Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ Allgemeine Immunologie Heinz Spiess Aus der Kinderpoliklinik der Universität München (Direktor: Professor Dr. med. Heinz Spiess) Immunologie ist die Lehre von der Immunität. Das Wort Immunität kommt von "immunitas ", was frei sein von öffentlicher Abgabe, dem "munus ", im Lateinischen und damit einen besonders günstigen Zustand beschreibt. Als Immunität wird in der Infektionsabwehr ein spezifischer Schutz bezeichnet, der durch humorale, das heißt im Serum nachweisbare, Antikörper oder durch zellständige Abwehr entstanden ist. Neuere Forschungen machen immer deutlicher, daß die spezifische Immunität auch von nichtspezifischen humoralen und zellulären Faktoren beeinflußt wird, wenn man allein die Reaktionen des Komplementsystems als Vorläufer der Abwehrreaktion betrachtet (Darstellung 1). Immunität kann aktiv durch Impfungen oder Infektionen erworben oder passiv durch Blut, Serum oder Immunglobuline übertragen werden. Tagen nach Masernexposition gegeben wird. Die neutralisierenden Antikörper blockieren das Masernvirus, so daß die Maserninfektion verhütet oder die Krankheit abgeschwächt wird. Bei einer zellulären lmmundefizienz dagegen verlaufen die Masern schwer oder gar tödlich. ~ Gegen Hepatitis A sive epidemica genügt die Injektion von 0,1 ml Gammaglobulin pro Kilogramm Körpergewicht, um vor ansteckender Gelbsucht zu schützen. ~ Gegen die Hepatitis 8, früher Serumhepatitis genannt, gelingt die passive Immunisierung nur, wenn genügend Hepatitis-S-Antikörper in einem spezifisch getesteten lmmunglobulinpräparat vorhanden sind. Hepatitis-8-lmmunglobulin sollte deshalb auch h·ier mit Titerangabe produziert werden. ~ Gegen Röteln müssen hohe Dosen spezifischen Immunglobulins gegeben werden (20 ml), um in den ersten drei Tagen post infectionem eine Neutralisation des Rötelnvirus erzielen zu können. Dieser Infektionsschutz ist nicht sicher. Während nun bei einer aktiven Immunisierung die Abwehr vom Impfling selber gebildet werden muß, was nach Antigeneinwirkung innerhalb einiger Tage - wie nach der Masernimpfung - bis Monate - wie nach der Pertussis- oder BCG-Impfung - geschieht, werden mit der passiven Immunisierung von anderen gebildete Antikörper übertragen und damit ein sofortiger Schutz erzielt. Einige Beispiele dazu (Lit.-Übers. b. Spiess): ~ Die Mumps- und Pertussisimmunglobuline sind in ihrer Wirkung zweifelhaft. ~ Ein Masernschutz gelingt am besten durch lmmunglobulininjektion, wenn sie in den ersten drei ~ Das Vakzineimmunglobulin ist zum Schutz gegen Pockenerstimpfkomplikationen nützlich. ~ Gegen Varizellen ist nur mit spezifischem Herpes-zaster-Immunglobulin ein Schutz zu erzeugen. Die körperl iche Abwehr geschieht spez ifisch durch Antikörper (humorale Abwehr, Immunglobul ine) oder durch spezifisch stimulierte Zellen (T-Lymphozyten) . Sie wird durch un spezifische humorale und zelluläre Abwehrmechanismen unterstützt. Die spezifische Abwehr durch aktive Schutzimpfung anzuregen oder durch übertragene Antikörper als passive Immunisierung zu vermitteln ist das Prinzip der lmpfprophylaxe. ~ Das Anti-D-Immunglobulin verhütet die Sensibilisierung einer rhesus-negativen Mutter mit hoher Wahrscheinlichkeit, wenn es ausreichend und innerhalb von 72 Stunden nach der Entbindung von einem rhesus-posihven Kind der Mutter gespritzt wird. ~ Tetanusimmunglobulin ist bei Verletzungen nicht oder unvollkommen aktiv gegen Tetanus geimpfter Personen in der Dosis von 250 JE i.m. wirksam. Tierserum gegen Tetanus zu verwenden ist obsolet. Deshalb ist es hierzulande nicht mehr im Handel. ~ Dagegen muß noch gegen Diphtherie mit gereinigtem Tierserum (sogenanntem Fermoserum) behandelt werden. Dasselbe gilt für To/1wutserum, Botulismus- und Schlangengiftserum vom Tier Eine Infektion braucht nicht zur Krankheit zu führen. Es gibt sogenannte inapparente Infektionen. Sie sind häufig bei Mumps- und Rötelnvirusinfektionen, dagegen führt eine Masern- oder Varizellenvirusexposition in der Regel zur Erkrankung. Humoral-immunologisch wirksam sind vor allem die Immunglobuline lgA, lgG und lgM, die sich in ihren chemischen, physikalischen und biologischen Eigenschaften deutlich unterscheiden (Tabelle 1). C> DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 14vom 1.April1976 949 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Immunologie IgG macht dabei über 80 Prozent der im Plasma vorhandenen Immunglobuline aus. In ihm sind vor allem die Antikörper gegen Virusinfektionen des Respirations- und Darmtraktes enthalten, insbesondere die gegen Masern, Influenza, Herpes, Diphtherie und Tetanus gerichteten Antikörper. Wogegen im IgM vor allem die bakterienagglutinierenden Antikörper zum Beispiel die gegen Salmonellen und Escherichia coli, die Isohämagglutinine und die phagozytosesteigernden Mediatoren enthalten sind. IgM-Antikörper gehen nicht transplazentar von der Mutter auf das Kind über wie die IgG-Antikörper. IgM ist spätestens eine Woche nach der Impfung oder Infektion nachweisbar und nicht mehr nach einigen Wochen. Sie können als spezifische IgM-Röteln-Antikörper zum Beispiel zur Identifikation einer frischen Rötelninfektion einer Gravida dienen. IgA hat eine besondere Bedeutung, weil es nicht nur im Serum, son- dern vor allem in Sekreten wie im Kolostrum und Speichel, Nasen-, Bronchial- und Darmsekret angereichert ist und an deren Schleimhautoberfläche schützend wirkt (Darstellung 2). Das IgA der Sekrete unterscheidet sich durch ein doppelt so hohes Molekulargewicht vom Serum-IgA. Es wirkt gegen Toxine und Viren, vielleicht auch gegen Bakterien. Die Halbwertzeit der Immunglobuline ist unterschiedlich, IgG drei bis vier Wochen, IgA und IgM höchstens ein Woche gen. Ihre Wirkung kann man sich folgendermaßen erklären (Übers. Good 1975): Die antikörperbildenden Plasmazellen, deren Umwandlung aus B-Lymphozyten möglicherweise durch T-Lymphozyten induziert wird (Cooper u. Lawton), enthalten jeweils einen der Millionen spezifischen Antikörper. Trifft diese Plasmazelle auf ein ihr zugehöriges Antigen, so wird dies nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip verankert. Mit der nachfolgenden monoklonalen Plasmazellteilung werden immer nur diese spezifischen antikörperbildenden Zellen vermehrt und die Antikörper teilweise ins Blut abgegeben. Bei erneuter Antigenapplikation sind bereits mehr spezifische antikörperproduzierende Plasmazellen da, und es kommt zu einer verstärkten Vermehrung und Ausstoßung von Antikörpern. Die Antikörperbildung ist genetisch bestimmt. Mutationen und Selektionen sind die Faktoren, die der Entwicklung spezifischer Strukturen in Antikörpermolekülen zugrunde lie- Wir haben den sogenannten Auffrisch- oder Boostereffekt - von to boost, was aufladen im Englischen heißt. Das heißt, in einem grundimmunisierten Organismus — zum IgE und IgD sind erst vor 10 Jahren entdeckt worden. Sie sind in geringer Konzentration im Humanserum vorhanden, IgE ist besonders bei allergischen und Wurmkrankheiten nachweisbar. IgD tritt bei Autoimmunkrankheiten auf. Thymus Knochenmark T-Lymphozyten B-Lymphozyten Antigeneinwirkung zellulär humoral spezifisch unspezifisch spezifisch unspezifisch mit T-Lymphozyten übertragbar, Phagozytose, Chemotaxie und Migration, Interferone, Lysozym Plasmazellen KomplementProperdinSystem allergische Reaktion vom verzögerten Typ Darstellung 1: Schema der Infektionsabwehr 950 Heft 14 vom 1. April 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Immunglobuline (IgG, A, M, D, E) allergische Reaktion vom Soforttyp Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Immunologie Tabelle 1: Die Immunglobuline des Humanserums (nach Schwick und Heide) Außer den spezifischen Abwehrmechanismen gibt es im Blut nachweisbare Faktoren, die bei einer Infektion oder Impfung wirksam werden. Was im Englischen als „non specific immunity" bezeichnet wird, heißt bei uns „natürliche Resistenz" und ist einerseits genetisch determiniert und andererseits von Umweltfaktoren abhängig; so führt zum Beispiel Unterernährung zur Resistenzsenkung. Das Komplementsystem im Serum reagiert auf eine Infektion mit neun Faktoren, deren Aktion für die Infektionsabwehr grundlegend und besonders in der Bakterizidie wichtig sind. Dieses Komplementsystem wird wiederum vom Properdin aktiviert, das gleichzeitig die Opsoninbildung fördert, die wiederum die unspezifische zelluläre Abwehr, die Phagozytose, das heißt die Antigenaufnahme in die vom Monozyten ausgehenden Makrophagen, stimuliert. Diese Makrophagen wiederum werden fixiert durch Lymphokine. Ferner gehört das Interferon zu den nicht spezifischen Serumfaktoren, die die Replikation von Virus hemmen. Es wird von verschiedenen Zellen, insbesondere Lymphozyten, auf verschiedene chemische und virale Reize hin gebildet. Das retikuloendotheliale System besteht aus fixierten phagozytierenden Zellen, besonders in den Sinus der Leber und der Milz wie in anderen lymphatischen Geweben. Wir sehen daraus, daß die Infektionsresistenz eine Vielfalt von Faktoren beansprucht, die spezifisch IgE IgD 7, 10, 13, 15 19, 30-150 6-7 6-7 S20w Molekular- 150 000 160 000 (+ 900 000 (+ 150 000 Aggregate) Aggregate) gewicht GesamtKohlenhyd rate Vo 2,9 Funktion Sekret Ig SpätAntikörper 7,9 190 000 10,7 10,9 7,5 Gehalt im Normalserum (mg/100 ml) 800-1800 90-450 0,3-40 60-280 0,01-0,14 Reagine FrühAntikörper 512 An t ikörp e r g eg e n Po liov irus rez ip r. T ite r Beispiel nach drei Injektionen von Tetanustoxoid — kann fünf oder zehn Jahre später mit einer Auffrischimpfung sofort eine hohe Antikörperproduktion stimuliert werden, sicherer, als sie durch eine Immunglobulininjektion von außen geschehen könnte. Das Antigen setzt also eine vorhandene spezifische Antikörperbildungsfähigkeit nur in Gang (Darstellung 3). IgM IgA IgG 128 — 32 — 8— 2— <1 16 32 AlL 48 64 11 ' 80 96 Tage Vakzination Darstellung 2: Polio-Antikörper in Serum und Sekreten nach oraler Vakzination, mit Lebendimpfstoff und parenteraler Vakzination (—.—.—). (Nach Tomasi und Bienenstock, aus Heide und Schwick: Naturwissenschaften 57 [1970] 179) und nicht spezifisch sein können und nicht selten miteinander reagieren. Die spezifische zelluläre Immunität ist an die T-Lymphozyten gekoppelt. Die T-Lymphozyten entstehen aus Stammzellen, die aus Knochenmark, Leber und Milz hervorgehen und die den Thymus passieren und von dort aus der Medulla in den Kreislauf geschickt und im lymphatischen Gewebe einschließlich der Milz deponiert werden. Solche T-Lymphozyten machen den Hauptteil der im Ductus thoracicus anzutreffenden Lymphozyten aus. Der Großteil der im peripheren Blut kreisenden Lymphozyten sind bereits thymusstimulierte oder T-Lymphozyten. Beim Menschen sind solche differenzierten T-Lym- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 14 vom 1. April 1976 951 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Tabelle 2: Klassifizierung der primären Immunmangelkrankheiten (Fudenberg u. a., 1970, zit. n. Hitzig, 1975) Immunologie Angenommener zellulärer Defekt B-Zellen Typus T-Zellen Stammzellen phozyten durch verschiedene Marker nachweisbar, zum Beispiel dadurch, daß sie mit Schaferythrozyten Rosetten bilden oder das Phythämagglutinin ihre Proliferation bewirkt. Infantile, geschlechtsgebundene Agammaglobulinännie Selektiver Immunglobulinmangel (IgA) Geschlechtsgebundener Immundefekt mit Hyper-IgM Transitorische Hypogannmaglobulinämie des Säuglingsalters Immunmangel mit Normo- oder Hyperimmunoglobulinämie Thymushypoplasie (Hemmungsmißbildung der 3. und 4. Schlundtasche) (DiGeorge) Immunmangel mit Thymom Schwerer kombinierter Immunmangel (schweizerische Form) a) autosomal-rezessiv b) geschlechtsgebunden c) sporadisch d) mit Enzymopenie (Adenosindeaminase) Immunmangel mit epiphysärer Dysostose und Zwergwuchs (Short-Limbed-Dwarfism) Episodische Lymphopenie mit Lymphozytotoxin Immunmangel mit allgemeiner Hypoplasie der Hämopoese Immunmangel mit Ataxia teleangiectatica Immunmangel mit Thrombozytopenie und Ekzem (Wiskott-Aldrich-Syndrom) Variable Immunmangel-Syndrome (am häufigsten, jedoch noch unklassifizierbar) Die T-Lymphozyten sind für die spezifischen Reaktionen vom verzögerten Typ, so auch für die Tuberkulinallergie, verantwortlich. Sie beherbergen eine spezifische immunologische Erinnerung, die körperfremdes Gewebe erkennt, haben eine aggressive Funktion dagegen und sind deshalb für die Abstoßung von Transplantaten verantwortlich. Im Gegensatz zu den B-Lymphozyten, die über die Plasmazellen Antikörper bilden, die wiederum mit Serum oder Immunglobulin übertragbar sind, ist die zelluläre Abwehr durch T-Lymphozyten zu übertragen. Zum Beispiel ist die Tuberkulinallergie mit einer solchen Lymphozytentransplantation auf ein tuberkulinnegatives Individuum übertragbar. Das gelingt auch mit zerriebenen Zellen, so daß man einen produzierten Transferfaktor anerkennt, der auch therapeutisch bereits eine Rolle spielt. 1E/m1 IE/m1 —10,0 10,0 — 1,0 — 1.11 — 1,0 — 0,1 0,1 — 0,01 — 0,001 0,001— 11.1.111.1 I II I 1 0 4 812 20 Wochen I 40 I I A 4I 812 5-20 Jahre u. m. 40 Wochen Darstellung 3: Aktive Immunisierung mit adsorbiertem Tetanustoxoid (halbschematisch). Grundimmunisierung; Auffrischimpfung (aus F. Hansen in: Schutzimpfungen, hrsg. v. H. Spiess, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart 1966) 954 Heft 14 vom 1. April 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Als lmmundefizienzen werden Zustände bezeichnet, die entweder vorübergehend als Antikörpermangelsyndrom bestehen oder als Experimente der Natur angeboren vorkommen. Wir haben 1974 zum Beispiel bei 571 Kindern mit „Infektanfälligkeit" in unserer Klinik 14 Kinder mit einem ausgeprägten Immunglobulinmangel gefunden; davon achtmal IgG-, fünfmal IgA- und einmal IgM-Mangel. Hier ist eine therapeutische Immunglobulingabe sinnvoll (s. auch J. Oehme u. D. Gutzeit, DÄB, H. 6, 9, 11, 1974). Transistorisch kommt es beim neugeborenen Kind infolge Abbaus der transplazentar übertragenen mütterlichen Antikörper und wegen mangelhaften Aufbaus eigener Antikörper zu einem Antikörpermangelsyndrom mit Tiefpunkt im dritten Lebensmonat. Auch die zelluläre Abwehr ist noch nicht voll ausgebil- Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Immunologie det. Aus diesem Grunde ist das neugeborene Kind besonders anfällig für bakterielle Infektionen (Gotoff 1974). Es gibt Mangelzustände in der humoralen und in der zellulären Abwehr und genauso auch eine Abwehrschwäche durch humorale und zelluläre Defizienz. Eine sehr gute Übersicht gibt Hitzig (Tabelle 2). Derartige Immundefizienzen können, wenn sie nicht durch Immunglobulininjektionen zu kompensieren sind, zu schwersten Krankheitsbildern führen, so daß sogar weit abgeschwächte Impfviren, wie das Masern- oder Impfpockenvirus oder auch der BCG-Keim, zu schweren, tödlich verlaufenden Krankheiten führen können. (Referat anläßlich der Tagung der Rheinisch-Westfälischen Gesellschaft für Kinderheilkunde am 8. November 1975 in Essen) Literatur Cooper, M. D., u. Lawton, A. R.: Development of T and B Cells and their functional interactions in „Immunodeficiency in Man and Animals" edit. by D. Bergsma, R. A. Good u. Joanne Finstad. Sinauer Assoc., Sunderland Mass. (S. 3-6) 1975 — Good, R. A.: lmmunodeficiencies of man and the new immunobiology in „Immunodeficiency in Man and Animals" edit. by D. Bergsma, R. A. Good u. Joanne Finstad. Sinauer Assoc., Sunderland Mass. XIII-XX, 1975 —Gotf,S.P:Neonatlimunty,J.Pediat. 85 (1974) 149-154 — Hitzig, W. H.: Primäre Immundefekte im Kindesalter, Kinderärztl. Prax. 34 (1975; 33-44 — Spiess, H.: Impfkompendium, 2. Aufl. Thieme 1976 Anschrift des Verfassers: Professor Dr. med. Heinz Spiess Kinderpoliklinik der Universität München Pettenkoferstraße 8 a 8000 München 2 ÜBERSICHTSAUFSATZ Inkubationsimpfung Otto Vivell Der Raum für eine sinnvolle Anwendung von Inkubationsimpfungen ist eng begrenzt. Das klassische Beispiel einer Inkubationsimpfung ist die Tollwut. Besonders bei dieser Impfung ist eine kritische Erfolgsbeurteilung sehr erschwert. In den ersten Inkubationstagen sind auch bei Masern, Mumps und Pocken erfolgreiche Inkubationsimpfungen durchgeführt worden. Voraussetzung für die Wirkung scheint eine lange Inkubationszeit zu sein. Unproblematischer ist allerdings in dieser Phase der Einsatz spezifischer Immunglobuline ; so daß außer bei der Tollwut dem letzteren Verfahren im allgemeinen der Vorzug gegeben wird. Unter „Inkubationsimpfung" verstehen wir eine Impfung innerhalb der Inkubationszeit einer Infektion, wobei erwartet wird, daß der Impfstoff noch voll vor der Erkrankung schützt oder diese zumindest abschwächt. Je nach pathogenetischem Ablauf einer Infektionskrankheit kann ein solcher Versuch als sinnlos, wenig aussichtsreich oder auch prüfenswert beurteilt werden. Bei Lebendimpfstoffen kann man sich zum Beispiel vorstellen, daß durch die parenterale Injektion eine Verkürzung der Inkubationszeit der „Impfkrankheit" gegenüber der Infektion eintritt und daß diese zeitliche Differenz ausreicht, um Impfviren Zellareale im Körperinnern, die für ihre Vermehrung wesentlich sind, früher erreichen zu lassen als Wildviren, die an der peripheren Eintrittspforte, etwa den Schleimhäuten und lokalen lymphatischen Strukturen des Oropharynx, der Nase oder Konjunktiven ihre primären Vermehrungsorte haben. Man weiß heute, daß die ersten hygiogenetisch bedeutsamen Effekte einer Infektion, besonders einer Virusinfektion in einer Interferonbildung der befallenen Zellen bestehen. Dieser unspezifische frühe Schutzmechanismus ist für Erfolg oder Mißerfolg einer „Inkubationsimpfung" wohl bedeutsamer oder mindestens ebenso wichtig wie eine früh ablaufende spezifische Antikörperbildung. Wirkungsmechanismus — Beispiel Tollwut Das Paradigma einer Inkubationsimpfung, die auch heute noch — wenn auch mit verbesserten Impfstoffen — wie vor 90 Jahren erst nach vermuteter Infektion durchgeführt wird, ist die Tollwutimpfung. Man hat sie auch als „Tollwutbehandlung" bezeichnet, und als solche wird sie heute auch im Gegensatz zu den prophylaktischen Impfungen von den Krankenkassen bezahlt. Bekanntlich gelang es dem Chemiker Louis Pasteur zusammen mit seinen Mitarbeitern Chamberland und Roux in den Jahren 1880-1884, den Erreger der Tollwut aus dem Rückenmark eines tollwütigen Hundes auf Kaninchen zu übertragen und durch zahlreiche Kaninchenpassagen zu einem „Virus fixe" mit stark verkürzter Inkubationszeit von nur noch sechs bis sieben Tagen zu verändern. Hunde, die eine Serie von 14 bis 21 Impfstoffinjektionen erhalten hatten, erkrankten nicht und blieben bei anschließender experimenteller Infektion mit Wildvirus (Straßenvirus) geschützt. Es zeigte sich aber auch, daß selbst nach experimenteller Infektion mit Straßenvirus, das eine Inkubationszeit von etwa 14 Tagen hat, die Wutschutzbe- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 14 vom 1. April 1976 955