Adipositas im Kindes-/Jugendalter Fortbildung der Abteilung Psychosomatik Kinderkliniken Darmstadt am 10.November 2010 Dr. Norbert Kohl Übersicht • • • • • • • • Definition Epidemiologie Ätiologie Risikofaktoren Komorbidität Folge-Erkrankungen Psychotherapie Prävention Ätiologie • Genetik • Epigenetik • Syndrome • Endokrinologie • Psychische Faktoren • Lebensstil – Familie • Ernährung, Bewegung • Gesellschaft Definition Adipositas: Erhöhung der Körperfettmasse • Als Äquivalent bei Kindern ist der BMI aus reichend Weitere Möglichkeiten: • Hautfaltendicke, Bauchumfang • BIA (Bioelektrische Impedanzanalyse) Definition Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (www.a-g-a.de) Empfehlung der alterbezogenen BMI-Perzentilenkurven (Krohmeyer-Hauschild/Wabitsch/Kunze) > BMI >P 90 Übergewicht > BMI >P 97 Adipositas > BMI >P 99,5 extreme Adipositas (permagna) BMI body mass index: Gewicht in kg / Grösse in meter im Quadrat Normal bei Erwachsenen: 18,5 - 25 BMI-Perzentilen Epidemiologie Kinder und Jugendliche in Deutschland • 10 – 18 % • 4 - 8% Übergewicht Adipositas • Insgesamt 0,5 – 1 Million Kinder/Jugendl. • Zwischen 1985 und 1999 Verdopplung Epidemiologie • Anteil wird höher, wenn Referenzwerte aus den 70er Jahren • WHO empfiehlt als Bezug Perzentilen bzw. Referenzwerte von gestillten Kindern • Zunahme der Prävalenz von Adipositas/ÜG um 0,2 – 0,5 % pro Jahr • 4,3% der Gesundheits-Kosten in Deutschl. für Adipositas u. Folgeerkrankungen = 5,7 Bill. Euro Zahlen für die USA • 60% Übergewicht • 20% Adipositas Jährlich • 280.000 Todesfälle durch Folgeerkrankungen • 120 Milliarden US $ Kosten Allgemeines • Adipositas früher genetisches Merkmal zum Überleben, heute eher das Gegenteil • Starker Einfluss der Gesellschaft (Lebensweise: Medienkonsum Bewegungsmangel, Esskultur, Stress, Passivität. Art, Menge und Verfügbarkeit der Nahrung, sozialer Status) • enger Zusammenhang zu Depression, aber keine spezifische Persönlichkeitsstruktur • familiäre Auffälligkeiten: z.B. persistiertende symbiotische Bindung zur Mutter oder Partnerersatzfunktion • Psychische Störungen bei Adipösen 4x häufiger als in Normalbevölkerung. Bei Adipositas permagna u.U. PTBS im Hintergrund • life-events als Auslöser möglich Risiko Risikofaktor Risikofaktoren • Übergewicht der Mutter praekonzeptionell • Starke Gewichtszunahme oder Diabetes mellitus in der Schwangerschaft • Rauchen in der Schwangerschaft • Hohes (oder niedriges) Geburtsgewicht • Rasche und starke Gewichtszunahme in den ersten 6 Lebensmonaten Aber: nur 1/5 aller übergewichtigen Säuglinge ist auch zum Zeitpunkt der Einschulung übergewichtig. Hohes Geburtsgewicht hat hohe Korrelation mit Adipositas im Alter von 50 J. „Dicksein beginnt im Mutterleib“ Fetale (perinatale) metabolische Programmierung Überernährung, Übergewicht oder evtl. Diabetes der schwangeren Mutter wirken auf den Zellstoffwechsel des Feten und beeinflussen dort: Genexpression und über das mTOR-Protein (wichtiges Signalund Regulations-Eiweiss) Zellwachstum und Zellzyklus. Perinatale Programmierung Set-point-Theorie: Die Überernährung der Mutter führt zur Fehlprogrammierung des Hypothalamus u. fehlerhaftem neurolog. und genomischen Lernen. Nutrigenomics u.a. Diskutiert werden bezüglich Adipositas: • Verschiedene Salze der Glutaminsäure, die als Nahrungsmittelzusätze/Gewürzstoffe verwandt werden (E620 - E625) • Bisphenole (Hauptbestandteil in PolycarbonatKunststoffen wie Babyflaschen u.v.a.) • Adenoviren Typ HAdV-36 Weitere Risikofaktoren • • • • • • • • Niedriger sozialer Status, Migration Wandel in der Ess-Kultur Neue Medien (TV/Computer/Spieleboxen) Bewegungsmangel Attraktive, energiedichte Nahrungsmittel Soft drinks und fast food Hoher Anteil von tierischem Fett in der Nahrung Grosse Portionen, Essen zwischendurch (to go), hohe Ess-Geschwindigkeit Cave: • bei extremer Adipositas immer an frühe psychische Traumatisierung und sexuellen Missbrauch denken • Nach Ess-Störung bei Mutter fragen, ggfs. an binge-eating disorder denken Familiäre u.a. Risiko-Faktoren • Fütterungsverhalten • Soziale und emotionale Vernachlässigung (hat 9-fach erhöhtes Risiko für Adipositas) • Nicht-intakte Familienverhältnisse, z.B. chronische Partnerschaftsprobleme • Erziehungs- und Essverhalten der Eltern • Psychosoziale Probleme in der Schule Selfish brain-Theorie 1 • Hoher Energiebedarf des Gehirns (v.a. Glucose) • Kaum Speicherung -> Energy on demand • Akuter Stress -> Bereitstellung durch Allokation • Bei Störung von Hippocampus/Amygdala durch mechan. oder Gen-Defekte, chron. Stress, Fehlprogrammierung (z.B. PTBS), Fehlsignale (z.B. Medikamente) erfolgt Energiebereitstellung durch Nahrungsaufnahme Selfish brain-Theorie 2 • ATP- Gehalt im Gehirn wird in engen Grenzen konstant gehalten, unabhängig vom Zustand des Körpers • Das Stress-System will in seinen RuheZustand zurückkehren • Selfish-brain with high/low fitness Protektiv • Je länger, desto mehr (bis 9. LM) Genetik Monogene Adipositas (selten) • Leptindefizienz • Leptinrezeptor-Defekt • Mutation im POMC-Gen • Mutation im hypothalam. MelanocortinRezeptor (MC4R) • Mutation im Ghrelin-Gen MC4R-Mutation • Bei 2,5% aller extrem adipösen Kinder • Neben Adipositas: NNR-Insufizienz, blasses Haut-Kolorit, rote Haare • Molekulargenet. US nicht sinnvoll, weil: niedrige Trefferquote, unklare Bedeutung, hohe Kosten Genetik • Polygene Adipositas (evtl. 2000 von Bedeutung, 200 in engerem Sinn, ca. 40 Kandidaten-Gene, selbst diese haben minimale Effektorstärke) • Gen-Effekt insgesamt 20-40 –(70) % Epigenetik Epigenetik Differentialdiagnosen • Bei kognitiver Retardierung und/oder Dysmorphien an Syndrome denken • Wenn ein dickes Kind schlecht wächst, dann endokrinologisch abklären Differentialdiagnose DD Syndrome • Prader-Willi-Syndrom 1 : 5000 - 10.000 Hypotonie, Gedeihstörung, Kleinwuchs, kurze Finger/Zehen, Hypogonadismus, mentale Retardierung, Hyperphagie • Bardet-Biedl-Syndrom 1 : 20.000 Polydaktylie, Retinopathia pigmentosa, MR, massive Erhöhung von Ghrelin Endokrinologie Endokrinologische Ursachen von Adipositas • Kretinismus • Hypothyreose • Hypercortisolismus • Hyperinsulinismus Endokrinologie • Endokrinolog. Folgen von Adipositas • • • • Gynäkomastie Insulinresistenz Diabetes mellitus Typ 2 Hyperandrogenismus (PCOS) Fettgewebe • Braunes Fettgewebe ab 14.-16. SSW (Thermogenese) • Weisses FG (Stützgewebe und Schutz, Energiespeicher, endokrines Organ) – Subcutanes Fettgewebe – Viscerales Fettgewebe • Bei Geburt Fettanteil ca. 15 % • Nach 1. Lebensjahr Fettanteil ca. 30 % • Im 1 Lj. vorwiegend Zellwachstum, keine Zellvermehrung • Adipozyten werden lebenslang gebildet. Sekretorische, endokrine Funktion des FG • 100 Produkte (Hormone,Enzyme,Proteine) Cross talk • Adiponektin, Leptin, Östrogene, PAI 1 • Diverse Zytokinine, z.B. IL6, CrP • Adipositas: Zustand chron. Entzündung Folgen allgemein: • Seelische Belastungen durch vermindertes Selbstwertgefühl, Depression, mobbing u.a. (Adipöse Kinder: stark erhöhte Werte im SDQ) • Beeinträchtigung des Bewegungsapparates • Adipositas im Erwachsenenalter • Folgeerkrankungen (Herz-Kreislauf, Diabetes) • Verkürzte Lebenserwartung Begleiterkrankungen im Kindes-/Jugendalter • • • • • • • Metabolisches Syndrom (9% alle 4 Faktoren) Hypertonie (30%), Atherosklerose Frühe Menarche, Diabetes mellitus Typ II Cholelithiasis, Steatohepatitis OSAS, Asthma (doppelt so häufig) Fehlhaltung u.ä. Depression, geringes Selbstwertgefühl, Bulimie Spätfolgen im Erwachsenenalter • Adipositas • Diabetes mellitus Typ II, Asthma bronchiale • Linksventrikuläre Hypertrophie, Hypertonie, Atherosklerose, KHK u.a. • Erhöhung Triglyceride, Cholesterin, Harnsäure • Osteoporose • Erhöhtes Malignomrisiko Therapie • Ambulant Teilnahme an Schulungsprogrammen (z.B. KIDS-Progr. in DA, Obeldicks, Power-Kids u.a.) Stationär in Spezial-Kliniken (z.B. Bad Orb) • Drei Therapie-Säulen: Ernährung, Bewegung, nachhaltige Verhaltens- bzw. mentale Änderung • • Am Wichtigsten: Motivation, Einbeziehung d. Familie, Nachsorge Therapie • Im Zentrum steht die Verhaltenstherapie u.a. mit Stimuluskontrolle; Stärkung des Selbstwertgefühls; Rückfallprophylaxe • Vorher Therapiefähigkeit prüfen (MOVE-FAST) • Ziel: Änderung mentaler Einstellung und Lebensstiländerung • Da Adipositas chronische Erkrankung ist, lange Nachsorge (Erfolg langfristig ca. 15%) Therapie 2 • In Einzeltherapie Nachzeichnen der Lebensgeschichte, evtl. Verstehen tieferer Zus.hänge • Soziales Kompetenztraining in der Gruppe • Selbstwertstärkung, Selbstwirksamkeit erleben in z.B. Kreativtherapien, Erfolgserlebnisse d. kreativen Ausdruck und im Sport • Akzeptanz, Grenzen und Spass erleben im stat. Milieu, horizontales Lernen Therapie in der Tages-Klinik • • • • • • • Vorher Motivationsklärung (schwierig) Einzeltherapie + begleit. Elterngespräche Gruppen-Therapie mit SKT u.a. Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz Psychoedukation Ernährungstherapie Sport- und Bewegungs-/Tanztherapie, KraftTraining, Körperwahrnehmung, Yoga u.a. • Vermittlung Therapie u. Sport, Nachsorge Train the brain • • • • • Einüben von funktionalem Essverhalten Abbau schädlicher Habituationen Einüben sinnvollen Umgangs mit Konflikten Erlernen sinnvollen Umgangs mit Stress Etablieren alternativer Belohnungssysteme Wichtig • Richtiges Timing • Keine Vorwürfe, neutrale Interventionen bezügl. Gewichts • Emotionale Zuwendung zur Person • Verstehen der famil. Lebensgeschichte und der inneren Dynamik • Unterstützung und Humor • Vermeidung von Demotivierung Therapie-Erfolg • Kurzzeitig meist mässig bis gut aktuelle multicentrische Beobachtungsstudie der BZgA mit ca. 2000 Kindern/Jugendlichen, davon 49% adipös, 37% extrem adipös – stationäre + ambulante Behandlg. Am Ende der Intervention zeigte das Gewicht bei 57% Abnahme, 18% Gleichstand, 12,5 % Zunahme • Langfristig wahrscheinlich schlecht (nur wenig valide Daten), Erfolgszahlen schwanken f. einz. Programme zw. 20 u. 80%, in 1 Metastudie 30% Probleme • Die meisten Adipösen kommen nicht in die Behandlung • Von denen, die kommen, brechen die meisten die Behandlung ab • Die meisten, die Gewicht verlieren, nehmen es wieder zu • Viele müssen einen hohen Preis bezahlen (ungünstige Reaktionen auf Diät, emotionale Symptome, neg. Folgen von Misserfolgserlebnissen) Prävention • z.B. Koletzko - Projekt Tiger-Kids www.kindergesundheit.de Stichw.: Wasserspender in Kindergärten und Schulen, Training von Erzieherinnen. 1 Std. spielerische Bewegung am Tag • Strukturelle gesellschaftl. Massnahmen • Beratung durch Kinder- u. Frauenärzte Studienergebnis Verhältnisprävention ist wesentlich sinnvoller als Verhaltensprävention Diskussionspunkte • Adipositas-Chirurgie bei Jugendlichen? • Medikamentöse Therapie ? • Wieviel bringen Gewichts-Reduktionsraten von viell. 5–10 % hinsichtlich der Begleitund Folge-Erkrankungen Stichworte • „Gute und schlechte“ Adipositas • Epigenetische Vererbung • Auf eigene Haltung gegenüber adipösen Patienten achten • Ärzte wolle spätere medizinische Folgen verhindern, den Übergewichtigen geht es aber primär um´s Aussehen Literatur • • • • • • • • MOKI Febr. 03, Aug. 04, Febr. 08 Pädiatrie update Sept. 06, Pädiatrie April 09 Zeitschr. Adipositas (Schattauer) Febr. 08 Kinder- u. Jug.medizin August 07 Kongress LMU München 2008 DGKJ-Tagung Mannheim 2009 Stier u.a. Jugendmedizin J. Wechsler: Adipositas, Ursachen und Therapie Danke für die Aufmerksamkeit