenständen
die
festgefahrenen,
voraussetzungsvollen Methoden der traditionellen Naturwissenschaft
allzu oft nicht angemessen sind. Deshalb schreibt Husserl: „So begreift
es sich, dass die Phänomenologie gleichsam die geheime Sehnsucht der
ganzen neuzeitlichen Philosophie ist“ (Hua ΙΙΙ /1, 133). Das Gebot der
Stunde lautete damals: Die Vorausannahmen des rationalistischen
(mechanistischen) Denkens verschleiern den Blick auf die Wirklichkeit;
sie verfälschen jede Forschung bereits vor deren Beginn.
Die verschiedenen Einzelwissenschaften beschäftigen sich zumeist mit
der durchaus notwendigen Analyse entweder der zu erkennenden Körper
oder der erkennenden Subjekte. Wie wir oben sehen konnten, sind sie
entweder idealistisch-subjektbezogen oder realistisch-objektorientiert.
Phänomenologie
- 90 -
Indes interessiert die Phänomenologie vornehmlich die Struktur der
Relation zwischen Objekt und Subjekt, die maßgeblich von den
Bewusstseinsleistungen abhängt. Letztlich will sie, als Ganzes gesehen,
die cartesianische Subjekt-Objekt Spaltung überwinden, die von Husserl
jedoch zunächst beibehalten wird.
Vor dem dualistischen Hintergrund seiner Epoche erschien es Husserl als
virulente
Aufgabe,
die
Bewusstseinsleistungen
zum
Untersuchungsgegenstand zu erheben, um eine wirklich umfassende
Grundlegung von Wissenschaft vornehmen zu können. Es sei
erforderlich, deren subjektive Grundlagen erkenntnistheoretisch zu
klären. Dazu übernahm er zunächst die „psychologische Analyse“ seines
Lehrers, des Philosophen Brentano. Er bemerkte jedoch bald, dass die
Psychologie als empirische Einzelwissenschaft niemals geeignet sei, eine
„universale Wissenschaftslehre zu begründen“ (Peuker, 2002, 162). Zur
subjektiv orientierten Klärung der Grundlagen von Wissenschaft
radikalisiert Husserl daher die Psychologie zu einer eidetischen und
nichtempirischen Methode, die er dann nicht mehr „deskriptive
Psychologie“, sondern „Phänomenologie“ nennt (vgl. ebd.). Seine
Aufgabe ist keine geringere als die Frage nach der Bedingung der
Möglichkeit des Erkennens überhaupt. Deshalb musste Husserl in das
Dilemma von Idealismus und Realismus geraten, welches die
Philosophie spätestens seit Descartes beschäftigt. Er versucht also das
Verhältnis Subjekt-Objekt zu klären, indem er die Korrelationen der
beiden untersucht. Das Anliegen, die Subjekt-Objekt Relation zu
beleuchten, erweist sich in zweierlei Hinsicht - zum einen unter
philosophiehistorischem und zum zweiten unter epistemologischem
Gesichtspunkt - als überaus problematisch:
1. Nach Orth (1976) kann man im 20. Jahrhundert von zwei
charakteristischen Wissenschafts- (Erkenntnis) theorien sprechen, zu
denen die Phänomenologie als intentional-analytischer Ansatz hinzu-,
oder besser dazwischentritt:
Phänomenologie
- 91 -
Zum einen die transzendentalphilosophische Wissenschaftstheorie der
Neukantianer (subjektivistisch) und zum anderen die „logischanalytische der Gegenwart“ (objektivistisch) (ebd., 8).
Man könnte der Phänomenologie eine vermittelnde Position zwischen
diesen
beiden
Auffassungen
zusprechen.
Wiewohl
alle
drei
Denkrichtungen in einem kritischen Rationalismus gründen, besteht eine
bemerkenswerte gegenseitige Ablehnung, die durch verschiedene
Interpretationen der Rationalität ausgelöst ist. So bewertet der
Neukantianismus zwar positiv an der Phänomenologie, dass diese der
genauen Beschreibung der unterschiedlichsten inhaltlichen Sachverhalte
nachkommt. Jedoch erfasse sie den Begriff der transzendentalen
Subjektivität nicht zutreffend und falle durch die „phänomenologische
Gegenstandsbezogenheit“ wieder in den Realismus zurück. Die logischanalytische Schule schätzt das logische und gewissenhafte Vorgehen des
Phänomenologen,
Wissenschaft
kritisiert
auf
hingegen
Husserls
Versuch,
alle
transzendental-phänomenologischer
Bewusstseinsphilosophie zu basieren und sieht darin überdies einen
Rückfall in „konstruierende Spekulation oder intuitiven Mystizismus“
(ebd., 10/11), der die Phänomenologie wieder um ihre logischen
Errungenschaften bringe. Zudem opponiert die Phänomenologie gegen
das bestehende Begriffssystem der Sprache, da ihr Untersuchungsfeld,
das Erfahrungsfeld des transzendentalen Bewusstseins, vor aller
begrifflichen Prägungen liegt und demnach auch keine geprägten und
akzeptierten Begriffe zur Verfügung stehen.
2. Überdies trägt ein weiterer Umstand dazu bei, dass die
Phänomenologie
schwierige
Voraussetzungen
vorfindet.
Die
zu
erhellende Relation von Mensch und Welt kann nämlich nicht ohne
weiteres und objektiv bezeichnet werden, weil der Relationsforscher ja
immer innerhalb dieser Verbindung, gleichsam mit seinem Gegenstand
verquickt, dasteht und deshalb auch immer nur so tun kann, als ob er die
Relation von einer Metaebene beschreiben würde (vgl. Thiele. In: Bette,
1993, 78). Dem Phänomenologen geht es wie dem Psychologen, der -
Phänomenologie
- 92 -
anders als der Chemiker oder Physiker, der nicht selbst der Gegenstand
ist, von dem er zu reden hat „grundsätzlich selbst die Tatsache (ist), von der er zu handeln
hat. Er ist diese Leibvorstellung, diese magische Erfahrung,
die er so distanziert betrachtet, er erlebt sie im gleichen
Augenblick, in dem er sie denkt“ (Merleau-Ponty, 1966,
121).
Er muss sich also seiner ureigensten Subjektivität entledigen, um
Erkenntnisse über seine subjektiven Erkenntnisprozesse gewinnen zu
können.
Husserl wollte diese Verstricktheit des phänomenologischen Forschers
überwinden, indem er die „natürliche Einstellung“ ausschaltet. Dieser
Sprung
zur
transzendentalphilosophischen
Ausrichtung
der
Phänomenologie, das heißt einer Philosophie, die die Bedingungen dafür,
dass so etwas wie menschliches Erkennen überhaupt möglich ist,
überprüft, führte zu dem Vorwurf seiner Anhänger, er habe gleichsam als
Defätist einen Rückfall in die überwunden geglaubte idealistische
Tradition erlitten. Der Kontakt zwischen Husserl und seinen Göttinger
Schülern (Max Scheler, Hedwig Conrad-Martius, Alexander Pfänder)
löste sich, als Husserl mit seinen 1913 veröffentlichten Ideen zu einer
reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie die
Wende von der deskriptiven zur transzendentalen Phänomenologie
vollzog. Husserls „transzendentale Wende“ wurde als „Verrat an den
Sachen“ interpretiert. Deshalb verwandelte beispielsweise Heidegger
Husserls phänomenologischen Ansatz in ein Seinsdenken. Insbesondere
die
französischen
Phänomenologen
Sartre53
und
Merleau-Ponty
bewegten sich daraufhin in die Richtung der Existenzphilosophie. Das
„konstituierende“ transzendentale Bewusstsein, an das nach Husserl alles
sinnhafte Sein gebunden sei, erschien ihnen offenbar als zu idealistisch.
Folgt man Landgrebes Interpretation (vgl. 1969, 33), so belegen diese
53
Sartre war davon überzeugt, dass das Sein eines Seienden genau das ist, als
was es erscheint. Er nennt das den „Monismus des Phänomens“: „Die Erscheinung
verbirgt nicht das Wesen, sie enthüllt es: sie ist (Hervorheb. im Original) das Wesen“
(Sartre, 1991, 10).
Phänomenologie
- 93 -
Ereignisse, dass Husserls fundamentale Idee der Intentionalität nicht
verstanden wurde.
Nachdem Husserl in Freiburg 1928 emeritiert wurde, schrieb er,
zunehmend durch das nationalsozialistische Regime isoliert, sein letztes
Werk. Die ersten zwei Teile der Krisis der europäischen Wissenschaften
und die transzendentale Phänomenologie (1936) mussten zu dieser Zeit
bereits in Belgrad veröffentlicht werden. Die darin beschriebene Krise
beinhaltet einen mit
der geschilderten Grundlagenproblematik
verwobenen Doppelaspekt:
Das Objektivitätspostulat, das jede Skepsis überwunden hat und seine
Axiome
als
unanfechtbar
ansieht
und
den
fragwürdigen
wissenschaftlichen Fortschritt, der „im unglücklich verengten Sinne zum
Inbegriff der Wertschaffung geworden (ist)“ (Lorenz, 1983, 20). Diese
zwei Gesichtspunkte müssen näher beleuchtet werden, um das genuin
phänomenologische Agens deutlich zu machen.
Zum einen ist die Krise aus dem Objektivismus entstanden. „Es handelt
sich nicht eigentlich um die Krise der physikalischen Theorie, sondern
um die Krise, die die Bedeutung der Wissenschaften für das Leben selbst
betrifft“
(Lyotard,
Objektivierbarkeit
1993,
ist
die
53).
Durch
sinnvolle
das
Erkenntnisideal
Einbindung
der
der
einzelnen
Fachwissenschaften in den gesamtwissenschaftlichen Erkenntnisprozess
aufgelöst und durch eine disziplinär beschränkte Perspektive verzerrt
worden. Denn eine Gesamtdeutung der Wirklichkeit wird nur durch das
Begreifen
aller
Einzelwissenschaften
als
Teile
einer
Universalwissenschaft möglich. Den sinnstiftenden Rahmen dafür schuf
einst die Metaphysik. Die Krise der europäischen Wissenschaft sei
ausgelöst durch eine Abtrennung der Lebenswelt von der Wissenschaft.
Die Abhängigkeit aller wissenschaftlichen Theorien von der Lebenswelt
sei in Vergessenheit geraten. Da sich wissenschaftliche Konstruktionen
jedoch
dann
als
sinnvoll
darstellen,
wenn
man
sich
ihres
Zusammenhanges mit der als sinnvoll erlebten Umwelt bewusst ist,
verlieren sie ihren Sinn, wenn dieser Zusammenhang in Vergessenheit
Phänomenologie
- 94 -
gerät (vgl. Aguirre, 1982, 71f.). Deshalb muss der verloren gegangene
Sinn durch eine Rückbesinnung auf die lebensweltlichen Ursprünge der
Wissenschaft wieder gefunden werden. Husserls berühmtes Diktum
„zurück zu den Sachen“ impliziert unter anderem auch diese Ambition.
Die
Phänomenologie
wendet
sich
Tatsachenwissenschaften,
wenn
diese
verabsolutieren.
Tatsachenwissenschaften
„Bloße
kategorisch
ihren
gegen
die
Erkenntnisanspruch
machen
bloße
Tatsachenmenschen“ (Hua VΙ, 4). Auch heute wird die Phänomenologie
als Wissenschaftskritik betrieben, weil die Entwicklung der modernen
Naturwissenschaften verbunden ist mit der Loslösung von ihrer
ursprünglichen Wurzel, der Lebenswelt54. Diese Entwicklung beinhaltet
zugleich eine Eliminierung der Subjektivität aus der wissenschaftlichen
Erkenntnis. Sobald sich die objektive Wissenschaft des Subjektiven
bemächtigt, erscheint der Objektivismus entfremdend. Dies umso mehr,
als das Subjekt die Objekte konstituiert. Inwieweit die Phänomenologie
ein
Potenzial
birgt,
die
vorwissenschaftliche
Lebenswelt,
das
vorobjektive Leben zu rehabilitieren, ist später zu verhandeln. Der frühe
Husserl glaubte jedenfalls, ein solches Potenzial annehmen zu dürfen.
Zum anderen wird der Fortschritt, auf den sich die Wissenschaften
fortwährend berufen, der gleichsam ständig als Legitimationsgrundlage
für die zunehmende „Verwissenschaftlichung“ der heutigen Gesellschaft
herangezogen
wird,
nach
stillschweigend
vorausgesetzten
Gütemaßstäben bemessen (vgl. Meinberg. In: Bette, 1993, 23), die in
dem ersten Teil dieser Untersuchung ausführlich dargelegt wurden. Die
Schattenseiten eines solchermaßen definierten Fortschrittes werden in
ökonomischen und geistig-seelischen Krisen der modernen westlichen
Gesellschaft unübersehbar. Deshalb gehört die wissenschaftliche
Rationalität auf den Prüfstand. Es ist zu erörtern, welche weiteren
Formen von Rationalität es noch gibt, weil nicht feste Maßstäbe, sondern
54
Bei der experimentellen Loslösung von zu untersuchenden Phänomenen im
Labor werden lebensweltliche Zusammenhänge oft nicht hinreichend erfasst. „Ein jeder
Versuch ist eigentlich ein isolierter Teil unserer Erkenntnis“ (Goethe, 1998, 384). Man
müsse sich hüten die so gewonnen Daten in seine „Sinnesart“ einzupassen, wenn man
mit einer gefassten Idee eine einzelne Erfahrung verbinde (vgl. ebd., 385).
Phänomenologie
- 95 -
dialektische Argumente, gleichsam „ganz neue Rationalitätsformen“
(Feyerabend, 1981, 98)55 sich als besonders fruchtbar für den
Erkenntnisprozess erweisen können.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts findet Husserl die geschilderte Krise
der europäischen Wissenschaft vor und beschließt sie zu lösen, indem er
eine „neue, erfahrungsgegründete Fundamentaldisziplin entwirft, die
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, sie zugleich beide
untergründend, vermitteln kann: Die Psychologie“ (Avé-Lallemant. In:
Sepp, 1988, 65). Husserl sieht den damaligen Psychologismus jedoch als
Spielart des Naturalismus und mithin einer Kritik bedürftig. Deshalb
unterscheidet er die logische Psychologie, als Anleitung zum richtigen
Denken, von der Psychologie des menschlichen Bewusstseins, als ihr
theoretisches Fundament. In den LU stößt er schließlich auf die
Phänomenologie als neue Grundwissenschaft der Geistesgeschichte. Die
Krise
des
Menschentums,
die
auf
eine
Sinnentleerung
durch
wissenschaftlich bedingte Technisierung zurückweist (vgl. Waldenfels.
In: Bäumer, 1993, 105), erfordert von der Phänomenologie eine
Formulierung der Frage nach dem Ursprung dieser technisch
wissenschaftlichen Weltauffassung und keineswegs die Etablierung einer
anti-wissenschaftlichen Metaphysik. Die seinerzeit aufkommenden
„Strömungen wie Weltanschauungs- Lebens- und Existenzphilosophie,
die sich als Restitutionsversuche ‚eigentlichen’ (Hervorheb. im Original)
Menschentums“ (Kühn, 2003, 32, Fußnote 5) verstehen, sind Zielscheibe
von Husserls Kritik, weil er sie als unwissenschaftlich ansieht. Husserl
schreibt in diesem Zusammenhang:
„Die Reaktion der verschiedenen guten, aber auch zum Teil
selbst
verfehlten
Lebensphilosophien
gegen
die
rationalistische Wissenschaft hat ihren tiefsten Grund darin,
dass man dessen höchst unbehaglich innewurde, dass die
Rationalität des höchst abstrakten Denkens der exakten
55
In Anlehnung an Merleau-Ponty (1966, 364) schlägt Franke (2004) aus
sportphilosophischer Perspektive die Vorstellung von einer „anderen Vernunft“ vor, die
„als ‚Ordnungskraft’ (Hervorheb. im Original) der Sinnlichkeit aus der
Leistungsfähigkeit der Sinne selbst erschlossen werden kann“ (29).
Phänomenologie
- 96 -
Wissenschaften doch nicht diejenige Rationalität, diese volle
und letzte Verständlichkeit sei, die man von ihr erhofft und
durch die man ein wahres und dann menschlich-ethisch
fundiertes Weltverständnis erhofft hatte“ (Zit. nach: ebd.).
Deshalb möchte Husserl seine Phänomenologie auch als „strenge
Wissenschaft“ verstanden wissen und nicht als beliebige Mystifizierung.
„Als akribisches am Detail orientiertes Forschen brauchte die
Philosophie sich nicht länger vor den übermächtigen
Forschungsinstrumentarien der Naturwissenschaften zu
verstecken,
sondern
konnte
erhobenen
Hauptes
(wieder)eintreten in die scientific community“ (Thiele. In:
Bette, 1993, 79).
Husserl bleibt damit der rationalistischen Tradition des ausgehenden 19.
Jahrhunderts durchaus verhaftet, indem er sich gegen die aufkommenden
irrationalen Strömungen stellt; doch zugleich sucht er einen Ausweg aus
dem rationalistischen Paradigma, indem er andere Formen von
Rationalität anstrebt als die rein mathematische.
Husserls Philosophie steht am Ende eines Denkens, das mit Descartes
begann und sich über die Transzendentalphilosophie Kants bis hin zu
Hegels „objektivem Idealismus“ entwickelte und dessen Denken immer
am
Bewusstsein
orientiert
war.
Die
„Begrenzungen
des
bewusstseinsphilosophischen Denkens“ (Römpp, 2005, 11) werden am
Beispiel der Phänomenologie und aus ihr heraus sichtbar, insofern der
Mensch nicht unbedingt „zum wirksamen Nachdenken über sein Denken
fähig ist“ (Lem, 1984, 89)56. Lem glaubt sogar, hierin einen
grundsätzlichen Irrtum der Erkenntnistheorie ausmachen zu können.
56
16).
„Es gibt kein Denken, das all unser Denken umfasste“ (Merleau-Ponty, 1966,
Phänomenologie
- 97 -
2.4 Grundlagen der Husserlschen Phänomenologie
2.4.1 Phänomenologie als Wesenslehre
Phänomenologie ist die philosophische Lehre von der Entstehung und der
Form der Erscheinungen im Bewusstsein. Sie zielt als universale Sinnund Bedeutungsforschung darauf, das im Bewusstsein Gegebene rein in
seiner Wesenheit zur Anschauung zu bringen (Wesensschau) (vgl.
Waldenfels, 1992, 17). Sie versteht sich als eine streng beschreibende
Form der Philosophie, mithin als Erkenntnismethode. Es ist schwierig,
die Phänomenologie eindeutig zu definieren, weil sie als Wesenslehre im
Grunde eine Erkenntnishaltung ist, eine Einstellung.
Phänomenologie als Wesenslehre versucht die eigentliche, originäre
Wesenhaftigkeit der Dinge zum Vorschein zu bringen. Alle Begriffe und
Vorstellungen, die wir haben, sind Abstraktionen und subjektive
Interpretationen der natürlichen Dinge der Welt. Sie enthüllen nicht das
wahre Wesen der Dinge, sondern sind allesamt Vor-urteilen verhaftet, die
mit der eigentlichen Wesenhaftigkeit des Dinges an sich verwechselt
werden. Ein letztes Maß (vgl. Hua ΙΙ, 31/32), eine letztbegründete
Gegebenheit, liegt demnach zunächst nicht vor.
Deshalb darf auch nichts vorausgesetzt werden, wenn man das wahre
Wesen der Dinge erkennen will57. Das Voraussetzen und Präjudizieren
sei in den Wissenschaften allerdings Usus. Reinach führt ein
aufschlussreiches Beispiel hierfür an: Die direkte Erfassung des Wesens
ist so ungewohnt und schwierig, weil die tiefeingewurzelte Einstellung
des praktischen Lebens die Objekte mehr ergreift und mit ihnen hantiert,
als dass sie sie kontemplativ anschaut und in ihr Eigensein eindringt. Es
ist der Stolz des Mathematikers, das nicht zu kennen, von dem er spricht.
Aus dem abstrakten Satz a+b=b+a wird in rein logischen Ketten ein
57
„Philosophie darf keinesfalls irgendwelche vorgefertigten Resultate von den
Wissenschaften akzeptieren und sie ‚generalisieren’ (Hervorheb. im Original). Ihre
Berufung ist vielmehr, die Bedeutung und Fundierung dieser Resultate zu erforschen.
(…) Die Idee einer Erkenntnistheorie, die auf einer Wissenschaft basiert wäre,
insbesondere auf Psychologie, ist in empörendem Maße absurd“ (Kolakowski, 1986,
13).
Phänomenologie
- 98 -
ganzes System aufgebaut, das absolut gehaltsleer ist. Denn es wird
prinzipiell verzichtet auf eine Einsicht in die Struktur der Objekte. Was
ist a oder b? Die Evidenz der letzten Grundsätze bleibt ungeklärt und
vollständig im Dunkeln. Die einzige Einsicht, die dabei benötigt wird, ist
eine logische. Die Axiome, die zugrunde gelegt werden, werden nicht in
sich selbst geprüft. Es sind Ansetzungen, neben denen andere,
entgegengesetzte möglich sind. Ebenso gut kann man versuchen, in sich
widerspruchslose Systeme von Sätzen auf völlig anderen Ansetzungen
aufzubauen. Die Entfernung von allem anschaulich Vorfindlichen ist in
der Mathematik besonders deutlich (vgl. Reinach, 1951, 36f.), weil
abstrakte Zahlen ausgesprochen un-sinnlich sind58.
Die Aufgabe der Phänomenologie ist es, voraussetzungsfrei die
Wirklichkeit zu schauen. Insofern ist sie eine „Absage an die
Wissenschaft“ (Merleau-Ponty, 1966, 4), die in der Weigerung besteht,
zur Erklärung überzugehen. Denn von dem Erschauen beispielsweise
eines Baumes zu seiner Erklärung überzugehen, bedeutet genauso
genommen, von diesem Baum abzusehen, heißt ihn als Anhäufung von
Atomen zu betrachten, heißt „etwas“ an seine Stelle zu setzen, nämlich
den physikalischen Gegenstand, der für mich aber überhaupt nicht mehr
„die Sache selbst“ ist. Denn das Wesen dieses Baumes erscheint ja in den
(unsichtbaren) Atomen gar nicht mehr. Deshalb kann vielleicht das
Wesen der Atome erkannt werden, nicht jedoch das dieses Baumes. Was
im Wesen von Objekten gründet, kann in der Wesenserschauung zur
letzten Gegebenheit gebracht werden. Die letztanschauliche Gegebenheit
darf nicht aus anderen, uneinsichtigen Fakten begründet werden, die doch
selbst erst durch jene begründet werden können (vgl. Reinach, 1951, 61).
Die wesenhafte Struktur der Dinge ist zu untersuchen, nicht indem man
58
Das Ergebnis der Gaußschen Entdeckung war, dass es mehrere gleich richtige
Strukturen der dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt. Die Mathematik beschäftige sich
mit „völlig von Leben, Zeit und Schicksal abgehobenen, rein verstandenen Systemen,
Formenwelten reiner Zahlen, deren Richtigkeit - nicht Tatsächlichkeit – zeitlos und von
kausaler Logik ist wie alles nur Erkannte und nicht Erlebte. Damit ist die
Verschiedenheit der lebendigen Anschauung von der mathematischen Formensprache
offenbar geworden“ (Spengler, 1923, 223).
Phänomenologie
- 99 -
Farben auf Schwingungen zurückführt, denn Wesenheiten können nicht
auf andere Wesenheiten zurückgeführt werden.
„Es gibt immer etwas Präreflexives, ein Ungedachtes, ein
Vorprädikatives, auf das sich die Wissenschaft stützt und das
sie immer unterschlägt, wenn sie über sich selbst
Rechenschaft ablegen will“ (Lyotard, 1993, 10).
Gleichzeitig will die Phänomenologie jedoch auch die Fundamente der
Wissenschaft festigen, indem sie sich weigert, die Möglichkeiten der
Erkenntnis weiterhin aus konstruierten Axiomen abzuleiten. Von daher
ist die Phänomenologie wesentlich eine Erkenntnis der Erkenntnis, eine
philosophische Erkenntnismethode. Sie ist allererst eine „Wissenschaft
der Ursprünge“ (Hua ΙΙΙ/1, 136), die die Letztbegründungen nicht einfach
hinnehmen, sondern fortwährend neu reflektieren will.
Husserl will die Quellen, Grenzen und Sicherheiten der Erkenntnis neu
fundieren. Dies soll durch eine
„Synthesis sensualistischer und rationalistischer Einsichten
und Verfahrensweisen erfolgen, um den die Kultur
gefährdenden Erscheinungsweisen von Skeptizismus und
Dogmatismus eine Absage zu erteilen“ (Waldenfels, 1993,
266).
Die dafür aufzuweisende Beziehung zwischen Subjektivem und
Objektivem, die Husserl in deren Einheit sieht, wird dabei nicht mehr nur
in
der
logischen
Erkenntnis,
sondern
universal
in
allen
Erkenntnisgebieten thematisiert (vgl. Janssen, 1986, 9). Er erhebt den
Anspruch, „dem einheitlichen, ganzheitlichen Phänomen der Korrelation
von subjektivem Erkennen, Gegebenheit des Gegenständlichen und
Gegenständlichem Rechnung zu tragen“ (ebd.). Es zeigt sich also, dass
wir neben Subjekt-Objekt noch ein Drittes nennen müssen: Den
korrelativen Aspekt von Ich und Welt. Die Phänomenologie beansprucht
ein neues Verständnis der Einheit von Subjekt und Objekt: Sie werden
korrelativ aufgefasst.
Der letzte Geltungsgrund (Evidenz) dieses Anspruches findet sich für
Husserl nicht wie für Descartes in Gott, sondern im Wesen des
Phänomenologie
- 100 -
Subjektiven selbst, in der Bewusstseinsimmanenz. Das heißt, nur das im
Bewusstsein Selbstgegebene, nur die in ihm selbst aufscheinenden
„Sachen selbst“ können als zuverlässiger Ausgangspunkt für eine
Theorie
der
Erkenntnis
dienen.
Deshalb
ergibt
sich
für
die
Phänomenologie ihr Forschungsgebiet in der Beschränkung auf jenes, als
was sich das Objektive unserem Bewusstsein gegenständlich gibt. Kurz:
Die Bewusstseinserlebnisse einschließlich ihrer gegebenen Gegenstände
werden untersucht.
Andererseits ist Husserl genau wie Descartes der Ansicht, dass das „Sein
der cogitatio unzweifelhaft ist“ (Hua ΙΙ, 4). Beide finden in dem
denkenden Bewusstsein den unanzweifelbaren Ausgangspunkt der ersten
Philosophie. Doch sei die schauende Erkenntnis der cogitatio immanent,
wohingegen die Erkenntnis der objektiven Wissenschaften transzendent
sei (vgl. ebd.). Deshalb wird die cogitatio selbst zu Husserls
Untersuchungsgegenstand, der unter Ausschluss aller transzendenten
Setzungen (thesis) operationalisierbar gemacht werden soll.
Phänomenologie ist Wesensforschung, sie ist Bewusstseinsanalyse. Um
das Wesen der Dinge zu bestimmen, soll die Erfahrung direkt
beschrieben werden, so wie sie ist, ohne Verfälschungen durch die
natürliche Einstellung. Das erfolgt durch einen Rückgang zur Naivität
des Lebens, aber eben in einer über sie sich erhebenden Reflexion (vgl.
Husserl VΙ, 60). Die Phänomenologie will die Sichtweise auf die
Gegenstände ihres Forschens verdeutlichen, weil die realen Gegenstände
immer nur perspektivisch, in „Abschattung“ (Holzhey, 2004, 141),
erfasst werden. Die perspektivische Abschattung der Dinge erwächst aus
der natürlichen Einstellung, die unsere situative Wahrnehmung der Welt
individuell determiniert. Die Perspektive, aus der der Phänomenologe auf
die Welt blickt, wird also nicht einfach vorausgesetzt, wie das
weitgehend im physikalischen Weltbild - aber auch in der Lebenswelt
sowie der Wissenschaft - der Fall ist, vielmehr wird sie selbst
fortwährend hinterfragt. Offenheit ist daher eine wesentliche Eigenschaft
des Phänomenologen, der demnach nicht nach einfachen, fertigen und
Phänomenologie
- 101 -
dogmatischen Lösungen strebt, sondern die werdende Komplexität der
Welt anerkennt und ihre Abhängigkeit vom Standpunkt des Betrachters
berücksichtigt, um dadurch die idealen Gegenstände mit Hilfe der
Ideation (Wesensschau) erkennen zu können.
Insgesamt gilt es zu beschreiben, nicht zu analysieren und zu erklären.
Die
unvollständige
Beschreibung
eines
Phänomens
durch
die
phänomenologische Deskription dient als Wegweiser zum Phänomen.
Die Phänomenologie will strenge Wissenschaft sein, weil sie sich direkt
beschreibend auf die Lebenswelt bezieht und weniger auf die sekundäre
Welterfahrung, die immer nur meine Sicht der Welt ist. Aus diesem
Grund sei die Phänomenologie wesentlich eine Wissenschaft der
Ursprünge (vgl. Hua ΙΙΙ/1, 136).
Die phänomenologische Deskription versucht das Phänomen des
Bewusstseinsaktes zu umreißen. Danach sieht die phänomenologische
Methode vor, dieses grobe Bild des Phänomens zu verfeinern, indem
seine allgemeinen Wesenszüge untersucht werden. Die allgemeinen
Strukturen des Phänomens werden herauspräpariert (vgl. Spiegelberg.
Zit. nach: Thiele. In: Bette, 1993, 93/94). Das Einzelphänomen dient
dabei nur als Beispiel für die allgemeine Phänomengruppe, ist musterhaft
für das Wesen des Phänomens. Dieses gedankliche Vorgehen beizeichnet
Husserl als Wesensschau. Das bezeichnete Wesen der Dinge erinnert nur
vordergründig an die Ideen Platons; in Wirklichkeit ist das Husserlsche
Konzept „dem platonischen Realismus entgegengesetzt“ (Kolakowski,
1986, 55). Denn die platonischen Ideen seien in einem jenseitigen Reich
zu verorten, wohingegen das Wesen der Dinge nach Husserl in den
subjektiven Bewusstseinsakten selbst, bewusstseinsimmanent und damit
unmittelbar gegeben vorzufinden sei.
„Wir halten also den Blick fest gerichtet auf die
Bewusstseinssphäre (…) und studieren, was wir in ihr
immanent finden. Zunächst, noch ohne jene eigenartige
phänomenologischen Urteilsausschaltungen zu vollziehen,
unterwerfen wir sie einer systematischen Wesensanalyse
(…). Was uns durchaus nottut, ist eine gewisse allgemeine
Einsicht in das aus rein innerer Erfahrung, bzw. rein innerer
Phänomenologie
- 102 -
Anschauung überhaupt zu schöpfende Wesen
Bewusstseins überhaupt (…).“ (Hua ΙΙΙ/1, 71).
des
Gleichwohl: „Den Boden der natürlichen Einstellung haben wir nicht
preisgegeben“ (ebd., 87). Die allgemeine Wesensschau aus der
„natürlichen Perspektive“, die eidetische Reduktion bereitet den darauf
folgend skizzierten Verfahrensschritt der phänomenologischen Reduktion
vor.
2.4.2 Eidetische Reduktion
Die allgemeinen Wesenszüge stehen in relationaler Wechselwirkung
zueinander.
Um
diese
Beziehungen
zum
einen
zwischen
den
verschiedenen Wesenszügen eines einzelnen Wesens und zum anderen
zwischen denen verschiedener Wesen zu erfassen, schlägt Husserl das
Verfahren
der
„eidetischen
Reduktion“
vor.
Dabei
wird
das
Einzelphänomen in der Phantasie in jede erdenkliche Form variiert, so
dass
schließlich
Invarianzen
erkennbar
werden,
wesentliche
Eigenschaften des Phänomens, die trotz jeder Abwandlung immer gleich
bleiben. Diese Invarianzen besitzen eine allgemeine Form, ein Wesen
(eidos). Durch das eidetische Variieren soll von der Faktizität zum
Wesen vorgedrungen werden. Am besten kann das Prinzip dieser
Methode an einem Beispiel veranschaulicht werden:
„Angenommen, ich hätte auf diesem Schreibtisch, von einer
Lampe beleuchtet, einen roten hölzernen Würfel von einem
Zoll Kantenlänge vor mir. In natürlicher Einstellung nehme
ich das Ding, das die erwähnten Qualitäten und
Eigenschaften hat, als fraglos wirklich wahr. In der
phänomenologisch reduzierten Sphäre behält das Phänomen
Würfel - wie er mir erscheint – diese gleichen Qualitäten als
intentionaler Gegenstand meines wahrnehmenden Aktes“
(Schütz, 1971, 131).
Wenn ich aber nun die allen Würfeln gemeinsamen Qualitäten finden
möchte und nicht die Methode der Induktion benutzen will, die nicht nur
die Existenz ähnlicher Gegenstände voraussetzt, sondern auch gewisse
Phänomenologie
unberechtigte
logische
- 103 -
Voraussetzungen
impliziert59,
kann
ich
folgendermaßen vorgehen:
„Ich habe nur diesen einzelnen konkreten Gegenstand vor
mir, den ich wahrnehme. Ich kann aber ungehindert diesen
wahrgenommenen Gegenstand in meiner phantasierenden
Vorstellung verändern, indem ich nacheinander seine
Merkmale variiere – seine Farbe, seine Größe, das Material,
aus dem er gefertigt ist, seine Beleuchtung, seine Umgebung
und seinen Hintergrund, die Perspektive, in der er erscheint,
und so fort. So kann ich mir eine unendliche Zahl
verschiedener Würfel vorstellen. Aber diese Variationen
lassen eine Gruppe von Merkmalen unberührt, die allen
vorstellbaren Würfeln gemeinsam ist, z.B. ihre
Rechtwinkligkeit, ihre Begrenzung in sechs Quadraten, ihre
Körperlichkeit. Diese in allen vorstellbaren Transformationen
des konkreten wahrgenommenen Dinges unveränderliche
Gruppe von Merkmalen – sozusagen der Kern aller
vorstellbaren Würfel – wird man als die wesentliche
Charakteristik des Würfels bezeichnen, bzw. mit dem
griechischen Begriff, als sein eidos. Es ist kein Würfel
denkbar, der nicht diese wesentlichen Merkmale hätte. Alle
anderen Qualitäten und Merkmale des beobachteten
konkreten Gegenstandes sind nicht wesentlich“ (Schütz,
1971, 131).
Das auf diese Weise erkannte Wesen eines Phänomens stellt sich dem
Blick des Betrachters jedoch keinesfalls einfach an sich seiend dar. Im
Gegenteil ist es vielmehr so, dass die subjektive Perspektive des
Betrachters das Phänomen mit konstituiert. Deshalb ist es notwendig, die
subjektive Perspektive entweder zum Bewusstsein des Betrachters zu
bringen, das heißt sie gleichsam reflektierend zu erkennen, oder seine
individuell gefärbte Sichtweise „einzuklammern“.
Indem Husserl zu den Sachen selbst gelangen will, nimmt er ein jedem
Wirklichen zugrunde liegendes Wesen an, das nicht in einer mystischen
Erleuchtung, sondern in einem methodischen Verfahren anschaulich
werde. Die reine Beschreibung der Sachen erfordert eine ständige
Reflexion der im Bewusstsein ablaufenden Akte. Dabei muss von den
59
„Ein Induktionsschluss ist der von unzähligen Fällen auf alle, das heißt
eigentlich auf den unbekannten Grund, von welchem alle anhängen“ (Schopenhauer,
1966, 108). Vgl. dazu auch die Falsifikationstheorie des kritischen Rationalismus
(Popper, 1973, 20ff.).
Phänomenologie
- 104 -
Gegenständen, die durch die phänomenologisch zu behandelnden Akte
Seinssetzungen erfahren haben, abgesehen werden, um die sprachlichen
Begriffe nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln.
Den Zugang zu der transzendentalen Betrachtungsweise bildet die
phänomenologische Reduktion, die als Methode den Grundpfeiler der
Husserlschen Phänomenologie darstellt. Sie ermöglicht den Rückgang
auf das reine Bewusstsein (phänomenologisches Residuum). In ihm
erschauen wir das Wesen des Gegenstandes wie es zum Bewusstsein
kommt.
2.4.3 Phänomenologische Reduktion
Die Konstitution der Gegenstände im Bewusstsein ist Mittelpunkt
Husserlschen Denkens. Während in den LU noch die Rede von
deskriptiver Psychologie war, und zwar verstanden als empirische
Phänomenologie, ist Husserl bereits seit der Idee der Phänomenologie
(1907) mit transzendentaler Phänomenologie befasst (vgl. Hua ΙΙ, 9). Er
verabschiedet sich an diesem Punkt von formal logischen Betrachtungen
der Mathematik und Geometrie und konzentriert sich auf das
konstituierende Bewusstsein, in welches objektive Axiome nicht
hineingehören (vgl. ebd., 11). Alle empirischen Setzungen sollen bei der
transzendentalen Betrachtung eines Phänomens ausgeschaltet werden.
Husserl fordert einen Rückgang zur totalen Unerfahrenheit des
Verstandes, zu einer „tabula-rasa-Position, in der unsere Weltsicht in
keiner Weise durch Sprache oder unser kulturelles Erbe verschleiert
wird“ (Kolakowski, 1986, 92). Die Aufgabe der transzendentalen
Phänomenologie bestehe darin, „die Korrelation zwischen Akt,
Bedeutung und Gegenstand zu erforschen“ (ebd., 10). Um dieser
Aufgabe gerecht zu werden, entwickelte er eine spezielle Methode.
Den Anfang der Phänomenologie stellt die phänomenologische
Reduktion als „methodische Operation“ (Hua ΙX, 187) dar. Von ihrem
Verständnis „hängt das Verständnis der gesamten Phänomenologie ab“
(ebd., 188). Husserl hält sie für den wichtigsten Bestandteil und die
Phänomenologie
- 105 -
weitreichendste Entdeckung seiner Philosophie60. Auf dem Weg zu
einem „transzendentalen Bewusstsein“ muss der Phänomenologe die
„natürliche Einstellung“ (Hua ΙΙΙ/1, 62ff.), die Naivität61, hinter sich
lassen. „Jedermann hat eine intensive Verlern-Schulung nötig, bevor er
die Welt frisch zu erfahren beginnen kann – in Unschuld und Wahrheit“
(Laing, 1970, 20). Philosophische Einsichten seien aus einer „naiven“
Perspektive nicht zu gewinnen (vgl. Hua ΙΙΙ/1, 136f.). In der natürlichen
Einstellung fragt man nicht nach der Möglichkeit der Erkenntnis, man ist,
im Leben und auch in der Wissenschaft, um die Schwierigkeit der
Erkenntnismöglichkeit noch vollkommen unbekümmert. Die natürliche
Einstellung ist „diejenige, in der der Mensch zunächst und zumeist
vorstellend, fühlend, urteilend, wollend immer schon lebt“ (ebd., 56/57).
Die Wirklichkeit finde ich als daseiende vor und nehme sie, wie sie sich
mir gibt, auch als daseiende hin (vgl. ebd., 61). In der natürlichen
Einstellung wird die Welt als Wirklichkeit gesetzt. „Das Voraushaben
der Seinsgeltung der Welt vor allen Einzelgeltungen ist die Generalthesis
der natürlichen Einstellung“ (Fink, 1985, 28).
Über diese natürliche Einstellung geht Husserl hinaus, indem er die
ganze Welt „in Klammern“ setzt. Dies nennt er phänomenologische
Epoché. Die phänomenologische Epoché wird von Husserl eingeführt als
Methode der Urteilsenthaltung. Das griechische Wort Epoché bezeichnet
ursprünglich eine prinzipielle Anweisung zur Urteilsenthaltung, zum
„Ansichhalten“ oder „Zurückhalten“ eines Urteils (im Unterschied zum
Dogma),
zum
„Innehalten“
aufgrund
der
Mannigfaltigkeit
der
Meinungen, um so zur Wahrheit zu gelangen (vgl. Becke, 1999, 41).
Husserl hält sich also ganz an die reinen Phänomene. Es soll
60
Bergson behauptet, dass jeder Philosoph in seinem Leben nur eine Sache sagt,
eine leitende Idee oder Intuition, die all seine Werke mit Bedeutung ausstattet. Husserls
grundlegende Intuition betrifft zweifellos die Grundlage der Erkenntnis (Intentionalität)
und die Methode zu diesem Ziel zu gelangen: Die phänomenologische Reduktion.
61
Was Husserl als naive, natürliche Einstellung bezeichnet, kommt uns eher vor
wie die Haltung der Erwachsenen. Denn Kinder blicken noch in wahrhaft
unvoreingenommener, gleichsam phänomenologischer Weise auf die Welt, bevor sie
durch die jeweilige Gesellschaft „indoktriniert und zu neuen Rekruten“ (Laing, 1970,
57) ausgebildet werden und damit das vorherrschende, gesetzte Begriffssystem
adaptieren. „Kinder sind noch keine Narren“ (ebd., 51).
Phänomenologie
- 106 -
„jede Urteilssetzung einer an sich seienden Welt inhibiert
werden, die Welt soll als rein vermeinte, wie sie im
Bewusstsein vermeint ist, rein als Phänomen des
Bewusstseins genommen werden“ (Landgrebe, 1969, 83).
Das bedeutet, die Welt der natürlichen Einstellung soll eingeklammert
werden. Folglich gilt es, die naive Ebene durch die phänomenologische
Epoché zu verlassen und so zu einem transzendentalen, reinen
Bewusstsein zu gelangen. Die transzendentale Epoché, schreibt Husserl,
sei
„die radikale und universale Methode, wodurch ich mich als
Ich rein fasse, und mit dem eigenen reinen
Bewusstseinsleben, in dem und durch das die gesamte
objektive Welt für mich ist, und so, wie sie eben für mich ist“
(Hua Ι, 60).
Das bedeutet, dass die Welt, die ansonsten immer im Voraus gegeben ist,
überhaupt nicht als bestehend angenommen wird, wie es hingegen im
praktischen Leben der Fall ist. Die phänomenologische Haltung erfordert
also ein Aufgeben der natürlichen Einstellung, aus der wir alles in
Abhängigkeit zu unserer Zeit und unserer Erfahrung betrachten und
erklären. Dies habe durch die systematische „Einklammerung“ jeder
theoretischen
Auslegung
des
Gegenstandes
zu
erfolgen.
Der
Phänomenologe müsse sich „dem Weltglauben enthalten“ (Hua XXXΙV,
163). Dazu gehöre eine gewisse Disziplin. Um die phänomenologischen
Verhältnisse rein auf sich wirken und seine persönlichen Erfahrungen
außen vor zu lassen, sei ein persönlicher Entschluss erforderlich, der
einen „Willen“ voraussetzt, welcher die Epoché begründet (vgl. Hua
VΙΙΙ, 145; Hua ΙX, 343). Überdies ist die reduktive Methode auf Übung
angewiesen. Immer wieder können mundane Elemente sich einschleichen
und einen Rückfall in die Naivität herbeiführen (vgl. Hua XXXΙV,
294/295).
Persönliche Erfahrungen, Vorurteile, Einstellungen, Beweisführungen
und subjektive Wünsche werden bei der phänomenologischen Reduktion
außer Betracht gelassen, ohne dass ihre reale Existenz infrage gestellt
Phänomenologie
- 107 -
würde. Obwohl der Glaube an die reale Welt ausgeschaltet wird, verneint
Husserl weder ihre Existenz noch zweifelt er an ihr.
„Ich negiere diese Welt also nicht, als wäre ich Sophist, ich
bezweifle ihr Dasein nicht, als wäre ich Skeptiker, aber die
beständig als seiend vorgegebene Welt nehme ich nicht so
hin, so wie ich es im gesamten natürlich-praktischen Leben
tue“ (Hua ΙΙΙ/1, 67).
Damit wird auch der Boden der positiven Wissenschaften verlassen, die
eine im Voraus seiende Welt annehmen. Im Rahmen der Epoché wird
vor
diese
Annahme
zurückgegangen.
Die
Ausschaltung,
bzw.
Einklammerung der Generalthesis der Welt ist indifferent gegenüber der
Frage nach Sein und Nicht-Sein. Die Epoché des reflektierenden
Philosophen befreit ihn von den innerweltlichen Interessen und Zwecken
und lässt ihn dadurch zu einem unbeteiligten Zuschauer werden. Die
Methode der Einklammerung meint den „im Grunde asketischen Akt der
Entwirklichung“ (Scheler. Zit. nach: Misch, 1967, 249; vgl. 3.2.2). Als
Resultat der Reduktion verbleibt ein reines Bewusstsein als Residuum.
Dieses nennt Husserl „transzendentales Bewusstsein“.
„Die Ausschaltung der Thesis der Welt der Natur war für uns
das methodische Mittel, um die Blickwendung auf das
transzendental reine Bewusstsein überhaupt zu ermöglichen“
(Hua ΙΙΙ/1, 136).
Das „transzendentale Ich“, als Residuum der transzendentalen Reduktion,
ist das „Erfahrungsfeld“ der transzendentalen Phänomenologie. Die
transzendentalen Erfahrungen seien eigenständig und unabhängig von
Setzungen; sie seien „uroriginal“ (Hua XXXΙV, 165), im Gegensatz zu
„sekundären Originalitäten“, wie beispielsweise Erinnerungen (vgl.
ebd.). Deshalb ist bei der geschilderten Operation von transzendentaler
Epoché die Rede. Weil diese Einklammerung schrittweise vor sich geht,
spricht Husserl dabei von phänomenologischer Reduktion.
Diese Reduktion soll dazu dienen, das wahre Wesen der Dinge zu
schauen, weil die Dinge nun im Bewusstsein seien. Das bedeutet, die
Wesensschau erfolge durch die Konzentration auf das Wesen des
Phänomenologie
- 108 -
Gegenstandes und die dieses Wesen erfassenden psychischen Akte. Die
reinen
Wesenheiten
der
Dinge
sollen
in
dem
durch
die
phänomenologische Epoché entstandenen transzendentalen Bewusstsein
zur Anschauung kommen. Die Bewusstseinsakte des transzendentalen
Subjekts sind das eigentliche Untersuchungsgebiet der Phänomenologie.
Sie bringen die Welt der idealen Wesenheiten hervor, welche ihrerseits
die „Urstätte aller Sinngebung und Seinsbewährung“ (Hua ΙΙΙ/1, 139) ist.
Es sei die Aufgabe des Phänomenologen, eine vorurteilslose Deskription
des Noema, des geistig Wahrgenommenen, und der Noesis, dem
geistigen Wahrnehmen, zu geben, wie sich der Gegenstand dem
Betrachter im Schauen zeigt, wie er sich im Bewusstsein konstituiert. Die
Phänomenologie will also vor allem beschreiben und nicht analysieren.
Die Aufgabe des Philosophen sei es, zu beschreiben und nicht zu
entscheiden, was sinnvoll ist (vgl. Hems. In: Dufree, 1976, 56).
Deswegen lautet die phänomenologische Forderung: „Zurück zu den
Sachen selbst“ (vgl. Heidegger, 1993, 27).
Husserl will zu einer Welt vor aller Erfahrung zurückkehren, von der die
Erkenntnis
immer
spricht
und
im
Verhältnis
zu
der
jede
wissenschaftliche Bestimmung zeichenhaft und abhängig ist.
„Zurückgehen auf die ‚Sachen selbst’ heißt zurückgehen auf
diese aller Erkenntnis vorausliegende Welt, von der alle
Erkenntnis spricht und bezüglich deren alle Bestimmung der
Wissenschaft notwendig abstrakt, signitiv, sekundär bleibt, so
wie Geographie gegenüber der Landschaft, in der wir
allererst lernten, was dergleichen wie Wald, Wiese und Fluß
überhaupt ist“ (Merleau-Ponty, 1966, 5).
Es handelt sich dabei um einen Zustand der reinen Erkenntnis vor aller
nachträglichen Erfahrung. Das phänomenologische Interesse ist „ein
Interesse für das Subjektive“ (Hua ΙX, 190). Die transzendentale
Subjektivität ermöglicht das unmittelbare apriorische Erschauen eines
Phänomens, dessen reines Wesen sich nur so dem Bewusstsein des
Betrachters offenbart.
Phänomenologie
- 109 -
Abb. 1 (vgl. dazu: Hua ΙΙΙ/1, 217ff.)
Das rein transzendentale Bewusstsein befasst sich nach vollzogener
Epoché wieder mit der natürlichen Lebenswelt, derer es sich dann erst
bewusst ist. Durch die Reflexion erscheint die alte Naivität dann als ein
gegen sich selbst verschlossenes transzendentales Leben. Nach Husserl
ist es dann durchaus möglich, „in meine Rolle als Mensch in meiner
Menschheit, in meiner Welt zurückzukehren“ (Husserl VΙ, 214),
allerdings kann ich „die alte Naivität nicht mehr erlangen; ich kann sie
nur verstehen“ (ebd.). Von einer unreflektierten Hingabe an die Sachen
kann also bei Husserl nicht die Rede sein. Die phänomenologische
Reflexion findet im Gegenteil ständig und in jedem Augenblick statt. Es
handelt sich bei ihrer Methode der Reduktion keineswegs um einen
einmaligen Prozess, sondern vielmehr um ein fortdauerndes, perpetuelles
Reflektieren der Bewusstseinsakte. Die phänomenologische Reduktion
ist zentraler Bestandteil der phänomenologischen Haltung und niemals
abgeschlossen, weil das reine Bewusstsein zu jedem Zeitpunkt durch sie
neu freigelegt wird. Dies entspricht einer Gegenwart, die „als
Urphänomen (zeitlich) strömend (ist)“ (Hua XXXΙV, 166). Die Akte des
reinen Bewusstseins sind überdies immer auf etwas gerichtet; sie sind
intentional.
Husserl hielt an dem Kernargument Brentanos fest, dass das Bewusstsein
immer „Bewusstsein von Etwas“ (Kastil, 1951, 102) sei. Er spricht in
diesem Zusammenhang von „intentionalen Akten“ des Bewusstseins. Es
ist intentional auf die Dinge der Welt gerichtet und konstituiert diese
gleichzeitig durch seine Intentionalität.
Phänomenologie
- 110 -
2.4.4 Intentionalität des Bewusstseins
Brentano lehnte die Voraussetzung ab, dass Ideen einfach so im
Bewusstsein sind. Er war der Überzeugung, dass jede Form des
Bewusstseins immer ein „Bewusstsein von Etwas“ sei. Ferner seien die
Ideen notwendige Bestandteile der Bewusstseinsfunktionen, wie Wollen
und Urteilen, wobei Wollen und Urteilen nicht ohne Rückbestand in
diese Ideen, oder Abwandlungen von ihnen, analysiert werden können62
(vgl. Ryle. In: Durfee, 1976, 18). Brentano und seine Schüler hielten also
die mentalen Funktionen des Bewusstseins für eine Sache und die
statistisch-experimentelle Suche nach Naturgesetzen, die das Auftreten
von mentalen Akten auslösen, für eine ganz andere.
Das von der Welt gelöste transzendentale Bewusstsein sei niemals reines
Bewusstsein. „Es gehört zum Wesen jedes aktuellen cogitatio,
Bewusstsein von Etwas zu sein“ (Hua ΙΙΙ/1, 79). Das „Bezogensein auf
Etwas“
des
Bewusstseins
nennt
Husserl
seine
Intentionalität.
„Intentional“ ist dabei nicht im Sinne von beabsichtigen zu verstehen,
sondern der Begriff bezeichnet vielmehr den Umstand, dass mentale
Aktionen immer von Gegenständen handeln. Wünschen ist sich etwas
wünschen, erinnern ist sich an etwas erinnern, erwarten ist etwas
erwarten, entscheiden und wählen sind etwas entscheiden und wählen.
Jede mentale Funktion ist intrinsisch auf etwas bezogen, das der
Gegenstand dieser Funktion ist63 (vgl. Ryle. In: Dufree, 1976, 21). Dabei
gibt es verschiedene Arten der intentionalen Bewusstheit, die sich
durchaus auf das gleiche Objekt beziehen können. So kann man sich an
den gleichen Gegenstand erinnern, den man bedauert. Manches
„Bewusstsein von“ ist die Grundlage für ein anderes. Man kann einen
Gegenstand nicht bedauern, ohne sich an ihn zu erinnern, man kann sich
jedoch an ihn erinnern, ohne ihn zu bedauern. Alle diese intentionalen
62
“So that while ‘ideas’ may be necessary ingredients in judging and wanting,
judging and wanting cannot be analysed without residue into ‘ideas’ (Hervorheb. im
Original) or complexes of them” (ebd.).
63
“To every piece of mental functioning there is intrinsically correlative
something which is the ‘accusative’ (Hervorheb. im Original) of that functioning”
(ebd.).
Phänomenologie
- 111 -
Erfahrungen, ganz unabhängig von dem intendierten Gegenstand,
gehören zu einem erfahrenden Subjekt, sie erfordern es. Deshalb ist die
cartesianische Formel „Ich denke, also bin ich“ ein grundlegendes
Element in Husserls Phänomenologie. Die Frage danach, was dieses Ich
sei, ist ein zentrales Anliegen der phänomenologischen Philosophie.
Husserl legt dar, dass das cartesianische Ego letztlich keine wirklich
unabhängige Substanz ist, sondern vielmehr das „Residuum“ oder die
Grenze der Quantifizierung (vgl. Hua VΙ, 81). Nach Descartes wäre die
denkende Ichsubstanz der res extensa verwandt, wohingegen bei Husserl
die cogitatio die res extensa individuell konstituiert (vgl. dazu: Marcuse,
1964, 167/168). Im Gegensatz zu Descartes sieht Husserl das erkennende
Subjekt und das erkannte Objekt also keineswegs als getrennte und
voneinander unabhängige Substanzen, wiewohl er während der
phänomenologischen Reduktion das transzendentale Bewusstsein zu
vereinzeln sucht und daher zunächst dieselbe Unterscheidung vornimmt.
Husserl bestreitet nicht die äußere Welt, um das Denken zu
verabsolutieren, obwohl er im Rahmen der phänomenologischen
Reduktion alle äußeren Faktoren allererst außer Acht lässt. Vielmehr ist
er sich darüber im Klaren, dass beides, Ich und Welt, keinesfalls als
voneinander unabhängig verstanden und beschrieben werden können. Sie
bedingen und konstituieren sich gegenseitig. Die Intentionalität des
Bewusstseins ist zugleich Gerichtetsein auf einen Gegenstand und
Sinngebung für diesen Gegenstand. Die intentionale Analyse deckt die
durch das Subjekt vorgenommene Konstitution des Objektes auf, was
Intentionalität zu dem Kerngedanken der Phänomenologie macht. Er
trägt in sich die weit reichende Konsequenz, dass die Erscheinung
erkannter Objekt immer maßgeblich durch das erkennende Subjekt
konstituiert
wird.
Erkenntnis
ist
notwendig
gleichsam
erfahrungsdurchtränkt. Dadurch wird die konsequente Hinwendung zum
Subjekt der Erkenntnis legitimiert.
Phänomenologie
- 112 -
Aufgrund dieses Umstandes will Husserl nicht mehr die Gegenstände der
Außenwelt zu Objekten der Erfassung machen.
„Wir sollen unser theoretisches Interesse nicht auf diese
Gegenstände richten, nicht sie als Wirklichkeiten setzen, so
wie sie in der Intention jener Akte erscheinen oder gelten,
sondern im Gegenteil eben jene Akte, die bislang gar nicht
gegenständlich waren, sollen nun die Objekte der Erfassung
und theoretischen Setzung werden“ (Hua XΙX/1, 14).
Die intentionalen Bewusstseinsakte selbst werden zum Gegenstand der
Untersuchung.
Nicht die Materie, sondern die Form, wie das Bewusstsein sie erkennt, ist
vorrangig. Die Realität wird also weder in der Materie, noch in den Ideen
angenommen, sondern in dem Prozess des Bewusstseins des Subjekts
(vgl. Hua XΙX/1, 343f.). „Die beobachteten Strukturen der Materie wären
somit Spiegelungen der Strukturen unseres Bewusstseins“ (Capra, 1983,
99). Dabei steht die Intentionalität im Vordergrund. Das Bewusstsein ist
immer Bewusstsein von Etwas, es meint immer etwas, ist also
intentional, auf ein Objekt gerichtet, dessen verschiedene Aspekte jeweils
„Träger einer Intentionalität“ (Hua ΙΙΙ/1, 81) sind. Demzufolge kann es
weder ein „leeres“ Bewusstsein geben, noch ein „allgemeines“ im Sinne
von Kant (vgl. Jaspers, 1985, 42/43). Es gebe keine Trennung von Objekt
und Subjekt, keine doppelte Realität: eine äußere und eine innere.
Immanenz und Transzendenz können niemals getrennt werden. Ich und
Erscheinung bilden einen einheitlichen intentionalen Erlebniskomplex.
Intentionalität ist wie ein ständiges Dahinfließen, wie ein Strom, in dem
sich das Noema, der Inhalt der Intention, mit der Noesis, der
intellektuellen Anschauung, vereint.
„Ich spreche von erlebten Inhalten und nicht von
Erscheinungen, erdachten Gegenständen oder Personen. All
das, woraus sich das individuelle ‚erlebende’ (Hervorh. im
Original) Bewusstsein reel konstituiert, ist erlebter Inhalt.
Was es wahrnimmt, erinnert, vorstellt u. dgl., ist vermeinter
(intentionaler) Gegenstand“ (Hua XΙX/1, 35).
Phänomenologie
- 113 -
Aus dem Noema und der Noesis ergibt sich durch das intentionale
Erlebnis der Gegenstand und um ihn herum der Horizont, die Welt in die
er gestellt ist. „Gegenständlichkeit existiert nur als Pol eines
intentionalen Gerichtetseins, das ihm seine objektive Bedeutung verleiht“
(Lyotard, 1993, 47).
Das Phänomen selbst ist im Zusammenhang damit keine substantielle
Einheit, es besitzt keine realen Eigenschaften, sondern es intendiert
etwas, es meint etwas Gegenständliches, es ist das Bewusstsein von
Etwas, es ist ein erlebter Bewusstseinsinhalt, der aufgehen kann im
intentionalen Gegenstand oder selbst ein solcher Gegenstand ist. Im
Gegensatz zu Descartes Überzeugung ist das Phänomen nicht aus realen
Teilen bestehend, objektiv-kausalen Gesetzen unterworfen, nicht einmal
nur als Erscheinendes zu erfahren, sondern in der Reflexion erschautes
Erlebnis.
Ein Gegenstand ist ohne wahrnehmenden Akt des Bewusstseins nicht
denkbar. Deshalb können Gegenstand und Akt nur in ihrer Einheit
verstanden werden64. Die Welt konstituiert sich nach Husserl erst in den
Akten des intentionalen Bewusstseins, sie ist intendierter Gegenstand.
In der phänomenologischen Reflexion ergründet das Bewusstsein den
Sinn
der
Intentionen.
Durch
die
Reflexion
beobachtet
der
Phänomenologe die intentionalen Erlebnisse (vgl. Hua ΙΙΙ/1, 83). Sie ist
die Grundlage für die phänomenologischen Analysen (vgl. ebd., 144).
Dabei wird das Erleben und Wahrnehmen reflektiert, nicht der erlebte
Gegenstand.
Dieser revolutionäre Ansatz, die Denk- bzw. Bewusstseinsakte zum
eigentlichen Gegenstand der Forschung zu machen und damit
64
Schmitz glaubt hingegen eine Scheidung von Objekt und Subjekt beobachten
zu können: Die „Intentionalitätstheorie kann es nicht lassen, Akt und Gegenstand zu
trennen“ (1968, 9). Sie verharre damit in der dualistischen Tradition, die auch unsere
Sprache geprägt hat. Dies könne man u.a. daran erkennen, dass unsere
(indogermanische) Sprache uns zwinge „jedes Geschehen mit Hilfe von Verben im
Aktiv oder Passiv als ein Tun oder Leiden auszugeben, wodurch sich der Unterschied
zwischen Akt und Gegenstand der Wahrnehmung als etwas ganz selbstverständliches
und vom Sprecher jeweils schon Zugegebenes aufzudrängen scheint“ (ebd., 8). Akt und
Gegenstand werden von Husserl in Wahrheit jedoch nur sprachlich getrennt, um so auf
ihre Einheit hinweisen zu können. Unterbliebe dies, könnte man über diese Einheit nur
schweigen.
Phänomenologie
- 114 -
anzuerkennen, dass die Wirklichkeit durch die subjektive Apperzeption
determiniert
wird,
läuft
der
verbreiteten
„schlicht-objektiven
Denkhaltung zuwider“ (Hua XΙX/1, 15). Die Schwierigkeit erwächst
deshalb aus dem Denken in Objekten, dessen Ausdrücke für Erlebnisse
sehr rar sind. Es gebe nur einige mehrdeutige Begriffe, die am Rande des
Gebietes heimisch sind, welches die Sprache benennen kann:
Empfindung, Vorstellung, Wahrnehmung (vgl. ebd., 16).
Phänomenologie
- 115 -
2.4.5 Fruchtbarkeit der Phänomenologie Husserls
Die phänomenologische Wesensschau erschließt Gebiete, die der
kritischen Methode entgehen und die die Wissenschaften übergehen. Sie
tut das, indem sie unmittelbar und ursprünglich von den Intentionalitäten
ausgeht, die unsere Welt konstituieren. Das phänomenologische Schauen
als intuitive Haltung bezieht sich auf den ursprünglichen Bereich, vor
aller Trennung in „Geistiges“ und „Sinnliches“. Damit stellt das
„Schauen des Phänomenologen die ursprünglich gegebene
Einheit wieder her, es heilt den Bruch, der auch noch in
Kants Zweikomponententheorie des durch Raum und Zeit a
priori gebildeten Substrats sinnlicher Anschauung gegenüber
dem unanschaulichen Begriffsmäßigen des Denkens bestehen
geblieben war“ (Redeker, 1993, 54).
Die Phänomenologie bewegt sich somit in einer ursprünglicheren Schicht
unserer Erfahrung als der, wo die kritische Reflektion beginnt. Sie
entzieht sich damit dem analytischen Erkenntnisprinzip, da sie die
Bedingungen eines solchen Ansatzes selbst untersucht. Deshalb kann
Fink sagen, dass die Phänomenologie, anders als der Kritizismus, die
Frage nach dem „Ursprung der Welt“ stellt, dieselbe Frage, die sich auch
Religionen und Metaphysiken stellten (Zit. nach: Lyotard, 1993, 42/43).
Die Suche nach absoluter Gewissheit von Erkenntnis, die Husserls
Hauptziel war, hat wenig zu tun mit dem Fortschritt von Wissenschaft
und Technik. „Ihr Hintergrund ist eher religiöser, als intellektueller
Natur“ (Kolakowski, 1986, 95). Sie ist eigentlich eine Suche nach Sinn,
die in der Tat kultur-stiftend ist. Wissenschaft ist außerstande, uns mit
dieser Art von Sinn und Gewissheit zu versehen.
Der phänomenologische Erkenntnisansatz ist in seinem Versuch, zum
erkenntnistheoretisch Absoluten zu gelangen, gescheitert, wie alle
Versuche, die auf absolute Wahrheit zielten, vor ihm ebenso fehlschlagen
mussten.
Trotzdem
ist
Husserls
Werk,
sein
Anstoß
zum
phänomenologischen Denken, ausgesprochen wertvoll, weil es uns, folgt
man Kolakowski, zwingend mit folgendem „peinlichen Dilemma des
Wissens“ (ebd., 96) konfrontiert:
Phänomenologie
- 116 -
Wollen wir einem konsequenten Empirismus vertrauen, der durchaus
entmutigend, wenig sinngebend und tatsächlich ruinös für die Kultur65
sein
kann,
oder
bevorzugen
wir
einen
transzendentalistischen
Dogmatismus, der letztlich durch nichts bewiesen werden kann und
deshalb ein willkürlicher Entschluss bleibt (vgl. ebd.).
Über diese unbequeme Wahrheit hinaus erscheint die Phänomenologie
als fruchtbare Alternative zur Erkenntnis von Wahrheit, insofern sie das
neuzeitliche spirituelle Vakuum mit ursprünglicheren, wissenschaftlichen
Erkenntnissen
zu
füllen
versucht.
Die
Fruchtbarkeit
der
phänomenologischen Methode nährt sich füglich aus dem Umstand, dass
sie sowohl eine Alternative zum mathematisch-wissenschaftlichen als
auch zu dem spirituell-unwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn anbietet.
In der Dimension der Intentionalität sind das Sinnliche und das
Denkende noch nicht getrennt. Dieses Ursprüngliche ist nicht auf
Mathematisches beschränkt, sondern es umfasst den gesamten Menschen.
Das „Auffassen“ (Apperzipieren) der Phänomenologie regelt eine
Haltung, die „das unentbehrliche Mittel zu einer permanenten Revision
der Grundlagen“ (Plessner. Zit. nach: Redeker, 1993, 56) ist, was dem
offensichtlichen Prozesscharakter der Welt Rechnung trägt. Sie ist ferner
das „Gegengift gegen austrocknende, lähmende Prinzipien“ (ebd.), gegen
rationale Disziplinierung, durch die der Wissenschaft der echte Kontakt
mit dem Untersuchungsgegenstand verloren gehen kann.
Die Erfahrung liegt dem objektiven Denken sicherlich zugrunde, selbst
wenn das Erfahrungsorgan des Menschen, der Leib, schon objektiviert
und gleichsam vergegenständlicht wurde. Die Erinnerung an diesen
Umstand
sieht
Husserl
auch
als
Therapie
gegen
die
Lebensweltvergessenheit (vgl. Aguirre, 1982, 90f.). Deshalb kann er
sagen, dass die wissenschaftliche Objektivität ihre Quellen, die sinnliche
Erfahrung, vergessen hat.
65
Eine Gesellschaft, die ausschließlich aus Skeptikern besteht und keinen Platz
mehr hat für Menschen, die nach Gewissheiten und Sinn streben, wäre in der Tat arm
und erbärmlich. Sie würde in der „Suppe der Nützlichkeit“ (Heinrich Heine) ertrinken
und hätte wahrscheinlich erst gar keine „Kultur“ hervorgebracht.
Phänomenologie
- 117 -
Weil Galilei und seinen Nachfolgern die Verbindung zu den Quellen
verloren ging, aus welchen „die so genannte geometrische Anschauung,
d.h. die mit Idealitäten operierende, allererst ihren Sinn schöpfte“ (Hua
VΙ, 49), komme es zu einer „Unterschiebung“ der mathematischen Welt
des Objektiven hinsichtlich der alltäglichen Lebenswelt (vgl. ebd.). Der
Transfer von Konkretem in abstrakte Größen resultierte schließlich darin,
„für wahres Sein zu nehmen, was eine Methode ist“ (ebd., 52). Die
Naturwissenschaften erkennen nicht, dass die von ihnen gering
geschätzten „bloß sinnlichen Qualitäten“, die konkreten Erfahrungen,
nichts anderes sind als die Grundlage aller Naturwissenschaft. Deshalb
bezeichnet Husserl die Lebenswelt als „vergessenes Sinnesfundament der
Naturwissenschaften“ (ebd., 48). Die sinnliche Welt sei also der Boden
für das objektivierende Tun der Wissenschaft und der Zweck dieses
Tuns. Auch in der wissenschaftlichen Arbeit manifestiert sich also die
menschliche Leistung des Subjekts, weshalb das objektiv-logische
Ergebnis letztlich Teil der subjektiv-relativen Welt ist. Die objektiven
Leistungen strömen gleichsam in die universal-konkrete Lebenswelt ein
(vgl. ebd., 141). Diese konkrete Lebenswelt schließe das ObjektivLogische in sich ein, sie saugt es auf (vgl. Claesges, 1973, 100). Das
bedeutet nicht, dass die Lebenswelt unsere Subjektivität überschreitet,
sondern dass alles in der Welt subjektiv-relativ ist, aber das ObjektivLogische ist es „in einer anderen Weise“ (ebd., 101).
„Der Rückgang auf die so genannten lebensweltlichen
Voraussetzungen auch der Wissenschaft zeigt nur, wie sehr
es der Mensch ist, der die Weltentwürfe alle insgesamt wagt.
Dies vermag die Reflexion aufzudecken. Sie weist dann nach,
dass z.B. auch die in Technik umgearbeitete
wissenschaftliche Weltauffassung auf ganz bestimmten
subjektiven Voraussetzungen beruht“ (Funke, 1966, 155).
Husserls Werk bleibt insbesondere durch seinen Hinweis auf die
Lebensweltvergessenheit der objektiven Wissenschaften fruchtbar. Er
verdeutlicht dadurch die epistemologische Relevanz der subjektiven
Erfahrung.
Phänomenologie
- 118 -
Husserl lehnt die dualistische Sicht des Menschen als res extensa und res
cogitans ab. Es gebe keine zwei getrennten Realitäten, die nur
miteinander verbunden sind. Für ihn ist der Mensch nicht als
„psychophysische Dualität, sondern als komprehensive Leib-Geist
Einheit“ (Bäumer, 1993, 259) zu sehen. Der Mensch, sei
„durch und durch seelenvoller Leib. Jede Bewegung des
Leibes ist seelenvoll, das Kommen und Gehen, das Sitzen
und Stehen, Laufen und Tanzen etc. Ebenso jede menschliche
Leistung, jedes Erzeugnis und so weiter“ (Hua ΙΙΙ/1, 240).
Nach Husserl sei der Leib etwas Drittes, jenseits der Dichotomie von
materiellem Ding und immateriellem Geist. Er repräsentiere die Einheit
des Menschen. Andererseits sei „alle Erkenntnis auf ihre intuitiven
Urquellen im Bewusstsein, in der inneren Erfahrung zurückzuführen und
aus diesen aufzuklären“ (Hua VΙΙ, 144).
Wiewohl
Husserls
Überlegungen
zunächst
von
dem
gleichen
Ansatzpunkt ausgehen wie die Descartes’, befürwortet er im Gegensatz
zu jenem eine Aufwertung der seither als subjektiv verdammten
Erfahrung, plädiert gleichsam für eine Renaissance der leiblichen
Sinnlichkeit, die er als Nährboden für jede objektive Theorie auffasst.
Warum monopolisiert Husserl angesichts dieser Einsicht weiterhin getreu der überkommenen Bewusstseinsphilosophie - das Bewusstsein?
Wäre es an diesem Punkt nicht zwingend notwendig, den Leib und seine
sinnlichen Erkenntnisfunktionen aufs gründlichste zu untersuchen?
Einerseits gebe es keine zwei getrennten Realitäten und die Wirklichkeit
sei demzufolge in der Einheit zu finden, die durch den Leib repräsentiert
wird. Es ist bemerkenswert, dass er sich andererseits der virulenten
Konsequenz seiner Lehre verweigert, indem er fortfährt, nur das „reine
Bewusstsein“ zu untersuchen.
Dieser ostentative Widerspruch lässt den Phänomenologen Husserl als
Hypokrit erscheinen, denn er hält an einem Rationalitätsideal fest, das
cartesianisch anmutet. Er gibt die Idee eines sich selbst vollkommen
transparenten Subjekts nicht auf (vgl. Meyer-Drawe, 1984, 133ff.).
Phänomenologie
- 119 -
Husserls Phänomenologie operiert hauptsächlich mit Kunstgriffen des
Verstandes. Es bleibt dabei merkwürdig im Dunkeln, inwieweit die
rationale Erkenntnisfunktion hinsichtlich bspw. der menschlichen
Selbstbewegung
überhaupt
Erkenntnisfunktionen
ertragreich
werden
im
Rahmen
ist.
der
Die
sinnlichen
Reduktion
nicht
thematisiert und füglich marginalisiert.
So lässt die Forderung nach reiner Bewusstseinsimmanenz verbunden
mit
dem
subjektiv-idealistischen
Element
der
Husserlschen
Phänomenologie diese als paradoxen Versuch erscheinen, eine
theoriefreie Theorie zu schaffen66.
2.4.6 Kritische Betrachtungen
Nach Waldenfels erweckt Husserls phänomenologische Lehre bisweilen
den Eindruck einer distanzierten Beobachtung, einer „Abschirmung von
aller Welt und Gemeinschaft“ (1970, 51). Die sinnlichen Empfindungen,
der natürliche Instinkt würden übergangen und als „Selbstverlorenheit“
diffamiert. Aufgrund der erforderlichen ständigen geistigen Reflexion
kann man bei Husserls Phänomenologie auch wohl tatsächlich nicht von
einer sinnlichen Gegenwartsorientierung sprechen.
Die phänomenologische Reduktion erscheint mitunter recht künstlich,
weil mit der Ausschaltung der Welt ja auch das Ich selbst ausgeschaltet
wird. Husserl räumt hinsichtlich des Vorgehens im Rahmen der
transzendentalen Reduktion ein: „Tue ich so für mich selbst, so bin ich
nicht menschliches Ich“ (Hua ΙX, 274). Das transzendentale Ego ist
letztlich
eine
Erfindung,
ein
gedankliches
Konstrukt,
dessen
Unterscheidung vom psychologischen (weltlichen) Ego nur intelligibel
erscheint, wenn wir es oft genug wiederholen (vgl. Kolakowski, 1986,
52/53). „Aber das ist eine illusorische Intelligibilität“ (ebd., 53). Das
ganze Verfahren der Einklammerung erinnert durchaus an das
66
„Was sie erschaut, hat sie erzeugt, um zu begründen, dass sie schaue. Die im
Namen der Deskription so genannter Sachverhalte oder Vorfindlichkeiten des reinen
Bewusstseins eingeführten Begriffe halten dafür her, im Rahmen der ‚Reduktion’ etwas
wie eine strukturelle Einheit zu ermöglichen“ (Adorno, 1956, 136).
Phänomenologie
- 120 -
mathematische Einklammern und könnte auf die mathematische Prägung
Husserls zurückweisen.
Überdies sei, so Heidegger, das reine Bewusstsein als thematisches Feld
nicht phänomenologisch im Rückgang auf die Sachen selbst, sondern im
Rückgang auf die traditionelle, bewusstseinsphilosophische Idee
Descartes’ entstanden. „Sowohl der Seinscharakter des Bewusstseins als
auch seine Intentionalität bleiben deshalb weiterhin ungeklärt“
(Heidegger, 1988, 147). In dieser Hinsicht folgt die phänomenologische
Idee der Voraussetzungslosigkeit ihrem eigenen Grundsatz nicht, weil sie
das Sein des Bewusstseins als apriori gegeben annimmt und nicht weiter
hinterfragt. „Wesenlos bleiben die Wesen, mit denen der willkürliche
Gedanke des Subjekts dem verödeten Seienden Ontologie einzubilden
sich vermisst“ (Adorno, 1956, 134). Der reale Gegenstand selbst, die
Welt sei, laut Husserl schon da vor aller künstlichen Erzeugung und
Herleitung. „Die ontologische Frage wird einfach vernachlässigt“
(Kolakowski, 1986, 53). Die Gegebenheit des Dinges in der Welt, des
Noematischen, gilt Husserl als gewiss. Das Sein der Welt wird einfach
affirmiert: „Die Welt ist“ (Hua VΙΙΙ, 36). Es komme nur darauf an, die
Wahrnehmung
(Apperzeption)
des
Gegebenen,
die
Noesis,
zu
beleuchten. Da das Gegebene Teil des Subjekts sei, brauche der
Phänomenologe es nicht mehr zu denken, sondern ohne Gefahr des
Irrtums nur noch hinzunehmen. Husserl setzt die erkennbaren Tatsachen
voraus, blendet die Frage nach dem Sein überhaupt aus, um seine
Überlegungen ganz auf die Art und Weise des Erkennens des
Bewusstseins zu konzentrieren. Heidegger griff die bis dahin ungeklärte
Frage nach dem Sein des Daseins, seiner ganzheitlichen Grundstruktur der von ihm so getauften „Sorge“ (Heidegger, 1993, 191f.) - auf und
kritisiert seinen Lehrer, weil er dies versäumt habe: „Vorhandenes! Aber
das menschliche Dasein „ist“ so, dass es, obzwar Seiendes, nie lediglich
vorhanden ist“ (Heidegger. Zit. nach: Hua ΙX, 274, Fußnote 2). Aus
phänomenologischer Sicht kam es Heidegger inkonsequent vor, das Sein
als Gegebenes einfach ungeprüft vorauszusetzen. Dieses „Dogma von der
Urgegebenheit (…) von dem Gegebenen, als absolutem Besitz des
Phänomenologie
- 121 -
Subjekts, bleibt der Fetisch auch des Transzendentalen“ (Adorno, 1956,
145). Adorno sieht hierin sogar eine positivistische Tendenz der
Husserlschen Phänomenologie.
Husserl
übernahm
die
Unterscheidung
zwischen
psychischen
intentionalen Akten und physischen Objekten von Brentano und
konstatierte
ein
transzendentales
Bewusstsein,
das
von
den
Körperobjekten zu unterscheiden sei.
„Die
Unterscheidung
zwischen
den
immanenten
Gegebenheiten und den transzendenten Gegebenheiten, auf
die Husserl die erste Trennung von Bewusstsein und Welt
gründet, ist noch eine weltliche Unterscheidung“ (Lyotard,
1993, 43).
In diesem zentralen Punkt bleibt er der dualistischen Tradition, die
Bewusstsein und Körperobjekt trennt, anscheinend verhaftet und
erschwert dadurch selber das von ihm propagierte unvoreingenommene
Schauen des Wesens der Dinge, welches ja jenseits aller gedanklichen
Trennung existiere. Der mächtige Einfluss des rationalistischen Denkens
veranlasse ihn dazu, gleichsam „neuen Wein in alte Schläuche zu gießen“
(Schmitz, 1980, 7). Das transzendentale Ich ist erst durch eine künstlich
gedachte Abspaltung von der Welt entstanden und soll dann als
Instrument zur Erkenntnis der Welt vor dieser Spaltung fungieren. Auch
wenn Husserl durch seine Phänomenologie den Grundstein für die
Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung gelegt hat, „bleibt er dem
cartesianischen Dualismus von res cogitans und res extensa noch ganz
verpflichtet“ (Becke, 1999, 32).
Diese Trennung am Anfang der Phänomenologie diene dazu, mit dem
durch sie geschaffenen transzendentalen Ich die Einheit der Welt
erkennen zu können. Husserl kritisiert in der Krisis ja auch ausdrücklich
die Physikalisierung durch den cartesianischen Dualismus (vgl. Hua VΙ,
61/62/216f.). In dem von ihm ausgewiesenen transzendentalen
Bewusstsein,
Phänomenologie
- 122 -
„in
dieser
erkennenden
Subjektivität,
diesem
transzendentalen Ich bündeln sich nicht, wie Empiristen
meinen, Vorstellungsatome oder Wahrnehmungspartikel, die
das Bewusstsein von außen treffen und die es passiv und
rezeptiv aufnimmt, um es dann – nach Abgleichung mit
Bildern in seinem Inneren – als Repräsentanten bestimmter
Dinge und Sachen zu identifizieren. Vielmehr stiftet dieses
Bewusstsein dauernd Einheit und Sinn, bevor es eventuell
beginnt das Erkannte und Wahrgenommene zu zergliedern
und zu analysieren“ (Danzer, 1995, 114).
Der sinnliche Leib scheint durch diesen Erkenntniszugang übergangen zu
werden,
weil
sinnliche
Erkenntnisfunktionen
in
Husserls
Phänomenologie nicht hinreichend zur Geltung gebracht werden. Die im
Rahmen der transzendentalen Phänomenologie übergangene Leiblichkeit
wird dadurch deutlich, dass das transzendentale Ego
„niemals sterben zu müssen scheint. Es braucht seinen Leib
allenfalls, wenn es vom Schreibtisch ein paar Schritte tun
muss, um ein Ding von verschiedenen Seiten sehen und so
zugänglicher beschreiben zu können“ (Pöggeler, 1990, 74).
Dennoch erscheint eine phänomenologische Perspektive prinzipiell
außerordentlich wertvoll, das Subjekt im Erkenntnisprozess wieder zu
gewinnen. Allerdings muss eine solche phänomenologische Perspektive
vor allem auch leibliche Erkenntnisfunktionen des Menschen in Betracht
ziehen. Sie ist zwar auch dann noch beschränkt, wie dies eine einzelne
Perspektive notwendig immer sein muss; dennoch scheint sie dem
ganzheitlichen Wesen des Lebendigen weitaus besser Rechung tragen zu
können, zumal es sich bei ihr ja gerade nicht um ein fertiges,
dogmatisches Welterklärungskonzept handelt, sondern um einen
prinzipiell offenen Ansatz. Der phänomenologische Ansatz, der das
Subjekt wieder zu gewinnen versucht, muss zudem selbiges als leiblich
thematisieren.
Es ist Husserls Verdienst, den Weg der Phänomenologie aufgezeigt zu
haben; beim Voranschreiten in die von ihm gewiesene Richtung sind
noch viele fruchtbare Erkenntnisse zu gewinnen. Zwar hat er die
Trennung von Subjekt und Welt überwunden, die cartesianische Spaltung
Phänomenologie
- 123 -
des Subjekts in Verstand und Körper scheint er allerdings beizubehalten.
Von daher hat Husserl den Dualismus nur halb auflösen können.
Schließlich ist es ihm nicht gelungen konsequent zu prüfen, welche Rolle
die Leiblichkeit im Rahmen des phänomenologischen Erkenntnisansatzes
einnimmt. Er gerät gleichsam in den Fallstrick der rationalistischen
Bewusstseinsphilosophie,
die
die
Bedeutung
der
menschlichen
Leiblichkeit nicht hinreichend berücksichtigt. Um diesem Mangel
konstruktiv
begegnen
zu
können
wird
nachfolgend
der
erkenntnistheoretische Rahmen der Phänomenologie ausgedehnt, indem
existenzialistische
Überlegungen
Erkenntnisvermögen eingeführt werden.
hinsichtlich
leiblicher
Phänomenologie
- 124 -
2.5 Überlegungen zu einem weiterführenden Ansatz
Es erscheint folgerichtig als Aufgabe einer Phänomenologie der
Leiblichkeit - die gleichwohl auf Husserls Gedanken aufbaut - die
Erkenntnisquelle des Leibes ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.
Heidegger hat dieses Thema in seinem Hauptwerk Sein und Zeit vertagt
(vgl. 1993, 111/112); bei Merleau-Ponty wird dieser Aspekt hingegen
aufgenommen und ausführlich betrachtet. Er hat zusammen mit Sartre
phänomenologische Analysen des Leibes vorangetrieben und dadurch die
französische Phänomenologie der leibhaften Existenz maßgeblich
geprägt (vgl. Waldenfels, 1992, 53f.). Das heißt, er versteht die
„Leiblichkeit als Angelpunkt der Welt“ (Merleau-Ponty, 1966, 106), als
„Angelpunkt der menschlichen Erkenntnisentwürfe“ (Waldenfels, 1992,
58).
Diese
Erkenntnishaltung
erscheint
geeignet,
dualistische
Denkweisen gleichsam zu unterlaufen, indem der Einheit von Subjekt
und Welt die Einheit von Geist und Leib zur Seite gestellt wird.
2.5.1 Die französische Philosophie der leiblichen Existenz
Wenn man mit ihnen darüber nachdenkt, was der Leib eigentlich sei,
scheint es unerlässlich, auf seine verschiedenen Seinsdimensionen
hinzuweisen, die sich von jenen anderer Naturgegenstände erheblich
unterscheiden, weil diese nicht lebendig sind. Gleichwohl erscheint der
Leib, wie jeder andere Naturgegenstand, immer in Abhängigkeit von
einer
bestimmten
Perspektive,
die
ihn
allererst
definiert.
Die
Gegenstände sind „an Perspektiven gebundene Anblicke“ (MerleauPonty, 1966, 95); so auch der Leib. Vergleichbar etwa mit den Quanten
im subatomaren Bereich ist die Natur des Leibes mehrdeutig. Diese
Ambiguität ergibt sich zweifellos aus den verschiedenen Perspektiven,
die ihm gegenüber eingenommen werden können. Gleichzeitig kann der
Leib nur auf polyperspektivische Weise in seiner ureigenen und realen
Mehrdimensionalität
erkannt
werden.
Man
darf
also
die
eine
Erscheinungsform des Leibes, die durch nur eine perspektivische Ansicht
zum Vorschein kommt, nicht mit seinem gesamten Sein verwechseln.
Phänomenologie
- 125 -
Von einem physikalischen Standpunkt aus erscheint der Leib vor allem
als Gegenstand unter den anderen Objekten in der Welt. Gemäß einer
solchen Außenbetrachtung ist es klar, dass er dann als „lebendiger
Gegenstand“ erscheint, „bestehend aus einem Nervensystem, einem Hirn,
Drüsen, Verdauungs-, Atmungs-, und Kreislauforganen, deren Materie
selbst
chemisch
in
Wasserstoff-,
Kohlenstoff-,
Stickstoff-
und
Phosphoratome usw. analysierbar ist“ (Sartre, 1991, 398). Sartre weist
darauf hin, dass der Leib von dieser Perspektive aus als der „Leib-fürden-Anderen“ (1991, 439) erscheint, als „Leib an sich“ (Merleau-Ponty,
1966, 107). Auch wenn ich meinen eigenen Leib von einer distanzierten
Position aus anblicke, etwa wenn ich meinen verletzten Arm begutachte
oder ihn berühre, erfasse ich ihn zuvorderst als ein
„Stück in der Welt. Zweifellos habe ich selbst bei einer
Röntgenuntersuchung meine Wirbelsäule auf dem Schirm
abgebildet gesehen, aber da war ich eben genau außen, ein
Stück in der Welt. Ich erfasste einen völlig konstruierten
Gegenstand als ein ‚Da’ inmitten von anderen ‚Da’, und nur
durch einen Vernunftschluss setzte ich ihn als meinen: er war
vielmehr bloß mein Eigentum als mein Sein (Hervorheb. im
Original)“ (Sartre, 1991, 399).
Diese Außenperspektive auf den Leib, die ihn als Gegenstand auffasst,
entspricht einer mechanistischen Sichtweise. Die Beschränktheit dieser
Perspektive ist leicht daran zu erkennen, dass sie den Leib auf nur eine
Seinsdimension begrenzt, genauer: dass sie nur eine Art des Leibseins
sieht. „Das Sein, das mir so geoffenbart wird, ist Sein-für-Andere
(Hervorheb. im Original)“ (ebd., 1991, 400). Diese bestimmte
Seinsdimension ist die physikalische.
Die eigentliche Beschränkung wird aber erst dadurch inauguriert, dass
die Erkenntnisse, die aus dieser einzelnen Perspektive stammen, mit
denen, die aus einer polyperspektivischen Hinsicht resultieren würden,
verwechselt werden, wenn also eine Sichtweise verallgemeinert und als
allgemein
gültig
gesetzt
wird.
Dieses
führt
zu
gründlichen
epistemologischen Verwirrungen. Es ist ja nicht zu leugnen, dass der
Leib noch aus anderen Perspektiven betrachtet werden kann, die andere
Seinsdimensionen sichtbar werden lassen.
Phänomenologie
- 126 -
Diese zweite Dimension des Leibes kann nicht von einer äußeren Ansicht
her beschrieben werden, denn es handelt sich bei dieser Seinsdimension
um den Leib, wie er mir selbst erscheint, also wie ich „meinen Leib
existiere“ (Sartre, 1991, 454). Zur Erkenntnis dieser Dimension ist es
notwendig, eine innere Perspektive zu beziehen, die allein mir
Erkenntnisse über meine Empfindungen offenbaren kann, die die
„Faktizität“ des Leibes als „Für-sich-sein“ (ebd., 401) sind.
Das zentrale Problem, insbesondere mit Hinblick auf Selbstbewegung,
die von Innen her initiiert wird, ergibt sich aus dem Umstand, dass die
subjektive Seinsdimension des Leibes, die der objektiven Ebene
konstituierend zugrunde liegt, aus objektiver Perspektive nur schwer
erkannt werden kann. Diese scheinbar unüberwindliche Schwierigkeit
erwächst aus der Tatsache, dass ich nicht in den Anderen hineinsehen
kann, um seine inneren Empfindungen zu kennen, die Grundlage für sein
äußeres Verhalten sind und diesem überhaupt erst einen Sinn geben. Zum
Verständnis der Innenperspektive des Anderen benötige ich also
angemessene
Erkenntnisfunktionen.
Begnügt
man
sich
mit
objektivierenden Erkenntnisansätzen, begeht man den schweren Fehler,
die aktive Selbstbewegung von Subjekten mit dem passiven beweget
werden von Objekten verwechselt.
Die zwei Existenzebenen des Leibes müssen nun ausführlicher
dargestellt
werden,
um
aus
dieser
ontologischen
Betrachtung
epistemologische Anhaltspunkte gewinnen zu können. Die müssen
darauf zielen, das leibliche Erkenntnisvermögen des Subjekts zu
beleuchten.
2.5.2 Mein Leib als Tatsächlichkeit
Eine phänomenologische Betrachtung des Leibes enthüllt ihn gleichzeitig
als lebendigen Gegenstand und als gelebten Leib. Für Andere ist mein
Leib zunächst ein Objekt unter anderen Objekten in der Welt, über die er
selbst prinzipiell verfügen kann. Analog dazu ist der Leib Anderer für
mich zuerst Objekt-für-mich. Er ist dem primären Anschein nach
Werkzeug, „potenzielles Zeug“ (Heidegger, 1993, 131).
Phänomenologie
- 127 -
Für mich ist mein Leib erst sekundär ein „Zeugding“ (ebd.) und
zuvorderst mein gelebter Zugang zur Welt, durch den ich die Objektwelt
allererst erkennen kann. Er ist die lebendige Voraussetzung für mein Sein
zur gegenständlichen Welt, die ich mir erst im Anschluss daran unter
Umständen nutzbar machen kann. Von daher scheint es geboten, den
Leib zunächst in seiner faktischen Dimension des Für-sich-seins zu
betrachten, um überhaupt zu einem Verständnis des Objektleibes zu
gelangen. Sartre weist darauf hin, dass viele Denker bei der
Untersuchung des Leibes von der objektiven Außenperspektive,
gleichsam
von
der
sekundären
Erscheinungsweise
des
Leibes
ausgegangen seien und damit „das Problem völlig auf den Kopf gestellt“
(1991, 462) haben.
Was ist das nun: Mein Leib, der sich der objektiven begrifflichen
Fassung weitgehend entzieht und der sich mir vielmehr durch meine
subjektiven Empfindungen kundtut? Um das Sein zu beschreiben, ist
Heidegger davon ausgegangen, dass der Mensch nicht einfach ist,
sondern zu jeder Zeit bereits in der Welt ist. Dieser Gedanke des „In-derWelt-seins“ beinhaltet die zutreffende Annahme, dass der Mensch und
also sein Leib als „Für-sich-Sein“ immer schon in bedeutungsgeladener
Beziehung zu der Welt an sich stehen. Deshalb kann Sartre sagen:
„Es gibt das nicht: auf der einen Seite ein Für-sich, auf der
anderen Seite eine Welt, sozusagen zwei geschlossene Ganze,
für die man dann die Weise ihres Verbundenseins suchen
müsste“ (1991, 401).
Eine solch überkommene Haltung ist dem cartesianischen Dualismus
entsprungen, „der immer nur bis Zwei zählen kann“ (Mittelstrass, 1991,
13). Sein Blick auf den Menschen spaltet mein faktisches Dasein in einen
„gelebten Leib und einen erkannten Körper“ (Waldenfels, 1992, 58). Das
Sein sei durch den dualistischen Blick „zerrissen“ (ebd.). In Wirklichkeit
vollzieht sich die Einheit von Leib und Seele „von Augenblick zu
Augenblick in der Bewegung der Existenz selbst“ (Merleau-Ponty, 1966,
114). Mein Leib ist genuin nicht nur in der Welt, sondern immer auch
Phänomenologie
- 128 -
schon zur Welt; er trägt sich der Welt in jeder Situation mit all seinen
Möglichkeiten entgegen, um sie zu erfahren.
2.5.2.1 Zur-Welt-sein
Merleau-Ponty hat das leibliche Merkmal des „Zur-Welt-seins“
aufgedeckt und diese Einsicht seinem gesamten Werk aufs Gründlichste
einverleibt.
Sein Hauptinteresse ist dabei auf das Menschliche gerichtet, also nicht
auf bloße Reiz-Reaktions-Mechanismen. Er wird angetrieben von der
Frage nach der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt sowie einem
Faktor, der dem Dualismus von Subjekt und Objekt ein Ende setzt: Die
Natur der Wahrnehmung. Wenn diese wirklich, „konstitutiv von Seiten
des Subjekts und präsentierend von Seiten des Objekt (ist), dann
vermengen sich die beiden – Subjekt und Objekt – darin“
(Konstantinovic, 1973, 148)67. Merleau-Ponty spricht von einer
„horizontalen Verklammerung“ von leiblichem Organismus und Umwelt
im Verhalten (vgl. 1976, 140). Auch Viktor von Weizsäckers
Gestaltkreis beschreibt die Relation von Mensch und Welt als Dialog
zweier gleichberechtigter Partner, als dialektisches Verhältnis (vgl. ebd.,
165)68. Durch situativ variierende Wechselwirkung entstehe ein
ausbalanciertes Verhältnis, ein „biologisches Gleichgewicht“ (ebd.).
Merleau-Pontys Begriff der Dialektik beinhaltet sogar ein noch
weitergehendes Verständnis der Idee der Wechselwirkung, welches
keinen Widerspruch mehr in sich enthalten soll:
67
In ähnlichem Zusammenhang kritisiert Schmitz den Deutungsansatz der
Wahrnehmungspsychologie anhand eines Hegel-Zitats: Ein Akt des Sehens oder Hören
und ein gesehenes Objekt zu unterscheiden scheine zwar „ganz trivial und
selbstverständlich“, doch die Entgegensetzung von Objekt und Subjekt falle in der
Anschauung selbst weg, ihre Verschiedenheit ist nur eine Möglichkeit der Trennung“
(Zit. nach: Schmitz, 1968, 8/35). Gerade beim schlichten, hingegebenen, ungehemmten
Wahrnehmen schwinge der Leib gleichsam mit den Dingen und Themen, womit sich
der Mensch gerade befasst, mit. Der spürbare Leib sei dann gleichsam in das
Wahrgenommene ergossen (vgl. ebd., 45).
68
In dem Gestaltkreis bemerkt Viktor v. Weizsäcker: „ Ich sehe diesen Vogel“
oder „Ich fühle diesen Schmerz“ – in der Aktualität dieser Wahrnehmung ist zunächst
nichts von einer Trennung oder einem Neben- oder Nacheinander von Ich und
Gegenstand enthalten; wenn, dann wären in der Wahrnehmung selbst diese beiden
verbunden und in Begegnung verschmolzen (vgl. 1947, 121).
Phänomenologie
- 129 -
„Dialektik ist nicht ein Verhältnis zwischen einander
widersprechenden und doch voneinander unablöslichen
Gedanken: sondern die Spannung der Existenz auf eine
andere Existenz hin, die sie verneint, und ohne die sie doch
sich selbst nicht aufrechtzuerhalten vermag“ (1966, 200).
Merleau-Ponty beschreibt hiermit eine grundsätzliche Ambivalenz aller
Grundverhältnisse, die auf den relativen Charakter der Welt zurückweist.
Das heißt, das Subjekt-Objekt Verhältnis ist durch instabile, gleichzeitige
und gegenseitige Beeinflussung ausgezeichnet: Es ändert sich in jeder
Situation, es genügt nicht einer zeitlich strukturierten Abfolge, und
Bedingungen führen ebenso zu Ursachen, wie Ursachen zu Bedingen
führen (vgl. ebd., 1976, 147). Es handelt sich dabei um eine totale
Wechselwirkung, in dem Sinne, dass sie situativ, zeitgleich und
wechselseitig ist. Deswegen lässt das Subjekt die Dinge erst durch sein
Sein sein und vice versa.
In Anbetracht dieser Einsicht erscheint die objektivistische Perspektive,
die an alle Phänomene von außen herantritt und bei der Natur an sich
endet, als obsolet. Sie sieht sich einer subjektivistischen Perspektive
reziprok gegenüber, die alle Phänomene von innen her erschließen will
und bei einem reinen Bewusstsein endet.
„Der lebendige Bezug zwischen Bewusstsein und Natur wird
zerrieben zwischen äußerer wissenschaftlicher Explikation
und innerer philosophischer Reflexion“ (Waldenfels, 1983,
149).
Vor dem Hintergrund dieses Umstandes sieht Merleau-Ponty eine
Notwendigkeit, die tradierte Sichtweise zu ändern.
„Man muss Kategorien revidieren, die – solange man an
ihnen festhält – den ständigen Konflikt zwischen dem
positiven Wissen und der Philosophie immer wieder aufleben
lassen und ein reichhaltiges, aber blindes empirisches Wissen
mit einem philosophischen Bewusstsein konfrontieren, das
zwar einen Blick hat für die Eigenart des Menschen, aber
nicht weiß, das es entstanden ist, und vor dem die äußeren
Ereignisse, die es am direktesten angehen, ohne Sinn
bleiben“ (Zit. nach: ebd.).
Phänomenologie
- 130 -
Merleau-Ponty vermutet diesseits von reinem Subjekt und reinem Objekt
eine „dritte Dimension“, in der sich die zwei scheinbar konträren
Komponenten nicht mehr widersprechen. Der Leib eröffne diese dritte
Dimension, diesseits von „reinem Bewusstsein und reiner Natur; diesseits
auch von reflexivem und positivem Wissen“ (Waldenfels, 1983, 149;
1992, 60). Merleau-Ponty fasst die Sinnlichkeit in Form des Leiblichen
als ein Zwischen, als Drittes zwischen Innerem und Äußerem auf,
welches diesen als Ursprüngliches vorausliegt. Dieses Sinnliche sei, so
Merleau-Ponty, nicht durch ein nur denkendes cogito zu erfassen,
sondern eines, das seine Existenz durch sein „Zur-Welt-Sein“ definiert.
„Das wahre cogito definiert die Existenz des Subjekts nicht
durch sein Denken zu existieren (…) Vielmehr lässt es mein
Denken selbst noch als unaufhebliches Faktum erkennen und
schließt jederlei Idealismus aus, indem es mich selbst
entdeckt als ‚Zur-Welt-sein’ (Hervorheb. im Original)“
(Merleau-Ponty, 1966, 10).
Dieser Überzeugung zufolge ist der Mensch eingebunden in die
Umstände der ihn umgebenden und auch maßgeblich beeinflussenden
Umwelt. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Ich und Welt ist vor
allem die Gerichtetheit des Subjekts entscheidend, seine Intentionalität,
die wiederum die Wahrnehmung prägt. Subjektivität zeichnet jeden Leib
allererst aus, noch bevor er überhaupt beschrieben werden kann.
Ausgehend von Heideggers „In-der-Welt-sein“ gelangt Merleau-Ponty so
zu der Vorstellung des „Zur-Welt-seins“. Das bedeutet, man ist in jeder
Situation leiblich auf die Welt gerichtet und handelt stets in der
dargelegten Form der Wechselwirkung mit der Umwelt. Der sinnliche
Leib erscheint aus dieser Perspektive nicht als Instrument, „nicht als
Gegenstand der Welt, sondern als Mittel unserer Kommunikation mit der
Welt“ (Merleau-Ponty, 1966, 117), gleichsam als Schnittstelle zwischen
Subjekt und Objekt. Der Leib ist das Medium meines Zur-Welt-seins.
„Der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt“ (ebd., 464).
Aus dieser Perspektive ist der Leib der gelebte Zugang zur Welt.
Phänomenologie
- 131 -
Das reine Denken ist ohne die leibliche Sinnlichkeit von der realen
Umwelt grundsätzlich isoliert, unfähig sie wahrzunehmen69. Es wird für
seine synthetischen Analysen ständig auf den Leib als Zulieferer
verwiesen. „Was ehemals sich als Dirigent wähnte, der Geist, erscheint
nun als das untergründig dirigierte“ (Schmidt-Millard, 1995, 103/104)70.
Für die Theorie des Erkennens bedeutet dies, dass der Leib aufgewertet
werden muss. Er erscheint weniger als stummer Zulieferer von
Sinnesdaten denn als mundane Repräsentation des der Welt intentional
zugewandten Subjekts, das alles Denken mit verkörpert und für uns
unbemerkt beeinflusst.
2.5.2.2 Präobjektivität
„Mit der Verwandlung des Bewusstseins in eine leibliche Existenz, die
selbst dem zugehört, was sie konstituiert, ändert sich das transzendentale
Gefüge grundlegend“ (Waldenfels, 1992, 59). Das leibliche Verhalten
verteilt sich nicht auf blinde Mechanismen und bewusste Akte, es
antwortet auf den Anspruch einer Situation und ist darin zu Neuem fähig,
das sich geltenden Regeln entzieht. Die
„fungierende Intentionalität ist in der Wahrnehmung stets
schon am Werk. Die Wahrnehmung ist, wie auch der Leib,
ein Grundphänomen, vergleichbar mit der Zeit“ (ebd., 60;
ebd., 2000, 15).
Deswegen ist das Verhältnis des Objektes zum Erkennenden in seinem
Verstehen immer schon mit einbegriffen. Jedes unmittelbare Begreifen
beinhaltet ein Selbstverstehen – vor aller Objektivierung in der Aussage
(vgl. Landgrebe, 1969, 140).
Von diesem Standpunkt aus erscheint der Leib als Medium zur Welt und
zugleich als eine Verankerung in der Welt (vgl. Merleau-Ponty, 1966,
171/176). Für sich genommen ist der Leib weder Ding noch Bewusstsein,
sondern eine unentbehrliche Vorgabe meiner selbst; er ist „mein
Angelpunkt der Welt“ (ebd., 106), Standpunkt und Ausgangspunkt
69
„Begriffe ohne Anschauungen sind leer“ (Kant).
Kant hat zur Veranschaulichung dieser Einsicht die Metapher einer Taube
gezeichnet, die ohne den Luftwiderstand nicht fliegen kann.
70
Phänomenologie
- 132 -
zugleich. Deshalb kann Merleau-Ponty schreiben: „Ich bin selbst mein
Leib“ (1966, 234). Der Leib wird durch seine subjektive Wahrnehmung
zu dem „Organ einer ursprünglichen Sinnbildung“ (Waldenfels, 1983,
168). Er prägt meine Selbsterfahrung grund-legend.
Die Sinneswahrnehmung ist als ein Prozess zu begreifen, der noch vor
der begrifflichen Verarbeitung stattfindet, sie ist vorprädikativ. Deshalb
kann ich auch den Prozess des Sehens oder Fühlens nicht erkennen. „Ich
kann nicht probeweise meinen Leib verlassen, damit ich ihn als meine
Wohnung überseh’. Ich kann mein Bild nicht auf dem Spiegel fassen,
auch dort nicht lassen, wenn ich geh’“ (Schulte, 1979, 8). Ich kann
sehend Objekte erkennen und auch mein Auge mithilfe eines Spiegels als
Objekt betrachten, aber keinesfalls kann ich das Sehen sehen. Sartre
zitiert hierzu Comte: „Das Auge kann sich selbst nicht sehen“ (1991,
413), weil das augenblickliche Sehen immer schon vergangen ist, sobald
ich darüber nachsinne. Gleiches gilt für meinen gesamten Leib: Er ist das
ständig „Überschrittene“ (ebd., 425) und entwirft sich unaufhörlich in
Beziehung zur Welt; er trägt sich ihr entgegen. Ich überschreite meinen
Leib in der stets schon vergangenen Gegenwart auf die Welt hin, die
dadurch für mich ist. Das heißt, ich „überschreite die Welt und lasse sie
im Überschritt über sie für mich sein“ (ebd., 426).
Merleau-Ponty bezeichnet das „Zur-Welt-sein“ als „präobjektive Sicht“
(1966, 104), insofern sich der Leib schon vor einem etwaigen objektiven
Denkvorgang anschickt, den Dingen zu begegnen, die sich zu jedem
Zeitpunkt fragend an ihn wenden. „Wesensnotwendig geht die
Wahrnehmung über sich selbst hinaus auf das Handeln zu“ (Sartre, 1991,
420). Sie kann sich überhaupt nur durch Handlungsentwürfe enthüllen.
„Der Intellekt ist sekundärer Natur“ (Schopenhauer, 1966, 847). Aus der
präobjektiven Sicht des Zur-Welt-seins sind alle Erkenntnisse der
Wissenschaften nur Erfahrungen aus zweiter Hand. Sartre spricht in
diesem Zusammenhang von einem „präreflexiven Bewusstsein“ (1991,
413). Vor aller objektiven und wissenschaftlichen Festlegung bin ich
immer schon zur Welt durch das Vehikel meines Leibes (vgl. Merleau-
Phänomenologie
- 133 -
Ponty, 1966, 106). Dies ist das wesentliche Merkmal der leiblichen
Existenzebene des Für-sich-seins, meines tatsächlichen Leibes.
Eine objektiv-wissenschaftliche Sicht auf den Leib entspricht hingegen
der Perspektive, die ich dem Leib eines Anderen bzw. er meinem Leib
gegenüber hat. In diesem Fall sehe ich den fremden Leib zunächst als
Objekt, das sich mir zeigt und das mir potenziell zuhanden ist. Die
Dimension des Für-sich-seins des Anderen erscheint mir dabei nur auf
sublime und mittelbare Weise. Dennoch ist es für das Verstehen des
Anderen unverzichtbar, das Augenmerk auf sein aktuelles Für-sich-sein
zu richten, das seine Handlungen allererst mit Sinn und Bedeutung
ausstattet.
2.5.3
Der Leib-für-Andere
Auf mechanistischem Standpunkt erscheint der Leib in seiner zweiten
Dimension: Als physikalisches Naturobjekt an sich. Von hier aus
betrachte ich daher den „Leib (…) als einen unter den Gegenständen
dieser Welt“ (Merleau-Ponty, 1966, 95). Ich muss mich meiner
perspektivischen Erfahrung nicht widersetzen, um den Leib eines
Anderen als Objekt zwischen anderen Objekten in der Welt aufzufassen,
denn das subjektive Für-sich-sein seines Leibes erscheint mir ja ohnehin
nur untergründig. Von außen trete ich also an die Gegenstände heran. In
Ermangelung einer Einsicht in die subjektiven Empfindungen des
Anderen sehe ich seinen Leib bald nicht mehr als einmalig und
persönlich, sondern als verallgemeinerbar. Korrespondierend sehe ich ihn
nicht länger aus meiner Perspektive, sondern von überall her –
„objektiv“. Auf diese Weise wird der Leib allgemeingültig gesetzt. Diese
Setzung eines Gegenstandes überschreitet die perzeptive Erfahrung und
ist prinzipiell nur möglich durch einen „polythetischen Akt“ (ebd.), der
dem Einzelnen nicht verfügbar ist. Deshalb wird ein Gegenstand als
Phänomenologie
- 134 -
identisch für jedermann, für alle Zeit und jeden Ort angenommen: Der
Gegenstand als Objekt71.
Die Idee eines Gegenstandes, als Substitution des eigentlichen
Gegenstandes, bildet eine objektive Welt, in der von der Erfahrung zur
Idee übergegangen werden muss (vgl. Merleau-Ponty, 1966, 96). Durch
das objektive Denken verlieren wir füglich jeden Kontakt mit der
perzeptiven Erfahrung. Deswegen schreibt Merleau-Ponty: „Die absolute
Setzung eines Gegenstandes ist der Tod des Bewusstseins, da sie (…)
alle Erfahrung erstarren lässt“ (ebd.). Diese Setzung ist bereits sekundär
und keine uroriginale Erfahrung mehr, weil der aktuell erfahrende Leib
aus der Betrachtung ausgegrenzt bleibt. Die der Betrachtung zugrunde
liegende Erfahrung wird überhaupt nicht mehr beachtet. Der erlebende
Leib wird dann von außen betrachtet, als Objekt, das Stück der
gegenständlichen Welt ist. Diese Objektivierung setzt ein getrenntes Sein
von verschiedenen Leibesdimensionen voraus, nämlich das Für-sich-sein,
also das Empfinden und Wahrnehmen meines eigenen Leibes, und das
An-sich-sein, also den physiologischen Körper. Aufgrund dieser
gedanklichen Trennung der zwei Ebenen kommt es zu einer verzerrten
Erkenntnis des Leibes, den ich ja nur verstehen kann, „indem ich selbst
dieser einer Welt sich zuwendende Leib bin“ (ebd., 99). Und zwar bin
ich, und auch jeder Andere, in Wirklichkeit zuallererst dieser gelebte
Leib. Erst aus objektivierender Sicht reduziere ich den Leib zum
physikalischen Körpergegenstand. Solche „Beschneidung“ geschieht phänomenologisch gesehen - a posteriori.
Diese Ordnung schlägt auch Sartre in seiner Leibanthropologie vor, wenn
er zunächst den „Leib als Für-sich-Sein“ (1991, 401f.) analysiert und erst
danach auf den „Leib für-den-Anderen“ (ebd., 439f.) eingeht. Dabei
betont er, dass diese zwei Aspekte des Leibes keinesfalls tatsächlich
voneinander getrennt seien, sondern dass sie höchstens zu analytischen
71
„Auch das bin ich: Auf der anderen Seite Objekt, tot“ (Schulte, 1979, 13).
Phänomenologie
- 135 -
Zwecken vorübergehend geteilt beleuchtet werden können; sie „sind
streng untrennbar voneinander“ (ebd., 454). In Analogie zu Sartres
Gedanken des zweidimensionalen Leibes weist Merleau-Ponty auf eine
ihm entstammende „Zweideutigkeit des Wissens“ hin, die darauf
zurückzuführen sei, dass „unser Leib in sich gleichsam zwei
unterschiedliche Schichten trägt, die des habituellen und die des
aktuellen Leibes“ (1966, 107; vgl. Waldenfels, 2000, 181f.). Die Zwei
Seinsdimensionen werden an folgendem Beispiel genauer erörtert.
2.5.4 Phantomglied
Man kann sogar seinem eigenen Leib gegenüber eine objektive Position
beziehen, obwohl diese immer sekundär und also dem gelebten Leib
nachgeordnet bleibt. Man sieht diesen dann in jener Weise, in der man
den Leib des Anderen erblickt. Durch eine gedankliche Distanzierung
betrachte ich meinen Leib dann als Gegenstand.
Um zu veranschaulichen, dass ich auch meinem eigenen Leib gegenüber
zwei Perspektiven einzunehmen imstande bin, zieht Merleau-Ponty das
Phänomen des Phantomgliedes heran. Dieser Begriff bezeichnet ein
amputiertes mithin fehlendes Glied, in dem beispielsweise Kriegs- oder
Verkehrsverletzte bisweilen immer noch Schmerzen empfinden. Die
Betroffenen sehen ihren Leib dabei, offenbar durch die Macht der
Gewohnheit, weiterhin als voll funktionsfähigen Mechanismus, der
allerdings nur noch einer allgemeingültigen und unpersönlichen
Vorstellung entspringt. Sie tun dies, weil eine gewohnte (habituelle)
Auffassung des Leibes, gleichsam die objektivierte und allgemeingültige
Idee eines vollständigen Leibes, die psychische Vorstellung, ja sogar die
physiologische Wahrnehmung affiziert.
Von diesem äußeren Standpunkt aus sollte das amputierte Glied, zum
Beispiel der Arm, noch da und verfügbar sein, denn er war zu einem Arm
geworden, über den man verfügen kann, zu einem Arm an sich. Der
aktuelle, empfindende Leib, mit dem ich mich jetzt der Welt zuwende
und der jetzt meines Armes verlustig ist, wird aus dieser habituellen
Sichtweise nur marginal erfasst. Immerhin weiß der Betroffene ja, dass
Phänomenologie
- 136 -
der Arm fehlt (vgl. Plügge, 1967, 61f.). Trotzdem pocht der habituelle
Leib auf sein Recht und verweist mich auf die objektive Perspektive des
Anderen, die ich daraufhin meinem eigenen Leib gegenüber latent aber
realiter einnehme. Nicht der gegenwärtige und höchst reale Leib, sondern
der objektivierte Leib wird durch die ihm entsprechende Perspektive und
der Wirklichkeit zum Trotz ins Recht gesetzt. Der Betroffene befinde
sich somit in einer „Scholastik der Existenz“ (Merleau-Ponty, 1966,
108), in dem Sinne, dass er weiterlebe, ohne auf die Gegenwart mit ihren
neuen Anforderungen zu reagieren.
Für Merleau-Ponty wird das Phänomen des Phantomgliedes erst aus der
Sicht des Zur-Welt-seins verständlich: Der Betroffene wendet sich
habituell der gewohnten Welt zu, obwohl er, seines Gliedes beraubt,
unfähig ist, mit diesem zu hantieren (vgl. ebd., 106). Anscheinend ist das
„Hantierbare für mich“ zu einem „Hantierbaren an sich“ (ebd., 107)
geworden. Und ebenso ist mein subjektiv erlebender Leib gleichviel
objektiver und unpersönlicher Leib, der erlebt wird.
Auch Schmitz legt am Beispiel des Phantomgliedes dar, dass das
„eigenleibliche Spüren“, als Korrelat zu Merleau-Pontys „Für-michsein“, nicht identisch ist mit Organempfindungen, „d.h. Manifestationen
von Zuständen sicht- und tastbarer Körperteile im Bewusstsein“
(Schmitz, 1968, 88/89), die Merleau-Pontys Terminus des „An-sichseins“ entsprechen. Nur den Ort haben die gespürten „Leibesinseln“ mit
den materialen Körperteilen meist - mit Ausnahme des Phantomgliedes gemeinsam (vgl. Schmitz, 1968, 89)72.
Das inkongruente Verhältnis zwischen gegenwärtiger und objektiver
Erfahrung verweist auf die Unmöglichkeit, meinen gelebten Leib von
dem Leib als allgemeinem Körperding zu trennen.
72
Schopenhauer sieht in dem Phänomen des Phantomgliedes einen Beweis
dafür, dass es sich bei der Erkenntnis, auch des eigenen Leibes, allererst um ein
Gehirnphänomen handele; dass der eigentliche Ort (Hervorheb. des Verfassers) der
Wahrnehmung im Gehirn liegt. Die „auf der gänzlichen Intellektualität der
Anschauung beruhende scheinbare Unmittelbarkeit derselben“ habe „ein Analogon an
der Art, wie wir die Teile unseres eigenen Leibes empfinden“ (ebd., 1966, 607). „Daher
fühlt endlich der, der ein Glied verloren hat, doch noch bisweilen Schmerz in
demselben, weil die zum Gehirn gehenden Nerven noch da sind“ (ebd.).
Phänomenologie
- 137 -
„Das Verständnis des Phantomgliedes setzt also eine Theorie
des Leibes voraus, die den oben skizzierten Dualismus73
sprengt und dem leiblichen Leben seine Welthaftigkeit, seine
Selbst- und Fremdbezüglichkeit zurückgibt“ (Waldenfels,
2000, 30).
Das Phänomen des Phantomgliedes ist überdies aufschlussreich, weil es
zeigt, dass die subjektive und die objektive Sichtweise auf den Leib je ein
konkretes Pendant zu den zwei Existenzebenen - Für-sich-sein und Ansich-sein - sind, die in diesem Ausnahmefall gleichzeitig erscheinen.
Plessner spricht in diesem Kontext von „Leibhaben und Leibsein“ (In:
Meyer-Drawe, 1996, 179). Dies ist als Beleg dafür aufzufassen, dass die
zwei Seinsdimensionen des Leibes in Wahrheit eins sind und dass ihre
Trennung, wie der dualistische Gedanke überhaupt, nur ein illusionärer
Ausfluss des menschlichen Geistes ist.
Die Betrachtung eines isolierten Organs oder Körpergliedes, die die
bedeutungsvolle Interaktion von Leib und Welt ignoriert, kann nicht zu
einem Verständnis des lebendigen Leibes gelangen, weil sie von einem
bewegungslosen und nicht-handelnden Objekt ausgeht; von einem
„Leichnam“ (Sartre, 1991, 445), der zu allen übrigen Objekten lediglich
in „Äußerlichkeitsbeziehungen“ (ebd.) steht. Der Leib des Anderen ist
ganz anders als die übrigen leblosen Objekte, die ich in der Welt
wahrnehme, weil seine Handlungen bedeutungsvoll auf die Dinge der
Welt gerichtet sind und nur in diesem Bedeutungszusammenhang
erkennbar werden. Dadurch, dass die Physiologie und die Biologie den
Leib
als
„morphologisch
determiniertes
und
reguliertes
Funktionssubstrat“ (Plügge, 1967, 35) begreifen, wird der leibliche Reiz
„nicht in seiner Bedeutung, sondern in seinen physikalischen
Bestimmungen definiert. Dadurch kommt es zu einer Isolierung des
Organismus von allem ihm welthaft Begegnenden“ (ebd.). Die
Erkenntnisse, die anhand eines Leichnams gewonnen werden, können
73
Waldenfels hält Descartes’ Erklärung des Phantomgliedes, die dieser in der
seiner vierten Meditation vorstellt, für „einfach“ (2000, 25), da das Phänomen dort auf
eine schlichte „Wahrnehmungstäuschung“ zurückgeführt werde und damit vollständig
„im Dunklen“ (ebd.) bleibe.
Phänomenologie
- 138 -
aber nicht einfach auf den lebendig sich bewegenden Menschen
übertragen werden, weil das bedeutungstragende Element der lebendigen
Selbstbewegung bei einem toten Körper fehlt.
„Der Körper für Andere, den ich wahrnehme, verweist also
auf den Lebenszusammenhang im Sinne einer individuell
vollzogenen spontanen Überschreitung der Faktizität des Fürsich. Deshalb ist es auch nicht möglich, ein Körperteil isoliert
wahrzunehmen, ohne zugleich den Lebenszusammenhang
aufzuheben“ (Schmidt-Millard, 1995, 146).
Der anatomische Aufbau des Körpers ist auf diese Weise wohl zu
erkennen, die Bedeutung der Bewegungen des Leibes hingegen niemals.
Sartre nennt dafür zwei aufschlussreiche Beispiele: Wir nehmen einen
gebrochenen Arm, der deformiert an dem Leib herunterhängt, als
beunruhigend und „schauderhaft“ (1991, 448) wahr, weil er aussieht, als
gehöre er nicht zum Leib. Die flüchtige Wahrnehmung einer Hand, die
sich scheinbar selbständig bewegt und wie eine Spinne krabbelt,
erscheine ebenso „desintegriert“ (ebd.) weil sie zunächst nicht als
bedeutungsvolles Element des lebendigen Leibes erkannt wird, das sie
ist. Die von den sinngeladenen und allererst definierenden Situationen
losgelösten Bestandteile des Leibes können keinen Aufschluss geben
über sein tatsächliches Wesen. Eine Erkenntnis des mehrdimensionalen
Leibes ist auf diesem Standpunkt ausgeschlossen.
Der Andere ist nicht bloß Körperobjekt und dementsprechend nicht
genau wie die anderen Objekte der Welt wahrnehmbar. Der Leib des
Anderen darf nicht mit seiner Gegenständlichkeit verwechselt werden.
Sein Leib ist ureigentlich sein Bezugszentrum zur Welt und für ihn erst
danach ein Gegenstand in der Welt. Deshalb kann Sartre sagen, dass der
Leib des Anderen vollkommen anders als die anderen Körperobjekte
wahrgenommen werde (vgl. 1991, 448). Den Anderen wahrnehmen heißt
„sich durch die Welt sagen lassen was er ist“ (ebd.).
Dies wird umso einleuchtender, als dass der Leib des Anderen immer in
Bedeutungszusammenhänge involviert ist, durch die er allererst definiert
wird. Von daher ist der Leib des Anderen, im Gegensatz zu einem
Phänomenologie
- 139 -
Leichnam, bedeutungs-tragend. „Ein Leib ist Leib, insofern sich diese
Fleischmasse, die er ist, durch den Tisch, den er betrachtet (…) definiert“
(Sartre, 1991, 446). Füglich kann der Leib nicht erscheinen, „ohne mit
der Gesamtheit des Seienden in Bedeutungsbeziehungen zu stehen“
(ebd.). Er ist „transzendierte Transzendenz“ (ebd., 448), weil ich das Fürsich-sein eines Anderen, indem ich ihn wahrnehme, immer schon mit
begreife, weil seine Handlungen sonst überhaupt keinen Sinn für mich
ergeben würden.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Leib als Gegenstand, als „Leibfür-den-Anderen“ (Sartre, 1991, 439), mehr als nur objektivierter Körper
ist,
insofern
sein
Wahrgenommenwerden
immer
schon
einen
„interpretativen Akt“ (Schmidt-Millard, 1995, 139) und also Verstehen
einschließt. „Verstehen des wahrgenommenen menschlichen Körpers ist
aber in eins die Anerkennung des Anderen als Für-sich-sein, d.h.
Freiheit“ (ebd.). Das vollständige Erkennen des Anderen gleicht jedoch
einem gordischen Knoten, weil man sich nicht wirklich in einen Anderen
„hineinversetzen“ kann. Man sieht im Gegenteil den Leib des Anderen
zunächst immer als Objekt, als Widerstand, als Zeug, das mir zuhanden
ist (vgl. Heidegger, 1993, 67-72). „Zunächst existiert der Andere für
mich, und erst dann erfasse ich ihn in seinem Leib; der Leib des Anderen
ist für mich eine sekundäre Struktur“ (Sartre, 1991, 440). Von hier aus
wird es verständlich, wenn Sartre schreibt: „Ich taste dein Gesicht, nicht
deinen
Blick“
(ebd.,
358).
Merleau-Ponty
bemerkt
in
diesem
Zusammenhang, dass der Andere „unmittelbar mich selbst auf den
Zustand eines Objektes für ihn reduziert“ (1966, 131/132, Fußnote 18).
Bei der Betrachtung des Phänomens Phantomglied zeigt sich, dass
habituelle und aktuelle Perspektiven auf meinen Leib möglich sind. Die
erschließen
offenbar
korrelierende
Seinsdimensionen
desselben.
Interessant ist, dass die habituelle Perspektive, die objektiviert,
anscheinend durch die pure Macht der Gewohnheit, Dinge „sieht“, die
überhaupt nicht mehr da sind. Dies verweist nachdrücklich auf die
Phänomenologie
- 140 -
Notwendigkeit, seinen Blickwinkel fortwährend zu prüfen, um Defiziten
in der Erkenntnis vorzubeugen.
Zur Verfestigung und Komplettierung der gewonnen Einsichten über die
zwei Existenzdimensionen des Leibes muss nun ihr Verhältnis erörtert
werden - zumal sonst der Eindruck entsteht, Innen und Außen würden als
voneinander getrennt begriffen.
2.5.5 Ambiguität des Leibes
Der Leib ist sowohl ein gegenständlicher Teil der Welt (Objekt), als auch
Teil und Bedingung des subjektiven Bewusstseins (Subjekt). Er ist
sowohl Körperding, ein Teil von mir, als auch ich selbst, der dieses Ding
ansehen kann. Der Leib ist als Ding ebenso konstituiert, wie die übrigen
Dinge der Welt. Doch überdies ist er auch selbst konstituierend (vgl.
Thiele. In: Bette 1993, 107).
Aus phänomenologischer Sicht ist er vor allem eines: Mein Leib. Als
konstituiert-konstituierendes Phänomen erschließt er meinen Zugang zur
Welt; ist Medium meines Zur-Welt-Seins und dadurch die Bedingung der
Möglichkeit für meinen Zugang zur Welt. Der Mensch-Welt Bezug
besitzt in der Leiblichkeit eine entscheidende Nahtstelle. Von hier aus
„wird man bald dessen inne, dass, was wir normalerweise
schlechthin als die Welt erfahren, einen Weltsinn bezeichnet,
der an der Voraussetzung der normalen Leiblichkeit hängt
und ihrem normalen Funktionieren“ (Hua ΙX, 199).
Dem Leib kommt aus transzendentalphänomenologischer Sicht eine
zentrale Bedeutung zu, weil er das Bewusstsein mit konstituiert; aus
weltlicher Sicht ist der Leib interessant für die Phänomenologie, weil er
als durch das Bewusstsein konstituiertes Ding erscheint, wie auch die
anderen Dinge der Außenwelt.
„Wenn meine rechte Hand meine linke berührt, empfinde ich
sie als eine physische Sache, aber im selben Augenblick tritt,
wenn ich will, ein außerordentliches Ereignis ein: auch meine
linke Hand beginnt meine rechte zu empfinden, sie wird Leib,
sie empfindet. Die physische Sache belebt sich – oder
genauer: sie bleibt, was sie war (…) Ich berühre sie also
Phänomenologie
- 141 -
berührend, mein Körper vollzieht eine Art Reflexion!“74
(Merleau-Ponty, 1984, 52)75.
Die so genannten Doppelempfindungen unterstreichen die Ambiguität
des Leibes. Es sei eine „Kuriosität unserer Konstitution“, dass es uns
möglich ist, „in bestimmten, wohl definierten Fällen unserem Leib
gegenüber den Standpunkt des Anderen einnehmen (zu) können“ (Sartre,
1991, 462). Ich nehme meinen eigenen Leib als Gegenstand wahr, wenn
mein Bewusstsein in ein distanzierendes, verdinglichendes Verhältnis zu
meinem eigenen Körper tritt:
„Die junge Frau gibt ihre Hand preis, aber sie merkt nicht,
dass sie sie preisgibt. Sie merkt es nicht, weil es sich zufällig
so fügt, dass sie in diesem Augenblick ganz Geist ist. Sie (…)
spricht vom Leben, von ihrem Leben, sie zeigt sich unter
ihrem wesentlichen Aspekt: eine Person, ein Bewusstsein.
Und inzwischen ist die Scheidung von Körper und Seele
vollbracht; die Hand ruht inert zwischen den warmen Händen
ihres Partners: weder zustimmend noch widerstrebend – ein
Ding“ (Sartre. Zit. nach : Schmidt-Millard, 1995, 55).
Schmidt-Millard weist anhand dieses Zitates darauf hin, dass der
Instrumentalisierung des Körpers zum Gegenstand, zum Mittel des
Erreichens von (mitunter externen) Vorgaben, eine Selbsttäuschung
vorausgeht. Dies insofern sich das Bewusstsein als absolut frei setzt und
über den Körper wie über ein passives Ding verfügt (vgl. 1995, 55/56).
Sartre meint in diesem Zusammenhang eine Flucht in die Innerlichkeit,
die den Körper in einen Gegenstand verwandele (Zit. nach: ebd., 57).
Dies scheint auch die Haltung der Wissenschaft zu sein, die
Erkenntnisfunktionen des Leibes-für-sich aufgrund ihrer angeblichen
Subjektivität als unwissenschaftlich ablehnt und also unterschlägt. Sich
74
Die Worte „eine Art Reflexion“ hat Merleau-Ponty anscheinend von Husserl
(Hua Ι, 128) übernommen. Sie kommen allerdings nur in der französischen Übersetzung
von Husserls Werk (auf Seite 81) vor (vgl. Merleau-Ponty, 1966, 118).
75
Buytendijk berichtet, dass auch ein „Tier – wie der Mensch – den Unterschied
des Berührens und Berührtwerdens bemerkt (…) Ein Beispiel: Berührt man eine
vordere Armspitze (des geblendeten Tintenfisches) mit einem Glasstab, dann wird der
Arm zurückgezogen. Berührt das Tier durch seine Selbstbewegung den Stab, so erfolgt
kein Zurückziehen, sondern ein Abtasten mit einem oder mehreren Armen“ (1958, 43).
Beim Tier wie auch beim Menschen ist die Bedeutung eines Reizes stets
situationsabhängig; überdies wird die Fähigkeit, die zwei Leibdimensionen
wahrzunehmen, bestätigt.
Phänomenologie
- 142 -
dieser Subjektivität zu entledigen, heißt aber immer, die primäre
Existenzebene des Menschen übersehen. Hier liegt die Hauptschwäche
aller objektivierenden Wissenschaft.
Trotz der bemerkenswerten Fähigkeit zum Perspektivwechsel ist die
Bewegung des Leibes keinesfalls ausschließlich auf kausale Verhältnisse
zurückzuführen. Die erste Seinsebene des Für-sich-seins verschwindet
also nicht einfach, indem ich in ein distanziertes Verhältnis zu meinem
Leib trete und so seine Objektseite aktuell werden lasse. Mein Wille und
also meine Intention sind auch jetzt noch gegenwärtig. Sie sind
gleichzeitig mit der Körperhandlung in der Situation wirksam.
Keineswegs ist also der unmittelbare
„Willensakt ein von der Aktion des Leibes Verschiedenes
und beide durch das Band der Kausalität verknüpft, sondern
beide sind eins und unteilbar. Sie sind zugleich. Sie sind ein
und dasselbe, auf doppelte Weise wahrgenommen“
(Schopenhauer, 1966, 617).
Deshalb weist auch Landgrebe auf „die unlösbare Zusammengehörigkeit
von Empfinden und spontaner kinästhetischer Bewegung“ (1969, 135)
hin.
Nur
die
Vorausannahme
von
allgegenwärtigen
Kausalzusammenhängen veranlasst uns zu glauben, Inneres und Äußeres
seien zwei voneinander geschiedene Gegenstände. In Wirklichkeit ist
das,
was
sich
der
inneren
Wahrnehmung
als
„Willensakt“
(Schopenhauer), bzw. „Empfindung“ (Landgrebe) kundgibt, zeitgleich
das, was sich der äußeren Anschauung, „in welcher der Leib objektiv
dasteht, sofort als Aktion desselben“ (Schopenhauer, 1966, 617) darstellt.
Empfindung und Bewegung stehen also nicht in kausaler und notwendig
getrennter, sondern vielmehr in gleichzeitiger und daher einheitlicher
Relation76. Deshalb „lassen sich ‚Empfindung’ und ‚Handeln’ gar nicht
voneinander unterscheiden“ (Sartre, 1991, 418); sie „haben sich vereinigt
und machen nur noch eins aus“ (ebd., 424). In nämlichem Verhältnis
stehen der wahrnehmende und der wahrgenommene Leib. Der Leib-für-
76
Für die Sportwissenschaft hat Marlovits (2001) eine phänomenologische
Analyse der Einheit von Empfinden und Sich-Bewegen in Anlehnung an das
ausgezeichnete Werk von Straus (1956) vorgelegt.
Phänomenologie
- 143 -
sich und der Leib-für-Andere sind eins, sie werden nur gleichzeitig
doppelt wahrgenommen.
Ich existiere für mich auch „als vom Anderen als Leib Erkannter“
(Sartre, 1991, 454). Dies sei die „dritte ontologische Dimension“ (ebd.)
des Leibes, die insofern aufschlussreich ist, als dass sie beide bisher
dargestellten und scheinbar konfligierenden Seinsebenen zu einer je
aktuellen
Konfluenz
führt.
Schließlich
ist
der
Leib,
dessen
Selbstbewegung ich in den Sportwissenschaften erkennen will, sowohl
der einer individuellen Person, die Absichten und Gefühle in ihre
Bewegungshandlungen einbringt, als auch der mir erscheinende äußere
Leib, der aber nicht bloß Gegenstand ist, sondern ein Gegenstand, der
seine ganze Bedeutung sowie seine Identität durch sein persönliches Fürsich-sein überhaupt erst erfährt. Und zwar ist er all dies gleichzeitig und
genuin.
Die ganze Unterteilung, die bis hierhin vorgenommen wurde und die
auch Sartre in ähnlicher Form vorgetragen hat, entspricht insofern nicht
der Realität, als das realiter nichts je getrennt vorkommt77. Wir können
bei der gedanklichen Analyse nur nicht ohne intellektuell anschauliche
Unterteilungen auskommen. Dies weist zurück auf die Beschränktheit der
rationalen Erkenntnisfähigkeit78. In Wahrheit ist der Leib immer seine
dritte ontologische Dimension. Er ist immer alles Gesagte auf einmal,
gleichzeitig und gegenwärtig.
77
Hier liegt sicher auch der Ansatzpunkt von Waldenfels Kritik, wenn dieser
Sartre Ontologie als „dualistisch“ (1983, 82) bezeichnet.
78
„Man hat die Vernunft des Menschen als eine abgetrennte Kraft in die Seele
hineingedacht, die den Menschen als eine Zugabe vor allen Tieren zu eigen geworden –
das ist freilich, es mögen es so große Philosophen sagen, als da wollen, philosophischer
Unsinn. Alle einzelnen Kräfte unserer und der Tierseelen sind nichts als metaphysische
Abstraktionen, Wirkungen. Sie werden abgeleitet, weil sie von unserem schwachen
Geiste nicht auf einmal betrachtet werden konnten; sie stehen in Kapiteln, nicht weil sie
so kapitelweise in der Natur wirken, sondern weil ein Lehrbuch sie so am besten
entwickelt. Überall aber wirkt die ganze Seele“ (Herder: Über den Ursprung der
Sprache. Preisschrift. 1770). Eine derartige theoretische Abgrenzung dient immer nur
„der Identifikation von grundlegenden Absichten“ (Schmidt-Millard, 1995, 102). Die
unterschiedlichen Dimensionen treten niemals isoliert auf (vgl. ebd.).
Phänomenologie
- 144 -
Die gebotene Sichtweise auf den Leib oszilliert zwischen zwei
Extrempunkten: Den Werkzeugkörper (Leib an sich) und den pathischen
Leib (Leib für sich), die nicht in ein dualistisches Schema des EntwederOder gehören, sondern zuvorderst nur Anhaltspunkte für die gedankliche
Einordnung anzeigen. Das heißt, der Mensch ist nicht die Dualität nur
dieser zwei Dimensionen sowie der ihnen zugehörigen Perspektiven,
sondern er bewegt sich immer irgendwo zwischen diesen zwei
Polaritäten, die füglich durchweg dialektisch aufzufassen sind.
Dabei kann der Leib durchaus instrumentelle Funktionen ausfüllen.
Dennoch darf er nicht auf diese Werkzeugfunktion reduziert werden. Er
muss immer auch als bedeutungsvoll agierender Mittler zwischen Ich und
Umwelt gesehen werden, um in seinem ganzen Wesen zutreffend erkannt
werden zu können. „So ist die Bewegung als Medium des Verhaltens
auch Mittler zwischen Geist und Natur“ (Buytendijk, 1963, 5). Es wäre
absurd, die mechanisch-physiologischen Vorgänge und Abläufe des
Körpers abzustreiten. Doch die Erklärung der Physiologie des Körpers
führt nicht zum Verständnis der Selbstbewegung, die „jedenfalls niemals
eine Resultante mechanischer Abläufe“ (ebd.) ist. Deswegen ist
gleichviel die empfindende Dimension des Leibes zu beachten. Es
scheint eine dialektische Vorstellung des Leibes erforderlich, die nicht
bei den physikalischen Aspekten des Leibes verharrt, sondern auch sein
intentionales Verhältnis zur Welt in Betracht zieht. Dadurch scheint es
möglich, den Kontext, die Bedeutung und insbesondere das Subjekt der
Bewegung für die Forschung zurück zu gewinnen. Im Übrigen lässt sich
so ein Bildungspotenzial von Sport begründen.
Die ontologische Bilanz der phänomenologischen Leibanalysen: Der
Leib ist in erster Linie mein Leib, dass heißt, er ist mein gelebter,
faktischer Zugang zur Welt: Das Ich. Sein zweiter Aspekt ist der äußere
Leib, der Körper, das Werkzeug: Das „Man“. Ich kann mein Ich anhand
von Empfindungen erkennen, ich kann sogar mein Ich als ein „Man“
betrachten, indem ich meinen Körper wie den eines Anderen ansehe, als
Gegenstand. Man kann mein Ich nur als äußere Erscheinung erkennen,
Phänomenologie
- 145 -
aber nicht unmittelbar als mein Ich. Umgekehrt kann ich das „Man“ eines
Anderen in seiner Äußerlichkeit wahrnehmen, die durch sein Ich geprägt
ist, das mir allerdings weitgehend verborgen bleibt.
Die Ambiguität des Leibes ist nicht allein ontologisch von Interesse.
Überdies halten die verschiedenen Seinsdimensionen des Leibes auch
ihnen entsprechende Erkenntnisfunktionen bereit, die ebenso wenig
stringent voneinander zu scheiden sind, wie diese Dimensionen selbst.
Rationales und sinnliches Erkennen müssen sich ständig ergänzen,
obwohl
analytische
und
ganzheitliche
Wahrnehmung
über
inkommensurable Nomenklaturen verfügen. Diese Diskrepanz ist
auszuhalten und macht dialektisches Denken unverzichtbar.
Kritiker der leibanthropologischen Phänomenologie argumentieren, das
reine Bewusstsein werde einfach durch eine Art „reinen Leib“ ersetzt,
womit nichts gewonnen sei. Um derartige Einwände zu würdigen wird
der Erkenntnisanspruch des Leibes kritisch hinterfragt.
2.5.6 Der Leib als Erkenntnismonopol?
Der erkenntnistheoretische Entwurf Merleau-Pontys, seine „immer
entschiedenere Abkehr von einer Bewusstseinsphilosophie“ (Waldenfels,
1983, 45) wirft die Frage auf, ob er im Anschluss an Husserl das
„transzendentale Bewusstsein nur verleiblicht“ (Waldenfels, 1992, 131).
Grenzt Merleau-Ponty das Bewusstsein einfach aus? Waldenfels sieht die
Gefahr, „dass die Privilegien des Bewusstseins lediglich an eine andere
Instanz, nämlich den Leib delegiert werden“ (1985, 165). Der Leib
werde, „im Gegensatz zum Bewusstsein, in den Rang eines Unbedingten
erhoben“
(ebd.).
Wenn
dies
der
Fall
wäre,
würde
-
von
epistemologischem Standpunkt aus - in Merleau-Pontys leiblicher
Phänomenologie der gleiche dualistische petitio principii zum Tragen
kommen wie in idealistischen Ansätzen. Die verengende Einseitigkeit
des
erkenntnistheoretischen
ganzheitlichen
entgegenstehen.
Ausgangspunktes
Erkenntnisgewinn
fundamental
würde
und
einem
dauerhaft
Phänomenologie
- 146 -
Die Dichotomie von Leib und Bewusstsein, die insbesondere die
cartesianische Zwei-Substanzen-Lehre trägt, welche von Husserls
Phänomenologie nicht überschritten werden konnte und die sogar Sartres
- nach Waldenfels - „dualistischer Ontologie“ (1983, 82) des „An-sich“
und „Für-sich“79 zugrunde liege, ist wirksam im okzidentalen Denken
eingegraben und wirft die Frage auf, ob das verführerisch eindeutige
Zwei-Komponenten-Schema
von
Erklärungsmodellen,
das
über
Jahrhunderte hinweg als Wahrheit kolportiert wurde, überhaupt durch
den dementsprechend geprägten - also unseren - Geist überwunden
werden kann.
Jedoch ist durch Merleau-Ponty vielmehr ein überaus fruchtbarer
erkenntnistheoretischer Anstoß erfolgt, in dessen gespanntem Rahmen
der Leib nicht verabsolutiert, sondern sein Erkenntnis fundierendes Recht
untermauert wird, weil der vorwissenschaftliche und also realitätsnahe
Charakter
der
leiblichen
Erkenntnisweise
durch
Merleau-Ponty
hervorgehoben wird. Deshalb kann man bei seinem Werk durchaus von
einer alternativen Form der Phänomenologie sprechen, die sich
zusehends von den Fesseln der dualistischen Tradition freimacht.
Indem Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung sowohl mit
der mechanistischen Vorstellung eines bloß reaktiv und mechanisch
ablaufenden Körpers als auch mit der Husserlschen Idee eines reinen
Bewusstseins bricht, fördert sie mit einer „Rehabilitierung der
vorwissenschaftlichen Erfahrung“ (Lippitz. Zit. nach: Waldenfels, 1992,
101) gleichzeitig die Vindizierung der Lebenswelt.
79
Waldenfels leitet aus Sartres Phänomenologie einen Dualismus ab, weil das
„An-sich und Für-sich unvermischt in der Erfahrung“ aufträten (vgl. 1983, 82; 1985,
151). Schmidt-Millard, der Sartres Philosophie ausführlich für die Sportpädagogik
bearbeitet hat, teilt diese Auffassung nicht (vgl. 1995, 105), weil Sartre schreibt: „es
gibt da keine ‚seelischen Phänomene’, die mit dem Leib erst zu vereinigen wären; es
gibt nichts hinter dem Leib, sondern der Leib ist ganz und gar ‚seelisch’“ (1991, 401).
Auch von Sartres Gedanken der dritten ontologischen Dimension des Leibes aus ist es
ganz unverständlich, wie Waldenfels zu dem Eindruck gelangt, es handele sich bei
Sartres Betrachtungen um eine solche dualistischer Prägung. Ein derartiger Anschein
entsteht ja nur bis zu diesem finalen Gedanken über das Sein des Leibes; von hier aus
(vgl. Sartre, 1991, 455f.) tritt die zweiteilige zugunsten einer holistischeren Betrachtung
in den Hintergrund.
Phänomenologie
- 147 -
Diese präobjektive Sicht ermöglicht eine von allen Reizen und allem
willentlichen Denken relativ unabhängige Existenz der Welt, die sowohl
eine Reduktion des Zur-Welt-seins auf eine Summe von Reflexen, als
auch eine Reduktion des Zur-Welt-seins auf einen Akt des Bewusstseins
ausschließt (vgl. Merleau-Ponty, 1966, 104). Bei Merleau-Ponty bedeutet
die
phänomenologische
Reduktion
nicht
Rückgang
auf
ein
transzendentales Bewusstsein, sondern ein Bewusstwerden des immer
schon in der Welt seins (vgl. ebd., 11). Die eidetische Reduktion wird als
Mittel angesehen, die Welt als das anzusehen, was sie ist: Das von uns
Wahrgenommene. „Die Welt ist das, was wir wahrnehmen“ (ebd., 13).
Schließlich sei die Intentionalität nicht Aktintentionalität, sondern
„fungierende Intentionalität“ (ebd., 474), in der die „natürliche
vorprädikative Einheit der Welt und unseres Lebens gründet“ (ebd., 15).
Von daher erkenne der Mensch nie, ohne in der Erkenntnis immer
persönlich engagiert zu sein (vgl. Sartre, 1991, 404). Das „Bewusstsein
verkennt seine elementare Gebundenheit an den Körper, indem es sich
dem Körper gegenüber setzen will“ (Schmidt-Millard, 1995, 107). Doch
„selbst wenn das Bewusstsein seine Verwicklung mit der Lebenswelt
ignoriert, entkommen kann es ihr nicht“ (Meyer-Drawe, 1996, 180).
Merleau-Ponty hat diesen Widerspruch ins hellste Licht gestellt und ist
vor allem dadurch über Husserl hinausgegangen.
Nachdem die Grundlagen einer Phänomenologie der Leiblichkeit
vorgestellt wurden erscheint es nun passend, einen ontologischen
Gedanken einzuführen, der den Sinn der Anwendung leiblicher
Erkenntnisvermögen weiter begründen und gleichzeitig als Beitrag zur
Überwindung ausschließlich objektorientierter Wissenschaft angesehen
werden kann. Diese ontologische Alternative zum Teilungsdenken ist das
Konzept der Schichtung, das aus phänomenologischer Hinsicht gut
nachvollziehbar erscheint.
Phänomenologie
- 148 -
2.5.7 Das ontologische Konzept der Schichtung
„Der Dualismus zwischen einem seelischen und einem
körperlichen Bereich ist nichts Primäres, von Anfang an
Vorgegebenes, sondern eine Vorstellung, die nur unter
bestimmten Umständen eintritt und ständig überwunden
werden muss - im Grunde also ein unnatürlicher Zustand“
(Uexküll, 1963, 128f.).
Das Ideal der Objektivierung verhindert aber die Zurückführung in den
natürlichen Zustand der Einheit, da es auf der Distanzierung von Körper
und Geist sowie der distanzierten Betrachtung des Leibes basiert, der so
zum Körper transformiert wird. Die natürliche Einheit von physiologisch
erforschbarer Körperlichkeit und subjektiver Erfahrung wird durch
Objektivierung aufgehoben, um sie dann aus der abstrakten Analyse
mechanischer Einzelteile wieder herzuleiten. Das Wesen des Menschen
wird so als „Konglomerat aus Dingrudimenten“ (Schmitz, 1980, 8), als
merkwürdig lebloses Amalgam aufgefasst. Das Wesensmäßige des
Lebens erschließt sich aber nicht aus seinen Einzelteilen.
Nicolai Hartmann (vgl. 1966, 22ff.) hat ausgeführt, dass die Summe
seiner Teile nicht mit dem Wesen des ganzen Menschen korreliert. Es sei
vielmehr durch seine Gesamtheit und durch die wechselseitigen
Zusammenhänge der einzelnen Fragmente konstituiert. Es weise eine
schichtenhafte Strukturiertheit auf.
Der Schichtungsgedanke bezüglich des Seins ist schon sehr alt. Plotin hat
von fünf Seinsstufen gesprochen, die er Hypostasen nennt. Aristoteles hat
die Seelenlehre Platons bereichert, indem er von je einer anorganischen,
organischen, seelischen und geistigen Schicht spricht, die in ihrer
Gesamtheit das Leben formen (vgl. Konstantinovic, 1973, 63f.). Die
antike Stufengliederung der Seinsformen wurde durch Hegel und vor
allem Schelling in die Neuzeit vermittelt (vgl. Misch, 1967, 250). Die
Schichtenlehre Nicolai Hartmanns beinhaltet den Gedanken, dass die
reale Welt aus Materiellem hervorgegangen ist. Das Organische setzt die
anorganischen, physikalischen Verhältnisse und Gesetzmäßigkeiten
voraus, „es ruht auf ihnen auf, wenn schon diese keineswegs ausreichen,
Phänomenologie
- 149 -
das Lebendige auszumachen“ (Hartmann, 1966, 59). Dieses Aufruhen
bedeutet, dass Lebendiges durch materielle Verhältnisse bedingt ist, doch
zugleich selbständig und eigengesetzlich ist. Das Wesen des Lebendigen
ist wohl abhängig von seinen einzelnen funktionalen Teilen, aber es
verändert als Ganzes sein Wesen, es gehört dann zu einer höheren
Seinsschicht, welche nicht mehr vergleichbar und keinesfalls identisch ist
mit denen ihrer separaten Untereinheiten. Die einzelnen, unabhängig
funktionierenden Untersysteme können keinen Aufschluss geben über
das Wesen des lebendigen Systems, wiewohl dieses aus ihnen besteht.
Die spezielle Eigenart des integrierenden Systems tritt erst nach der
Konfluenz der Einzelteile in Existenz80.
Gleichwohl versucht man heute, das ganze Weltgeschehen mit den
Gesetzlichkeiten der klassischen Mechanik zu erklären, mit der Funktion
von Teilsystemen. Diese Haltung scheint durch das Bedürfnis nach
einem möglichst einheitlichen Weltbild motiviert. Deshalb wird der
menschliche Leib in dem mechanisierten Weltbild als Maschine
betrachtet, die nach den gleichen Gesetzen funktioniert, wie die
physikalischen
Mechanismen,
aus
denen
er
sich
zweifellos
zusammensetzt. Das erklärt auch, warum man die Wahrnehmung auf
Verlagerung von Molekülen respektive elektrischen Reizen in der
Raumzeit reduziert. Dabei wird übersehen, dass das organische System
Mensch die physikalischen Grenzen in seinem Erleben und Empfinden,
das Erkennen überhaupt erst möglich macht, überschreitet. Durch seine
Fähigkeit zum Erleben und durch seine individuelle Subjektivität ragt das
Wesen des Menschen über die mechanischen Gesetze einer Maschine
80
Bollnows Analyse des „Prinzips des Nichts-anderes-als“ (1975, 97-102) ist in
diesem Zusammenhang aufschlussreich. Er weist nämlich auf ein Prinzip hin, nach dem
Formen der Wirklichkeit beschrieben werden, indem man beispielsweise sagt: „Die
Materie ist nichts anderes als eine Zusammenwirken von chemischen Molekülen
(philosophischer Materialismus), der Staat ist nichts anderes als eine
Rechtsorganisation, oder: Der Mensch ist nichts anderes als ein Reiz-ReaktionsSystem“. Diese reduktionistische Vereinfachung beinhalte zugleich eine „abwertende
Tendenz, von der eine eigentümliche Suggestionskraft ausgeht“ (ebd., 99). Diese
Haltung berge auch die Gefahr, das schöpferisch Neue, das im Übergang von der
‚niederen’ zur ‚höheren’ Schicht hinzukommt, zu verkennen“ (ebd., 99/100). In
ähnlicher Weise verkennt auch ein prinzipieller Mechanizismus die eigentliche
Wesenhaftigkeit des Lebendigen.
Phänomenologie
- 150 -
empor, ist es etwas völlig anderes. Goldstein und seine Schüler haben
dies erkannt:
„Der Erkenntnisfehler liegt in der falschen Bewertung der
analytisch gefundenen Tatsachen, in dem Umstand, dass man
sie als Teiltatsachen des wirklichen Seins auffasst, aus denen
sich das ganze Sein aufbauen soll“ (Goldstein, 1934, 244).
Materielle Bestandteile des menschlichen Organismus verraten bspw.
nichts über Absichten und Gefühle, die Antrieb seiner Selbstbewegung
sind81. Das Wesen des genuin leiblich-sinnlichen Menschen wird also aus
mechanischer Perspektive übersehen.
Trotzdem sind messbare Daten im geltenden Wissenschaftsverständnis
anscheinend unantastbar; Messbarkeit wird oft als Bedingung der
Erkenntnis vorausgesetzt. Im Sport führt dies dazu, dass emotionale und
generell nicht quantitativ messbare Resultate von Erkenntnisprozessen
ausgelassen werden. Als Auswirkung der so verkürzten Erkenntnis über
qualitative Dimensionen des Menschen erscheint eine Abwertung der
menschlichen Empfindung und damit einhergehend die Nivellierung
sinnlicher Erkenntnisquellen.
Wenn der Sinnlichkeit des Menschen aber keine besondere Beachtung
zuteil wird, heißt das, wir machen uns auch unsere Verstricktheit in
Gewohnheiten und leibliche Automatismen nicht bewusst. Der gesamte
Bereich der Wahrnehmung wird überhaupt nicht aufgeschlossen.
Wahrnehmungsvorgänge werden von den Naturwissenschaften als
physiologische Vorgänge angesehen, von denen man annimmt, sie hätten
epistemisch
nur
rezeptiven
Charakter.
Dass
während
des
Wahrnehmungsvorgangs immer schon semantische Entscheidungen
unbewusst gefällt werden, wird weitgehend einfach übersehen.
Die mechanistische Haltung ist die Art, wie wir heute auf die Welt
blicken. Sie bezeichnet die selbstverständlichen Vorannahmen, mit denen
wir gewöhnt sind, uns auf die Welt zu richten. Diese Vorannahmen und urteile bleiben meist unhinterfragt. Diese objektivistische Weltsicht gilt
81
Vgl. zur bewegungstheoretischen Bedeutung des Schichtungsgedankens Kap. 3.2.1.
Phänomenologie
- 151 -
als ein Paradigma. Weil man die Welt auch anders sehen kann, trägt
jedes Paradigma eine Begrenzung in sich. Mit Hinblick auf das Gebiet
der Erkenntnis heißt das, die Welt würde aus einem anderen Paradigma
heraus betrachtet anders erscheinen.
Das Denken in Objekten entmündigt die sinnliche Erfahrung und leugnet
deren Erkenntnisanspruch. Dass es als Alternative zu diesem
Teilungsdenken nicht nur diffuse Ganzheitstheorien oder mystische
Spekulationen gibt, sollte durch die Skizze des Schichtungsgedankens
von Nicolai Hartmann klar geworden sein. Um zu verstehen, was
Erkennen und Wahrnehmen ausmacht, ist das Teilungsdenken zu
überwinden. Diese eingeübte, unbewusste und gewohnte Denkart des
Menschen, lässt ihn seine eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten nicht
erkennen, nicht verstehen und nicht benutzen. Damit wird nur die
Wahrheit erkannt, die ohnehin schon feststeht. Von hier aus scheint es
nötig, das menschliche Erkenntnisvermögen genauer in den Blick zu
nehmen.
Prozesse leiblichen Erkennens
3
- 152 -
Prozesse leiblichen Erkennens
Auf Grundlage der dargestellten phänomenologischen Auslegung von
Leiblichkeit kann das Erkenntnisvermögen des leiblichen Subjekts
genauer untersucht werden. Dessen Berücksichtigung erscheint als
Bedingung für eine Wiedergewinnung des Subjekts (vgl. S. 117).
Dazu muss der Dualismus auf zwei Ebenen überwunden werden. Einmal
ist es nötig, die Trennung von Subjekt und Welt aufzuheben und beide
als Einheit zu denken, wie das bspw. Viktor von Weizsäcker in dem
Gestaltkreis und Husserl mit seinem Kerngedanken der Intentionalität
getan haben. Zweitens ist das Subjekt selbst als untrennbare Einheit von
Körper und Geist anzusehen. Auf diesem phänomenologischen
Fundament
und
innerhalb
dieser
Systematik
können
zwei
erkenntnistheoretische Gesichtspunkte benannt und entwickelt werden:
Es sind dies der Prozess subjektiven Erkennens in Verschränkung mit
Welt sowie leibliches Verstehen des erkennenden Subjekts in Ergänzung
zu rationaler Erkenntnis. Hierdurch soll ein Anstoß zur Reintegration von
Sinnlichkeit in wissenschaftliche Erkenntnisprozesse erfolgen, wobei
naturwissenschaftliche
Erkenntnisse
zur
Bestätigung
von
phänomenologisch bereits bekannten Vorgängen herangezogen werden
können.
Um Prozesse leiblichen Erkennens zutreffend charakterisieren zu
können, müssen Subjekt und Welt als ineinander verschränkt, als Einheit
aufgefasst werden. Auf diesem ontologischen Verständnis beruht der
existenzielle
Modus
des
„Zur-Welt-Sein“
(vgl.
2.5.2.1).
Diese
permanente Gerichtetheit erfolgt stets leiblich, weshalb der intentionalen
Wahrnehmung aus epistemologischer Sicht eine Schlüsselrolle zufällt.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 153 -
3.1 Wahrnehmung als intentionale Aktivität
Wahrnehmung ist nicht gleichbedeutend mit Informationsaufnahme82.
Vielmehr arbeitet sie bereits während ihrer Aktivität - genau wie Werten
und Urteilen - durch Vergleich. Als Wahrnehmender ist man keineswegs
passiv und nur empfangend. Der zumeist unhinterfragte Begriff Wahrnehmung zeigt an, dass hier eine aktive Handlung vorliegt: Man nimmt
etwas als „wahr“83.
Dabei rekurriert sie nicht nur auf angeborene und vorgespeicherte
Informationen, also auf das, was unsere Gene „thesaurieren“, sondern
ebenfalls auf durch Erziehung und Sozialisation Vermitteltes sowie
eigene Erfahrung.
Darüber hinaus ist Wahrnehmung zielgerichtet und selektiv (vgl. Roth,
1994, 69f.). Was von den zahllosen Umwelteinflüssen ausgewählt und
also bewusst verarbeitet wird, ist wesentlich davon abhängig, worauf
unser Sinn gerichtet ist. Hirnforscher haben diese These u.a. anhand des
Experiments zum „binokularen Wettstreit“ erhärtet: Wenn beiden Augen
zwei Muster dargeboten werden, die nicht fusioniert werden können,
wird jeweils nur immer eines der beiden Muster wahrgenommen,
entweder das Muster, das dem rechten Auge dargeboten wird, oder das
Muster, welches das linke Auge sieht. Wenn dem rechten Auge ein
vertikales und dem linken ein horizontales Muster gezeigt wird, nimmt
man nicht die Überlagerung der beiden Gitter wahr, sondern man sieht
entweder das vertikale oder das horizontale Gitter, und diese beiden
Wahrnehmungen alternieren nach einem ganz bestimmten, vom Gehirn
festgelegten Rhythmus.
82
Die Frage, was Wahrnehmung ist lässt sich nicht auflösen durch die Frage, wie
sie faktisch zustande kommt. Wahrnehmung lässt sich nicht von außen beschreiben. Die
Argumentation: „Jemand nimmt etwas wahr, weil Lichtwellen seine Sehorgane treffen,
die Sinneszellen reizen usw.“, ist für ein tiefgehendes Verständnis der Wahrnehmung
nicht tragfähig genug. Auf diesem Weg können physikalische Epiphänomene von
Wahrnehmung erklärt werden. Intentionale Bezüge, als Verursacher von
Wahrnehmungen, können aus einer physiologischen Betrachtung weder abgeleitet noch
erkannt werden (vgl. Waldenfels 2000; Straus, 1956 und Fuchs, 2000, 63).
83
„Wahrnehmen ist nicht lediglich passives Aufnehmen, sondern Bestandteil der
aktiven Lebenstätigkeit (Hervorheb. im Original) des Menschen“ (Holzkamp, 1976, 29).
Prozesse leiblichen Erkennens
- 154 -
„Beide Augen sehen immerfort jeweils dieselben Muster,
aber das beobachtende Subjekt nimmt entweder nur das
vertikale oder das horizontale Gitter wahr. Selektion ist ein
natürlicher Prozess, der den Sehvorgang begleitet“ (Singer,
2008b, 55).
Dieses Phänomen der „interokularen Suppression“ (ebd.) bemerken wir
erst
unter
experimentellen
Bedingungen.
Forscher
mit
neurophysiologischem Erkenntnisinteresse konnten feststellen, dass
dieser Wechsel in der Wahrnehmung – also ihre Intentionalität – mit
einer Veränderung der Synchronisation neuronaler Antworten auf die
jeweiligen Muster einhergeht. Die physikalischen Eigenschaften der
beiden Muster verändern sich dabei natürlich nicht (vgl. ebd.). Dies kann
als
neurophysiologischer
Beweis
für
die
Intentionalität
der
Wahrnehmung aufgefasst werden.
Wahrnehmung ist immer gerichtet; sie ist intentional. Um dies an einem
einfachen Beispiel aus dem Alltag weiter zu verdeutlichen: Ein Mann
und eine Frau gehen in die Stadt. Er hat Hunger und sie nicht. Was
nimmt er wahr? Nicht die Menschen, die Straßen, das Hupen der
Fahrzeuge oder die Leuchtreklamen der Kaufhäuser und Boutiquen,
sondern den Duft von Backfisch, Pommes und Pizzas. Was nimmt sie
wahr? Vielleicht die Mode in den Schaufenstern, Galerien, Interaktionen
von Passanten, je nachdem wonach ihr der Sinn steht. Wir nehmen von
der Welt dasjenige wahr, was unserer derzeitigen Verfassung, unseren
Bedürfnissen und Zielen entspricht. Was uns als relativ genaue
Abbildung der Welt vorkommt, ist stets nur „ausschnitthaft“ (Roth, 1994,
72). Die Wahrnehmung erkennt diesen Ausschnitt der Welt richtig. Sie
bezieht sich auf tatsächliche Gegebenheiten, auch wenn diese nur einen
Ausschnitt der Welt repräsentieren.
Erinnert man diesen Umstand, wird man bescheidener, was die
Vollständigkeit unseres Weltbildes betrifft. Wir sehen oft, was wir sehen
wollen, vielleicht weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Wenn uns
etwas nicht behagt, missverstehen wir, weil wir missverstehen wollen
und machen uns selber blind. Feststeht, dass unsere selektive und
eingeschränkte Wahrnehmungsgabe nur wenig von der Komplexität der
Prozesse leiblichen Erkennens
- 155 -
Welt erkennen lässt. Daran ändern auch wissenschaftliche Raster der
Weltsicht wenig, weil die ja auch immer an individuell und kollektiv
Erfahrenes, kulturell Vermitteltes sowie gemeinschaftlich Vereinbartes
gebunden
respektive
daraus
hervorgegangen
sind.
Die
Erfahrungsabhängigkeit intentionaler Wahrnehmung ist näher zu
erörtern, um sie bei wissenschaftlichem Arbeiten in Rechung stellen und
Erkenntnisse dadurch präzisieren zu können.
3.2 Die habituelle Konstitution von Erfahrung
Behält man die durch Erfahrung strukturierte Intentionalität der
Wahrnehmung des stets einbezogenen Subjekts im Gedächtnis, so gerät
unmittelbar ein weiteres Phänomen ins Blickfeld: die menschlichen
Gewohnheiten. Dass der Mensch gewohnheitsmäßig wahrnimmt, denkt
und handelt, ist keine Hypothese, sondern aus phänomenologischer
Perspektive offensichtlich.
3.2.1 Habitualität des Leibes
Auch naturwissenschaftliche Perspektiven haben belastbare Beweise für
die Evidenz von Gewohnheiten erbracht.
„Mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie (lässt
sich) nachweisen, dass gut eingeübte Fertigkeiten, sobald sie
automatisiert und unbewusst erbracht werden können, von
anderen Hirnstrukturen verwaltet werden als jenen, die zu
Beginn des Trainings involviert waren“ (Singer, 2008b, 40).
Neurophysiologische
Beweise
sprechen
demnach
dafür,
dass
automatisierte Verhaltensmuster „einverleibt“ werden, wenn solche
Beweisführungen sich auch auf das Gehirn beschränken.
Jeder kann an seiner subjektiven Erfahrung überprüfen, dass er
bestimmte leibliche Verhaltensmuster an den Tag legt. Das wird bereits
daran erkennbar, wie man sich gewöhnlich die Schuhe bindet, ein T-Shirt
anzieht oder die Zähne putzt. „Einmal eingeübt können erlernte
Fertigkeiten schnell, mühelos und ohne kognitive Kontrolle ausgeführt
werden“ (Singer, 2008b, 38). Die beanspruchten neuronalen Netzwerke
wachsen,
während
unbenutzte
degenerieren
und
synaptische
Prozesse leiblichen Erkennens
- 156 -
Verknüpfungen sich wieder lösen. Im Sport sind solche Muster des
geformten
Verhaltens
besonders
wichtig.
Ohne
motorische
Gewohnheiten wäre es bspw. dem Turner, dem Skifahrer oder dem
Basketballer nicht möglich, schwierige und komplexe Handlungsmuster
abzurufen oder Kunststücke zu bewerkstelligen.
Dies betrifft allerdings nicht nur Handlungsmuster, sondern gleichviel
Denk- und Wahrnehmungsmuster, die - wie oben gezeigt werden sollte ebenfalls als aktive Vorgänge, also als Handlungen verstanden werden
müssen!
Wir nehmen gewohnheitsmäßig wahr. Menschliche Gewohnheiten
erscheinen als Ausbildung von Automatismen, das heißt von VerhaltensDenk- und Wahrnehmungsformen des Menschen, die auf einen
gegebenen Reiz hin automatisch ablaufen. Motorische Handlungen, aber
auch Gedanken und Wertgefühle, sind häufig automatisiert, um dem
Menschen die ständig neue Auseinandersetzung mit der Umwelt zu
erleichtern. Kognitive Automatisierungsschemata sind versachlicht, und
das an der Sache automatisierte Denken ist kritikfest und immun gegen
Einwände. Deshalb halten viele Menschen ihre Gewohnheiten unbewusst
für die Grundregeln der Welt.
Bei motorischen Gewohnheiten ist die Kritikfestigkeit an dem starken
Widerstand zu erkennen, den diese ihrer Auflösung und Neukombination
entgegenstellen. Auch das „Aufgeben oder (die) Revision von
Werthaltungen und Gewohnheiten, die das bisherige Leben bestimmt
haben“ (Beckers, 1992, 67), sind sehr mühsam. Durch Gewohnheiten ist
der Mensch an die diversen Anforderungen der Umwelt angepasst. Sein
Können
hinsichtlich
einer
bestimmten
Funktion
wird
immer
differenzierter, seine Aufmerksamkeit ermüdet langsamer, wodurch seine
Leistungsfähigkeit steigt84.
84
In unserer arbeitsteiligen Kultur ist es der Fachmann, der die effizienteste
Habitualisierung verkörpert (vgl. Veblen. In: Gehlen, 1957, 105f.).
Prozesse leiblichen Erkennens
- 157 -
Im Sport werden optimale Bewegungsabläufe durch die Fixierung auf
gelungene Kohärenzen reproduziert. Die dafür notwendige Lenkung bzw.
Automatisierung der Wahrnehmung resultiert in der Habituation
derselben
(vgl.
Beckers,
1986,
94).
Infolgedessen
kommt
es,
insbesondere im Hochleistungssport, zu einem „Bewegungs- und
Wahrnehmungsautomatismus“
(ebd.,
107).
Ein
erfolgreicher
Bewegungsablauf ist auf externe, objektive Vorgaben ausgerichtet und
nur insofern auf interne, subjektive Wahrnehmungen, als sie zur
optimalen Ausführung von standardisierten Bewegungsabläufen nützlich
sind (vgl. ebd., 16). Dadurch kann die persönliche Entwicklung
stagnieren. Um sie wieder zu mobilisieren, ist eine „Ent-habituation,
bzw. Deautomatisierung“ (Ornstein. Zit. nach: ebd., 95) erforderlich.
Durch Automatisierung von Verhaltens- und Erkenntnisweisen kann
neues und exploratives Verhalten unterbunden sein. Dies ist allerdings
Voraussetzung für erfolgreiche Anpassung und Erkenntniszuwachs, wie
andererseits tradierte und bewährte Verhaltensmuster das Überleben
erleichtern können. Durch die konventionelle Reglementierung von nicht
unmittelbar erkennbar Funktionalem oder zweckfreiem Verhalten wird
ein gewisser Erkenntnisverlust verursacht, weil neue Erkenntnisse über
die
unbekannte
eingeschliffenen
und
sich
Denk-
ständig
ändernde
Handlungs-
und
Welt
nicht
vor
aus
allem
Wahrnehmungsmustern gewonnen werden können (vgl. Feyerabend,
1997, 89/188ff.). Um neue Erkenntnisse zu gewinnen, müssen
eingefahrene
Erkenntnismuster
überwunden
werden,
denn
die
Wirklichkeit wird durch ein erfahrungsabhängiges Filtersystem gesehen.
Das ist leicht nachzuvollziehen, wenn man bedenkt, dass nur der kleinste
Teil der wahrgenommenen Daten überhaupt ins Bewusstsein vordringt.
Das Gehirn zieht immer voreilige Schlüsse, es filtert aus dem
Wahrgenommenen
nur
das
Nötigste
heraus,
trifft
vorbewusst
semantische Entscheidungen. Es entwickelt seine Vorurteile auch in
Anlehnung an gültige Konventionen, die dadurch das Erkennen
ungewohnter Wirklichkeitsaspekte und -zusammenhänge verhindern.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 158 -
Durch die Reflexion und Variation von subjektiven Automatismen sind
folglich neue Erkenntnisse generierbar.
Internalisierte Wahrnehmungsgewohnheiten wirken meist unbewusst.
Der intentionale Leib führt mit der Welt „einen verborgenen Dialog“
(Gordijn. Nach: Trebels, 1992, 24). Levinas nennt dieses Phänomen
„anonym fungierende Intentionalität“ (2007, 42), die den Weg zum
Anderen eröffne (vgl. ebd., 138/139). Das Eingreifen des Denkens in
diese anonym fungierende Leiblichkeit führt sogar zur Störung ihrer
erfolgreichen Ausführung, was an dem Beispiel des Pianisten deutlich
wird85.
Diese
phänomenologische
Erkenntnis
passt
zu
dem
neurophysiologischen Befund, dass die zuständigen Hirnstrukturen
weniger aktiv werden, sobald eine gewisse Fertigkeit erworben wurde.
„Es wird dann offenbar ein ökonomischer neuronaler Code eingesetzt“
(Singer, 2008b, 40). Diese Ökonomisierung von Handlungen kann dazu
führen,
dass
der
Mensch
sich
nur
widerstrebend
mit
neuen
Wahrnehmungsmustern vertraut zu machen versucht.
3.2.2 Doppelter Erfahrungsbezug von Erkennen
Der
erste
Bezug
zur
Erfahrung
meint
die
Geprägtheit
von
Wahrnehmungsrastern durch Erfahrung. Der zweite Bezug bezeichnet
die Konstitution von Erfahrung durch diese Wahrnehmungsraster.
Gewohnheiten entstehen nicht ohne weiteres, sondern sind ein genaues
Abbild der akkumulierten Erfahrung des Subjekts, die dessen habituelle
Leiblichkeit
85
konfiguriert.
Die
Erfahrung
von
etwas
geht
mit
Der Pianist hat das Stück in seinen Fingern. Deshalb braucht er nach einiger
Zeit des Einübens auch keine Noten mehr. Er kann während des Spiels seinem eigenen
Leib zuhören, der die Musik in Erscheinung bringt ohne dass die Finger bewusst
gelenkt würden. Die erworbene motorische Gewohnheit ist erstaunlich komplex und
wird durch Denken sogar gestört. Der „Leib wird nicht gelenkt, sondern er
korrespondiert selbst der ertönenden Musik“ (Merleau-Ponty, 1966, 176). Das hier
wirksame „implizite Wissen“ hat Bockrath (2007) mit Bezug auf Bordieu und Polanyi
in die sportpädagogische Debatte um Grenzen der Standardisierung eingebracht. Fuchs
(2000) spricht in diesem Kontext von „Leibgedächtnis“ (316). Schmidt-Millard (2007,
10) beleuchtet das Phänomen in Anlehnung an Waldenfels (1999, 2000) aus
bildungstheoretischer Perspektive.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 159 -
„Veränderungen in den synaptischen Verbindungen zwischen Neuronen“
(Singer, 2008b, 62) einher. Auch die auf kausale Strukturen gerichtete
Perspektive
der
Neurophysiologie
belegt
anscheinend
die
Erfahrungsabhängigkeit von Wahrnehmungsmustern.
Da Wahrnehmung in Abhängigkeit von Erfahrung selektiert und
Wahrgenommenes mit Bekanntem vergleicht, wird häufig das bewusst
gesehen, was bekannt ist. Die durch Erfahrung geprägte habituelle
Wahrnehmung bestimmt, was wir von dem sehen, worauf wir blicken.
Neues bleibt unsichtbar. Wir erkennen stets innerhalb eines Paradigmas.
Drei Beispiele mögen zur Veranschaulichung der unbewussten
Produktivität von Wahrnehmung hilfreich sein.
1. Es findet ein Kartenspiel statt, in dem „anomale“ Spielkarten ausgeteilt
werden. Das sind eine schwarze Herz Fünf und eine rote Pik Neun. Die
Versuchsperson bemerkt keinen Unterschied zu herkömmlichen Karten
(vgl. Kuhn, 1976, 75f.). Erst durch eine äußere Autorität, der man glaubt
- nämlich den Experimentator -, wird die Probandin überzeugt, dass sie
ohne Rücksicht darauf, was sie gesehen hat, die ganze Zeit auf eine
schwarze Herz Fünf geblickt hat.
2. Die Einwohner der karibischen Inseln hatten vor der Invasion durch
Kolumbus noch nie ein Flagschiff oder eine Karavelle gesehen. Ihr
Medizinmann bemerkte Wellen in der Bucht, ohne die spanischen
Schiffe zu sehen. Erst nach Tagen tauchten sie für ihn auf, obwohl sie die
ganze Zeit dort waren. Als die anderen Stammesmitglieder auf das
gekräuselte Wasser der Lagune blickten, konnten sie auch nichts
erkennen, was auf die Ursache für die Wellen schließen ließ. Bis der
Medizinmann ihnen von den Schiffen erzählte und darauf hinwies. Weil
sie ihm - der anerkannten Autorität - glaubten, sahen auch sie die Schiffe.
Man sieht also nur was man glaubt (vgl. Maturana, 1994, 36). Jedenfalls
nur das, was man schon kennt: Erkannt wird Bekanntes.
3. Ein Himmelskörper, der im 18 Jahrhundert Jahrzehnte lang beobachtet
werden konnte, wurde als ungewöhnlich großer Fixstern angesehen. Da
Prozesse leiblichen Erkennens
- 160 -
dies der Wirklichkeit nicht gut entsprach, hatte der Astronom Lexell
später die Idee, es könne ein Planet sein. Als man diese Anregung
akzeptiert hatte, gab es in der Welt der Astronomen einen Fixstern
weniger und einen Planeten mehr. Dieser Himmelskörper wurde nach
1781 anders gesehen, da er, genau wie die anomale Spielkarte, nicht
länger in die von dem früher vorherrschenden Paradigma gelieferten
Wahrnehmungskategorien eingeordnet werden musste. Die Folgen dieser
Wahrnehmungsverschiebung reichen so weit, dass die Astronomen, weil
sie darauf vorbereitet waren weitere Planeten zu finden - in den ersten
fünfzig Jahren des 19. Jahrhunderts zwanzig weitere Planeten mit
Standardinstrumenten identifizieren konnten (vgl. Kuhn, 1976, 127f.).
Die Leichtigkeit und Schnelligkeit mit der die Astronomen jetzt neue
Dinge sahen, wenn sie mit alten Geräten alte Objekte betrachteten,
verleitet Kuhn zu der Aussage, dass sie „fortan in einer anderen Welt
lebten“ (vgl. ebd., 128).
Um feste Blickwinkel zu überwinden bedarf es anscheinend eines
Fingerzeigs von außen; von jemandem, dem man glaubt. Doch von wo
soll dieser Hinweis für die scientific community herkommen? Diese
Gemeinschaft versteht sich ja selbst als Autorität auf dem Gebiet der
Wahrheitsfindung. Folglich entscheidet diese Gemeinschaft selbst über
Wahrheit und Täuschung.
In einem letzten Schritt wird der zweite epistemische Bezug zur
Erfahrung vertiefend erörtert. Es ist der gleiche Bezug zwischen
Erfahrung und Wahrnehmung, nur in umgekehrter Richtung: Durch
Erfahrung
konturierte
Wahrnehmungsraster
erzeugen
ihrerseits
entsprechende Erfahrungen. Es ist zu zeigen, dass die vorgestellten
Erkenntnisraster auch immer wieder die ihnen entsprechende Erfahrung
erzeugen, die deshalb auch an der Konstitution des Subjekts als Selbst
Anteil nehmen86.
86
Franke (2004, 181f.) hebt bei einer Kritik an Trebels Darstellung des
dialogischen Bewegungskonzeptes darauf ab, die Konstitution des Subjekts werde
übersehen. Nachfolgend soll deutlich werden, dass das Subjekt als Konstituiert-
Prozesse leiblichen Erkennens
Durch
Erfahrung
wird
- 161 -
das
Erkenntnisvermögen
des
Subjekts
konfiguriert. Es erkennt fortan Bekanntes. Das Erkannte bildet das
Fundament für Handlungen und Handlungsmuster, die ihrerseits eine
ihnen korrelierende Erfahrung produzieren. Diese Erfahrung - sie ist der
Vorherigen zumindest ähnlich, wenn nicht gleich - aktualisiert
Wahrnehmungsraster, die durch ihre Intentionalität Welt hervorbringen.
Der doppelte Erfahrungsbezug mündet gleichsam in einen Kreislauf.
Dies ist der Grund, warum viele von uns immer wieder die gleichen
Erfahrungen
machen
und
immer
wieder
die
gleiche
Realität
„konstituieren“.
Abb. 2 Erzeugungsprozess von Erfahrung
Um sein Leben oder seine Persönlichkeit zu verändern und weiter zu
entwickeln, muss man diesen Kreislauf erkennen, um ihn bewusst
durchbrechen zu können. Das heißt, man ändert seine gewohnte
Perspektive, erkennt Neues, handelt ungewohnt und erzeugt eine andere
Erfahrung - der Kreislauf wird zur Spirale und eine persönliche
Entwicklung möglich.
Krankhafte und schädliche Verhaltensmuster müssen reflektiert werden,
um durch andere ersetzt werden zu können. Dieser subjektive
Bildungsprozess
ist
durch
zielgerichtete
(Hochschul-
und
Schul)Erziehung zu katalysieren (vgl. Kap. 3.2.3), weil das Subjekt allein
- ebenso wie eine intersubjektiv konstituierende Gemeinschaft - aufgrund
der erläuterten Charakteristik des habituellen Erzeugungsprozesses von
Erfahrung kaum einen Ausweg aus dem Kreislauf finden kann. Die
konstituierendes aufgefasst werden muss. Maturana
Selbstkonstitution des Subjekts als „Autopoiesis“ bezeichnet.
(u.a
1994)
hat
die
Prozesse leiblichen Erkennens
- 162 -
„Macht der Gewohnheit“ - also die kritikfeste anonym fungierende
Intentionalität - verhindert das. Dieser Gedanke scheint nicht allein
pädagogisch, sondern insbesondere erkenntnistheoretisch relevant.
3.2.3 Inkorporierte Sozialstrukturen
Erkenntnisprozesse sind hochgradig abhängig von der Umgebung des
Subjekts, das nicht nur physikalisch-biologischer, sondern vor allem
sozio-kultureller Natur ist. Als Ansatzpunkt zum Verständnis und zur
Transformation des geschilderten Kreislaufs zu einer Spirale erscheint
also das soziale Feld, dem das Subjekt ausgesetzt ist.
Die angewöhnten Muster der Wahrnehmung sind nämlich nicht nur
durch individuelle Erfahrungen geformt, sondern außerdem durch
„kulturelle Gütemaßstäbe“. Beckers (1993, 12f.) weist darauf hin, dass
kulturelle Gütemaßstäbe sich in „Mustern des geformten Verhaltens“
(ebd.14) spiegeln, die aus in einem bestimmten Umfeld akkumulierten
Erfahrungen hervorgehen und nur in diesem gültig sind (vgl. ebd., 15).
Dieser Gedanke entspricht dem Habitus-Konzept des Soziologen
Bourdieu, das vor allem durch Bockrath (2007) und Franke (2001) in die
sportpädagogische Diskussion eingeführt wurde.
Bourdieu hat auf dem phänomenologischen Fundament des Zur(Sozial)Welt-Seins das Konzept des Habitus entwickelt, das die
Inkorporation des Sozialen im Subjekt bezeichnet. Der Körper ist in der
Sozialwelt, wie die Sozialwelt im Körper ist. Der Habitus ist ein „System
von Dispositionen und Schemata, das als Denk-, Handlungs- und
Wahrnehmungsmatrix fungiert“ (Bohn, 1991, 32), durch die soziale Welt
bestätigt, bzw. reproduziert wird.
Im Gegensatz zu einer materialistischen Theorie des Erkennens, die
Erkenntnis auf einen Aufnahmevorgang, einen Widerspiegelungsakt
reduziert und die tätige Seite des Erkennens dem Idealismus überlässt,
impliziert das Habitus-Konzept, dass jede Erkenntnis einen spezifischen
Denk- und Ausdrucksschemata ins Werk setzenden Konstruktionsakt
darstellt (vgl. Bourdieu, 1987, 729). Diese strukturierende Tätigkeit ist
Prozesse leiblichen Erkennens
- 163 -
keineswegs Ausfluss universeller Kategorien und Formen, wie es
intellektualistische Idealisten behaupten, sondern sie fungiert gemäß
inkorporierten Schemata.
Damit erscheint der Habitus zugleich „als Erzeugungsprinzip - modus
operandi“ (Bohn, 1991, 32) und als Erzeugtes. Als strukturiertstrukturierendes generatives Prinzip87. Die von den sozialen Akteuren im
praktischen
Erkennen
eingesetzten
kognitiven
Strukturen
sind
inkorporierte soziale Strukturen, die als geschichtlich ausgebildete
Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata „jenseits von Bewusstsein
und diskursivem Denken“ (Bourdieu, 1987, 730) arbeiten88. Dieser
Gedanke erklärt auch die intersubjektiv einheitliche Erscheinung von
Welt.
Dies schließt jede Trennung von Subjekt und Welt aus,
„weil der Körper (…) exponiert ist, weil er in der Welt ins
Spiel, in Gefahr gebracht wird, (…) ist er in der Lage,
Dispositionen zu erwerben, die ihrerseits eine Öffnung zur
Welt darstellen, d.h. zu den Strukturen der sozialen Welt,
deren leibgewordene Gestalt sie sind“ (Bourdieu, 2001, 180).
Deshalb seien die „von der Wissenschaft konstruierten Objekte die
sozialen Bedingungen der Möglichkeit des ‚Subjekts’ und die möglichen
Grenzen seiner Objektivierungsakte zu suchen“ (Bourdieu, 1996, 249).
Von hier aus sieht Bourdieu die Erforschung des Unbewussten des
Forschers als „absolute Voraussetzung für die wissenschaftliche Praxis“
(ebd., 248). Die erste Neigung des Habitus sei schwer zu kontrollieren,
schreibt Bourdieu mit Verweis auf die Stoiker89,
„aber die reflexive Analyse, die uns lehrt, dass wir selber der
Situation einen Teil der Macht geben, die sie über uns hat,
87
„Die sozialen Akteure bedingen, vermittelt über sozial und historisch zustande
gekommene Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, aktiv die Situation, die sie
bedingt“ (Bourdieu, 1996, 170).
88
Klinge stellt daher fest: „Wahrnehmung findet also immer im Rahmen
verinnerlichter, inkorporierter Erfahrungen statt. Ein voraussetzungsloses,
‚authentisches’ Wahrnehmen gibt es deshalb nicht“ (2008, 2).Die „bestimmte Weise“,
in der wir die Dinge immer schon wahrnehmen (vgl. Meyer-Drawe. Zit. nach: ebd.) ist
folglich zu beleuchten, um „authentischem“ Wahrnehmen ein Stück weit näher zu
kommen.
89
Die pflegten zu sagen: Über die erste Regung vermögen wir nichts, wohl aber
über die zweite.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 164 -
ermöglicht es uns, an der Veränderung unserer
Wahrnehmung der Situation und damit unserer Reaktion zu
arbeiten“ (1996, 170).
Durch die Einsicht in unsere Wahrnehmungsschemata versetzen wir uns
in den Stand, Bedingtheiten und Dispositionen zu überwinden.
Folgt man dieser These und verbindet sie dann mit dem oben (Teil 1)
Dargelegten, so ergibt sich, dass heutige Wahrnehmungsraster, die
überwiegend Quantifizier- und Messbares sichtbar werden lassen,
emotionale Bewusstseinszustände wie bspw. Empathie, Mitgefühl, Liebe,
Rücksichtnahme,
Hilfsbereitschaft
und
Treue
häufig
unbewusst
ausselektieren. Hier bestätigt sich der Erkenntnisakt als ein „die höchste
Form der Anerkennung der Sozialordnung implizierenden Akt der
Verkennung“ (Bourdieu, 1987, 735), weil sein Zusammenhang mit der
von ihm reproduzierten realen Ordnung verborgen bleibt. Deswegen
wiederholt und belebt das Subjekt das „ökonomische Verdikt in dem
Glauben, es sei sein eigenes“ (ebd.).
Eingedenk
der
oben
geschilderten
vorbewussten
Erkenntnismechanismen, die allem Anschein nach außerordentlich
machtvoll sind, zeigt sich das Subjekt des Erkenntnisprozesses als
vergessenes und dadurch sich selbst vergessendes Subjekt90.
Um
zur
ständigen
Reflexion
dieser
Zusammenhänge
in
der
wissenschaftlichen Praxis und somit auch zur Realisierung pädagogischer
Ansprüche beizutragen, müssen Anhaltspunkte für eine adäquate
Erkenntnishaltung gewonnen werden, die vor allem der tätigen Seite
menschlichen Erkennens Rechnung tragen. Dieses Erfordernis verweist
erneut und nachdrücklich auf das Subjekt und dessen leibliche
Erkenntnispotenziale.
90
„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus ist, dass der Gegenstand, die
Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst
wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher die
tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus – der natürlich die wirkliche,
sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt“ (Marx Thesen über Feuerbach.
Zit. nach: Bourdieu, 1976, 137).
Prozesse leiblichen Erkennens
- 165 -
3.2.4 Der Leib als Erkenntnisquelle
In Kapitel 2.5.6 wurde erörtert, dass leibliche Erkenntnis nicht
verabsolutiert werden braucht, um deren Erkenntnispotenziale fruchtbar
machen zu können. Vielmehr erscheint die Nutzung leiblicher
Erkenntnisquellen in der Wissenschat als Desiderat und sollte demgemäß
als Ergänzung zu rationaler Erkenntnis in Betracht gezogen werden.
Innerhalb der erläuterten Einheit von Subjekt und Welt, die durch
Wechselwirkung charakterisiert ist und auf Seiten des Subjekts durch
dessen Habitus zum Tragen kommt, existiert das erzeugende und
erzeugte Subjekt. Dieses Subjekt muss als untrennbare Einheit angesehen
werden, zumal alle Teilungen sich bis hierhin als artifiziell entpuppt
haben. Das Subjekt ist die untrennbare Einheit von Körper und Geist, die
nachfolgend Leib genannt wird.
Aufgrund seiner ontischen Ambiguität ist der Leib mit rationalen
Erkenntnisquellen allein - die infolge seiner Fragmentierung aufgewertet
wurden - nur bedingt fassbar. Was das Denken an ihm zum Vorschein
bringen kann, ist im Grunde genommen nur die Außendimension, den
Leib-für-Andere. Indes: „Der Andere-als-Gegenstand ist nur eine
unaufrichtige Modalität des Anderen“ (Merleau-Ponty, 1966, 509). Der
Objektivierung des Leibes scheint es geschuldet, dass der Leib des
Forschers als Erkenntnisinstrument von der Wissenschaft bisher nicht
systematisch genutzt wurde.
Das rationale Denk- und Beschreibungssystem der Wissenschaft, das
Fühlen und Spüren immer in Zeichen übersetzt, stößt deshalb
insbesondere bei dem Versuch, den Anderen - der ja fühlendes Subjekt
ist - zu verstehen, bald an Grenzen. Und die durch die gültigen
Wissenschaftskriterien eingeforderte Distanz zum Gegenstand mündet in
einer beschränkten Nutzung des beträchtlichen Erkenntnispotenzials der
eigenen, leiblichen, sinnlichen und bewusstseinsmäßigen Erfahrung, die
den Zugang zum Anderen erschließen kann. Diese leibliche Erfahrung
Prozesse leiblichen Erkennens
- 166 -
bezeichnet nicht bloße Empfindung91, sondern einen Zusammenschluss
von sinnlichen und intellektuellen Erkenntnisquellen, die im Leib vereint
sind. Leib - in Abgrenzung zum Körper - muss als geistiger Leib und
leiblicher Geist verstanden werden, wodurch Geist nicht auf rationale
und technische Intelligenz reduzierbar ist.
Dieser begriffliche Apparat ist konstruiert, um bei der Suche nach
alternativen Quellen menschlicher Erkenntnis dualistische Denkschemata
gleichsam zu unterlaufen. Ein entsprechendes Verständnis von
Erkenntnis unterstreicht die Mechanismen seiner Hervorbringung, die
gemäß dem oben Ausgeführten (3.1.2.2) eine Trennung von Subjekt und
Welt sowie von Geist und Körper ausgeschlossen erscheinen lassen.
Demgemäß kann leibliche Erkenntnis keinesfalls innerhalb des
Einzugsgebietes rationalen Denkens verortet werden, das - wie gezeigt
werden sollte - nur seiner materialen und sozialen Strukturierung
korrelierende Dimensionen von Welt hervorbringen kann. Leibliche
Erkenntnishaltung muss sich vielmehr auf die Wiedervereinigung des
Denkers mit dem Gedachten, des Spürenden mit dem Gespürten richten,
die diese Haltung erst ermöglicht.
Vor allem aus der Soziologie sind Anregungen zum Verständnis des
Leibes als Erkenntnisquelle hervorgegangen92. In der Sportwissenschaft
hat sich unter anderen besonders Franke ausdrücklich mit dieser
Thematik befasst. Er findet in präreflexiver Erkenntnis mit Waldenfels
das Moment der Rhythmisierung, das die vorbewusste Synthesis von
Wahrnehmungsprozessen kennzeichne (vgl. Franke, 2003a, 31-33).
Raum, Bewegung und Rhythmus seien „nicht nur kontext-relevante
Faktoren für den Körper“, also Aspekte, die von außen betrachtet
Bedeutung haben, „sondern gleichzeitig immer auch konstitutive
Bedingungen für die Ausprägung einer bestimmten Form von
Körperlichkeit“ (Franke, 2008, 16). Von diesem Gedanken aus erscheint
91
Das bloße Empfinden ist immer perspektivisch gebunden und deshalb nicht
mit Erkennen gleichzusetzen.
92
Knorr-Cetina
befürwortet
den
Einsatz
des
Leibes
als
„Weltsondierungsinstrument“ (2002b). Bourdieu (1996; 1987, 738-740) sieht ihn als
Speicher von Erfahrung. Implizites Wissen sei primär leiblich verankert (vgl. Bockrath,
2007).
Prozesse leiblichen Erkennens
- 167 -
rhythmisches Schwingen von Lebendigem - in Abgrenzung zur
mechanischen Taktung - als Bezugsphänomen für Ein- und Mitfühlung
und
also
als
erkenntnistheoretisch
relevantes
Merkmal
zum
Fremdverstehen.
3.2.5 Leibliches Verstehen
Nicht rationale Weisen der Wirklichkeitserfassung, die vorbewusst von
dem Leib geleistet werden, erscheinen als Wissen sui generis, das zu
Erkenntnissen anderer Art führen kann. Folgerichtig scheint durch die
gezielte Nutzung leiblicher Erkenntnisquellen - komplementär zu
systematischem, explizitem Wissen - umfassendere Erkenntnis gewonnen
werden zu können.
Derartiges
Wissen
außerordentlich
scheint
relevant.
in
pädagogischen
Beispielsweise
ist
Zusammenhängen
das
Problem
der
Fremderfahrung zwischen Erzieher und Zögling hier ein zentrales
Phänomen93.
Die Stimme, das Gesicht, der Blick, die Haltung, die Pausen, der
Ausdruck des Gegenübers verraten nicht die Logik des Inhalts, sondern
die Inszenierung der Rede, die kognitiv nicht fassbar ist. Man spürt
vielmehr eine Stimmung, die nur unter dem Verlust von Wesentlichem in
Sprache übersetzbar erscheint. Der Andere scheint mir eher als „Spur“
(Levinas, 2007) denn als Eindeutiges gegeben. Leiblich-affektive
Wahrnehmungen können hier einen alternativen Zugang zum Verstehen
des Anderen bedeuten. Abraham greift Levinas’ Motiv der Spur auf:
„Die auf diese Weise eingeholten Erkenntnisse tragen den Charakter
einer ‚Spur’. Sie können den Weg weisen“ (2002, 203). Solche
Erkenntnisse
sind
zur
Realisierung
pädagogischer
Ansprüche
unverzichtbar. Denn pädagogisch wichtige Phänomene wie Kooperation,
Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, Rücksichtnahme, Verantwortung und
93
Der Erzieher darf bei dem Erkennen des Schülers nicht einfach von sich
ausgehen, wie das einfache Einfühlungstheorien, wie die von Th. Lipps (Hua XV, 319f.;
Hua Ι, 91f.), vorgeben. Er muss „Befreier“ (Nietzsche) sein und den Zögling „an sich
gewahr werden lassen, wie der Mensch immer von innen heraus leben muss“ (Goethe,
1998, 374).
Prozesse leiblichen Erkennens
- 168 -
Freude sind nur ganzheitlich wahrnehmbar. Es nützt zu deren
Verständnis nichts, sie in irgendwelche Teile zu zerlegen oder sie zu
kategorisieren,
um
sie
wissenschaftlich
überprüfbarem
Denken
zugänglich zu machen. Sie werden offenbar anhand des Ausdrucks des
Anderen unmittelbar leiblich erkannt. Als Forscher oder als Lehrer
erkennt man den Blick, die Haltung, die Mimik eines zu Untersuchenden
und fühlt mit. Nur durch ein solches leibliches Mitschwingen wird die
pädagogisch
interessante
Gefühlswelt
des
Anderen
überhaupt
aufschliessbar.
Phänomene der Imitation scheinen diesen Aspekt der Selbstbewegung,
den Tamboer „Weltverstehen in Aktion“ (Tamboer, 1994, 37) nennt, zu
belegen. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene ahmen Gesten und Wörter
nach. Verbringen zwei Menschen viel Zeit gemeinsam, so werden sie
sich in Sprache, Haltung und Gestik angleichen. Auf der ursprünglichsten
präobjektiven Ebene der Koexistenz sehe ich im Anderen immer nur
soviel, als ich selbst in mir trage. Nach Sartre ist mir der Andere
unmittelbar und präreflexiv gegeben.
Merleau-Ponty versucht die Frage nach dem Verstehen des Anderen zu
beantworten, indem er auf eine dem Denken vorausliegende Sphäre der
Zwischenleiblichkeit verweist:
„Es ist mein Leib, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und
er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung
seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des
Umgangs mit der Welt“ (Zit. nach: Seewald, 1995, 217).
Die starke Ähnlichkeit des Leibes ermögliche so etwas wie leibliches
Verstehen. Das Verstehen des Anderen
„gründet sich auf die wechselseitige Entsprechung meiner
Intentionen und der Gebärden des Anderen, meiner Gebärden
und der im Verhalten des Anderen sich bekundenden
Intentionen“ (Merleau-Ponty, 1966, 219).
Abraham
schreibt
Zwischenleiblichkeit:
mit
Bezug
auf
dieses
Phänomen
der
Prozesse leiblichen Erkennens
- 169 -
„So ist der Leib in der Lage, die Intentionen eines anderen
Leibes wahrzunehmen, was sich in unwillkürlichen
Mitbewegungen oder auch in Konterbewegungen zeigen
kann, ohne dass dabei das Bewusstsein eingeschaltet werden
müsste. Der Leib reagiert auf den Leib des Anderen über
seine eigenen Kanäle“ (2002, 191).
Die „Vermöglichkeit meines Leibes“ messe sich dem Leib des Anderen
an (vgl. Merleau-Ponty, 1966, 219). Verständnis werde möglich, wenn
mein Leib in der so angezeigten Richtung seinen eigenen Weg finde (vgl.
ebd.). So bestätigt der Andere mich und ich ihn. Unmittelbare
Verständnisprozesse laufen also nicht nur in eine Richtung, sondern sie
sind Wechselspiel. Leibliches Verstehen richtet sich in eins auf den
Anderen und zurück auf mich. Das Verstehen des Anderen lässt mich
nicht unberührt. Die Situation macht etwas mit mir. Sie ergreift mich,
lässt mich schaudern, schmunzeln oder nachsinnen. Ich verstehe den
Anderen, indem ich mich ihm einfüge und der ursprünglichen Bewegung
meines Leibes folge. Um dieses Mitschwingen des eigenen Leibes mit
dem Anderen bewusst und kommunikabel zu machen, um also an jene
Schichten der Welt und des Beobachters heranzukommen, die vor dem
Denken und Sprechen liegen, ist es - so Seewald – notwendig, den Weg
vom vorstellenden zum erlebenden Bewusstsein zurückzufinden (vgl.
1995, 214f.).
Der Blick des Gegenübers zeigt Gefühlswelten, die sich dem Denken
entziehen. Trotzdem gewährt er Einsichten von hohem epistemischen
Wert. Eigentlich kann von Phänomenen wie dem Blick sowie der
Haltung des Anderen gar nicht abgesehen werden, wenn man diesen
verstehen
will94.
Obwohl
so
gewonnene
Erkenntnis
kaum
verallgemeinert und also überprüfbar erscheint, darf sie nicht einfach
geleugnet und übersehen werden. Sie muss mit anderen Möglichkeiten
der Erkenntnisgewinnung ergänzt und abgeglichen werden. Dabei gilt es,
Widersprüche nicht einzuebnen, sondern sie auszuhalten. Denn es bleibt
94
Sartre hat das ambivalente Phänomen des Blicks umfassend bearbeitet (vgl.
1991, 338f.).
Prozesse leiblichen Erkennens
- 170 -
sicherlich ein unauflösbarer Rest, ein „Bedeutungsübergang“ (Seewald,
1995, 232), den man ertragen muss.
Wissenschaftler fortwährend hierauf aufmerksam zu machen erscheint
somit als lohnenswertes Ziel. Ansätze zur Kultivierung leiblichen
Erkennens sollten im Rahmen zukünftiger Forschungen dezidiert vertieft
werden.
3.2.6 Die Methode der Ideierung
Die Haltung, aus der leibliches Verstehen möglich ist, wird nachfolgend
durch eine Skizze Max Schelers’ Philosophie konkretisiert. Damit wird
einer
doppelten
Forschungsfeld
Zielsetzung
nachgegangen.
„intentionale
Leiblichkeit“
Erstens
soll
Vorwürfen
das
der
„Unwissenschaftlichkeit“ entzogen werden und zweitens soll eine
Methode angerissen werden, die in sportpädagogisch relevante
Fragenkreise eingeführt werden könnte.
Ein
erweitertes
Erkenntnisquellen
Wissenschaftsverständnis
verwenden,
die
könnte
empathische
einer
„leiblichen
in
Erkenntnishaltung“ münden, um an den Bereich der primären Erfahrung
heranzukommen, ohne auf den Aufstieg von Empfindung zu Erkenntnis
zu verzichten. Scheler hat hierzu die phänomenologische Methode der
„Entwirklichung“
eingeführt,
die
von
folgenden
ontologischen
Grundgedanken ausgeht.
Zur Wiedergewinnung des Subjekts gehört die Anerkennung der
subjektiven Gefühlswelt. Die ist offensichtlich höchst real und
keineswegs
geträumt
oder
ausgedacht.
Scheler
wandte
die
phänomenologische Methode in modifizierter Weise auf den Bereich der
Gefühle an, der Husserls Interessen kaum berührte95.
95
Er tat dies in ausdrücklicher Abgrenzung zu Kant, wenn er schreibt: „Was wir
also – gegenüber Kant – hier entschieden fordern, ist ein Apriorismus des Emotionalen
und eine Scheidung der falschen Einheit, die bisher zwischen Apriorismus und
Rationalismus bestand. (…) Das Fühlen, das Vorziehen, das Lieben und Hassen des
Geistes (Leibes d. Verf.) hat seinen eigenen apriorischen Gehalt, der von der induktiven
Erfahrung so unabhängig ist, wie die reinen Denkgesetze. Und hier wie dort gibt es eine
Wesensschau der Akte und ihrer Materien, ihrer Fundierung und ihrer Zusammenhänge.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 171 -
Scheler unternahm es also, den riesigen Bereich des Irrationalen in
Erkenntnisprozesse mit einzubeziehen96. Dies ist eine klare Absage an
den Intellektualismus, der den Anderen doch letztlich immer als Objekt
ansieht. Will man den Anderen jedoch in seiner Person erkennen, ist ein
umgekehrter
Zugang
„transzendentalen
Ego“
nötig.
Man
(Husserl),
beginnt
dem
der
nicht
bei
Anschein
einem
eines
solipsistischen Konstrukts anhaftet, sondern bei dem Gedanken, den
Scheler prägnant formuliert: „Es gibt kein ich ohne ein Wir“ (1954, 90)97.
Das Wesen meines Seins ist schon Sein-mit-Anderen, oder wie Sartre
sagen würde „Sein-für-Andere“, weshalb ich den Anderen schon vor
aller Intellektualisierung immer durch meinen Leib verstehe. Die
alltägliche Erfahrung, dass es ein außerhalb von mir existierendes Du
gibt, wird mir zur Bestätigung meiner eigenen Existenz. Dieses Du ist
wie ich selbst zuvorderst Person und nicht Sache. Will man den Anderen
als Person, also in seinem eigentlichen Wesen entdecken, so sind nicht
nur intellektuelle, sondern emotionale Akte zu analysieren, wie sie uns
täglich vorkommen98.
Die Einsicht in die wechselseitige Konstitution von Subjekten innerhalb
des Sozialen scheint durch Schelers Gedanken vertieft werden zu
können. Der aktiv konstituierende Charakter von Wahrnehmung, der
oben (3.1.f.) umrissen wurde, erscheint dabei als zentrales Motiv von
Erkenntnis überhaupt.
Und hier wie dort gibt es ‚Evidenz’ und strengste Exaktheit der phänomenologischen
Feststellung“ (Scheler, 1954, 85f.). Bei der Untersuchung der Grundlagen der Ethik
könne man, so Scheler, die Gefühle nicht einfach übergehen.
96
So konnte Scheler (Nach: Pivcevic, 1972, 131f.) durch die Anerkennung des
Wertes der „nicht-intellektuellen Akte“ besser zum Bereich der Intersubjektivität
Zugang finden, der sich Husserl ja so hartnäckig entzog (vgl. Hua XV, 249, 320, 427).
97
Dieser Gedanke ist Grundlage der existenzialistischen Philosophie vor allem
Sartres, die Schelers Ontologie aufruht.
98
Schelers These ist, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht die höchste
Form der Erkenntnis darstellt, deren ein Mensch fähig ist. Sie bediene sich jener
„technischen Intelligenz“, deren auch Tiere bis zu einem viel geringeren Grad fähig
sind. Der Unterschied des Menschen zum Tier werde durch die menschliche Fähigkeit
zur metaphysischen Erkenntnis über sich selbst begründet und erst dadurch sei ein
Wesensunterschied von Mensch und Tier begründet (vgl. Scheler, 1954, 92; 1995, 36).
Der Mensch allein habe Zugang zum Reich der Essenzen, von dem auch Husserl sprach
und das jetzt durch Scheler um die emotionalen Akte erweitert wird. Diese Rede
verleiht der Schelerschen Ontologie einen deutlichen platonischen Anstrich.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 172 -
Scheler sieht den Menschen als der Welt triebhaft zugewandt. Ähnlich
wie Straus (vgl. 1956, 207f.) findet er zwei Modi des menschlichen
Gerichtetseins auf die Welt: „Auf-zu oder Von weg“ (ebd.); „Verlangen
oder Abscheu“ (Scheler, 1995, 54). Eine solche Zuwendung müsse
vorhanden sein, wenn es auch nur zur einfachsten Empfindung kommen
soll.
„Das ursprüngliche Wirklichkeitserlebnis als Erlebnis des
Widerstandes der Welt geht also allem Be-wußtsein, geht
aller Vor-stellung, aller Wahr-nehmung vorher (Hervorheb.
im Original)“ (ebd.).
Denn Wahrnehmung sei schon geformt durch mannigfaltige und
zufällige Abschattungen der Dinge, die immer nur ihr „Sosein“, aber nie
ihr „Dasein“ geben. „Was uns das Dasein gibt, das ist vielmehr das
Erlebnis des Widerstandes der schon erschlossenen Weltsphäre“ (ebd.,
53). Deshalb sind andere Personen als Personen nicht gegenstandsfähig.
Das Subjekt sei wesentlich „ein stetig sich selbst vollziehendes
Ordnungsgefüge von Akten“ (ebd., 48). Der selbst mentale Prozesse
noch schauende Leib, den Scheler „Geist“ nennt und der jedem Subjekt
zugesprochen werden könne, sei nicht objektivierbar. „Nur dadurch
können wir an (Personen) wissenden Anteil gewinnen, dass wir ihre
freien Akte nach- und mitvollziehen (Hervorheb. im Original) durch (…)
jenes die Haltung der geistigen Liebe mögliche ‚Verstehen’, das
äußerstes Gegenteil aller Vergegenständlichung ist“ (ebd.). Erkenntnis
liegt also niemals nach oder vor den Dingen, sondern in und mit ihnen.
Darum ist ein
„Mitvollzug dieser Akte nicht ein bloßes Auffinden oder
entdecken eines von uns unabhängigen Seienden, sondern ein
wahres Mithervorbringen, ein Miterzeugen (…) aus dem
Zentrum und Ursprung (Hervorheb. im Original) der Dinge
selbst heraus“ (ebd., 49).
Die aktive Weltzuwendung des Subjekts entspringe dem „Lebensdrang“
des Menschen. Das Subjekt konstituiert deswegen schon während jedes
Erkenntnisaktes Welt als Soseiende. Das Dasein der Welt bleibt
gleichsam hinter den zufälligen Abschattungen der Welt verborgen. Der
Prozesse leiblichen Erkennens
- 173 -
Mensch kann also aufgrund seines Lebensdranges, aufgrund seiner tief
verwurzelten Triebhaftigkeit, seiner Existenzmodi des ‚Auf zu’ oder
‚Von weg’, das Dasein der Wirklichkeit nicht erkennen. Dies ist auch die
Existenzweise des Tieres, das wie ‚fest gekettet am Pflock des
Augenblicks’ (Nietzsche) die Welt immer bejahen muss. Auch wenn es
verabscheut und flieht, sagt es noch ja zu der Welt, die primär
Widerstanderlebnis ist.
Folglich gelte es, diese Triebhaftigkeit zu inhibieren. Dabei gehe es um
eine „Außerkraftsetzung des Lebensdranges“ (Scheler, 1995, 55), um
einen Akt der „Entwirklichung“ (ebd.), den Scheler als „ideierenden Akt“
bezeichnet. Der Mensch sei das einzige Lebewesen, das dazu in der Lage
sei. Er sei der „Asket des Lebens“, der „ewige Protestant gegen die
Wirklichkeit“ (ebd.); er sei der Neinsagenkönner.
Durch die Technik der Entwirklichung soll also nicht nur das
Existenzurteil
aufgehoben
werden,
wie
Husserl
meinte.
Die
Urteilsenthaltung anerkennt ja schon ein widerstandabhängiges Erlebnis.
Vielmehr sei das „Realitätsmoment“ selbst zusammen mit seinem
„affektiven Korrelat“ aufzuheben (ebd. 54). Denn jede Wirklichkeit sei
durch ihren Widerstandscharakter „für jedes lebendige Wesen zunächst
ein hemmender, beengender Druck und die reine Angst (ohne jedes
Objekt) ihr Korrelat“ (ebd. 55). Die phänomenologische Reduktion wird
gleichsam eine Ebene tiefer und mit Blick auf Emotionales vollzogen.
Überdies ist das exekutive Zentrum der Reduktion nicht das reine
Bewusstsein, sondern der Leib.
Wenn Dasein Widerstand ist, kann der Akt der Entwirklichung nur in der
Aufhebung jenes Lebensdranges bestehen, im Verhältnis zu dem die
Welt vor allem als Widerstand erscheint, und der zugleich die Bedingung
aller sinnlichen Wahrnehmung des zufälligen Soseins ist. Und den Akt
der Außerkraftsetzung des Lebensdranges kann nur der Leib vollziehen.
Es ist dies ein Willens- und ein Hemmungsakt zugleich.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 174 -
Diese Modifikation der phänomenologischen Reduktion realisiert ein
Schauen, das an einen Ausspruch Buddhas erinnert: ‚Herrlich ist es, jedes
Ding zu schauen, furchtbar es zu sein’. Empfindung und technische
Intelligenz können durch den besagten Willensakt in Erkenntnis
überführt werden. Diese kontemplative Methode macht Fremdverstehen
dadurch möglich, dass das Wesen des Anderen, d.h. seine Person,
unmittelbar geschaut wird99. Dabei spielt die Fähigkeit zur Empathie,
also zur Mit- und Einfühlung, eine elementare Rolle. Außerdem können
inkorporierte Sozialstrukturen des erkennenden Subjekts reflexiv in den
Erkenntnisprozess mit eingebracht werden, um Erkenntnisse zu
präzisieren.
Komplementär
zu
der
phänomenologischen
Wiedervereinigung von Subjekt und Welt wird durch diese Haltung die
artifizielle Trennung von Verstand und Körper des Subjekts aufgehoben,
um das Subjekt auf zweifache Weise für die Wissenschaft zurück zu
gewinnen.
3.3 Qualitative Forschung
Die Geschichte der Phänomenologie dokumentiert in erhellender Weise
Ursprung
und
Genese
Paradigmenwechsels
(vgl.
eines
Kap.
derzeit
2.2f.),
sukzessive
der
auch
stattfindenden
die
Lehre
wissenschaftlicher Methoden nicht unbeeinflusst lässt.
Phänomenologie und Hermeneutik bilden die „wissenschaftstheoretische
Basis für qualitative Forschungsmethoden“ (Lamnek, 1988, 49).
Qualitative Methoden erscheinen als konsequente Weiterführung
subjektorientierter Erkenntnistheorien. Fundament qualitativer Forschung
sind beispielsweise die phänomenologisch begründete Lebensweltanalyse
Husserls (Kap. 2.4), die phänomenologische Hermeneutik Heideggers
(1993, 152f, 312f.), die existenzialistische Philosophie der französischen
Phänomenologen (Kap. 2.5) sowie die philosophische Hermeneutik
Gadamers (1960), der Heideggers Schüler war und bei dem sich die
99
Das meint Mach, wenn er sagt: „Das Auge darf keinen Umweg über den
Verstand nehmen“.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 175 -
Notwendigkeit einer Wendung zum Subjekt auch in methodologischer
Dimension deutlich abzeichnet.
3.3.1 Zur Kritik an der quantitativen Sozialforschung
Das Erfordernis die in jedem Erkenntnisprozess involvierten Subjekte
auch methodologisch ausdrücklich in Rechnung zu stellen kann mit
Lamnek (1988, 6f.) entlang „wichtiger Kritikpunkte an der traditionellen
quantitativen
gleichzeitig
Sozialforschung“
eine
objektivistischen
einsichtig
Zusammenfassung
Denkens
darstellen
oben
und
gemacht
werden,
entfalteter
den
die
Probleme
methodologischen
Gegenentwurf qualitativer Sozialforschung besser begreifbar machen.
Quantitative
Erhebungsverfahren
reduzieren
die
stets
subjektive
Erfahrung auf objektivierbare Häufigkeiten. Die dergestalt restringierte
Erfahrung geschieht zum Zwecke der Kontrollierbarkeit der Welt (Kap.
1.1.6) und zur Stabilisierung von Herrschaft (Kap. 3.2.3). Nach
naturwissenschaftlichem Vorbild wird das Subjekt zum Objekt
transformiert (Kap. 1.2.2). Der Forschungskontext wird häufig
ausgeblendet. Ein bestimmter Methodenapparat verselbständigt sich
gegenüber den Sachen, wodurch die eigentliche Struktur eines
Gegenstandes der eigenen Methodologie zuliebe verleugnet wird (vgl.
Lamnek, 1988, 12f.; vgl. Feyerabend, 1997). Die Sache wird hinter die
Methode zurückgestellt, was offenbar Ausfluss der Faszination vom
„Gesetz der großen Zahl“ (Kap. 1.1.1) und des daraus erwachsenen
Messfetischismus ist. Forschungsfragen, die mit der verfügbaren
Methodologie nicht exakt erfasst werden können werden ausgeschlossen,
anstatt sie zum Anlass zu nehmen, für sie adäquate Methoden zu
entwickeln.
Quantitative Methodologien halten hartnäckig an diesem „Primat der
Methode“ (vgl. Lorenz, 1973a, 43) und also an der Außenperspektive
der „dritten Person“ fest100. Dem ist eine Verdinglichung der beforschten
100
„Aber der Umstand, dass für die Erkenntnistheorie der Standpunkt der dritten
Person charakteristisch ist, sollte uns nicht blind machen gegen die Tatsache, dass die
tatsächliche Ontologie der Geisteszustände eine Ontologie der ersten Person ist“
(Searle, 1996, 30).
Prozesse leiblichen Erkennens
- 176 -
Subjekte geschuldet, durch die das Subjekt-für-sich, also dessen
individuelle Perspektive, nicht in den Blick geraten kann.
„Die Dinghaftigkeit der Methode, ihr eingeborenes
Bestreben, Tatbestände dingfest zu machen, wird auf ihre
Gegenstände, eben die ermittelten subjektiven Tatbestände
übertragen, als ob diese an sich dingfest wären“ (Adorno,
1972, 514).
Die
unreflektierte
Anwendung
außenperspektivischer
Erhebungsmethoden hat sich besonders in den Naturwissenschaften
trotzdem
als
außerordentlich
hilfreich
erwiesen.
Leblose
Untersuchungsgegenstände sind gemäß ihrer Struktur, die keine
Innenperspektive und also keine Subjektivität aufweist, quantitativ
ziemlich101 gut fassbar. Die beteiligte Subjektivität des Forschers kann
häufig
ignoriert
werden,
Messungenauigkeiten
auftreten.
ohne
dass
Wenn
dadurch
dieser
gravierende
Forscher
hingegen
Menschen beforscht ist man unleugbar mit dem objektiven Faktor
Subjektivität - und dann streng genommen auf doppelte Weise
(Betrachter und Betrachteter) - konfrontiert.
„Von der naturwissenschaftlichen Methodologie müssen sich
die Sozialwissenschaften schon deshalb unterscheiden, weil
ihr Gegenstand eben nicht naturwissenschaftliche Objekte,
sondern menschliche Subjekte sind“ (Lamnek, 1988, 14).
Durch standardisierte Methoden werden die beforschten Menschen zu
puren „Datenlieferanten“ (ebd.). Ent-subjektivierung und Depravation
können aber keine Kriterien für Wissenschaftlichkeit sein, unter anderem
weil es ja gerade die Subjekte sind, über die man etwas wissen will.
Während
die
Verabsolutierung
der
naturwissenschaftlichen
Außenperspektive folglich als Vorbild für Wissenschaften vom
Menschen ungeeignet erscheint, versuchen qualitative Verfahren, die
Lebenswelt und die Subjekte nicht in den Schatten einer Methode zu
101
Erst auf subatomarem und kosmologischem Gebiet ist die durch die
subjektive Perspektive des Betrachters bedingte „Verzerrung“ so beträchtlich, dass
außenperspektivische Methodologie offenkundig versagt (vgl. Kap. 1.3.3).
Prozesse leiblichen Erkennens
- 177 -
stellen, sondern die Methode sich allein aus dem Gegenstand entwickeln
zu lassen, den sie konstituiert. Dergestalt generierte Methoden erscheinen
gegenstandsadäquat und also besser geeignet, den Menschen als Subjekt
zu erfassen. „Dies impliziert auch die Berücksichtigung der Individualität
und Einzigartigkeit des beforschten Objekts als Subjekt“ (Lamnek, 1988,
12). Elementares Bestreben qualitativer Verfahren ist es, eben diese
Perspektive der „ersten Person“ aufschließen um an die genuine
Erfahrung des Subjekts zu gelangen.
Naturwissenschaftliche
Außenbetrachtungen
müssen
durch
hermeneutisch-phänomenologischen Nachvollzug der Innenperspektive
des
zu
untersuchenden
Menschen
zumindest
ergänzt
werden.
Beispielsweise kann man anhand quantitativer epidemiologischer Studien
zu Erkenntnissen über die Häufigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen in
NRW gelangen. Die Beweggründe der Frauen, die sich zu einem
Abbruch entscheiden, kann man hingegen zutreffender durch qualitative
Verfahren ermitteln.
3.3.2 Zentrale Prinzipien qualitativer Forschung
Die Grundlagen qualitativer Sozialforschung werden nachfolgend nur
rudimentär erörtert, weil die Zielrichtung der vorliegenden Untersuchung
erkenntnistheoretischer und nicht methodologischer Provenienz ist102.
Gleichwohl erscheint es aus pragmatischer Hinsicht sinnvoll, zentrale
Prinzipien
qualitativer
Sozialforschung
anzumerken,
die
aus
erkenntnistheoretischen Überlegungen stammen.
Hochstandardisierte
Antwortkategorien
Erhebungstechniken
nivellieren
und
vorformulierte
möglicherweise
die
Informationsbereitschaft des Befragten. Aus diesem Grund verzichtet
qualitative Sozialforschung weitgehend auf Hypothesenbildung und
verlagert den Schwerpunkt der Forschung von standardisierenden
Techniken zur sorgfältigen Felderkundung. Hypothesenbildung ohne
vorgängige ausführliche Exploration des Feldes gilt qualitativen
102
Zur erschöpfenderen Würdigung qualitativer Forschungsmethodologien vgl.
Lamnek, 1988 und Strauss, 1996.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 178 -
Forschern als fährlässig, weil bei der Überprüfung der entworfenen
Hypothesen nur Phänomene erfasst werden, die nicht durch das
theoretische Hypothesenkonstrukt ausgesiebt wurden (vgl. Kap. 3.2).
Deshalb
versteht
sich
„qualitative
Sozialforschung
nicht
als
hypothesenprüfendes, sondern als hypothesengenerierendes Verfahren“
(Lamnek, 1988, 23). Der Hypothesenentwicklungsprozess beginnt
nachdem Daten erhoben und Feldbeobachtungen durchgeführt wurden
und rekurriert zu jeder Zeit auf die gewonnen Daten um fortwährend
aktualisiert werden zu können. Jede so generierte Hypothese wird als
vorläufig angesehen. Strauss (1996) spricht bei diesem methodischen
Vorgehen von „Gegenstandsverankerung“, weil Theoriebildungsprozesse
nicht
lebensweltvergessen,
sondern
unter
ständiger
103
Bezugnahme auf Lebenswelt vorangetrieben werden
konkreter
.
Von hier aus erscheint eine prinzipielle Offenheit des Wissenschaftlers
unverzichtbar. Die zu untersuchende Gegebenheit sowie die Konzeption
des Gegenstandsbereiches sollen folgerichtig als vorläufig angesehen
werden. Dadurch wird eine offene Erkenntnishaltung kultiviert, die dem
kommunikativen Prozesscharakter von Gegenstand und Froscher
Rechnung
trägt.
Die
Untersuchungspersonen,
Offenheit
den
des
Forschers
gegenüber
Untersuchungssituationen
und
den
den
Untersuchungsmethoden ist ein wichtiges Charakteristikum qualitativer
Forschung.
Die
Verzögerung
einer
theoretischen
Strukturierung
des
Forschungsgegenstandes durch Hypothesensysteme entspricht zudem
nicht allein dem Prinzip der Offenheit, sondern ebenfalls der Einsicht,
dass Forschung als Kommunikation zwischen Forscher und Beforschtem
zu begreifen ist. Die Einflüsse dieser Interaktionsbeziehung werden nicht
als „Störgrößen“ aufgefasst, die durch Verfeinerung der Methode zu
eliminieren sind. Vielmehr wird dieses kommunikative Verhältnis als
konstitutiver Bestandteil des Forschungsprozesses angesehen. Damit ist
jede Datengewinnung schon eine kommunikative Leistung. Das Prinzip
103
Kodiertechniken der Grounded Theory finden sich bei Strauss, 1996, 43-148.
Prozesse leiblichen Erkennens
- 179 -
„Forschung als Kommunikation“ (Lamnek, 1988, 23) entspricht dem
wichtigen
Gedanken,
dass
jede
Erkenntnis
der
Wirklichkeit
standpunktabhängig ist und Wirklichkeitsdefinitionen folglich perpetuell
zwischen den Teilnehmern des Kommunikationsprozesses ausgehandelt
werden (vgl. Kap. 3.1 und 3.2). Aus der Sicht qualitativer Forscher seien
deswegen in Beobachtung und Interview möglichst „natürliche
Kommunikationssituationen“ (Lamnek, 1988, 24) zu schaffen, deren
Dialogcharakter durch standardisierte Erhebungen natürlich nicht
entsprochen werden kann.
Der Grundannahme des „interpretativen Paradigmas“ (ebd., 43) folgend,
verweist jede Äußerung des Menschen auf den Zusammenhang, in dem
sie vollzogen wird. Die Bedeutung jeder menschlichen Handlung wird
als kontextgebunden begriffen und verweist stets auf das Ganze der
Situation. Sinnkonstitution und Sinnverstehen sind demnach zirkulär. Die
zu analysierende Sinnkonstitution erfordert eine Verstehensleistung, die
produktiv auf diesen Zirkel reflektiert. Gadamer spricht dabei vom
„hermeneutischen Zirkel“. Insofern zunehmend Konstituiertes verstanden
und reflexiv in künftiges Verstehen eingebracht wird, kann man diesen
Zirkel allerdings zutreffender als Spirale bezeichnen (vgl. Kap. 3.2.2),
weil immer weiter und höher reichendes Verstehen möglich wird. Die
qualitative Sozialforschung folgt diesem hermeneutischen Zirkel, indem
sie während des Forschungsprozesses fortlaufend zum Phänomen
zurückblickt und am Ende dieses Prozesses zum Ausgangspunkt
zurückkehrt (vgl. Lamnek, 1988, 27). Praktisch gewendet bedeutet dies,
dass spontanes Reagieren auf neue Konstellationen für den Forscher
möglich bleiben muss. Er muss für Unerwartetes offen und flexibel
bleiben und sein Methodeninstrumentarium anpassen können. Flexible
Erhebungsverfahren können sich den jeweiligen Eigenheiten des
Untersuchungsgegenstandes besser anpassen.
Offenheit,
Kommunikation,
Lebenswelt
und
Subjekt
können
zusammenfassend als zentrale Merkmale qualitativer Sozialforschung
konstatiert werden.
Sportpädagogische Implikationen
- 180 -
Qualitative Forschungsmethoden - als methodologisches Produkt
phänomenologisch-hermeneutischer Erkenntnistheorien - führen in jenen
Wissenschaftsbereichen zu sinnvollen Ergebnisse, in denen es um
menschliche Subjekte geht. Von daher kann es nicht überraschen, dass
Verfahren qualitativer Sozialforschung auch in der Sportpädagogik seit
Mitte der achtziger Jahre an Bedeutung gewonnen haben (vgl. Hunger,
2000, vgl. Miethling, 2004).
Der Paradigmenwechsel von objekt- zum subjektorientiertem Denken
scheint dennoch in den Sportwissenschaften nur ausgesprochen
schleppend Fuß fassen zu können. Um diesen Wechsel konstruktiv zu
beschleunigen wird nachfolgend versucht, die phänomenologische
Erkenntnishaltung in die Wissenschaften vom Sport zu überzuführen, um
elementare Grundlagen einer subjektiv akzentuierten Sportwissenschaft
entfalten zu können.
4
Sportpädagogische Implikationen
Um die phänomenologische Erkenntnishaltung auf die sportpädagogische
Denk-
und
Handlungsrealität
anzuwenden
werden
abschließend
exemplarische Ansätze zu deren Implementierung in Bewegungs- und
Bildungstheorie
vorgezeichnet.
Diese
zwei
Themenkreise
sind
ausgewählt, weil sie den Gegenstand des Sports (Bewegung) sowie den
der Pädagogik (Bildung) unmittelbar betreffen.
Auf wissenschaftstheoretischer Ebene wird eine subjektorientierte
Bewegungstheorie aufgerissen (3.2.1), die nötig ist, weil Selbstbewegung
keine
„Resultante
mechanischer
Abläufe“
(S.
137)
ist.
Unter
bildungstheoretischem Gesichtspunkt wird das bildende Potenzial des
Sports in den Blick genommen (3.2.2), dass nur aus einem prinzipiell
„offenen Erkenntnisansatz“ (S. 115) und vermittels einer konsequenten
Wendung zum Subjekt erschlossen werden kann. Abschließend werden
Gedanken
und
Ideen
zur
Optimierung
einer
dementsprechend
ausgerichteten Lehrerausbildung entwickelt (3.2.3), durch die die „andere
Vernunft“ (S.88) zugleich aktiviert und umgesetzt werden soll. Mithilfe
Sportpädagogische Implikationen
- 181 -
des erörterten epistemologischen Instrumentariums wird also versucht,
sich sportwissenschaftlichen Problemen von der Subjektseite her zu
nähern.
4.1 Konturen einer subjektorientierten
Selbstbewegungstheorie
Bei Versuchen, das Subjekt für die Wissenschaft zurück zu gewinnen,
beansprucht das Problem des Einbezogenseins des Beobachters (vgl.
Kap. 1.3.3) elementaren Stellenwert. Das betrifft ebenmäßig die
Sportwissenschaft, was anhand ihres Gegenstandes - der Selbstbewegung
- deutlich gemacht werden kann. Erkenntnis und Interesse sind immer
eng verflochten (vgl. Habermas, 1968), weil die Perspektive eines
Beobachters den Gegenstand konstituiert. Vor dem Hintergrund unseres
mechanistischen Weltbildes kann es also nicht verwundern, dass heute
dominierende
Bewegungstheorien
Sich-bewegen
als
primär
mechanischen Vorgang erscheinen lassen. Bewegungstheorien, die das
Subjekt ausklammern, sind bei pädagogischen Fragestellungen allerdings
kaum hilfreich, sie sind dafür auch nicht entwickelt worden.
Trebels stellt unter Bezugnahme auf maßgebliche Beiträge zur
Bewegungslehre von Willimczik/Roth (1983) und Meinel/Schnabel
(1976) fest, dass „Bewegung als der äußerlich beobachtbare Aspekt und
Motorik als der Innenaspekt“ des Bewegungsgeschehens ausgelegt
werden. „Orts-, Zeit- und Geschwindigkeitsmerkmale“ einerseits und
„Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer sowie Koordination“ andererseits stehen
„im Zentrum der Bewegungsforschung“ (1992, 20). Dabei werde nur der
„Außenaspekt“
von
Bewegung
zum
„objektivierbaren
Untersuchungsgegenstand“ gemacht, was Bewegung auf mechanische
Abläufe reduziert. „Wenn vom Lebendigsein des menschlichen Körpers
abgesehen wird“ sei dies „der Preis für die Objektivierung“ (ebd., 21).
Die
menschliche
Selbstbewegung
muss
aus
dieser
Perspektive
unverständlich bleiben, weil das Subjekt der Bewegung, die konkrete
Bewegungssituation sowie die Bedeutung, die die Bewegungsaktion
leitet, unzureichend berücksichtigt werden.
Sportpädagogische Implikationen
- 182 -
Die Art, wie Bewegung gedacht wird, zeigt sich bei entsprechenden
Erhebungsverfahren, bspw. bei Messungen. Eine Messung ist immer mit
epistemologischen
Schwierigkeiten
verbunden.
Denn
Messgeräte
verkörpern gültige Gütemaßstäbe, weil sie entwickelt worden sind, um
ganz bestimmte Aspekte der Wirklichkeit reliabel festzuhalten. Und zwar
nur die Aspekte, die für wichtig gehalten werden. Andere Aspekte
werden nicht verzeichnet. Durch diese Perspektive auf das Untersuchte
wird somit nur der Wirklichkeitsaspekt beleuchtet und vertieft, der schon
bekannt ist.
Dieser Ausschnitt ist durch den Betrachter - in diesem Fall das
Messinstrument - konstituiert, so dass die Ergebnisse vor allem
Aufschluss über die Erkenntnisraster desjenigen offenbaren, der das
Instrument konstruiert hat. Die Struktur des Gerätes bestimmt die
Auswahl des Erkannten. Bezogen auf die besondere Erfahrungsform des
Messens entsprechen die vom Menschen „künstlich herbeigeführten und
aufrechterhaltenen,
unverzichtbaren
Messgeräteigenschaften
dem
kantischen Apriori“ (Janich, 2000, 66). Keine Vermessung und
Berechnung ist voraussetzungsfrei.
„Messende Wissenschaften verkennen manchmal, dass ohne
vorgängige, d.h. (relativ) apriorische Zwecksetzung für die
moderne Technik des Messens (und übrigens auch des
Experimentierens) keine Erfahrung in Form von Messdaten
zustande kommt“ (ebd., 70)104.
Dadurch kann nur die Wahrheit erkannt werden, die ohnehin schon
feststeht.
Erst durch auftretende Anomalien wird die Konstruktion anderer
Messgeräte initiiert, die dann neue Phänomene vertiefen. Neuigkeiten
entdecken kann die Messung kaum, auch weil der Sinnzusammenhang
von menschlicher Selbstbewegung in ihrem Kontext durch ein Messgerät
104
Das bedeutet, dass kein Objekt innere Eigenschaften besitzt, die von seiner
Umwelt unabhängig sind. Seine Eigenschaften „hängen von der experimentellen
Situation ab, das heißt von der Apparatur, zu der es in Wechselbeziehung treten muss“
(Capra, 1983, 81/82). Befunde der Quantenphysik und neuerdings der Genetik
untermauern damit Niels Bohrs Idee der wechselseitigen „Komplementarität“ (Bohr,
1958, 20), womit die klassische Vorstellung von festen und getrennten Objekten obsolet
ist.
Sportpädagogische Implikationen
- 183 -
nicht „gesehen“ wird. Der Versuch, Selbstbewegung zu messen,
beinhaltet demnach prinzipiell die Gefahr, Selbstbewegung mit
Bewegung im Sinne von bewegt werden zu verwechseln.
Da Sportwissenschaft sich als Handlungswissenschaft (Franke, 1978)
versteht, „in deren Mittelpunkt das sportliche wie auch spielerische
Bewegungshandeln des Menschen steht“ (Meinberg, 1996, 14), muss sie
jedoch vorrangig versuchen, Sinn- und Bedeutungszusammenhänge von
Bewegung zu erschließen. Um diese Zielsetzung ansteuern zu können,
reichen
quantitative
Erhebungen
nicht
aus.
Vielmehr
ist
der
Wissenschaftler auf direkte Beobachtung angewiesen. Bei den „Sachen
selbst“ erscheint es möglich, neue Phänomene zu entdecken, die
vielleicht von Tragweite auch für andere Forschungsrichtungen sind.
Beachtet man hierbei die intentionale Verwicklung des Beobachters in
den Beobachtungsprozess, so können dessen erfahrungsabhängig
geformte Perspektive sowie sein Erkenntnisinteresse transparent gemacht
werden. Von hier aus kann es gelingen, die Aufmerksamkeit aktiv und
selbstreflexiv auf neue Phänomene zu richten, wodurch dessen
Konstituierung stattfinden kann. Durch diese phänomenologische
Methode des Schauens sollen solche Aspekte von Selbstbewegung
sichtbar werden, die durch herkömmliche Bewegungstheorien unsichtbar
und damit nicht verständlich blieben.
Diese Probleme sind heute von einigen Vertretern der Bewegungslehre
erkannt
worden.
Neumaier
stellt
hinsichtlich
der
Bewegungsbeurteilungsqualität in der Sportpraxis fest: „Die im
Beurteiler
selbst
wirksamen
individuellen
Einflüsse
auf
den
Wahrnehmungsprozess (müssen) diagnostiziert werden“ (1988, 21). Das
Verständnis von sportlicher Bewegung erfordert demnach eine
gründliche Auseinandersetzung mit der Beobachterfrage.
„Es ist also nochmals ausdrücklich hervorzuheben, dass die
Erfahrungs- und Wissensstruktur einer Person entscheidende
Einflussgrößen auf die visuelle Wahrnehmung sind. Je
komplexer ein Wahrnehmungsgegenstand ist, desto mehr
Gewicht kommt diesen Faktoren zu“ (ebd., 163).
Sportpädagogische Implikationen
- 184 -
Die „subjektive Situationseinschätzung“ (Neumaier, 2003, 61) des
sportwissenschaftlichen Beobachters oder Theoretikers ist genau wie die
„Bewegungskoordination“ des Sportlers als „intentional“ (ebd.) zu
begreifen.
Hieraus
folgt,
dass
sportwissenschaftliche
Bewegungsforschung die Intentionalität und damit die Subjektivität
sowohl
des
Sich-bewegenden
als
auch
des
Beobachters
von
Selbstbewegung nicht übersehen darf.
Die Intentionalität des Subjekts muss schon im Verlauf von
Theoriebildungsprozessen ausgewiesen werden, weil jede intentionale
Gerichtetheit nur bestimmte Wirklichkeitsaspekte beleuchtet. Diese
unterschiedlichen Blickrichtungen sind im Interesse eines umfassenderen
Erkenntnisgewinns zusammenzuführen. Dies erfordert interdisziplinäre
Forschungen und integrative Ansätze.
Ein
diesbezüglich
beispielhafter
Ansatz
der
neueren
sportwissenschaftlichen Bewegungslehre liegt durch Neumaier (2003)
bereits
vor.
Darin
neurophysiologische
fließen
und
morphologische,
biomechanische,
handlungstheoretische
Betrachtungen
zusammen. Dieses Modell ist auch deswegen interessant, weil im
Rahmen der so genannten „handlungstheoretischen Grundauffassung von
Bewegung“ (Neumaier, 2003, 56f.) mit Nitsch/Munzert (1997)
„Bewegen als Handeln“ begriffen wird. Aus dieser Hinsicht erscheinen
drei konstitutive Merkmale von Selbstbewegung, die zugleich als
Unterscheidungskriterien von Bewegung und Selbstbewegung fungieren.
1. Bewegung wird als „Systemprozess“ verstanden, in den immer
„Personen als Ganze“ verwickelt sind.
2. Um Bewegung verstehen zu können, muss der „situative
Kontext“ berücksichtigt werden.
3. „Bewegungen sind immer intentional organisiert, d.h. wir
bewegen uns“ (Neumaier, 2003, 56/57).
Diese
drei
Merkmale
von
Selbstbewegung
implizieren
zwei
grundlegende Gedanken: Einerseits wird durch Aufwertung des
Umweltbezugs der Verschränktheit von Subjekt und Welt Rechnung
getragen. Andererseits wird das Subjekt als ganzheitlich und intentional
Sportpädagogische Implikationen
- 185 -
verstanden. Offenbar wird dem intentionalen Subjekt der Bewegung
zumindest in Teilen der zeitgenössischen Bewegungsforschung eine
zentralere Bedeutung beigemessen. Im Licht dieser Tendenz erscheint es
nicht
abwegig,
einen
solchen
Subjektbegriff
auch
in
geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu gebrauchen.
Für die Sportpädagogik ist dies von Gordijn (1975) vermittels des
dialogischen
Bewegungskonzepts
unternommen
worden.
Seine
phänomenologische Charakterisierung von Selbstbewegung erscheint
nahezu identisch mit der Neumaiers. Unter Bezugnahme auf Buytendijk
(1956) stellt er drei Merkmale von Selbstbewegung heraus, die sie von
einer „physikalischen Bewegungstheorie als Ortsveränderung eines
Körpers in Raum und Zeit“ (In: Trebels, 1992, 22)105 unterscheiden.
Bewegung des Lebendigen sei nur begreifbar zu machen, wenn Bezug
genommen werde auf
1. einen Aktor, der Subjekt der Bewegung ist,
2. eine konkrete Situation, in die die Bewegungsaktion eingebunden
ist,
3. eine Bedeutung, welche die Bewegungsaktion leitet und sie in
ihrer Struktur begreiflich macht.
In Übereinstimmung mit den drei Aspekten, die Neumaier unter
handlungstheoretischer Perspektive beleuchtet, konvergieren auch die
von Trebels genannten Gesichtspunkte auf die Verschränkung von
Subjekt und Welt sowie den darin zu verortenden Faktor „intentionales
Subjekt“. Dieses Verständnis von Selbstbewegung hat allerdings noch
nicht in alle sportwissenschaftliche Teildisziplinen Eingang gefunden,
was aktuelle Standardisierungstendenzen dokumentieren, die Subjekte
notwendig ausgrenzen.
Das
Phänomen
der
Intentionalität
bewirkt
anscheinend
in
naturwissenschaftlichen Forschungsfeldern ein Umdenken. Dualistisches
105
Das Werk Gordijns ist bisher nicht aus dem Niederländischen übersetzt
worden. Deshalb ist man bei dem Studium des dialogischen Bewegungskonzeptes auf
seinen Schüler Tamboer verwiesen. Außerdem hat Trebels Gordijns Schriften in die
deutsche Sportpädagogik eingeführt.
Sportpädagogische Implikationen
- 186 -
Ursache-Wirkungs-Denken wird sukzessive als Hindernis für das Denken
neuer Bewegungsstrukturen wahrgenommen.
„Man kommt mit der Übernahme von gebräuchlichen
Bewegungsanweisungen, die nur Einzelaspekte der
Bewegung betreffen, nicht aus, sondern wir brauchen für die
Praxis eine ganzheitliche Sicht der wesentlichen
Bewegungszusammenhänge“ (Kassat, 1995, 56).
Kassat
spricht
von
Bewegungsbetrachtung“,
einem
der
„grundsätzlichen
nötig
sei
(ebd.,
Wandel
in
40/41).
der
Beim
Bewegungsgeschehen ist die Frage „Was soll erreicht werden“ (ebd., 51)
ganz entscheidend, ja konstitutiv für die Bewegung. Dies befördert das
intentionale Subjekt ins Blickfeld. Das deutet schon Meinel an wenn er
schreibt: „Die Struktur der Bewegung ist durch den Zweck bestimmt, der
verwirklicht werden soll. (…) Die Bewegungsstruktur bildet sich in der
zweckbestimmten Auseinandersetzung mit der Umwelt heraus“ (Meinel,
1960, 148). Leider vertieft Meinel diesen Gesichtpunkt kaum. Doch muss
dieser „Zweck, der verwirklicht werden soll, (…) in irgendeiner Weise
Inhalt der Bewegungsaufgabe“ (Kassat, 1995, 77) sein. Um eine
Bewegung zu verstehen, erscheint es demnach nötig, den Zweck dieser
Bewegung zu betrachten. Was Meinel „Zweck“ nennt, betrifft zweifellos
die Intentionalität von Bewegung. Die muss anscheinend ausdrücklich
thematisiert werden, um Bewegungen überhaupt verstehen zu können.
Doch nicht nur die Intentionalität von Bewegung, sondern ebenso jene
der Wahrnehmung des Beobachters von Bewegung ist bei der
Entwicklung von Bewegungstheorien konsequent zu beachten. Insofern
„Theorie“ dem griechischen Wortsinn nach Blicklenkung bedeutet, lässt
sie bestimmte Wirklichkeitsaspekte hertreten. Theorien, die Bewegung
von außen beschreiben wollen, implizieren also eine Haltung, die auf
mechanische Gesichtspunkte von Selbstbewegung konzentriert ist.
Kassat liefert hierfür eine leicht verständliche Formulierung:
„Bei den bisher üblichen Betrachtungen der äußeren
Bewegung blieb der Aspekt Bewegungsaufgabe meist im
Hintergrund und fand teilweise überhaupt keine
Berücksichtigung.
Ausgangspunkt
der
Bewegungsbetrachtungen
waren
in
der
Regel
Sportpädagogische Implikationen
- 187 -
Bewegungsbeschreibungen,
bei
denen
die
Bewegungsaufgabe keine Rolle spielt. Wir müssen aber
gerade diesem Aspekt eine primäre Bedeutung zuordnen,
weil dem Bewegungsgeschehen sonst der eigentliche Sinn
fehlt und es dann logischerweise nicht zu verstehen ist.“
(Kassat, 1995, 77).
Die
Unterscheidung
von
Bewegungsaufgabe
und
Bewegungsbeschreibung ist also nicht nur didaktisch relevant, sondern in
der
Bewegungsaufgabe
wird
das
Subjekt
wichtig,
in
der
Bewegungsbeschreibung nur die Sache. Die Gerichtetheit des sichbewegenden Subjekts kann erst durch Reflexion und gegebenenfalls
Variation der Wahrnehmungsintentionalität eines Beobachters erkannt
werden, wodurch die Intentionalität des Beobachters mit jener des Sichbewegenden korrespondiert.
Aufzählungen und Erörterungen von Einzelaspekten können die
Bewegung von toten Objekten, aber nicht den Sinn der Selbstbewegung
erschließen. Denn Teile erhalten ihren Sinn erst vom Ganzen. Nicolai
Hartmanns ontologisches Konzept der Schichtung findet damit in der
Bewegungslehre
eine
Bestätigung
(vgl.
Kap.
2.5.7.).
Der
Schichtungsgedanke bezeichnet einen Wesensunterschied zwischen
einem Ganzen und dessen Einzelteilen. In der ganzen Bewegung liegt
eine Kraft beschlossen, die mehr ist als jede ihrer Äußerungen. Dazu
bemerkt Musil: „Auf geheimnisvolle Weise geht im Leben das Ganze vor
den Einzelheiten“ (1987, 194). Für die Bewegungslehre bedeutet dies,
dass äußerlich sichtbare Einzelaspekte von Selbstbewegung nie mit der
intentional aufgeladenen Bedeutung der ganzen Selbstbewegung
gleichzusetzen sind. Die Selbstbewegung und deren Beobachter sind
durch das Band der Intentionalität miteinander verknüpft, das die
Identität beider als relativ, als dialektisch ausweist.
Um Selbstbewegung besser verstehen zu können, muss dieses
intentionale Band zwischen sich ausweisendem Noema und intentionaler
Noesis (Objekt und Subjekt) in Selbstbewegungstheorien reflexiv
modifiziert werden, d.h. Sportwissenschaft muss ihren Gegenstand
anders sehen lernen. „Es besteht die Notwendigkeit, Bewegung anders zu
Sportpädagogische Implikationen
- 188 -
denken“ (Kassat, 1995, 115). Elementarer Bestandteil dieses neuen
Denkens könnte der Gedanke der Intentionalität sein.
Die dominierende Perspektive auf Bewegung und die durch sie
konstruierte Bewegungstheorie ist anscheinend auf doppelte Weise um
den Faktor Subjekt (Subjekt der Bewegung und beobachtendes Subjekt)
zu
erweitern,
damit
zu
einer
ganzheitlicheren
Theorie
von
Selbstbewegung vorangeschritten werden kann. Die exemplarischen
Schlussfolgerungen dieses erkenntnistheoretischen Beitrags treten somit
neben die seit längerer Zeit verfolgten didaktischen Bemühungen um den
offenen Unterricht, der ebenfalls auf einem phänomenologischen Grund
steht (vgl. Funke, 1991). Dort sollen u.a. die Wahrnehmungsfähigkeiten
der Schüler durch Sport gefördert werden (vgl. u.a. Balz et al., 1997,
21f., Franke, 2003, 18; Klinge, 2008, 4ff.). Das vorliegende Kapitel
bezieht sich dagegen nur indirekt auf Schüler, weil ein Anstoß zur
Verbesserung
von
Forschung
und
Unterricht
via
Erkenntnisfähigkeitsentwicklung des Wissenschaftlers, oder auch des
Sportlehrers gegeben werden soll, der seinen Niederschlag schon
während Theoriebildungsvorgängen, bzw. Unterrichtsplanungen und
damit letztlich auch in didaktischen Verfahren finden muss.
Diese
erkenntnistheoretische
Begründung
phänomenologischer
Bewegungstheorien ist aufs engste mit der Frage nach dem bildenden
Potenzial des Sports bzw. sportlicher Bewegung verflochten. Auf diesem
Fundament erscheint das Subjekt nämlich eindeutig als Sinn stiftend,
weswegen es sinnvoll erscheint, subjektorientierte Bewegungstheorien
für die Sportwissenschaft weiter zu entwickeln und entsprechende
Ansätze, wie etwa den phänomenologischen, auch in pädagogischdidaktischer Hinsicht weiter zu denken.
Sportpädagogische Implikationen
- 189 -
4.2 Das Bildungspotenzial des Sports…
Um Sport als Schulfach zu legitimieren, reicht es nicht aus,
ausschließlich sportliche Inhalte zu vermitteln. Vielmehr bedarf es in
Ergänzung hierzu eines ausdrücklich pädagogischen Anspruchs dieses
Unterrichts, der kaum mit inhaltsleeren Etiketten wie „immanentem
Sinn“ (Bernett, 1965) oder „Sinnmitte“ (Kurz, 1986) des Sports
begründet werden kann. Erst von einer überzeugenden Begründung der
Notwendigkeit eines pädagogischen Anspruchs aus gewinnt eine
Verankerung des Schulsports in dem Curriculum der Schule ihre
eigentliche pädagogische Berechtigung. Sport als Schulfach muss sich an
seinem pädagogischen Anspruch messen lassen, der zugleich die
Aufgabe des Sportunterrichts darstellt, die für Grupe „Bildung“ (1967,
131. Zit. nach: Beckers, 2006, 43) ist. Resultate aktueller Anstrengungen,
Sport als Schulfach zu legitimieren, werden nachfolgend kurz
zusammengefasst. Von dem aktuellen Diskussionsstand aus wird
plausibel, dass der zuvor entfaltete Begriff des intentionalen Subjekts als
ein Beitrag zur aktuell notwendigen „bildungstheoretisch begründeten
Positionierung des Faches Sport“ (Schmidt-Millard, 2007a, 105)
angesehen werden kann.
Passender Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen ist die so
genannte
„Instrumentalisierungs-Kontroverse“
139/141/163),
in
Bildungsbegriffes
der
es
im
Grunde
um
für
die
Sportpädagogik
(vgl.
eine
geht.
Prohl,
Deutung
Obwohl
2006,
des
diese
Kontroverse in dem hier verfügbaren Rahmen nicht in Gänze gewürdigt
werden kann, soll sie in wenigen Strichen nachgezeichnet werden.
Auf der einen Seite betont Beckers die Wichtigkeit einer qualitativen
Erweiterung des Subjekt-Welt-Verhältnisses, die nicht durch eine zu
starke Orientierung an der „normativen Kraft des faktischen Sports“
erreichbar sei (1987, 242), sondern immer auch über den Sport hinaus
weise. Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass Sport keinen
kulturunabhängigen, immanenten Sinn aufweise, sondern sich mit der
Kultur verändert, die sich im Bewegungsverhalten der jeweiligen Zeit
Sportpädagogische Implikationen
- 190 -
spiegelt (vgl. 1993a, 227). Auf der anderen Seite sieht Schaller Sport als
„Selbstzweck“ an. Eine „programmatische Vereinnahmung des Sports
für Zwecke jeder Art“ (1992, 11) sei daher strikt abzulehnen. Sinn sei
stringent und exklusiv aus dem Basisphänomen Sport zu gewinnen. Die
Persönlichkeitsentwicklung der im Sportunterricht vorkommenden
Subjekte trete dabei als Epiphänomen auf.
Auf dieser Argumentationslinie spricht Brettschneider von dem „Geist
des Sports“ und Kurz proklamierte im Rahmen einer pragmatischen
Sportdidaktik „Handlungsfähigkeit im Sport“ (1990). Diese Ansichten
implizieren einen Bildungsbegriff, nach dem die Bedeutung des
„Kulturgeists Sport“ vor der der Subjekte des Sportunterrichts rangiert.
Hierbei ist ein pädagogischer Anspruch kaum erkennbar, denn Ziel eines
derart
konzipierten
Unterrichts
ist
es
offenbar
nicht,
die
„Handlungsfähigkeit“ der Subjekte auch über den Sport hinaus zu
fördern106. Von daher erscheint diese „traditionalistische Position“
(Schmidt-Millard, 2007a, 105), die einen Rückfall in längst überholte
„materiale Bildungsvorstellungen“ (vgl. ebd.) bedeutet, für eine
Erziehung zum selbständig denkenden, handelnden und fühlenden
Subjekt wenig hilfreich, weil ein pädagogischer Anspruch allein aus der
Sache Sport und unter „Ausklammerung des Subjekts“ (vgl. ebd.)
begründet wird. Der materiale Bildungsbegriff, der dieser Position
innewohnt, hat in eine Legitimationskrise des Schulfaches Sport geführt.
Auf diesem Hintergrund wird der Auftrag des Schulfachs Sport derzeit
immer
noch
gegensätzlich
diskutiert
(vgl.
Kurz,
2008).
Der
Instrumentalisierungsstreit dauert im Gewand anderer Begriffe fort.
Die sportpädagogische Fachgemeinschaft gliedert sich heute grob in zwei
Lager:
Eine
Gruppe
betont
die
inhaltliche
Ebene
des
Schulsportunterrichts (Brettschneider, Hummel)107, die andere hebt die
106
Vgl. dazu die damalige Kritik an der pragmatischen Sportdidaktik von
Dietrich / Landau, 1990, 75f.; Schmidt-Millard, 1992 und Grössing 1997, 34f.
107
Diese Autoren stellen den Doppelauftrag ausdrücklich in Frage und erachten
Entwicklungsförderung als „nachrangig“ (vgl. Brettschneider, 2005, 321) und auf die
Förderung der körperlichen und motorischen Entwicklung zu konzentrieren (vgl.
Hummel, 2005, 353). Diese Tendenzen erscheinen als Ausfluss eines objektivistischen
Paradigmas, das zu der Suche nach Verbesserungen von pädagogisch akzentuiertem
Sportpädagogische Implikationen
- 191 -
dort involvierten Subjekte (u.a. Beckers, Prohl, Schmidt-Millard, Thiele)
hervor (vgl. Kurz, 2008, 5). Diese Aufteilung entspricht einer
Fragmentierung des v. Hentigschen Ausspruchs: „Die Sache klären, die
Menschen stärken“. Dieser traditionellen Auffassung von der zweifachen
Aufgabe der Erziehung soll nun auch im Sportunterricht entsprochen
werden. Auf dem Weg zu einem Kompromiss war sodann von
Handlungsfähigkeit im und durch Sport die Rede. Schließlich kam man
überein, den Doppelauftrag von Schulsport in den NRW Richtlinien von
1999 wie folgt auszuformulieren: „Entwicklungsförderung durch
Bewegung, Spiel und Sport und Erschließung der Bewegungs-, Spielund
Sportkultur“.
Schulsportunterricht
soll
innerhalb
dieses
Spannungsfeldes oszillieren; er soll sich zwischen Inhalten und Personen
abspielen108.
Um neben der Vermittlung von sportlichen Inhalten ebenso die
Ausbildung subjektiver Kompetenzen zu gewährleisten sind sechs
pädagogische Perspektiven entwickelt worden, die pädagogisch relevante
Aspekte109 der Unterrichtsinhalte hervortreten lassen. Hierdurch wird die
inhaltliche Ausrichtung des Sportunterrichts durch den Gesichtpunkt der
Persönlichkeitsentwicklung ergänzt. Damit gerät das sich bildende
Schulsportunterricht wenig Konstruktives beizutragen scheint. Entsprechende
Positionen bedeuten ja im Wesentlichen nur einen Rückschritt zu dem
Sportartenkonzept (vgl. Kurz, 2008, 4). Brettschneider (2005, 321) bekämpfe damit den
pädagogischen Anspruch, an dessen Stelle wieder der „vermeintliche Sinn des Sports“
treten solle (vgl. Beckers, 2006, 47). „Das ist eine klare Wiederbelebung der
überwunden geglaubten Position von 1982“ (ebd.). Außerdem bleibt unklar, warum
Persönlichkeitsentwicklung, um die es bei erziehendem Sportunterricht wesentlich geht,
dem Bereich „Spaß- und Kuschelpädagogik“ (Hummel, 2005, 353) zufällt. Sie steht ja
vielmehr im Zentrum der Entwicklung von mündigen Bürgern und ist damit
grundlegend für die Existenz demokratischer Gesellschaften. Demokratie braucht
„reflexive Kooperation“ (Honneth) entwickelter und also selbständig denkender
Individuen, für deren Erziehung der schulische Unterricht zuständig ist. Um derartige
Rückfälle künftig zu verhindern, müssen Lehrer und Theoretiker mit leiblichen
Erkenntnishaltungen vertraut gemacht werden.
108
Die Wendung vom sportartenorientierten Lehrplanwerk der 80er Jahre zur
aktuellen Lehrplangeneration wird von Stibbe prägnant zusammengefasst: „Von einem
instruktionsorientierten Sportunterricht, der auch erzieht, zu einem erziehenden
Sportunterricht, der auch instruiert“ (2000, 217).
109
Die pädagogischen Perspektiven, die den Doppelauftrag konkretisieren sollen,
rücken folgende Kompetenzen des Schülers ins Blickfeld: Wahrnehmungsfähigkeit,
Bewegungserfahrung, Wagen und Verantworten, Leistung reflektieren, Kooperation,
Verständigung, Wettkämpfen und Gesundheitsbewusstsein. Die korrekt ausformulierten
pädagogischen Perspektiven, die auf diese Kompetenzen zielen, finden sich bei Kurz,
2006 oder Prohl, 2006, 178.
Sportpädagogische Implikationen
- 192 -
Subjekt explizit ins Blickfeld, womit die Grundlage für eine Erziehung
zum mündigen Subjekt auch im Sportunterricht geschaffen ist.
Der pädagogische Grundgedanke des Doppelauftrags, mit dem sich
gegenwärtig der Begriff Erziehender Sportunterricht verbindet, erfährt
allerdings auch massive Kritik110. Für Prohl (2006) ist die Anzeichen
eines
„Begründungsproblems
(Doppelauftrag),
das
ein
der
pädagogischen
Orientierungsproblem
der
Grundlegung
didaktischen
Umsetzung (Mehr- Vielperspektivität) nach sich zieht“ (ebd., 182).
Ausgehend von einem dieser Kritikpunkte kann verdeutlicht werden,
warum der Doppelauftrag noch nicht hinreichend begründet ist und auf
welchem tiefer reichenden Aspekt diese Begründung vorgenommen
werden kann. Thiele bezeichnet die sechs pädagogischen Perspektiven
als willkürlich ausgewählt und theoretisch unbegründet. Er sieht dabei
die
Gefahr
einer
„pädagogischen
Orientierung
im
Sinne
der
vorwegnehmenden Ausrichtung an materialen Wertvorgaben“ (2001,
47). Dies stehe im Zusammenhang mit dem ungeklärten Verhältnis von
Selbst- und Fremdbestimmung, das zwischen pädagogischen und
Sinnperspektiven feststellbar sei (vgl. ebd., 46). Obwohl durch die
pädagogischen Perspektiven eine deutliche Wendung zum Subjekt und
seinen Kompetenzen erfolgt - die über den Sport hinaus in seinem
persönlichen Leben von Bedeutung sind - erscheint jedoch vor allem
unzureichend, dass die ausgewählten pädagogischen Ansprüche von
außen an das Subjekt gerichtet werden. Es müssen folgerichtig Wege
ausgelotet werden, den Schüler und dessen Innenperspektive in noch
umfangreicherem Maße in die Gestaltung von Unterricht mit
einzubeziehen. Die Beachtung der Innenperspektive des Subjekts
erscheint als fehlendes Glied in der Begründungslogik des erziehenden
Sportunterrichts. Sportlicher Inhalt und persönliche Kompetenzen des
Subjekts werden durch den Doppelauftrag berücksichtigt. Kaum aber der
Umstand, dass das Subjekt-für-sich Sinn stiftend auf die Welt gerichtet
ist und vielmehr sich bildet als gebildet wird. Der Gesichtpunkt der
110
Zur Kritik an dem Konzept des Erziehenden Sportunterrichts vgl. Thiele,
2001, Beckers, 2003, Balz, 2004, Laging, 2005.
Sportpädagogische Implikationen
- 193 -
Innenperspektive des Schülers muss also als dritter Bezugspunkt
pädagogischen Denkens neben Inhalt und Person gestellt werden. Unter
diesem Aspekt kann das Bildungspotenzial des Sportunterrichts weiter
begründet werden.
Ein möglicher Weg, das Bildungspotenzial des Sports aus der
Bildsamkeit des Subjekts begründen zu können, nimmt seinen Ausgang
bei Erwin Straus’ (1956) Gedanken der Einheit von Empfinden und SichBewegen. Aus phänomenologischer Sicht erscheint der Mensch seiner
ontischen Struktur gemäß als ein empfindendes und sich-bewegendes
Wesen. Er bewegt sich entweder auf die Welt zu oder von ihr weg.
Umgekehrt erscheint die Welt ihm attraktiv oder abstoßend111. Diese
dialektische Struktur menschlichen Verhaltens hat Freud in seiner
Trieblehre anhand der zwei Grundtriebe „Eros und Destruktionstrieb“
(1972, 12) charakterisiert. Diese Grundtriebe alles empfindenden Lebens
finden ihre Entsprechung in der Außenwelt qua Grundkräfte112, durch die
jedwede Bildung von Subjekten und Objekten sich vollzieht. Subjektive
Zuwendung, bzw. Abneigung fallen mit ihren objektiven Korrelaten
Anziehung und Abstoßung zusammen, weil Subjekt und Welt untrennbar
sind. Innerhalb dieser Verschränktheit von Subjekt und Welt erscheint
das Subjekt als fortwährend auf die Welt gerichtet. Dieses intentionale
Zur-Welt-Sein des Subjekts konturiert sich während des prozesshaften
Mensch-Welt-Bezugs. Die Ausbildung der Intentionalität des Subjekts
geschieht in der Begegnung mit Welt, die Objekt- oder Sozialwelt ist.
Dabei ist das Subjekt nicht passiv, sondern es formt sich aktiv an der
Umwelt, der es durch sein Erkennen und Handeln Sinn verleiht.
Sinnfindung obliegt damit der Bildsamkeit des Schülers (vgl. Laging,
2005, 278). Das Subjekt bildet sich selbst an Objekten der Außenwelt,
die auch andere Subjekte sein können, weil der Andere mir primär als
Objekt vorkommt (vgl. Kap. 2.5.3). Auf den Sport zugespitzt impliziert
111
Scheler hat dieses ontologische Strukturmoment anhand der Begriffe
Sympathie und Antipathie analysiert (vgl. 1954).
112
„Über den Bereich des Lebenden hinaus führt die Analogie unserer beiden
Grundtriebe zu dem im Anorganischen herrschenden Gegensatzpaar von Anziehung
und Abstoßung (Freud, 1972, 12).
Sportpädagogische Implikationen
- 194 -
dies: Der zu überwindende Bock beim Gerätturnen, der zu erzielende
Korb beim Basketball oder eben der verteidigende Mitspieler, den es zu
überwinden gilt, sind Objekte, an denen das Subjekt sich potenziell
bilden kann. Das bildende Potenzial des Sports liegt in der aktiven
Begegnung von Subjekt und Weltobjekten beschlossen, die sich relativ
bedingen, also auch in den mit der sportlichen Tätigkeit verbundenen
Umständen. In diesem dialektischen Prozess findet das Subjekt
Widerstände, an denen es Kompetenzen entwickeln kann, die nicht
unbedingt nur in sportlichen Situationen nützlich sind.
Weiterhin ist Sport - der genuin Sich-bewegen beinhaltet - als Medium
außergewöhnlich gut geeignet, diese Bildung am eigenen Leibe zu
erfahren. Die Bewegung auf Objekte zu oder von ihnen weg findet
schließlich im Sport nicht etwa nur gedanklich und im Sprechen,
sondern, viel archaischer, unmittelbar leiblich statt. Selbstbewegung lässt
also die Wirkung der Grundkräfte der Welt, die in dem Individuum als
Zuwendung und Abneigung angelegt sind, deutlich sichtbar und damit
für das Subjekt selbst erfahrbar werden. Diese Erfahrung bildet
eindrücklicher als Worte.
Die Situationen, die zur bildenden Weltzu- oder abwendung aufgesucht
und gestaltet werden, sind allerdings so weit wie möglich in die Wahl
und somit Verantwortung des Subjekts zu stellen. Dies entspricht der
„Aufrechterhaltung der Leitidee eines prinzipiell selbsttätigen und
selbstverantwortlichen Individuums“ (Thiele, 2001, 47). In diesem Sinne
muss der Lehrer attraktive Situationen als Aufgaben arrangieren mit
denen sich der Schüler auseinander setzt. Für die Art und Weise, wie er
das tut, ist der Schüler selbst zuständig. Indem man ihm etwas zutraut
und Verantwortung überträgt, steigt seine intrinsische Motivation.
Umgekehrt werden Zwangsmaßnahmen und Beharren auf idealtypischen
Bewegungsausführungen
die
intrinsische
Motivation
und
die
Gestaltungsfähigkeit des Schülers lähmen. Bildung muss von dem
Subjekt selbst ausgehen, das durch pädagogische Intervention dazu
angeregt wird, indem Erfahrungsfelder zum Sich-bilden bereitgestellt
Sportpädagogische Implikationen
- 195 -
werden. Die Welt konstituierende Intentionalität des Subjekts ist Beweis
für die selbst verantwortete Bildsamkeit des Individuums.
Aus phänomenologischer Sicht erscheint das bereits während des
Erkenntnisaktes
aktiv
erzeugende
Subjekt
also
als
mächtiger
Einflussparameter, dem es mit Sicherheit auch didaktisch zu entsprechen
gilt. Den Schüler als intentional konstituierendes Subjekt anzuerkennen,
bedeutet in eins Anerkennung seiner Freiheit und Anerkennung der
Tatsache, dass Bildung immer reflexiv ist. Der Aspekt der freiheitlichen
Entfaltung des Subjekts muss im Unterricht zielsicher
angesteuert
werden.
skizzierten
Didaktische
Umsetzungsvorschläge
für
die
pädagogischen Leitideen sind allerdings nicht leicht zu finden.
Auf diese „Vermittlungslücke“ (Prohl, 2004, 117f.; 2006, 187) zielt der
folgende Gedanke. Das intentionale Subjekt Schüler ist, gemäß der
Theorie der habituellen Konstitution von Erfahrung (vgl. Kap. 3.1.2), zu
jeder Zeit Sinn stiftend an der Konstitution der Unterrichtsinhalte
beteiligt, wodurch es zugleich sich als Selbst konstituiert. Für diese
zweifache Konstitution durch den Schüler muss ein gebührender Raum
geöffnet
werden;
ein
Erfahrungsfeld,
in
dem
Schüler
Bewegungserfahrungen zur Einübung leiblicher Reflexivität im Rahmen
„ästhetischer Bildungsprozesse“ (Franke, 2003) generieren können. Das
leitende Prinzip gewinnt dieses Vorgehen aus der allgemeinen
Pädagogik: „Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit“ (Benner, 2001).
Hier können methodische Übungsreihen nicht helfen, vielmehr ist eine
Öffnung von Unterricht (vgl. Funke, 1991) gefragt, um den nötigen
Entfaltungsraum zu gewinnen.
Aus dieser Hinsicht erscheint die Konstruktion von Bewegungsfeldern,
die in den aktuellen Richtlinien vorgenommen wurde, sehr hilfreich. Die
entsprechen nämlich treffender dem vielen Perspektiven vorausliegenden
Dasein von objektiven Inhalten, als die konkreten Sportarten, die immer
schon durch eine einzige Hinsicht zu Soseiendem geronnen sind. Durch
Bewegungsfelder kann die Gelegenheit zu deren konkreter Konstitution
in die Verantwortung der Subjekte gestellt werden, die dadurch das
Privileg der individuellen Gestaltung von weniger unverfälschter
Sportpädagogische Implikationen
- 196 -
Lebenswelt (wieder)gewinnen. Damit werden sie als aktiv erzeugende
Individuen ernst genommen. Geschlossener Unterricht, der mit
Bewegungsanweisungen operiert, geht dagegen von der Passivität der
Schüler aus, weil sie lediglich Demonstriertes nachmachen sollen. Dies
ist hinsichtlich mancher Unterrichtsgegenstände sicherlich sinnvoll etwa wenn ganz grundlegende Techniken im Sinne der Einführung in die
bestehende Sportkultur vermittelt werden. Dabei ist jedoch zu bedenken,
dass durch bloßes Vor- und Nachmachen ein gewaltiges Potenzial
bezüglich der Kompetenz zum aktiven Gestalten von Welt verschenkt
wird. Schließlich geht es dem erziehenden Sportunterricht um Bildung
und Erziehung.
Dem anthropologischen Merkmal der intentionalen Weltzu- oder auch
abwendung des Subjekts kann vielmehr durch Bewegungsaufgaben
entsprochen werden. In Form von Aufgaben können vielfältige
Bewegungsanregungen- und aufforderungen in den Schülerhorizont
gebracht werden. Dort ereignet sich Bildung, weil Schüler gefordert sind,
selbständig Lösungen für ein Bewegungsproblem zu entwickeln. Um die
Kooperationsfähigkeit zu schulen, sollte dies möglichst häufig in
Gruppen geschehen. Die Verantwortung, die Schülern durch geöffneten
Sportunterricht zuteil werden kann, trägt nachhaltig zur Entwicklung von
Selbständigkeit und Selbstvertrauen bei, weil die eigenen Fähigkeiten
sich in dem „Werk“ spiegeln und als wertvoll erfahren werden können.
Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Lehrer die Übernahme von
Verantwortung durch den Schüler zulässt. Um dies im Unterrichtsprozess
zu
realisieren,
könnte
der
Lehrer
im
Sinne
eines
negativen
Erziehungskonzeptes (Rousseau) Zurückhaltung üben. Er beschränkt sich
darauf, Bewegungsfelder zu
arrangieren und Bewegungserfahrungen
zuzulassen, ohne Anordnungen zu treffen und normierte Vorgaben zu
postulieren. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass bestimmte
Unterrichtsinhalte und -phasen ein deduktives Vorgehen zweckmäßiger
erscheinen lassen. Besonders durch induktive Unterrichtsmethoden
gewinnt der Schüler jedoch Gelegenheiten, eigene und selbst
verantwortete
Erfahrungen
zu
machen.
Durch
Erfahrung
und
Sportpädagogische Implikationen
- 197 -
anschließende Reflexion in der Gruppe kann der Schüler seine
individuellen Muster erkennen um sie gegebenenfalls zu variieren. Einer
Stagnation der persönlichen Entwicklung kann dergestalt durch
Enthabituation (vgl. Kap. 3.2.1) entgegengewirkt werden. Das Ziel dieses
Verfahrens besteht darin, dem Schüler Gelegenheiten zu eröffnen, seine
Identität vermittels Erfahrung selbst zu konstituieren. Der Schüler soll als
individuelle Person aktiviert werden, wodurch zugleich intrinsischer
Motivation Vorschub geleistet wird.
Pädagogische Perspektiven, die subjektive Kompetenzen fördern sollen
und deshalb als Meilenstein in der Entwicklung von Sportunterricht
erscheinen, messen der Intentionalität des sich bildenden Subjekts und
damit dessen Innenperspektive anscheinend nicht hinreichend Geltung
bei. Das Konzept des Doppelauftrags muss folglich um den Gesichtpunkt
der Innenperspektive des Subjekts bereichert werden, der anscheinend
auf die Aktivierung dieses Subjekts abzielen muss, das allein Sinn
erzeugen kann. Diese Zielsetzung erfordert auf der einen Seite eine
konsequente Umsetzung des Doppelauftrags, um überhaupt zum Subjekt
zu
gelangen,
und
andererseits
die
Schaffung
von
offenen
Unterrichtssituationen, die diesen Subjekten Gelegenheiten bieten, ihrer
individuellen Innensicht entsprechende Bewegungserfahrungen zu
erzeugen. Damit wird die Innenperspektive des Schülers erschlossen und
damit der Prozess des Sich-bildens angestoßen.
4.3 …und gesellschaftliche Bedingungen für dessen
Realisierung
Zumindest die Implementierung des Doppelauftrags scheint allerdings
gegenwärtig nicht uneingeschränkt gewährleistet zu sein (vgl. Beckers,
2003, 165f.) und wird durch Standardisierungstendenzen, die „gerade das
ausblenden was Bildung ausmacht“ (Kurz, 2006, 5) zusätzlich erschwert.
Erinnert
man
an
dieser
Stelle
die
erkenntnistheoretischen
Untersuchungen Bourdieus (vgl. Kap. 3.2.3), so werden die Ursachen
und Gefahren für aktuelle Bildungsfragen klarer erkennbar. In
gegenwärtigen bildungspolitischen Verfahren spiegeln sich nämlich
Sportpädagogische Implikationen
- 198 -
kollektive Denkmuster und damit verknüpfte Erkenntnishaltungen. Das
Profitdenken der Wirtschaft und die Normierung der Industrie - in diesen
Bereichen zweifellos sinnvoll - sind von der Gesellschaft eingeübt und
scheinen sich nun in andere Gesellschaftsbereiche, wo sie unangemessen
sind, fortzupflanzen. Ökonomische Ziele werden dabei mit solchen der
persönlichen
Entwicklungsförderung
identifiziert,
weswegen
entsprechende Maßnahmen zwanglos von einem Bereich auf den anderen
übertragen werden. Offensichtlich bestätigt sich hier Bourdieus Theorie
der unbewussten Reproduktion von sozialen Ordnungen; denn das
„ökonomische Verdikt“ (1987, 735) wird von Protagonisten des
Bildungssystems - als ihr scheinbar eigenes - fortwährend erneuert.
Mit Blick auf die Arbeit Bourdieus wird deutlich, dass es bei
standardisierenden Vorgehen anscheinend weniger um einen produktiven
Beitrag zur Verbesserung von Schule oder um gerechtere Förderung
einzelner Schüler zu gehen scheint - denn durch standardisierte Tests
wird beides bestenfalls sekundär erzielt - als tatsächlich um eine
eigentümliche Zementierung sozialer Ordnung. Bourdieu hat plausibel
machen können, dass sich die eigentliche Wirksamkeit von Macht nicht
auf physischer Ebene entfaltet, sondern auf der „Ebene von Sinn und
Erkennen“. Die sozialen Akteure seien durch eine Beziehung
„hingenommener Komplizenschaft“ verbunden, „die bewirkt, dass
bestimmte Aspekte dieser Welt stets jenseits oder diesseits kritischer
Infragestellung stehen“ (1992, 82). Die soziale Ordnung ist heute durch
ein „Denken in Objekten“ kontaminiert. Diese Ordnung wird durch die
sozialen Akteure selbst getragen und vitalisiert. Gesetze und Methoden
der Ökonomie scheinen also die Strukturen und Gehalte des
Bildungswesens evokativ und gleichsam durch die sozialen Akteure
hindurch zu tangieren. Die Subjekte reproduzieren das Objektdenken
vermittels ihres vorreflexiv tätigen Erkenntnisvermögens.
Um das Subjekt an und für sich auch im Bildungswesen zurück zu
gewinnen, sind die Akteure dieses Systems als tätig erkennende zu
beleuchten. Auf Grundlage dieser Reflexion können dann die in diesem
Sportpädagogische Implikationen
- 199 -
System involvierten Subjekte als Personen gezielt gefördert werden. In
diesem Licht scheint okzidentale Prägung pädagogisches Denken und
Arbeiten nicht einfacher zu machen. Vielmehr erscheint es zunehmend
schwierig, pädagogische Ansprüche überhaupt zu verwirklichen.
Um einen Rückfall in die pragmatische Sportdidaktik oder das
überkommene Sportartenkonzept zu verhindern muss deshalb den hohen
Ansprüchen, die mit den aktuellen Richtlinien an Lehrer gerichtet werden
eine angemessene Ausbildung ihres leiblichen Erkenntnisvermögens
(insbesondere Wahrnehmungsfähigkeit und Empathie) gegenübergestellt
werden. Dadurch werden Lehrer gleichzeitig in den Stand gesetzt, der
Innenperspektive des Schülers besser zur Entfaltung verhelfen zu können
und also offenen Unterricht erfolgreich zu inszenieren. Um die
Überschrift Erziehender Sportunterricht mit Inhalt zu füllen, müssen
Doppelauftrag und offener Unterricht konsequent umgesetzt werden,
womit nicht gesagt werden soll, dass Unterricht ausschließlich offen
erfolgen kann. Dazu müssen den Neuerungen in den Richtlinien neue
Ansätze im Bereich der Lehrerbildung zur Seite gestellt werden.
Sportpädagogische Implikationen
- 200 -
4.4 Zur Verbesserung der Lehrerausbildung
In dem skizzenhaft aufgespannten Rahmen der aktuellen Kontroverse um
eine
angemessene
Ausrichtung
von
Sportunterricht
wird
das
Hauptaugenmerk nun aus dreierlei Gründen auf das Subjekt Lehrer
gewendet: 1. Lehrer sind an vorderster Linie für die Umsetzung des
Doppelauftrags
verantwortlich.
2.
Die
Gestaltung
von
offenen
Unterrichtsarrangements kann nicht genau vorgegeben werden, sondern
fordert Lehrern ein pädagogisches und didaktisches Gespür ab, das
eingeübt werden kann. 3. Erkenntnistheoretische Gedanken, die die Rolle
des Lehrers betreffen erscheinen - im Gegensatz zu dem im vorherigen
Kapitel thematisierten Subjekt Schüler - in der Sportpädagogik als
Desiderat.
Mit Blick auf die im Einzugsgebiet der „Qualitätsdiskussion“ (Kurz,
2006) angestrebte Verbesserung von Unterricht sind „Input-Steuerungen“
nicht zu vernachlässigen, obwohl sie schwierig durch quantitative
Erfassung kontrolliert werden können. So scheint es etwa zielführend,
Struktur und Gestaltung der Ausbildung von Lehrern weiter zu
überdenken und zu fördern113. Um das bildende Potenzial des Sports
überhaupt für Schüler aktivieren zu können, müssen Lehrer nicht nur in
Unterrichtsplanung, Durchführung und Reflexion ausgebildet sein,
sondern überdies pädagogische Kompetenzen entwickeln, die wesentlich
von der Schulung von Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten
abhängen.
Die Kultivierung von Leiblichkeit bedeutet allerdings in eins, die
„Tendenz zur Kognitivierung“ an den Hochschulen zurückzufahren, die
„die Sicherheit des Denkens und Besprechens der Welt nur ungern
verlassen“ (Seewald, 1996, 89). Die Abtrennung der Wissenschaft von
der Lebenswelt manifestiert sich mit Hinblick auf die Lehrerausbildung
in einer Kluft zwischen Theorie und Praxis. Die wissenschaftliche
113
Einer aktuellen Infratest dimap Umfrage zufolge denken 63 Prozent der
Bundesbürger, dass die Ausbildung von Lehrern den Anforderungen, mit denen sie im
Schulalltag konfrontiert sind, nicht entspricht (vgl. Otto, 2008, 65).
Sportpädagogische Implikationen
- 201 -
Ausbildung von Lehrern, insbesondere in der ersten Phase, ist
ausgesprochen theorieorientiert und taugt häufig nicht, um den
praktischen,
zumeist
sozialen
und
personalen,
Problemen
des
Schulalltags sinnvoll zu begegnen. Solche Probleme müssen jedoch
gerade heute professionell angegangen werden, um eine Vermittlung von
Inhalten überhaupt erst zu ermöglichen114.
„Schulen erproben seit gut 15 Jahren Formen des offenen
Lernens, des handlungsorientierten Lernens und des
Projektlernens; Lehrer und Schüler entwickeln in Teams
Ideen, gehen Probleme fächerübergreifend an und beziehen
außerschulische Lernorte ein. Lehrerbildung dagegen findet
vorwiegend sitzend, hörend und darüber-redend statt“
(Bastian et al., 1993).
Alles geht über die Theorie und welche Beziehungen sich da herstellen
lassen. Sinnliche Erkenntnispotenziale der angehenden Lehrer werden
dabei überhaupt nicht aktiviert115.
Angesichts der Theorielastigkeit und gleichzeitigen Entsinnlichung von
fachlichen und personalen Bezügen hat es die (Unterrichts)Praxis
besonders schwer angenommen und verstanden zu werden. „Praxis
bedeutet hier, sich persönlich verwickeln zu lassen, um mit sich selbst in
Kontakt zu kommen. Diese Erfahrungen münden in Kompetenzen, die
114
Um den lebensweltlichen Bezug von Lehrern, der sich auch in sozialen
Kompetenzen niederschlägt, zu gewährleisten, könnte man Quereinsteigern aus der
Berufswelt – wie das im Journalismus Usus ist – nach pädagogischer Ausbildung und
Probezeit, den Einstieg in den Schuldienst möglich machen. Außerdem könnten
Auslandaufenthalte von angehenden Lehrern subventioniert werden, damit sie
praktische Erfahrungen mit Menschen gewinnen, die zweifellos den Umgang mit
Schülern erleichtern. Gelingender Umgang ist Grundlage für jeden
„Verständigungsprozess“ (Funke, 1991, 13) und damit gleichzeitig für die erfolgreiche
Vermittlung von Fachwissen.
115
Auf struktureller Ebene sind bereits Veränderungen feststellbar: Durch einen
aktuellen Gesetzesentwurf soll ab 2009 die Lehrerausbildung reformiert werden. Man
beabsichtigt, ein zehnwöchiges obligatorisches Praktikum vor dem Studium
einzuführen. Außerdem soll ein „außerschulisches Praktikum in der Kinder- und
Jugendarbeit vorgeschrieben“ werden (Szymaniak, 2008b, 3). Anscheinend hat man
erkannt, dass die Lebenswelt ultimativer Bezugspunkt auch für jeden kognitiven und
wissenschaftlichen Überbau der Lehrerausbildung sein muss. Umgekehrt erscheint es
auch denkbar, die derzeit vorgeschlagenen Lehrerfortbildungen an der Universität (vgl.
Szymaniak, 2008a, 1) mit Wahrnehmungsschulungen zu versehen, die dann
außergewöhnlich konkret auf die praktische Unterrichtserfahrung des fortzubildenden
Lehrers rekurrieren können. Dieser Vorschlag bezieht sich auf die Ebene der Gestaltung
der Lehrerausbildung und war bis zum Regierungswechsel in NRW sogar schon
vorgesehen.
Sportpädagogische Implikationen
- 202 -
nicht theoretisch erworben werden können“ (Seewald, 1996, 89). Sie
holen das „Andere der Vernunft“ aus dem Schattendasein heraus und
machen es greifbar. „Zurück zu den Sachen“ muss also nicht nur als
erkenntnistheoretische Devise, sondern ebenso als Motto für die
Lehrerausbildung auch der ersten Phase verfolgt werden. Seewald betont,
dass man leibliches Spüren üben kann (vgl. 1997, 12). Um verstehend
arbeiten zu können, muss viel Aufmerksamkeit auf die Ausbildung der
Fähigkeit
der
Selbstbeobachtung
gelegt
werden.
Dies
ist
der
Lehrerausbildung anhand umfassender Praxiserfahrung zu gewährleisten.
„Die entscheidende Ausstattung der neuen Lehrerin scheint
die Fähigkeit, zu beobachten und hinzuhören. Der
entscheidende Fehler der alten und noch gegenwärtigen
Konstruktion ist, dass man in der Hochschule gesagt
bekommt, was man nachher in der Schule sehen werde. Ja,
das sieht man dann auch – und nichts anderes“ (v. Hentig,
2003, 253).
Man sieht, was man kennt. Die Lehrerbildung muss in allererster Linie zu
einer Schule der Wahrnehmung werden, die leibliches Verstehen intensiv
ausbildet und einübt.
Im Gegensatz zu der strukturellen Ebene der Lehrerausbildung, wo
neuerdings einige Veränderungen auf den Weg gebracht werden sollen
(vgl. Szymaniak, 2008b, 3), scheint die qualitative Verbesserung der
Gestaltung dieser Ausbildung aufgrund ihrer schwierigen Fassbarkeit
noch nicht hinreichend berücksichtigt zu werden. Gerade hier, auf der
Ebene der Gestaltung von Lehrerausbildung, kann die leibliche
Erkenntnishaltung für die Verbesserung von Unterricht fruchtbar
gemacht
werden,
indem
Wahrnehmungsschulungen
intensive
angeboten
und
langfristige
werden,
die
(Selbst-)
etwa
zur
Verbesserung von Fremdverstehen beitragen.
Zu einem ernst gemeinten Subjektbezug im Blick auf den Lehrer gehört,
die eigenen Erfahrungen des Lehrers, die Merkmale der eigenen Person,
die eigenen Interessen, seine Biographie in die Lehrerrolle mit
einzubeziehen, die schon während dessen erkennender Weltzuwendung
Sportpädagogische Implikationen
- 203 -
Wirkungen zeitigen. „Die Person des Lehrers ist sein bestes Curriculum.
Und davon darf er durch die Lehrerbildung nicht abgehalten werden“ (v.
Hentig, 2003, 251).
Um sich als aktiv erzeugendes Subjekt in jedem Erkenntnisprozess zu
analysieren, sind Videographien sinnvoll. Die Videoaufnahmen geben
dem Lehrer Gelegenheit, sein Verhalten von außen zu betrachten, um
Wirkungen seines Verhaltens zu verstehen. Die Arbeit mit diesen
technischen Hilfsmitteln haben sich bislang für Studierende als sehr
hilfreich erwiesen116. Im Rahmen solcher Schulungen kann die
ausdauernde Erarbeitung und Kultivierung leiblicher Erkenntnishaltung
anschaulich durchgeführt und reflektiert werden117.
Diese anspruchsvolle Entwicklung der Person des Lehrers muss in seiner
Ausbildung einen entsprechend großen Raum einnehmen, damit die
nötigen Erkenntnisfähigkeiten durch Wiederholung geschult werden
können. Der Persönlichkeitsentwicklung des Schülers geht dabei ein
Training von entsprechenden Erkenntnisfähigkeiten auf Seiten des
Erziehers voran. Inhalte dieses Trainings können anhand einer doppelten
Zielsetzung präzisiert werden: Erstens lernen die angehenden Lehrer,
sich
als
Fremde,
also
von
außen
wahrzunehmen.
Dieser
Perspektivwechsel ermöglicht es ihnen, die Wirkungen ihres Handelns zu
erkennen und damit einer möglichen Modifikation zuzuführen. Zweitens
können sie durch videographisch gestützte Reflexionen habituelle
Wahrnehmungsmuster
erkennen,
um
ihren
individuellen
Erzeugungsprozess von Erfahrung (vgl. Kap. 3.1.2.2) zu durchbrechen.
Durch diese Methode können Erkenntnisfähigkeiten ausgebildet werden,
mit deren Hilfe man pädagogisch bedeutsame Phänomene wie
Kooperation und Verantwortung „sehen“ kann. Durch ausdauerndes und
116
Vgl. zum Ertrag videographischer Aufnahmen für die Lehrerausbildung:
Hietzge, 2008, 295f. Der Verfasser kann diese Einschätzungen aufgrund von
Erfahrungen im Seminar „Schulpraktische Studien“ bestätigen.
117
Ausblickend scheint es ertragreich, auf dem vorliegenden epistemologischen
Fundament elaborierte Ausbildungskonzepte zu entwickeln.
Sportpädagogische Implikationen
- 204 -
wiederholtes Training könnten solche Fähigkeiten eingeübt werden118. Es
gibt keinen Anlass zu der Vermutung, dass Erkenntniskompetenzen nicht
ebenso der Gewöhnung und damit der mühelosen Ausführung zugeführt
werden können, wie motorische oder rationale Handlungsgewohnheiten.
Damit ist nicht allein die Schulung der Fähigkeit zum Perspektivwechsel
(vgl. Balz, 2004) gemeint, sondern die Ausbildung einer Haltung des
Schauens, die allen Perspektiven vorausliegt und schon das „Einrasten“
von Perspektiven überhaupt inhibiert. Der künftige Lehrer soll üben,
leiblich zu erkennen. Dazu muss er angeleitet werden, sich der
erscheinenden Wirklichkeit nicht rückhaltlos auszuliefern, sondern nach
dem Wesenskern der Erscheinungen, die ja nur Abschattungen sind, zu
fragen.
Folgt man Scheler, so muss der Lehrer nicht nur fragen: Warum erscheint
mir der Schüler jetzt und hier zum Beispiel verunsichert, sondern in einer
„distanteren, besinnlichen, kontemplativen Haltung zu diesem selben
Erlebnis“ (Scheler, 1995, 49): Was ist denn eigentlich Verunsicherung,
abgesehen davon, dass sie mir jetzt und hier vorkommt und wie muss der
Grund der Dinge beschaffen sein, damit so etwas wie Verunsicherung
überhaupt möglich ist (vgl. ebd.). Ein ideierender Akt versetzt den Lehrer
in den Stand, Wesenserkenntnisse zu gewinnen, die in jedem Einzelfall
wirksam sind119.
Durch eine solche empathische Einstellung werden Gefühle erst
erkennbar; sie begründet deswegen zugleich eine soziale Kompetenz des
Lehrers, die durch theoretische Erörterungen nicht eingeübt werden kann.
Die Schulung dieser Erkenntnishaltung füllt also eine Lücke in der
Lehrerausbildung, weil zwar pädagogische Perspektiven von Seiten der
Universität theoretisch eingeführt wurden, die Kompetenzen zu deren
praktischer Umsetzung jedoch nicht konsequent trainiert werden. Um
pädagogische Phänomene erschließen zu können, müssen Haltungen
118
Die finden sogar sukzessive ihre neuronalen Entsprechungen im Hirn (vgl.
Singer, 2008b, 63).
119
Die einzelne Abschattung gleicht also einem ‚Fenster ins Absolute’ (Hegel).
Diese Methode darf nicht mit dem rationalen Schließen der Induktion verwechselt
werden.
Sportpädagogische Implikationen
- 205 -
eingeübt werden, die geeignet sind, diese Phänomene zu erkennen. Die
konkrete Umsetzung pädagogischer Perspektiven im Schulalltag, wie sie
theoretisch in den aktuellen Richtlinien zum Schulsport in NRW
verankert sind, kann durch das Einüben leiblichen Erkennens besser
realisiert werden.
Dadurch kann der Lehrer bei Schülern mehr erkennen und also fördern
als nur Wissen, Können und „Intelligenz“. Auch psychosoziale
Ressourcen, wie soziale und personale Kompetenzen, die Sygusch als
„Schlüsselqualifikationen“ (2006, 27) von Schülern bezeichnet und deren
Schulung er zu Recht einfordert, werden auf die untersuchte Weise
allererst durch den Lehrer erkenn- und also förderbar. Außerdem prägt
der Lehrer mit dieser Haltung eine Sensibilität aus, die als unabdingbar
für eine erfolgreiche Inszenierung schülerorientierten Unterrichts
erscheint.
4.5 Fazit
Rückblickend ist das Erfordernis einer Theorie subjektorientierter
Sportpädagogik
in
drei
Schritten
hergeleitet
worden.
Eine
phänomenologische Bewegungstheorie (1.) begründet die Möglichkeit
und Gelegenheit, durch Sport zu erziehen (2.). Die Umsetzung der
erörterten pädagogischen Leitideen obliegt Sportlehrkräften, die mit
entsprechender Akzentuierung ausgebildet werden müssen (3.). Um das
vorgezeichnete Theoriekonzept einer Verwirklichung näher bringen zu
können, scheint es geboten, das Subjekt auf drei Ebenen zurück ins
Blickfeld zu befördern:
1. Der Schüler muss als einzigartiger Mensch Möglichkeiten
geboten
bekommen,
fernab
jeder
Normierung
(Fremdbestimmung), selbst bestimmte und selbst verantwortete
Erfahrungen zu machen, was meist zeitaufwändig und nie
messbar ist.
2. Der Lehrer muss sich die tätige Seite von Erkennen beim Schüler
und bei sich selber bewusst halten, was zu einer Steigerung der
Sportpädagogische Implikationen
- 206 -
Sensibilität im Umgang mit den Schülern führt, die sich in
entsprechend offenen Unterrichtsarrangements spiegelt.
3. Beides scheint vor allem durch „Input-Steuerungen“ (Lehrerausund
fortbildungen)
anscheinend
in
erreichbar
den
zu
Mittelpunkt
sein,
weswegen
der
Bemühungen
diese
um
Verbesserung von Schule und Sportunterricht zurückgeführt
werden müssen. „Output-Steuerungen“ (Qualitätssicherung durch
Tests) können bestenfalls mittelbar Verbesserung bringen. Diese
Ebene verweist auf die Protagonisten des Bildungswesens, die
sich ihrer Rolle als aktiv erkennende Reproduzenten des aktuellen
Gesellschaftscharakters bewusst werden müssen.
Resümierend liefern die vorliegenden phänomenologischen Analysen
einen
Beitrag
zur
erkenntnistheoretischen
Begründung
für
subjektorientierten Sportunterricht. Entlang der Argumentation wird
überdies ersichtlich, dass der Faktor Subjekt auch bei der Konstruktion
von sportwissenschaftlichen Theorien generell stärker zu beachten ist,
um wahrheitsgemäße Erkenntnisse sicherstellen zu können. Eine hierfür
notwendige Theorie subjektorientierter Wissenschaft kann in dieser
Untersuchung nicht zur Gänze geleistet werden, weil eine solche Theorie
einen vollzogenen Paradigmenwechsel markieren würde, der heute noch
als Fernziel erscheint. Einzelne Elemente dieses neuen Paradigmas sind
in der vorliegenden Untersuchung aufgegriffen worden und müssen
künftig weiter entwickelt werden.
Hinsichtlich sportwissenschaftlicher Probleme erscheint es ausblickend
beispielsweise
lohnend,
bewegungsaufgabenorientierte
Sportunterrichtskonzepte zu konstruieren und zu begründen, die
konsequent auf phänomenologische Bewegungs- und Bildungstheorien
rekurrieren. In der Bewegungsforschung liegen subjektorientierte
Konzepte
-
die
zwar
nicht
ausdrücklich,
aber
inhaltlich
phänomenologisch begründet sind (vgl. Neumaier, 2003; Kassat, 1995) bereits vor. In der Sportmedizin scheint es hinsichtlich subjektorientierter
Gesundheitskonzepte noch erheblichen Forschungsbedarf zu geben.
Sportpädagogische Implikationen
- 207 -
Schließlich müssen die geisteswissenschaftlichen Fächer, die genuin mit
dem Subjekt befasst sind, den Trend zur Objektivierung ihres
Gegenstandes
zurückfahren
und
von
naturwissenschaftlichen
Erkenntnissen lernen, dass Wissenschaft ohne Bezug auf die darin
verwickelten Subjekte notwendig an Grenzen der Erkenntnis stößt.
Insgesamt ist eine Erkenntnishaltung zu kultivieren, die das Subjekt-fürsich zurückgewinnen und damit ein erweitertes Wissenschaftsverständnis
sowie umfassendere Erkenntnis schaffen will. Diese offene Haltung
macht die Welt zwar nicht beherrschbar, aber sie schließt sie auf.
Literaturverzeichnis
5
- 208 -
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Literaturverzeichnis
- 225 -
Curriculum vitae
André Hempel, geboren am 3. April 1976 in Datteln.
Jan.-Aug. 1993:
USA-Aufenthalt mit Abschluss der
amerikanischen Highschool in San Marin/CA
1986- 1995:
Abitur am Nikolaus-Ehlen-Gymnasium in Velbert
1995-1996:
Zivildienst bei der Velberter Feuerwehr
1996-1998:
Lehramtstudium Sportwissenschaft an der Deutschen Sporthochschule
Köln; Englisch, Philosophie und Geschichte an der Universität zu Köln
und Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
1998-2003:
Diplomstudium der Sportwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum
2000-2004:
Produktionsassistent WDR 5 LebensArt
2003-2005:
Freier Redakteur bei WDR 5 LebensArt und Scala
2005:
Studienreisen nach Südafrika, Australien, Neuseeland, Fiji
Seit 2006:
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem sportpädagogischen Lehrstuhl der
Ruhr - Universität Bochum.
Erklärung
Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Dissertation
selbständig verfasst und keine anderen Hilfsmittel als die in der Arbeit
angegebenen benutzt habe. Darüber hinaus ist die Dissertation noch nie
vorher als Prüfungsarbeit bei einer akademischen oder staatlichen
Abschlussprüfung
verwendet
worden.
Dies
ist
mein
erster
Promotionsversuch.
André Hempel
Köln, im Dezember 2008
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