„Traumatisierte Flüchtlinge“ Dokumentation der Fachtagung vom 26.04.2001 im Bundesamt Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Band 9 1 Herausgeber: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, 90461 Nürnberg verantwortlich: Dr. Roland Bell Redaktion: Ulf-Achim Stiehl Birgit Beringer Gertraude Wichtrey Katrin Rohr Roland Dorfner Angelika Braunsdorf Die in diesem Band abgedruckten Beiträge geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und widerspiegeln nicht die Meinung des Herausgebers. Die Beiträge sind nur im Internet unter www.bafl.de/Asylrecht veröffentlicht. Alle Rechte vorbehalten. 2 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis............................................................9 Vorwort Präsident Dr. Schmid...................................................11 Grußwort StS’in Dr. Sonntag-Wolgast.......................................13 Programm der Fachtagung......................................................16 Dr. Fetsum Mehari Trauma im interkulturellen Kontext...........................................17 Elise Bittenbinder Verifizierung von psychischen Folgeschäden nach Extremtraumatisierung von Flüchtlingen. ..................................35 Dietrich F. Koch Verifizierung von psychischen Folgeschäden nach Extremtraumatisierung, Feststellung und Behandlungsmöglichkeiten, Glaubhaftigkeit von Ereignisberichten........................................61 Dr. Waltraud Wirtgen Krankheitsbilder und Diagnostik, Untersuchung und Begutachtung von posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Folgekrankheiten................................. ...................................95 Dr. Ferdinand Haenel Zur Begutachtung psychischer Folter- und Haftfolgeschäden......111 3 Prof. Dr. Gerald Hüther Traumatische Erinnerungen - Zum Stand der neurowissenschaftlichen Forschung.........................................................139 Dr. Hans-Jochen Zenker Psychotherapie und Medizin im Rahmen des Ausländerrechts...................................................................157 Helge Margaret Knipping Dokumentation der Fachtagung „Traumatisierte Flüchtlinge im Asylverfahren“..................................................................167 Autorenverzeichnis...............................................................185 4 5 6 Abkürzungsverzeichnis ABH ACTH ADH ADM ai Aufl. BAFF Bd. BDP BZFo bzw. CRF DDR d.h. Dipl.-Psych. DSM Dr. EE etc. EMDR evtl. HHG HNO HPA Hrsg./Hg. ICC Ausländerbehörde Adrenocorticotropes Hormon Antidiuretic Hormone Adrenomedullin amnesty international Auflage Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer Band Bund Deutscher Psychologen Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin beziehungsweise Corticotropin Releasing Factor Deutsche Demokratische Republik das heißt Diplom-Psychologe Diagnostic and Statistic Manual of Psychiatric Disorders Doktor Einzelentscheider et cetera Eye Movement Desensitiziation and Reprocessing eventuell Häftlingshilfegesetz Hals-Nasen-Ohren Hypothalamo-Pituitary-Adrenal Herausgeber International Criminal Court 7 ICD ICRC IfSG MdE Nr. NS o.g. Pbn PET PKK Prof. PSZ PTB PTBS PTSD Reihenhrsg. S. SAM SED sog. u.a. UNHCR UNO u.U. u.v.m. VG vgl. WHO z.B. ZNS z.T. International Classification of Diseases International Committee of the Red Cross Infektionsschutzgesetz Minderung der Erwerbsfähigkeit Nummer Nationalsozialismus oben genannt Probanden Positonen-Emissions-Tomographie Partiya Karkeren Kurdistan Professor Psychosoziales Zentrum Posttraumatische Belastung Postraumatische Belastungsstörung Post-Traumatic Stress Disorder Reihenherausgeber Seite Sympathico-Adrenomedullär Sozialistische Einheitspartei Deutschlands sogenannte und andere United Nations High Commissioner for Refugees United Nations Organization unter Umständen und vieles mehr Verwaltungsgericht vergleiche World Health Organization zum Beispiel Zentrales Nervensystem zum Teil 8 Vorwort Im Bereich des asyl- und ausländerrechtlichen Verfahrens tragen Flüchtlinge verstärkt vor, unter traumatischen Erfahrungen zu leiden. Alle am Verfahren Beteiligten benötigen daher hohes Einfühlungsvermögen und Sachkunde, um den mit solch extremen Erlebnissen verbundenen körperlichen und seelischen Verletzungen gerecht zu werden. In jeder Außenstelle des Bundesamtes stehen seit geraumer Zeit psychologisch geschulte Einzelentscheiderinnen und Einzelentscheider, sog. Sonderbeauftragte zur Verfügung, die in den sensiblen Verfahren tätig werden. Aber nicht nur im Bundesamtsverfahren ist es notwendig, einen einfühlsamen Umgang mit Betroffenen zu gewährleisten. Im gerichtlichen und auch im ausländerbehördlichen Verfahren sind Erkenntnisse über das Verfahren mit traumatisierten Flüchtlingen in medizinischer und psychologischer Hinsicht unabdingbar. Das Bundesamt hat daher eine entsprechende Initiative der BAFF (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer) in Zusammenarbeit mit der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, Frau Dr. Sonntag-Wolgast, aufgegriffen, eine Fachtagung zu medizinischen, psychologischen und verfahrensrechtlichen Fragen im Verfahren mit traumatisierten Flüchtlin- 9 gen zu veranstalten, die am 26.04.2001 im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg stattgefunden hat. Die Tagung sollte allen an den Verwaltungs- und Gerichtsverfahren Beteiligten einen Einblick in die Komplexität traumatischer Erlebnisse vermitteln und Möglichkeiten der psychologischen und medizinischen Erkennbarkeit und Behandelbarkeit aufzeigen, einschließlich der Konsequenzen für die unterschiedlichen Verfahrensstadien. Zur Teilnahme eingeladen waren sowohl Praktiker aus allen Verfahrensbereichen des Asylverfahrens im engeren Sinne als auch diejenigen, die traumatisierte Flüchtlinge betreuen und ihnen Hilfe bei der Bewältigung ihrer Erlebnisse bieten. Zudem sollte die Tagung eine Plattform für den interdisziplinären Austausch anbieten, ein gegenseitiges Kennenlernen erleichtern. Der nun vorliegende Band mit der Dokumentation der Fachtagung bietet eine Grundlage für eine konstruktive Fortführung der begonnenen interdisziplinären Diskussion. Dr. Albert Schmid Präsident des Bundesamtes 10 Grußwort Frau StS’in Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich sehr, anlässlich dieser Tagung an Sie einige Worte richten zu können, ehe dann das Feld den Experten, den Menschen aus der Praxis, überlassen wird. Ich freue mich deswegen, weil das Thema der Tagung „Traumatisierte Flüchtlinge“ der Bundesregierung, aber auch mir persönlich, ein besonderes Anliegen ist. Bei einem Gespräch mit Vertretern der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer im vergangenen Sommer entstand der Wunsch, die Experten auf diesem Gebiet zusammenzuführen. Daraufhin habe auch ich mich entschlossen, an einer solchen umfassenden Tagung teilzunehmen und möchte an dieser Stelle dem Bundesamt für die Organisation und die Durchführung dieser Tagung ganz herzlich danken. Das Thema „Traumatisierte Flüchtlinge“ ist ein sehr ernstes und schwerwiegendes Thema. Deswegen ist es so wichtig - und da sind wir uns alle einig - die unterschiedlichen Gruppen, die sich mit dem Komplex befassen, also sowohl die Mitarbeiter des Bundesamtes und der Ausländerbehörden, die Vertreter der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die medizinischen Fachleute und das medizinische Fachpersonal und schließlich – last but not least – die Politiker, gemeinsam an einen Tisch zu bekommen bzw. in einen großen Saal, wie jetzt hier. Ich werde daher das, was ich hier an Erkenntnissen und Erfahrungen sammle, mit nach Berlin nehmen, in die parlamentarischen Gesprächskreise, die sich permanent mit 11 dieser Materie und mit dem Thema „etwaige geschlechtsspezifische Verfolgung“ befassen. Opfer von Foltermaßnahmen oder geschlechtsspezifischer Verfolgung verdienen besondere Aufmerksamkeit und eine sensible Behandlung des Falles und deswegen ist auch die handelnde Politik darauf angewiesen, über die rein gesetzlichen Instrumentarien hinauszuschauen. Die Bundesregierung hat dazu eine Reihe von Maßnahmen ergriffen und das Bundesamt ebenfalls. Ich denke dabei an die vielfältigen Schritte im Bereich der geschlechtsspezifischen Verfolgung, die wir unternommen haben. Exemplarisch zu nennen ist die ausdrückliche Aufnahme der Formen sexueller Gewalt in der Verwaltungsvorschrift zum § 53 AuslG als Abschiebungshindernis. Außerdem halten wir ständige Kontakte, sowohl mit dem Bundesamt, mit den Experten, dem UNHCR und vielen Anderen. Die Zahl der Entscheiderinnen mit speziellen Kenntnissen auf diesem Gebiet ist erheblich angewachsen. In der Regel werden weibliche Asylbewerber beim Verdacht auf Traumatisierung, sowohl von weiblichen Entscheidern als auch von Dolmetscherinnen betreut. Es gibt einen ständigen Austausch von psychologischen Facheinrichtungen und es gibt die Zusammenarbeit mit Refugio sowie den psychosozialen Zentren in Düsseldorf und Frankfurt. Ich möchte auch daran erinnern, dass verspätetes Vorbringen im Asylverfahren auf Grund einer Traumatisierung auf dem Wege des Ermessens durchaus berücksichtigt werden sollte. Es gibt nach der geltenden Gesetzeslage die Möglichkeit, dass die Ausländerbehörden nicht nur eine 3-monatige Duldung erteilen, sondern von vornherein eine Aufenthaltsbefugnis, um eine gewisse Planung, Sicherheit und Ruhe für die Betroffenen einkehren zu lassen. Meine Damen und Herren, wenn ich das alles so sage, weiß ich auch 12 sehr genau, dass sich Gesetzgeber und Regierung genau messen lassen müssen an dem, was sie zwischen Theorie und Praxis an Diskrepanzen oder an Lücken erkennen. Mit anderen Worten, wir müssen uns daran messen lassen, ob das, was wir an Gesetzesinitiativen oder Maßnahmen ergreifen, der rauhen Wirklichkeit der Praxis tatsächlich ebenbürtig ist und ihr standhält. Wo wir dazu lernen können, versuchen wir auch, die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen, so schwierig das auch gerade in der Materie der Asyl- und Flüchtlingspolitik manchmal ist. Das erhoffe ich mir auch von der heutigen Tagung. Ich wünsche mir, dass Sie in Ihrem Engagement so fortfahren wie bisher, sich vielleicht auch ermutigt fühlen, dass wir den Versuch gemacht haben, diese Tagung mit den vielen Experten zusammen zu führen und hoffe, dass wir heute Nachmittag mit guten Ergebnissen auseinandergehen können. Dankeschön. 13 Fachtagung „Traumatisierte Flüchtlinge“ am 26. April 2001 im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Frankenstraße 210, Konferenzsaal (2. Stock) 90461 Nürnberg 10.00 Uhr 10.30 Uhr 11.00 Uhr 12.30 - 13.15 Uhr 13.15 Uhr 14.30 - 15.00 Uhr 15.00 Uhr 15.45 16.30 Uhr 17.00 -18.00 Uhr Begrüßung durch Herrn Präsident Dr. Albert Schmid Grußwort der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister des Innern Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Einführung: Trauma im interkulturellen Kontext Dr. Fetsum Mehari, Psychosoziales Zentrum Frankfurt Verifizierung von psychischen Folgeschäden nach Extremtraumatisierung, Feststellung und Behandlungsmöglichkeiten, Glaubhaftigkeit von Ereignisberichten Elise Bittenbinder, Xenion Berlin 1. Definition von Trauma aus Sicht der Überlebenden von Folter und schweren Menschenrechtsverletzungen 2. Verständnis und Wirkung von Psychotrauma am Beispiel einer jungen Frau aus Somalia 3. Prozesshaftigkeit und Glaubhaftigkeit bei der Verarbeitung von extremem Trauma am Beispiel einer Frau aus Sri Lanka Dieter Koch, Xenion Berlin 4. Glaubhaftigkeitskriterien der forensischen Psychologie, versus neue wissenschaftliche Befunde zum Trauma spezifischen Gedächtnis 5. Implikationen für den Umgang mit traumatisierten Menschen Pause mit kleinem Imbiss Krankheitsbilder und Diagnostik, Untersuchung und Begutachtung von posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Folgeschäden Dr. Waltraut Wirtgen, München Dr. Ferdinand Haenel, Berlin Kaffeepause Traumatische Erinnerungen - zum Stand der neurowissenschaftlichen Forschungen Prof. Dr. G. Hüther, Universität Göttingen Psychotherapie und Medizin im Rahmen des Ausländerrechts (am Beispiel von Fällen) Dr. Jochen Zenker, Gesundheitsamt Bremen Notwendigkeiten für Verfahren, Aufenthalt, Behandlung aus Sicht der Psychosozialen- und Behandlungszentren Moderation: Elise Bittenbinder, Berlin Diskussion, Abschlussrunde Moderation: Elise Bittenbinder, Berlin Ursula Gräfin Praschma, Nürnberg 14 “Trauma im interkulturellen Kontext” Dr. Fetsum Mehari I. Folter, Trauma und Menschenrechte 1. Einleitung Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass an einem Tag wie diesem, zahlreiche Menschen in dieser unseren Welt wegen ihrer Überzeugung, ihrer Hautfarbe, ihrer ethnischer Herkunft, ihrer Sprache, wegen ihres Glaubens oder ihres Geschlechtes inhaftiert, gedemütigt, erniedrigt, gequält, missbraucht und gefoltert werden. Die heutige weltweite Flüchtlingsproblematik ist kein Zufall sondern Symptom der politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten und Umwälzungen auf unserem Planeten. Laut Bericht von amnesty international wird Folter in 91 Nationen, das sind 50% der Länder dieser Welt, praktiziert. In 2/3 der Staaten dieser Welt gibt es unterschiedliche Formen von gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Die Verletzung elementarster Menschenrechte in Form von staatlich legitimierter oder zumindest stillschweigend geduldeter Gewalt ist ein globales Phänomen, das die Weltgemeinschaft nicht mehr ignorieren kann. Wie gehen wir damit um? 15 Meistens versuchen wir diese Realität aus unserem Bewusstsein zu verbannen bzw. sie zu verdrängen, eventuell auch sie zu leugnen, vielleicht, weil das alles uns hilflos und sprachlos macht. Gewalttaten lassen sich aber nicht einfach begraben. Die zentrale Dialektik des psychischen Traumas liegt für die Opfer in dem Konflikt, einerseits solche schrecklichen Ereignisse verdrängen zu wollen und andererseits durch das Aussprechen eine angemessene Verarbeitung zu realisieren. Der Weg aus diesem Dilemma heraus ist die Anerkennung der Wahrheit und die Versöhnung mit dem was gewesen ist. Nur dann kann der persönliche und gesellschaftliche Heilungsprozess beginnen. Wenn aber das Schweigen weiter aufrechterhalten wird, taucht die Geschichte des Schreckens als Symptom auf, das pathologische Folgen haben kann. (Judith Jewis Herman, Die Narben der Gewalt). Offenlegung von Menschenrechtsverletzungen, internationale Ächtung von Staaten, die Folter anwenden, kontinuierliche Sensibilisierung für das breite Spektrum der Menschenrechtsfrage sind meines Erachtens wichtige Maßnahmen, die global weiter fortgesetzt werden müssen. 16 2. Geschichtliche Entwicklung Folter ist nicht eine Erfindung unserer Zeit. In der Geschichte der Menschheit hat es immer wieder unterschiedliche Formen von Folterungen gegeben. Im Altertum und Mittelalter galt Folter als eine Methode der Wahrheitsfindung. Das auf diese Weise erpresste Geständnis wurde dann als Beweis für die Wahrhaftigkeit der Aussage vor Gericht oder im Inquisitionsverfahren gewertet. Die französische Revolution führte u.a. auch dazu, dass Folter erstmalig verbannt wurde. Der deutsche Nationalsozialismus durchbrach diesen historischen Fortschritt an Aufklärung und Vernunft. Am Ende des 2. Weltkrieges, der zur Entwurzelung, Flucht, Exil, Massenverelendung und Traumatisierung führte, entstand das Anliegen, dass die Vereinten Nationen eine globale Verantwortung für die Menschenrechte übernehmen sollten. Die Generalversammlung der UNO verabschiedete daraufhin am 10. Dezember 1948 die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Die Sicherung der Menschenrechte wurde damit nicht mehr den einzelnen Staaten überlassen. Am 1. Januar 1951 wurde der UNHCR, der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, gegründet, mit dem Schwerpunkt der Betreuung der Menschen, die aufgrund des Krieges zu Flüchtlingen bzw. zu Vertriebenen wurden. 17 Die Anwendung von Folter ging trotz allem unvermindert weiter und verbreitete sich in den terroristischen und diktatorischen Regimen über die ganze Welt. Heute kommen viele Patienten, die bei uns behandelt werden, aus modernen Folterkammern unserer Zeit. Am 09.12.1975 verfaßte die UNO eine Resolution zur Ächtung der Folter und zuletzt beschloss sie im Juli 1998 in Den Haag, einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zu errichten. Dieser hat die Aufgabe, gravierende Verletzungen der Menschenrechte wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord zu ahnden. Ein Blick in den aktuellen Jahresbericht von ai zeigt leider, dass Menschenrechtsverletzungen mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen, die bleibende Spuren an Körper und Seele hinterlassen, epidemische Ausmaße angenommen haben. Neuere verfeinerte Methoden sog. weißer oder sauberer Folter, an deren Entwicklung Wissenschaftler wie z.B. Mediziner, Psychologen, Physiker, Ingenieure etc. involviert sind, sollten den Nachweis von Folter erschweren. Diese Fachleute verstoßen damit gegen ihre beruflichen und ethischen Prinzipien. Im Iran z.B. hießen früher die Folterer Mirghazab (Chef wachhabender Offizier des Staates, oder ein royaler Henker). Heute heißen sie Doktoren und Ingenieure. 18 II. Ziele der Folter Im Folgenden werde ich sowohl auf die Ziele der Folterer als auch die Methoden, derer sie sich bedienen, eingehen. Während in früheren Zeiten das Ziel der Folter vor allem im Erpressen von Geständnissen und geheimen Informationen bestand, wird sie in der modernen Zeit sehr differenziert angewendet. Jedes Regime hat dazu eine eigene Philosophie, wozu Folter dienen soll. Einige Beispiele, die wir aus den Schilderungen von Patienten kennen: Es wird gefoltert um: - Aussagen zu erpressen, - die politische, kulturelle und psychosoziale Integrität zu schädigen, - das Individuum bzw. die Persönlichkeit zu zerstören, - politisch missliebige Meinungen zu bestrafen, - eine totale Erschütterung des Selbst zu erreichen - ethnische Minderheiten zu vernichten, - ganze Bevölkerungsgruppen einzuschüchtern, und schließlich - den politischen, geistigen und seelischen Tod herbeizuführen. Die Folterer wenden um diese Ziele zu erlangen unterschiedliche Formen von Foltermethoden an. Es werden im allgemeinen drei Hauptformen von Folter unterschieden: Die physische, wie z.B. Verbrennung von Körperteilen, Anwendung von Elektroschocks an verschiedenen Körperstellen, Verstümmlungen, Aufhängung an Händen und Füßen, Schlagen der Fußsohlen (Falaka). 19 Einige Beispiele von psychischer Folter sind z.B. sensorische Deprivationen aller Art wie z.B. Dunkel- und Einzelhaft, Scheinhinrichtungen, Verletzung des Intimbereichs und sexuelle Folter. Zur pharmakologischen Folter gehören: Das Einsetzen von Medikamenten, Substanzen und Psychopharmaka um unerträgliche Schmerzen auszulösen, somatische und psychische Widerstandskraft zu brechen, sowie künstlich psychotische Zustände herbeizuführen, um die kognitive und emotionale Orientierung des Opfers zu zerstören und die völlige Abhängigkeit vom Folterer herzustellen. (G. Fischer, P. Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie) III. Folgen der Folter Was sind die Folgen von Folter? Das Zitat von Jean Améry: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt“ fasst die ganze Tragik der Folteropfer prägnant zusammen. Viele Äußerungen von Folteropfern gehen auch etwa in diese Richtung. Einige Beispiele von Statements, die in den unterschiedlichen Behandlungsphasen gemacht werden: Danach ist nichts mehr wie es war; meine Seele ist wie eingefroren; ich bin nicht mehr der, der gewesen ist; in mir ist ein Anderer, der mich stets kontrolliert und bewacht; das Gefühl von Vertrauen und Sicherheit in dieser Welt ist verloren. 20 Solche Schilderungen machen deutlich, daß Bilder des Entsetzens, Gefühle des Überwältigtseins schwer integrierbar sind. Dies resultiert vor allem daraus, dass die Situation, in der sich viele Folteropfer befinden (z.B. Haft, Internierung und Verbannung), eine normale Reaktion wie flüchten oder kämpfen nicht ermöglicht. Es müssen andere Formen von Bewältigungs- und Überlebensstrategien gesucht werden. Die Amerikaner sagen an dieser Stelle zutreffend: „If fight or flight is not possible freeze or fragment is the result“ (Fragment im Sinne von Dissoziation). Dazu gehören auch Bewältigungsmechanismen, wie Derealisierung und Depersonalisierung. Wie kann man die Folgen von Folter und andere Formen von Menschenrechtsverletzungen objektiv beweisen und messen? Das ist eine wichtige Frage, die Wissenschaftler, Richter, EntscheiderInnen, Staaten und Regierungen und natürlich die Betroffenen selbst interessiert. Was bietet die Wissenschaft hierzu? Es ist allgemein bekannt, dass es weltweit zwei diagnostische Manuals für psychische Störungen gibt: Die internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10) und das Diagnostic and Statistic Manual of Psychiatric Disorders (DSM IV). Die Leiden vieler Patienten, mit denen wir zu tun haben, sind so komplex, dass wir uns manchmal fragen, zu welcher Klassifikation sie gehören. Es bleibt offen, ob die Folgen von Folter und anderen menschlichen Grausamkeiten in den o.g. Manuals angemessen erfasst und beschrieben sind. Der Fachausdruck, der in diesen diagnostischen Büchern meistens verwendet wird, um die Folgen von Folter und anderen Gewalttaten 21 zu beschreiben, ist der Begriff der PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung), aus dem englischen PTSD (Posttraumatic Stress Disorder). Der Begriff „Posttraumatisch“ ist in diesem Zusammenhang schwierig, wie David Becker schon bemerkte, weil die Unsicherheit, die unklare Zukunftsperspektive, und die rassistischen Gewalterfahrungen, die manche Flüchtlinge in den Aufnahmeländern machen müssen, eine Fortsetzung der bereits erlittenen Traumata in der Heimat bedeuten. An dieser Stelle möchte ich zum Modebegriff Trauma einiges sagen. IV. Psychotrauma 1. Was ist Trauma? Heutzutage scheint fast alles, was in uns, mit uns und um uns passiert traumatisierend zu sein. Die Verwendung dieses Begriffes, um beliebige Lebenssituationen zu beschreiben, führt dazu, dass Trauma undifferenziert und inflationär verwendet wird (bei dem Begriff Stress war es ähnlich). Ursprünglich kommt der Begriff “Trauma” aus dem Griechischen und bedeutet “Wunde” oder auch “Verletzung”. Seine Anwendung fand er zunächst im medizinischen Bereich, um Zustände zu beschreiben, die nach einem Unfall auftreten, wie z.B. Schleudertrauma. Die Psychotraumatologie dagegen ist vor allem in Deutschland ein neues Forschungsgebiet. Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn man feststellt, dass die Behandlungszentren in Deutschland, vor allem die älteren wie das Zentrum in Frankfurt, durch ihre Arbeit mit Folteropfern 22 einen entscheidenden Beitrag geleistet haben für die Entwicklung von kulturspezifischer Diagnostik, angemessenen Interventions- bzw. Behandlungsansätzen, aber auch für die Sensibilisierung der Gesellschaft für diese Thematik. In den angloamerikanischen Ländern hat die Traumaforschung eine längere Tradition und ist weiter entwickelt als in Deutschland . In diesem Zusammenhang sagte Van der Kolk, ein amerikanischer Fachmann auf diesem Gebiet, vor einigen Jahren bei der Gründung der Fakultät für Psychotraumatologie in Köln, ich zitiere: “Es gibt 2 Länder auf dieser Welt wo es kein Trauma geben soll; ..... Deutschland und Japan. Warum das so ist, überlasse ich Ihrer Phantasie.” Die schwierigen Diskussionen hierzulande, wie z.B. bei der Ausstellung zu Verbrechen der Wehrmacht sowie bei dem immer noch aktuellen Thema Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter, zeigen, wie problematisch es ist, sich mit den Folgen von Gewalt auseinander zu setzen. Kollektive Verdrängung, Stillschweigen und Amnesie gelten als inadäquate Formen der Verarbeitung und führen meistens zu Hilflosigkeit, Lähmung und zu unangemessenen Ausbrüchen von Aggressionen. Probleme beim Namen nennen, Erinnern und Trauern, und Unverarbeitetes integrieren sind wichtige Voraussetzungen für die Versöhnung mit sich selbst und den Anderen. 23 2. Posttraumatische Belastungsstörung Ein geschichtlicher Diskurs Traumata sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies könnte als die erste traumatische Erfahrung bezeichnet werden. Über die Auswirkung traumatischer Ereignisse und Erlebnisse wird schon seit mehr als 100 Jahren berichtet: - Schon 1871 beobachtete Dacosta in einer klinischen Studie bei Soldaten einen bestimmten Symptomkomplex, den er als Syndrom des “irritierbaren Herzens” (irritable heart) bezeichnete. - Während des Ersten Weltkrieges dokumentierten Frederick Mott und Ernest Southand ausführlich die neurologischen und psychologischen Auswirkungen kriegsbedingter Traumata. Die Bezeichnung Shell-Schock umfasste hier Symptome wie Herzflattern, Herzschmerzen, Atemnot und Schweißausbrüche. - Nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich erneut das Interesse an den psychischen Auswirkungen von Kriegserlebnissen, die als Kampfneurose, traumatische Kriegsneurose, akute Kampfreaktion oder als Granatschock bezeichnet wurden. - Der Ausdruck “Survivor-Syndrom” kam in den 50er Jahren auf und bezieht sich auf die posttraumatischen Beschwerdebilder bei Überlebenden von Konzentrationslagern. - Im Jahre 1952 wurde im DSM I erstmals die Kategorie “Schwere Belastungsreaktion” eingeführt. Sie wurde als akute Stressreaktion 24 beschrieben und in zivile und militärische Formen untergliedert. - Nachdem im DSM II diese Kategorie ersatzlos gestrichen worden war, wurde sie aufgrund der Erfahrungen mit den aus dem Krieg zurückgekehrten Vietnam-Soldaten in DSM III unter dem Terminus “Posttraumatische Belastungsreaktion” bzw. im DSM III R als “Posttraumatische Belastungsstörung” (PTBS) eingeführt. In der Erforschung der PTBS kommt daher der Studie an Vietnam-Veteranen eine große Bedeutung zu, - Im aktuellen DSM IV ist die PTBS mit einer Reihe von Symptomen beschrieben, die in drei Hauptgruppen zusammengefasst werden, nämlich 1.) die Symptome des Wiedererlebens (Intrusion) 2.) die Symptome des Vermeidens (Konstriktion) 3.) die Symptome der Übererregung. V. Ethnokulturelle Aspekte von PTBS 1. Bedeutung und Rolle von Kultur in der Psychotherapie Psychologie wird als die Wissenschaft des Verhaltens und des Erlebens definiert. Verhalten und Erleben stehen nicht im luftleeren Raum, sondern sie haben immer einen soziokulturellen Kontext. Nur aus diesem Kontext heraus betrachtet, machen sie einen Sinn und sind nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang schreibt A. Kleinman, einer der bedeutendsten Autoren der neuen kulturübergreifenden Psychiatrie, in “The British 25 Journal of Psychiatry” folgende Annahmen zum kulturspezifischen Krankheitsverständnis: - Die Wahrnehmung, Bewertung, Bedeutung und Bewältigung von Konflikten, Krisen, Krankheiten und Störungen ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. - Die Inanspruchnahme der vorhandenen psychosozialen Serviceeinrichtungen resultiert aus den unterschiedlichen Sichtweisen, die die Angehörigen verschiedener Kulturen über Sinn und Zweck dieser Einrichtungen haben. - Unterschiedliche kommunikative Prozesse (z.B. Erklärungen und Bezeichnungen) führen zu unterschiedlichen Umgehensweisen mit spezifischen Problemen. - Alle Behandlungsmaßnahmen wie Therapie, Medikamente, Operationen, Ratschläge, Pflege und Rituale haben einen Einfluss auf den Verlauf dieser Probleme. Die Gewichtung dieser unterschiedlichen Maßnahmen variieren zwischen den unterschiedlichen Kulturen. - Die Ergebnisse der Behandlung wie Heilung, Misserfolg, Rückfall, Chronizität, Behinderung oder Beziehungsabbruch resultieren aus einer Interaktion zwischen körperlichen, sozialen und psychischen Dimensionen; zumindest die letzten beiden sind in erheblichem Maße kulturabhängig. Wie wir alle wissen, gehört zur Folter ein gesellschaftliches, kulturelles und politisches Umfeld. Dies hat zur Folge, dass jede Diagnose und Therapie von Folteropfern ebenso nicht komplett frei von diesen Komponenten sein können. 26 2. Kulturspezifische Traumareaktion In vielen nichtwestlichen Kulturen sind die klassischen posttraumatischen Symptome häufig begleitet von somatischen und dissoziativen Symptomen (Marsella, Friedman, Spran 1996). Im folgenden werden einige Beispiele exemplarisch dargestellt: Attaques des Nervios (lateinamerikanische und karibische Länder): Typische Symptome: Weinen, Zittern, intensives Hitzegefühl über den ganzen Körper (calor), Schreien bis zum Verlust des Bewusstseins. Es wird meistens über eine Amnesie über die Dauer der Symptomatik berichtet. Teile dieser Symptome sind auch bei einigen afrikanischen und asiatischen KlientInnen zu beobachten. Susto (auch espanto, espassmo und perdida del alma genannt): Kommt häufig in Mexiko sowie Zentral- und Südamerika vor. Tritt häufig auf, nachdem beängstigende oder lebensbedrohende Ereignisse dazu geführt haben, dass die Seele den Körper “verlässt”. Die englische Bezeichnung dafür heißt deswegen “soul loss”. Typische Symptome sind: Angst, Übererregung, Appetitlosigkeit, Schlafstörung, depressive Symptome, reduzierte Motivation und niedriges Selbstwertgefühl etc. (APA 1994, Hough et al 1996 Simons & Hughes 1993) 27 Amok: Asiatische Länder, z.B. Laos. Ein dramatischer Zustand von Aggression gegen sich und andere. Tritt häufig nach großen Verlusterlebnissen auf. Latah: z.B. Malaysia. Manifestiert sich in Form von Echolalie (stereotypes Wiederholen von Äußerungen) und einer automatischen Imitation der Bewegung und Gestik von anderen Leuten. Allen diesen kulturspezifischen Symptomen ist gemeinsam, dass sie das typische Kriterium für die Diagnose von PTBS nicht bzw. nur zum Teil erfüllen würden, obwohl sie mit unterschiedlichen Formen der traumatischen Erfahrungen zusammenhängen. Das bedeutet, dass eine undifferenzierte und unreflektierte Anwendung der in der westlichen Welt entwickelten diagnostischen Systeme eine Reihe von Validitäts- und Reliabilitätsschwierigkeiten mit sich bringen kann. Ich möchte darauf hinweisen, dass Diagnosen (die ohne Zweifel wichtig und notwendig sind) auch etwas Defizitäres, etwas Fehlendes, etwas Mangelhaftes suggerieren. Viele Menschen, die wir kennengelernt haben, die wir begleiten und mit denen wir arbeiten durften, haben uns gezeigt, dass sie nicht nur hilflose Opfer und Patienten sind, sondern auch Überlebenskünstler mit einer beachtlichen Vielfalt von Improvisationsgaben und kreativen Ressourcen. 28 3. Ethische Prinzipien in der Arbeit mit Traumatisierten Beratung und Therapie sind höchst komplexe interaktive Prozesse. Ihre Realisierung zwischen zwei Parteien mit gleicher Sprache, gleicher Kultur und gleichen Norm- und Wertvorstellungen ist Herausforderung genug. Wenn Berater/Therapeut einerseits und Klient andererseits Unterschiede auf den o.g. Gebieten aufweisen, kann der Prozess zu einer sehr großen Herausforderung werden, um nicht zu sagen zu einem Abenteuer. Im Folgenden werden Faktoren und Thesen zusammengestellt, die in einem interkulturellen Setting eine große Rolle spielen. Die ethischen Grundprinzipien einer Kultur können nicht ohne weiteres auf eine andere Kultur übertragen werden. In der interkulturellen Beratung und Therapie unterscheidet man zwischen drei ethischen Grundhaltungen. Dies sind der Relativismus, der Absolutismus und der Universalismus. a) Der Relativismus Der Relativismus funktioniert nach dem Motto “Jedem das Seine”. Was richtig und falsch ist, bestimmen die jeweiligen Kulturen selbst. Dementsprechend ist eine Beurteilung von außen nicht erwünscht, ein Vergleich mit anderen Kulturen nicht zulässig. Jede Kultur ist einmalig. b) Der Absolutismus Der kulturelle Kontext spielt hier keine Rolle mehr. Es wird keine Rücksicht auf kulturelle Differenzen genommen. Die gleichen Methoden, Mes- 29 sungen, Strategien, Theorien und ethischen Prinzipien einer Kultur können bei jeder beliebigen Population angewandt werden. Die Kriterien einer dominanten Kultur werden unabhängig von ihrer Wirksamkeit auf alle anderen Kulturen übertragen, so dass immer als richtig gilt, was in der dominanten Kultur als richtig angesehen wird. Die Psychologie hat sich lange Zeit an solchen eng definierten, absoluten Prinzipien des menschlichen Verhaltens und Erlebens orientiert, ohne Rücksicht auf kulturelle Unterschiede. Das bedeutet z.B. eine einzige Definition von Realität, von Gesundheit, von Normalität und Abnormität, die kulturübergreifend angesehen werden. c) Der Universalismus Die Universalisten vertreten die Meinung, dass psychologische Phänomene wie Freude, Schmerz und Sorgen überall vorkommen (universell sind), aber die Art und Weise, wie sie sich manifestieren, von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein können. Vergleiche sind zulässig, allerdings nur dann, wenn das Ereignis von ihrer Manifestation getrennt wird. Die Erfahrung zeigt, dass in der interkulturellen Beratung/Therapie ein sehr wichtiges ethisches Grundprinzip ist, sich als Berater/Therapeut darüber bewusst zu sein, welche normativen und kulturellen Werte des Klienten nicht in Frage gestellt werden dürfen. Darüber hinaus ist ein vorsichtiger bzw. sensibler Umgang mit dem Weltbild und Menschenbild des Klienten sowie mit tabuisierten Themen seiner Kultur von immenser Bedeutung. 30 VI. Behandlungsgrundsätze für Traumatisierte Einige Faktoren, die für die Behandlung von Psychotraumata relevant sind: Die Bedeutung von Gruppentherapie in Form von Selbsterfahrung oder “empowerment groups” - Durch das Trauma wird das Opfer isoliert, stigmatisiert und erniedrigt. Traumatisierte Menschen kommen sich durch ihre Erfahrung entfremdet vor, deswegen hat die Gruppentherapie im Genesungsprozess einen ganz besonderen Platz. - Die “Universalität des Leidens” (ein Begriff, geprägt von Irvin Yalom), die durch die Gruppentherapie vermittelt wird, führt dazu, dass Opfer sich mit anderen Menschen verbunden fühlen, Solidarität erfahren und ein Maß an Unterstützung und Verständnis finden, wie es in der Einzeltherapie oder in der normalen sozialen Umgebung im Allgemeinen nicht zu erwarten ist. 31 Literaturliste: - Gottfried Fischer, Peter Riedesser, “Lehrbuch der Psychotraumatologie”, UTB 1998 - Judith Lewis Herman, “Die Narben der Gewalt”, Kindler, 1993 - Fetsum Mehari, “Migration und Krankheit”, IKO-Verlag, 1995 - Fetsum Mehari, “Ethnokulturelle Aspekte von Posttraumatischer Belastungsstörung”, in: “Richtlinien für die psychologische und medizinische Untersuchung von traumatisierten Flüchtlingen und Folteropfern“, BAFF, 2000 - Fetsum Mehari, “Interkulturelle Beratung und Therapie bei traumatisierten Flüchtlingen”, Jahresbericht PSZ, Frankfurt 1995. - Pouterotto, Joseph G., Casas J. Manuel/Suzuki, Lisa A., Alexander Charlene M., “Handbook of multicultural counselling”, Sage Publications London, New Delhi 1995. 32 Verifizierung von psychischen Folgeschäden nach Extremtraumatisierung von Flüchtlingen Elise Bittenbinder Zusammenfassung: In der Ausführung geht es um die Verifizierung von psychischen Folgeschäden nach Extremtraumatisierung bei Flüchtlingen - die Feststellung, Diagnose und Behandlungsmöglichkeit. An Beispielen werden Wirkung, Prozesshaftigkeit und therapeutische Prozesse dargestellt. Es wird auf die Auswirkungen von Traumatisierung im Bezugssystem eingegangen. Die Ausführungen entsprechen nur teilweise dem visuellen und verbalen Vortrag, da die Bilder (mit entsprechenden Falldarstellungen und Erörterungen) hier leider nicht wiedergegeben werden können. I. Extrem- oder Schwersttraumatisierung bei Überlebenden von Folter und Menschenrechtsverletzungen l PTBS /PTSD l Erweitertes PTB - Konzept l Sequentielle Traumatisierung 33 II. Geschichten von Leid und Transformation Beispiele therapeutischer Prozesse - l Verständnis und Wirkung von Psychotrauma l Prozesshaftigkeit (akute Phasen im chronischen Verlauf) und Bearbeitung l Suizidalität und Stabilisierung l Bewusste Auseinandersetzung: Trauern und Erinnern l Reden oder Schweigen III. Möglichkeiten und Grenzen von psychotherapeutischer Behandlung bei Posttraumatischer Belastungsstörung l Traumaspezifische Stabilisierung l „Traumabearbeitung“ l Voraussetzungen für Integration l Kontraindikationen für traumabearbeitende Behandlung: Instabile psychosoziale Situation, Suizidalität usw. IV. Stellvertretende Traumatisierung 34 I. Extrem- oder Schwersttraumatisierung bei Überlebenden von Folter und Menschenrechtsverletzung Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10, F 43.1) A Die Betroffenen sind einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. B Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen. C Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Verbindung stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis. D Entweder 1. oder 2. 1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern. 2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale: 35 a. Ein- und Durchschlafstörungen b. Reizbarkeit oder Wutausbrüche c. Konzentrationsschwierigkeiten d. Erhöhte Schreckhaftigkeit E Die Kriterien C und D treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Ende der Belastungsperiode auf (in einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden). Diagnostische Kriterien der andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung (ICD-10, F62.0) A Anhaltende Änderung in der Wahrnehmung, in der Beziehung und im Denken der Betroffenen in Bezug auf ihre Umgebung und sich selbst, nach einer Extrembelastung. B Ausgeprägte Persönlichkeitsänderung mit unflexiblem und unangepasstem Verhalten mit mindestens zwei der folgenden Symptome: 1. Feindliche oder misstrauische Haltung gegenüber der Welt. 2. Sozialer Rückzug. 3. Gefühl von Leere und /oder Hoffnungslosigkeit. 4. Gefühl von Nervosität oder von Bedrohung ohne äußere Ursache, gelegentlich verbunden mit der Neigung zu exzessivem Trinken oder einem Gebrauch psychotroper Substanzen. 5. Entfremdungsgefühl, unter Umständen verbunden mit dem Ein- 36 druck einer emotionalen Betäubung. C Deutliche Störung der sozialen Funktionsfähigkeit oder subjektives Leiden der Betroffenen mit negativen Auswirkungen auf ihre Umgebung. D Keine anamnestischen Hinweise auf vorbestehende Persönlichkeitsstörungen, die die augenblicklichen Persönlichkeitseigenschaften erklären könnten. E Die Persönlichkeitsänderung muss seit mindestens zwei Jahren bestehen. F Die beschriebene Störung kann den chronischen Verlauf einer Belastungsstörung darstellen. Eine anhaltende Persönlichkeitsänderung sollte dennoch nur angenommen werden, wenn nach einer mindestens zweijährigen PTBS ein Zeitraum von nicht weniger als zwei Jahren besteht, in dem die oben angegebenen Kriterien erfüllt waren. Erweitertes PTB / PTSD - Konzept Systematische Folter im Zusammenhang mit staatlicher oder organisierter Verfolgung und Gewalt unterscheidet sich von anderer, absichtlich durch Menschen herbeigeführter extremer Traumatisierung, wie folgt: 4 wiederholte Exposition über längeren Zeitraum, 37 4 die Traumatisierung dauert im Exil (in ”Sicherheit”) fort, 4 anhaltende Erschütterung der Selbst-, Fremd- und Weltsicht. Wir gehen von sequentiellen, kumulativen Erschütterungen aus, die meist im Kontext einer Situation von genereller Bedrohlichkeit verübt werden und die die Selbst- und Weltsicht nachhaltig verändern, und beziehen dabei die Wiedereingliederung als Belastungsmoment mit ein (vgl. Keilson 1979). Sequentielle Traumatisierung In seinen follow-up Untersuchungen zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen in den Niederlanden verwendet Hans Keilson den Begriff „extreme Belastungssituation“. Er macht deutlich, dass dieser Begriff seinem traumatogenen Gehalt nach nur als übergeordneter Begriff für die Gesamtheit des Geschehens verwendbar ist und die „generelle Bedrohlichkeit der Situation“ als übergreifendes traumatisches Agens der extremen Belastung zu sehen ist. Er unterscheidet drei Phasen der Belastung und frei traumatische Sequenzen und bezieht die Wiedereingliederung als Belastungsmoment mit ein (Keilson 1979, S. 51). Damit wird bereits angedeutet, dass die extreme Belastungssituation als Ganzes auch die erneuten Belastungen der Verfolgung - in unseren Fällen hier: Flucht ins Ausland, Exil und eventuelle Wiedereingliederung in der ursprünglichen Heimat - mit einbezogen werden müssen. 38 Deutlich wird, dass solche Situationen Elemente und Motive enthalten, die den Rahmen des Privat-Einmaligen durchbrechen und das Trauma für den Einzelnen weder einen genau definierbaren Beginn noch ein kalkulierbares Ende hat. Daher sprechen wir eher von Phasen oder kumulativen Erschütterungen - in ihrem gesamtgesellschaftlichen oder politischen Kontext gesehen. Damit wird auch deutlich, dass der Begriff „Posttraumatische Belastungsstörung”, der uns als diagnostisches Mittel zur Verfügung steht, in vieler Hinsicht unzulänglich oder irreführend ist, da dieser Begriff die Störung nur beim Einzelnen sieht. II. Geschichten von Leid und Transformation - Beispiele therapeutischer Prozesse - Wie fortwährend traumatische Bilder/Erfahrungen aus der Vergangenheit ins tägliche Leben eindringen und wirken können wird im Folgenden dargestellt. Falldarstellung Herr S. aus Sri Lanka (28 Jahre) Für Herrn S. kam das Schreckliche, das sein Leben total veränderte, ganz plötzlich. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr schien seine Lebenswelt wohlgeordnet, eine Idylle - ein schönes, geräumiges, kühles Haus in Strandnähe - in der er, sein jüngerer und sein älterer Brüder aufwuchsen. Alles Unangenehme wurde sorgsam von ihm ferngehalten. „Die Jahre meiner Kindheit waren die glücklichsten in meinem Leben“. Herr S. erinnert sich sehr genau an die Berichte, die Vater und Bruder von der 39 Zugfahrt gaben, mit der alles angefangen zu haben schien. Es war zu Gewalttätigkeiten im Zug gekommen. Menschen waren zusammengeschlagen und getötet worden. Danach wurde es immer schlimmer. Herr S. saß nächtelang mit seinen Brüdern und Eltern in Angst erstarrt im Haus. Eines Morgens kreisten Hubschrauber über dem Haus. Der Stadtteil wurde umstellt. Alle männlichen Bewohner sollten sich zu Verhören bereithalten. Dann drangen Regierungssoldaten in ihr Haus ein. Er und sein älterer Bruder wurden mitgenommen. Mit andern Jungen und Männern wurde er zu einem „Concentration Camp“ gebracht. Herr S. war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt. Auf den Straßen lagen überall Leichen. Im Lager wurde er von seinem Bruder getrennt. Die Gefangenen wurden geschlagen, misshandelt, immer wieder durch wahllose Erschießungen in Angst und Panik versetzt. Jeden Augenblick konnte er der nächste sein, der weggeschleppt oder erschossen würde. Herr S. kann nicht mehr sagen, wie lange er in diesem Lager war. Im Laufe der Einzeltherapie tauchen viele Schreckensbilder in Form von Metaphern und Visualisierungen auf. Es zeigt sich dabei eine besondere Fähigkeit: Herr S. konnte diese Bilder nicht nur gut beschreiben, sondern er kann sie auch „verändern“ und sich neue Bilder „ausdenken“. So werden die Bilder in der Therapie als Sprachmittler genutzt. Sie dienen dazu, Emotionen, Situationen und Probleme zu verdeutlichen und zu externalisieren. Das Material, welches in Bildern und für die Sprache zu mächtig erscheint, wirkt hier als künstlerischer Ausdruck, indem es gefunden, zugelassen und schließlich von innen nach außen transportiert, also externalisiert wird. So dokumentiert und bezeugt das „Quellenmaterial“ - das Material, das die traumatischen Erfahrungen trägt - auf kraft- 40 volle Weise die Wirklichkeit des Traumas. Innere Bilder werden nach außen und in eine Gestalt gebracht und damit „handhabbar“ gemacht. Seine zerrissene Situation beschreibt Herr S. in einem Bild, welches er später mit Papier und Farbe umsetzt und mit in die Therapiesitzung bringt. Das Bild zeigt auf derselben Bildfläche eine schöne Landschaft er nennt sie “kitschig” -, die durch einen Riss getrennt ist von einer verbrannten, bombardierten Gegend. Das Bild wirkt auf den ersten Blick intensiv und farbenfroh, auf den zweiten Blick zieht die verwüstete Landschaft den Blick auf sich. Herr S. war depressiv, hatte zwei Suizidversuche gemacht und war vereinsamt. Durch das „Bildern“ hat er einen Weg gefunden, seine Probleme zu externalisieren, aber es zeichnet sich keine Verbesserung seiner Gesamtsituation ab. Es wird ein Familiengenogramm und ein Lebenslauf erstellt, der all die Verluste, die Herr S. erlitten hatte, deutlich macht. Es folgt ein langer Trauerprozess. Außerdem wird Herrn S. angeboten, in einer therapeutisch begleiteten Gruppe, die mit künstlerischen Mitteln arbeitet, mitzuwirken. Erst nach drei Jahren intensiver Einzeltherapie zeigen sich deutliche Verbesserungen. Vorsichtig können auch Fragen nach Lösungsmöglichkeiten erörtert werden. Die Frage „Wie würde Ihr Leben aussehen, wenn das Problem nicht mehr da wäre?“ beantwortet Herr S. mit einem Bild: Zwei Figuren in einer wunderschönen Landschaft. Herr S. hat eine Partnerin und eine Arbeit gefunden. In allen Kulturen gibt es in Bildern eine Form, sich auszudrücken. Sie bedarf nicht der Sprache und ermöglicht doch Kommunikation. Der Sinn der Bilder liegt im Sinnbild. Metaphern sind bildliche Übertragungen eines abstrakten Be- 41 griffs auf ein Konkretum als eine Art unausgesprochener Vergleich. Dies öffnet Wege, über Dinge zu „sprechen“ oder sie auszudrücken. In der Psychotherapie werden sie benutzt, um über Probleme oder Lösungen zu sprechen, z. B. dann, wenn das Problem noch gar nicht so klar definiert werden kann. In einer therapeutischen Gruppe gelingt es, Bilder als Vermittler zwischen Kulturen und Sprache zu verbinden. Das Schlimmste für Herrn S. schien zu sein, dass er sich den Bewachern als Dolmetscher anbot. Er war stolz auf seine Sprachfähigkeiten und meldete sich freiwillig, weil er hoffte, sich dadurch zu retten. Er wurde Zeuge der brutalen Verhörmethoden, und er wurde gezwungen, die Toten und Verwundeten fortzuschaffen und mit seinen bloßen Händen zu begraben. Er fühlt sich schuldig, überlebt zu haben, während sein Bruder umgebracht wurde. Im Laufe der Einzeltherapie wird zwar über seine Rolle als Übersetzer und seine Schuldgefühle gesprochen, aber erst in der Gruppe und nach Beendigung der Einzeltherapie taucht (vier Jahre nach Therapiebeginn) plötzlich ein Bild auf, welches mit enormer Kraft weiterwirkt. Manchmal kommen diese Bilder unerwartet und unvermittelt. Herr S. zeigt die verhornten Knöchel seiner rechten Hand. Er sagt: „Immer wenn ich daran denke, dann schlage ich mit meiner Hand gegen die Wand.“ Dann zeigt Herr S. das Bild und erzählt uns: „Ich habe hier das ‘Konzentrationslager’ gemalt, in dem ich mit meinem Bruder war. Es waren 176 Jungen und Männer in dem Lager. Mein Bruder war ganz hinten. Ich konnte nicht mit ihm reden. Ich habe ihn später nie wieder gesehen. Ich war da draußen, weil ich übersetzte. Es wurde einer nach dem anderen rausgeholt, und dann musste ich einige begraben.“ 42 Herr S. wählt die Gruppe und als Form die Bildbetrachtung, um seiner Trauer Ausdruck zu verleihen. Die Art und Weise, wie er dies tut, erinnert an ein Reinigungsritual. Nach Meichenbaum (1994, 545) können Rituale wichtige psychologische Funktionen erfüllen: (1) eine Gelegenheit, öffentlich seine Trauer zu teilen bzw. mitzuteilen und gegenseitige Unterstützung zu erfahren, (2) die Zusicherung, dass das (die) Opfer der Katastrophe erinnert werden, (3) eine Rekapitulation und Interpretation der traumatischen Erfahrungen, (4) in einem bestimmten Maß eine Beendigung einer schmerzlichen Periode. Die Gruppe bietet nicht nur den sicheren Rahmen, um traumatische Erfahrungen zu bearbeiten, sondern auch, um therapeutisch begleitet neue Selbst- und Fremdwahrnehmung zu erlauben. So konnte Herr S. nach vier Jahren mit diesen Erfahrungen konfrontiert werden. Fallbericht Frau A. (30 Jahre) aus S.1 Frau A. berichtet über die Gefangennahme durch Regierungssoldaten. Sie sei verhört und verdächtigt worden, ein Mitglied der Organisation XY zu sein. Tatsächlich sei sie jedoch vor den Leuten der XY davongelaufen, weil sie sich von diesen bedrängt fühlte. Frau A. gibt an, in der Gefangenschaft geschlagen, misshandelt und vergewaltigt worden zu sein. Kurz danach konnte sie mit Hilfe ihres Onkels und ihrer Schwiegereltern und durch Bestechung zu ihrem Ehemann (der schon vorher geflohen war) nach Deutschland fliehen. Ein Sohn, der im zehnten Monat nach ihrer Ankunft in Deutschland auf die Welt kam, stammt mit großer Wahrscheinlichkeit aus den Vergewaltigungen in der Heimat. Frau A. kann 43 mit ihrem Mann nicht darüber sprechen und will auch keine Gewissheit über die Vaterschaft. Der Ehemann akzeptiert das Kind. Auch er will nicht weiter über die Vaterschaft nachdenken. Aktualisiert wurden die traumatischen Erfahrungen, als Frau A. bei ihrer Anhörung über die Vergewaltigungen berichten wollte, der Dolmetscher sie jedoch gewarnt hätte, so etwas Peinliches sollte sie hier nicht erzählen - was sie zusätzlich verunsicherte und lähmte. Direkte Gewalterfahrungen: - Fesselungen und Knebelungen, - wahllose Schläge auf alle Körperteile, meist mit Fäusten, - Demütigungen und Todesdrohungen. - Beschimpfungen mit „schlechten Worten, die sie nicht wiederholen kann“ - Vergewaltigungen durch mehrere Männer, - nackt stehen lassen, - Bewusstseinsverlust bei Vergewaltigungen, - Miterleben von Misshandlungen und Folterungen Anderer, - Miterleben von Tötung von Angehörigen und Freunden. Indirekte Gewalterfahrung: - Zerstörung der Lebensgrundlagen und Vertreibung, - Repressionen auf viele Familienangehörige, - traumatische Flucht in Heimat und nach Deutschland. 44 Aktuelle Symptomatik zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme: Angstproblematik: - Alpträume, - Schlafstörungen, - häufig auftretende Flashbacks, - Angst vor „der Schande der Vergewaltigung“, - Angst, dass jemand davon erfahren könnte, oder dass der Ehemann doch irgendwann das Kind ablehnen könnte, - Angst alleine zu sein, besonders im Haus, - Angst vor sexuellen Kontakten mit Ehemann, - Angstattacken auch ohne akute auslösende Ursachen. Depressive Problematik: - Grübelzwang, - Selbstwertverlust, - Suizidgedanken, - Gefühl „beschmutzt“ oder für den Rest des Lebens gebrandmarkt zu sein, - Andauernd erhöhtes Erregungsniveau, - Erinnerungsstörungen, 45 - Amnesie, - Nervosität, Gefühl der Isolation. Körperliche Beschwerden: - Herzbeklemmungen, Herzklopfen, - Schwindelgefühle, - Absencen. Psychologische Diagnosenstellung: Frau A. leidet unter einer psychotherapeutisch behandlungsbedürftigen PTBS (F 43.1.nach ICD-10, dem „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ der WHO), die durch mehrere traumatische Sequenzen vertieft wurde. Behandlung und Therapieverlauf: Behandlungszeitraum: 15 Monate Umfang der Maßnahmen: l Psychosoziale Beratung und Betreuung l 1 Psychotherapeutisches Erstgespräch (50 Min.) l 17 Sitzungen systemisch und familientherapeutischer Psychotherapie (50 Min.), davon 5 Sitzungen mit Ehemann (90 Min.) l 2 Sitzungen: Elemente der Selbsthypnose zur Verringerung des 46 Erregungsniveaus l 2 Sitzungen: Behandlung der Flashbacks mit EMDR (90 Min.)2 Die Sitzungen fanden jeweils mit einer qualifizierten Dolmetscherin statt. Behandlungsverlauf: In fünf Sitzungen wurde eine biographische Anamnese erstellt. Der Schwerpunkt lag auf der Erfassung der Verfolgungs- und Misshandlungsgeschichte der Klientin und des Ehemanns. Die aktuelle Symptomatik wurde diagnostisch abgeklärt und die Zusammenarbeit mit einer Fachärztin initiiert. Das Ehepaar erhielt Informationen zur Phänomenologie und Behandlung von Belastungsstörungen und psychologische Beratung bezüglich der Feststellung der Vaterschaft. Begleitend zur Psychotherapie erhielt das Ehepaar detaillierte Informationen und Hilfestellung zur Durchführung des Asylverfahrens durch die Sozialberatung der Psychosozialen Zentrums. Im Verlauf der psychotherapeutischen Behandlung wirkte Frau A. anfangs sehr zurückgezogen. Sie gab nur auf Fragen Auskunft; erst im Laufe der Gespräche erzählt sie freier. Erinnerungen an die Vergewaltigungen im Einzelnen werden von Frau A. nur mit größter Anstrengung und im gesteigerten Stresszustand wiedergegeben. Als sie über Details berichten will, steigt die Anspannung, so dass häufig Pausen eingeführt werden müssen oder abgebrochen werden muss. Einige Details über die Vergewaltigungen werden mit Amnesie belegt und sind verbal nicht auszudrücken. Auf der nonverbalen Ebene reagiert Frau A. mit Weinkrämpfen und Erstarrung bei den Berichten über die Vergewaltigungen. 47 Auf Anfrage der Rechtsanwältin wurde eine Stellungnahme über das psychische Beschwerdebild von Frau A. erstellt. Nach einer intensiven Konzentrations- und Behandlungsphase der Flashbackreaktionen und Erregungsniveaus war eine deutliche Reduktion in der Angstsymptomatik und bei den psychosomatischen Beschwerden zu erkennen. Behandlungserfolg und Prognose: Das anfangs stark erhöhte Erregungsniveau und die Angstsymptomatik konnten signifikant reduziert werden. Frau A. ist jetzt in der Lage, Kontakte und Beziehungen einzugehen. Die depressiven Zustände sind weitgehend überwunden. Sie nehmen in dem Maße ab, in dem konstruktiver Kontakt mit der Umwelt aufgenommen wird. Prognose: Die Phase dichter psychotherapeutischer Behandlung ist abgeschlossen. Es fand mit dem Ehepaar eine Auswertung des therapeutischen Prozesses statt. Auf Wunsch von Frau A. fanden danach (über ein halbes Jahr) noch einmal im Monat Beratungsgespräche zur weiteren Stabilisierung der psychischen Gesundheit statt. Bewusste Auseinandersetzung: Trauern und Erinnern „Zu den Erschwernisfaktoren bei der Verarbeitung zählt das besonders brutale Vorgehen eines Täters, die Todesangst der Frau in der Situation“ (Mörth, 1994, 165). Dabei geht es um Vernichtung der Persönlichkeit, 48 des freien Willens, der Identität. Die Todesdrohung ist also ganz explizit. Amnesien oder Erinnerungslücken sind um so tiefer, je weniger der Betroffenen ein Maß an Eigenmächtigkeit erhalten bleibt, je mehr der Täter Besitz ergreifen konnte. Da in der Situation der Folter die Todesangst vorherrschend ist, ist es nicht verwunderlich, dass Menschen sich gänzlich aufgeben. Für die Integration dieser Erfahrungen ist dies besonders schwierig, und die Fragen nach Tod (oder Todeswunsch) und Leben (oder Lebenswunsch) werden zu primären Problemen bei der Auseinandersetzung. „....Nicht das Leiden an Frustration führt zur psychischen Krankheit, sondern das Verbot, dieses Leiden, den Schmerz über die erlittene Frustration zu erleben und zu artikulieren.“ (Miller 1983, 293). Einen Umstand, den wir sekundär traumatisierend nennen können, beschreiben z.B. die Frauen aus traditionell ländlichen Gesellschaften sehr deutlich (in meinen Beispielen die Frau aus Sri Lanka): Nämlich die Tatsache, dass sie als „beschmutzt“, „unrein“, „gebrandmarkt“ oder nicht mehr als „heiratsfähig“ angesehen werden, wenn das Umfeld von diesen „Beschämungen“ erfahren würde. Wie in den Fallbeispielen dargestellt, erleben viele traumatisierte Menschen auch die Situation hier in Deutschland unter dem Druck eines rechtlichen Verfahrens zur Sicherung ihres Aufenthaltes als extrem belastend und retraumatisierend. Hier ist die Sicherung des sozio-emotionalen Umfeldes entscheidend. Leider stoßen auch hier die Möglichkeiten der psychotherapeutischen Bemühungen an real eingeschränkte Lebensbedingungen durch das Asylbewerberleistungsgesetz, welches die Entwicklung konsolidierender progressiver Lebensperspektiven (oft über Jahre) nicht erlaubt. 49 Die Trauer löst Gefühle aus der Erstarrung und kann somit Schuldgefühle „erlösen“. Ziel ist die Integration der traumatischen Erlebnisse in das Selbstbild der Betroffenen. D.h. Folter und ihre Folgen werden als ein Teil des Lebens akzeptiert. Hierfür ist Begleitung durch eine Trauerreaktion (Verlust von Selbstwert, körperlicher Unversehrtheit, Autonomie, Heimat, Freunde, Identität oder Weltbild usw.) sehr heilsam (vgl. Bittenbinder, 1995, 174). Nicht alles kann „verarbeitet“ werden. Folter ist eine der erniedrigendsten Erfahrungen, die eine Frau oder ein Mann machen kann. So kann es Folgen geben, die die Zeit nicht heilen kann. Für viele Menschen wird es immer Situationen geben, in denen sie an diese Erlebnisse in einer sie beeinträchtigenden Weise erinnert werden. Reden oder Schweigen Ich habe versucht, dass Dilemma zwischen Reden und Schweigen aufzuzeigen. Dies gilt für die betroffenen Menschen, aber auch die ehrenamtlichen und professionellen HelferInnen. Betroffene haben nicht nur das Recht zu schweigen, es kann auch überlebensnotwendig oder einfach pragmatisch sinnvoll für sie sein. Aus der psychotherapeutischen Praxis wissen wir, wie wichtig gerade bei einer extremen Grenzverletzung, wie bei Vergewaltigung und Folter, das Einhalten von Grenzen und die Selbstbestimmung der betroffenen Frauen und Männer ist. Trotzdem sind wir, z.B. beim Erarbeiten von Stellungnahmen oder Gutachten, nicht 50 selten in der Situation, dass Erinnerungen geweckt werden, die Frauen lieber „vergessen“ oder ruhen lassen 3 wollen. Paradoxerweise kann gerade ein „sich Erinnern“, auch wenn es von außen angestoßen wird, einen heilsamen Prozess einleiten. Allerdings bedarf es hierfür eines gesicherten Rahmens und einfühlsamer empathischer GesprächspartnerInnen, die über spezielles Wissen verfügen oder offen sind dafür, was die psychischen Folgen von sexueller Gewalt und Folter oder schwere Menschenrechtsverletzungen angeht. Zu aller erst und am wichtigsten: Das Erinnern muss - trotz des äußeren Anstoßes - die freie Entscheidung der betroffenen Person sein. Dies ist der Unterschied zu retraumatisierenden Situationen (wie sie z.B. von Anhörungssituationen beschrieben werden), wo Menschen sich in einem für sie unauflöslichem Dilemma gefangen sehen, entweder eine Realität zu verleugnen oder ihre Würde preiszugeben; oder wo sie sich zu Erinnerungen gezwungen sehen, die sie zu überfluten drohen. Sie Ohnmachts- und Gewalterfahrungen wiederbeleben in einer Situation, in der sie sich diesen nicht stellen können. 51 III. Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie bei Posttraumatischer Belastungsstörung Psychotherapie bei PTB/PTSD* *(vgl.: Die Posttraumatische Belastungsstörung von Mathias Langkafel, in: Psychotherapie im Dialog, Nr. 1, März, 2000) Erste Maßnahmen: l Herstellen einer sicheren Umgebung (Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung) l Organisation eines psycho-sozialen Helfersystems l Informationsvermittlung und Psychoedukation bezüglich traumatypischer Symptome und Verläufe l Frühes Hinzuziehen eines mit der PTB-Behandlung erfahrenen Psychotherapeuten Traumaspezifische Stabilisierung l durch entsprechend qualifizierten Psychotherapeuten l Anbindung an engmaschige diagnostische und therapeutische Betreuung l Krisenintervention l Ressourcenorientierte Interventionen (Distanzierungstechniken, imaginative Verfahren) l Pharmakotherapeutische Abschirmung (adjuvant, symptomorientiert) Besondere Suchtgefährdung bei PTB (besonders Benzodiazepine) 52 Traumabearbeitung Nur durch entsprechend qualifizierten Psychotherapeuten. Die Therapie der Wahl bei der PTB ist die Rekonfrontation mit dem auslösenden Trauma, mit dem Ziel der Bearbeitung und Integration unter geschützten therapeutischen Bedingungen. l Voraussetzung: Ausreichende Stabilisierung, keine weitere Traumaeinwirkung, kein Täterkontakt l Traumaadaptierte Verfahren im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes: kognitiv-behaviorale Therapie, psychodynamische Therapie, EMDR l Einbeziehung adjuvanter Verfahren (z.B. stabilisierende Körpertherapie, künstlerische Therapie) l Setting: in Abhängigkeit von Schwere der Störung und Stabilisierungsbedarf 4 4 ambulant (Schwerpunktpraxen, Ambulanzen) stationär (Schwerpunktstation, Tagesklinik) 53 Kontraindikationen für traumabearbeitende Verfahren: Relative Kontraindikation: Absolute Kontraindikation: Instabile psychosoziale und körperliche Situtation Psychotisches und psychosenahes Erleben Mangelnde Affekttoleranz Akute Suizidalität Anhaltende, schwere Dissoziationsneigung Anhaltender Täterkontakt Mangelnde Distanzierungsfähigkeit zum traumatischen Ereignis IV. Stellvertretende Traumatisierung ”Wir können Heilung nicht ”machen”, sondern nur dabei helfen, die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, die eine Heilung blockieren.”(Wirtz, 1989,160). Voraussetzungen sind: 1. eine emphatische Grundeinstellung, warme Zuwendung sowie akzeptierende und die Person respektierende Haltung (HelferInnen) 2. Stärkung des sozio-emotionalen Umfelds der Betroffenen 3. Evtl. gezielt einzelne Familienmitglieder beraten, wenn diese sich überfordert fühlen (BeraterInnen) 4. Einfühlendes Verstehen und fundierte Kenntnisse über die Gefühle und psychischen Prozesse, die Vergewaltigung oder Folter auslösen (TherapeutInnen) 5. Grundlegende Informationen geben und Verständnis vermitteln darüber, was Vergewaltigung oder Folter bedeuten (TherapeutInnen) 6. Familie/Partner aufklären über die Art der Krise (TherapeutInnen) 54 Stellvertretende Traumatisierung bei HelferInnen Um in extremen Situationen helfen zu können oder in diesen „handeln“ zu können, müssen wir Empathie entwickeln. Empathie bedeutet, dass wir uns emotional einlassen auf die extrem belastenden Geschichten der Vergangenheit oder Gegenwart der Betroffenen. Trauma bedeutet immer Verlust, Konfrontation mit Extremen, die unsere Weltsicht verändern, die unser Gefühl von Sicherheit in Frage stellen oder die Möglichkeit, Situationen zu kontrollieren, in Frage stellen. Wir müssen verstehen, wie Trauma eine Person verändert in Bezug auf ihre: - Copingmechanismen - Weltsicht - Selbstwertgefühle - sozialen Bezüge. In der gleichen Weise kann stellvertretende Traumatisierung bei Professionellen (Helfern, Heilberuflern, Anhörern, Richtern, Rechtsanwälten usw.), die in intensiver Auseinandersetzung mit traumatisierten Menschen stehen, wirken. Die Reaktionen darauf können Abwehr und Verleugnung sein. Sind wir uns dessen nicht bewusst, so können diese Mechanismen unser Urteilsvermögen beeinflussen. 55 Literatur: Keilson, H. (1979). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden, Enke, Stuttgart. Van der Kolk, B. (1996). Traumatic Stress. The Effects of Overwhelming Experience on Mind, Body and Society, Guilford Press, New York. Walter, Riepe und Groen (1999). Funktionelle Studien zu Posttraumatischen Belastungsstörungen, in funktioneller Bildgebung als klinisches Instrument in der Psychiatrie, Nervenheilkunde 10. Bittenbinder, E. (1999). Umgang mit Traumatisierten in Anhörung bei Begutachtung. Mombour, W., Schmidt, M.H. (1993). Übersetzt und herausgegeben Dilling, H., Internationale Klassifikation Psychischer Störungen ICD-10 Klinisch-diagnostische Leitlinie/ Weltgesundheitsorganisation. World Health Organization: The ICD-10 Classification of Mental and Behavioural disorders. Clinical Descriptions and Diagnostic Guidelines. Geneva 1992. Fourth Edition, American Psychiatric Association, 1994. Deutsche Bearbeitung und Einführung: Saß, H., Wittchen, H.U., Zaudig, M.: Hogrefe, Verl. für Psychologie (1996). Göttingen, Bern, Toronto, Seattle. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSMIV. Übersetzt nach der vierten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 56 Georg Thieme Verlag Stuttgart. Pid Psychotherapie im Dialog (Nr.1, März 2000). Mathias Langkafel, Die posttraumatische Belastungsstörung. Saakvitne, K. W., Pearlman, L. A. (1996). Transforming The Pain. A Workbook on Vicarious Traumatization, Norten & Company, New York. Fußnoten 1 2 3 Der Fallbericht wurde anonymisiert, um die Frau nicht zu gefährden. EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing)nach Francine Shapiro ist eine neuere psychotherapeutische Methode. Ich wende sie sehr eingeschränkt bei bestimmten, eingegrenzten Symptomen an. Frau B aus Nigeria: „Dieses Geheimnis (Vergewaltigung, wie sich später herausstellen sollte) kann ich niemandem erzählen. Dieses Geheimnis muß mit mir sterben. Bitte! Ich will mich nicht erinnern. Lassen Sie dieses Geheimnis bei mir ruhen“. 57 58 Verifizierung von psychischen Folgeschäden nach Extremtraumatisierung, Feststellung und Behandlungsmöglichkeiten, Glaubhaftigkeit von Ereignisberichten Dietrich F. Koch (XENION, Berlin) Glaubhaftigkeitskriterien der forensischen Psychologie versus neue wissenschaftliche Befunde zum traumaspezifischen Gedächtnis und die Implikationen für den Umgang mit traumatisierten Menschen Einleitung Herzlichen Dank zunächst an Sie, Frau Staatssekretärin Dr. SonntagWolgast, für Ihre Initiative zu der heutigen Tagung. Herzlichen Dank an unseren Gastgeber, Herrn Dr. Schmid und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamtes für Ihr Interesse an der Sache und für Ihren Mut und die Offenheit für diesen Dialog. Herzlichen Dank für die Einladung zu der heutigen Veranstaltung und für die freundliche Einführung und Vorstellung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich zum eigentlichen Thema meines Vortrags komme, gestatten Sie mir ein paar persönliche Worte darüber zu verlieren, was mich bei der Entscheidung bewegte, Ihrer Einladung zu dieser Veranstaltung zu folgen. Ich arbeite als Psychotherapeut in XENION, einer psychosozialen Einrichtung für politisch Verfolgte in Berlin, nun seit mehr als dreizehn Jahren mit traumatisierten politischen Flüchtlingen und Folteropfern. Ich bin hauptsächlich psychotherapeutisch tätig. Verstehen Sie mich daher bitte in erster Linie als Praktiker, der nur dann nach Theorie sucht, wenn er aus der Arbeit her- 59 aus auf Fragen stößt, also auf Phänomene, die er nicht versteht und auf die er Antworten sucht. Die Grundlagenarbeit in Forschung und Wissenschaft machen andere. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich auf eine wichtige Arbeit von Professor Fischer und Mitarbeitern seines Instituts in Köln hinweisen, von deren systematischer Sichtung aktueller gedächtnispsychologischer und psychotraumatologischer Forschungsergebnisse ich in meiner Arbeit sehr profitiert habe und auf die ich in meinem Vortrag mehrfach zurückgreifen werde. Das was ich Ihnen heute an theoretischen Ergebnissen vom aktuellen Stand des Wissens und der Diskussion aus der psychotraumatologischen Forschung und Praxis mitgebracht habe, ist nicht mehr als ”ein Eimer voll Wasser, geschöpft aus einem Ozean”. Vermessen, wer glaubt, nun alles über den ”Ozean” zu wissen. Dieser einschränkende Hinweis hat zum einen Teil damit zu tun, dass der Stand der Forschung bei weitem noch nicht die Antworten bereithält, nach denen wir suchen, und ich zum anderen nur solche Befunde ausgewählt habe, die für unsere Fragestellung relevant sind, und dass ich diese Ergebnisse stellenweise auch noch so vereinfache, dass sie von Nicht-Fachleuten noch verstanden werden. Die Fachleute unter Ihnen möchte ich daher im Voraus um Verständnis bitten. Die bisherige Arbeit hat uns vor allem auch darauf aufmerksam gemacht, wie schwierig es ist, Entscheidungsträgern bei Gerichten, in Verwaltung und Politik klinisches Wissen und unsere Erfahrung zu vermitteln. Aus den verschiedenen professionellen Denk- und Begriffssystemen heraus ergeben sich bisweilen erhebliche Kompatibilitätsprobleme in der Kommunikation. Wie ich der Teilnehmerliste entnehmen konnte, dürften die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer Juristen sein oder zumindest 60 im professionellen Alltag eher mit juristischen Fragen befasst sein als mit psychologischen oder gesundheitlichen Fragen. Ich habe daher den Versuch gemacht, (ausländer-) rechtliche Belange und damit die professionellen Interessen von Juristen und im juristischen, verwaltungstechnischen und politischen Bereich Tätigen zu berücksichtigen. Ich habe in den zurückliegenden Jahren der Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen viele Lektionen lernen müssen. Eine der wichtigsten Lektionen wird in einem persischen Sprichwort treffend beschrieben. Es lautet: ”Es braucht nur einen um eine Münze in einen Brunnen zu werfen, aber hundert, um sie wieder herauszuholen”. Um wie viel mehr gilt das, wenn es um Menschen geht und um die Heilung der körperlichen und seelischen Wunden, die der Mensch im Stande ist, anderen Menschen zuzufügen! Erfolg in dieser Arbeit ist nur schwer zu erringen, wenn nicht ein basales Gefühl von Sicherheit und Schutz vor einer Wiederholung stattgehabter Traumata möglich ist. Das Ende der subjektiven Angst vor weiteren Gewaltmaßnahmen und Verfolgung ist der Dreh- und Angelpunkt der therapeutischen Arbeit und - conditio sine qua non - jeden therapeutischen Erfolgs. Es ist selbstverständlich, dass sich dieses subjektive Sicherheitsgefühl nicht gegen die objektive Realität aufrechterhalten lässt, die dieses Gefühl von Sicherheit nicht wirklich zulässt. Und umgekehrt wirkt sich kaum etwas förderlicher auf die psychische Gesundheit unserer Klienten und den Erfolg unserer therapeutischen Bemühungen aus als ein kurzes Asylverfahren mit dem positiven Ausgang eines Bleiberechts. Der oft jahrelange Zustand quälender Unsicherheit, Angst und chronischer Belastungen durch Stress bindet und absorbiert die Energie, die so dringend als Ressource der Selbstheilung gebraucht würde. 61 Therapeutische Erfolge werden von der belastenden Alltagssituation permanent aufgezehrt und genau so schnell abgenutzt wie wir sie im Stande sind aufzubauen. Die Qualen, die die Betroffenen bis zur endgültigen Gewissheit durchleben und der Therapeut mit ihnen, sind für beide Seiten nur schwer zu ertragen. Sie sehen also in welchem Maße die Arbeit der beteiligten Behörden, insbesondere des Bundesamtes, aber auch der Verwaltungsgerichte mit dem Erfolg unserer therapeutischen Arbeit verbunden ist. Wir teilen eine gemeinsame Verantwortung für den Schutz von Opfern von Menschenrechtsverletzungen und deren Rehabilitation. Wo dieser Schutz gelingt, können wir Menschen aus existentieller Ausweglosigkeit befreien, sie ”wieder heimisch machen in der Welt”, um an die berühmt gewordenen Worte von Jean Améry1 anzuknüpfen. Wo der Schutz versagt, können auch die ehrgeizigsten therapeutischen Bemühungen wenig anhaltende Besserung bewirken. Die Verantwortung unserer Arbeit wiegt schwer, wo man erkennen muss, dass es für einige der Betroffenen um nichts Geringeres geht als um Leben und Tod. Angesichts dessen ist dies heute ein wichtiger Tag. Es ist ein weiterer Baustein des - zugegebenermaßen - ”kritischen Dialogs”, der seit einiger Zeit zur Frage traumatisierter Flüchtlinge im Asylverfahren begonnen hat. Ich würde mir wünschen, dass wir auf diesem Wege eine institutionalisierte Kooperation im Sinne unserer gemeinsamen Verantwortung aufbauen können. Diese Aufgabe wird nicht mit dieser Tagung erfüllt sein. Aber ”auch eine Reise von dreitausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt.” (chinesisches Sprichwort) Ein Weiteres: Meistens treten die Flüchtlinge an uns heran, wenn das Asylverfahren schon weit fortgeschritten ist und vom Bundesamt negativ 62 beschieden wurde. Es gibt dabei erfahrungsgemäß eine ganze Reihe von Faktoren, die für ein Scheitern in der Asylanhörung angeführt werden können, angefangen von eher kulturbedingten Hürden (z.B. erlerntes Verhalten gegenüber Autoritätspersonen), über Bildungsstand (z.B. mehr oder weniger gut ausgebildete Kommunikationsfähigkeiten) bis zu situativen Faktoren (z.B. Dolmetscherprobleme) u.v.m.. Unter unseren Klienten, aber auch in anderen psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, gibt es eine reiche Sammlung von Fallbeispielen, die solches Scheitern dokumentieren. All diese Faktoren möchte ich aber in meinen Betrachtungen ausklammern. Ich möchte mich in meinem Vortrag ausschließlich auf solche klinischen Befunde aus unserer Arbeit beziehen, bei denen ich allen Grund habe anzunehmen, dass die typischen Merkmale traumabedingter Erkrankung mit den Anforderungen an den Flüchtling im Asylverfahren in einer Weise interferieren, dass gerade traumati-sierte Flüchtlinge überfordert sind, ihr Anliegen ihrer Mitwirkungspflicht gemäß vorzubringen, und, eben weil sie diesen Anforderungen krankheitsbedingt nicht gewachsen sind, dann negativ ausselektiert werden. Und ein Letztes: Bei allem, was ich im Folgenden an kritischen Bemerkungen machen werde, bitte ich Sie zu verstehen, dass ich mir über die Schwere der Aufgabe, sowohl menschlich als auch juristisch vertretbare Entscheidungen im Asylverfahren zu treffen, durchaus bewusst bin. Tatsächlich glaube ich, dass wir die Bedingungen des Asylverfahrens ändern und weiterentwickeln müssen, damit wir mehr Einzelfallgerechtigkeit besonders für traumabedingt erkrankte Flüchtlinge erreichen können. Vor allem stellt sich den psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folter- 63 opfer die entscheidende Frage, wie die Befunde und Stellungnahmen von Heilberuflern in das Asylverfahren Eingang finden können, und dies möglichst in einem frühen Stadium, in dem noch keine Entscheidungen gefallen sind. Wenn sich hierfür ein institutionalisiertes Verfahren finden ließe, so glaube ich, dass wir nicht nur für die betroffenen Flüchtlinge eine wichtige präventive Schutzmaßnahme gefunden hätten, sondern auch den Einzelentscheiderinnen und –entscheidern eine nicht zu unterschätzende Unterstützung bei der Entscheidungsfindung an die Hand geben könnten. In diesem Sinne hoffe ich, dass uns diese Tagung einen guten Schritt weiter bringen wird. Zur Diagnostik von Traumaschäden bei Flüchtlingen Die Diagnostik von Traumaschäden ist möglich und durch wissenschaftlich abgesicherte internationale Diagnosestandards eindeutig definiert. Für die Diagnostik psychischer Erkrankungen gibt es international anerkannte und gebräuchliche Standards. Zwei Hauptwerke der Diagnostik psychischer Störungen sind gegenwärtig im Gebrauch: 1. Die internationale Klassifikation psychischer Störungen (International Classification of Diseases and other related health problems, 10. Revision, kurz: ICD-10; Hrsg. World Health Organisation 1991) 2. Diagnostic and Statistic Manual of Psychiatric Disorders, 4. Revision, kurz: DSM IV, Hrsg. American Psychiatric Association, 1994) 64 Das ICD-10 wird inzwischen im deutschen Gesundheitssystem als Klassifikationssystem und Diagnosestandard vorausgesetzt. Das DSM IV wurde in den Vereinigten Staaten entwickelt. Es findet dort im Gesundheitswesen Gebrauch und wird in vielen Ländern der Welt in der psychologischen und psychiatrischen Forschung eingesetzt. Beide Werke legen klare Kriterien für die Diagnose psychischer Störungen fest, u.a. auch für die psychischen Reaktionen nach Extrembelastungen. Sie repräsentieren in der jeweils gültigen Version den aktuellen Stand wissenschaftlicher Forschung zur Psychodiagnostik. Fachärzte, Psychologen und Psychotherapeuten sind prinzipiell qualifiziert und autorisiert, Diagnosen nach diesen Kriterien zu erstellen. Durch sorgfältige medizinische und psychologische Erhebungen können psychische Traumafolgen anhand typischer körperlicher Spuren und psychischer Reaktionen festgestellt und diagnostiziert werden. Voraussetzung ist, dass die DiagnostikerIn über die entsprechende Erfahrung verfügt und die wissenschaftlich fundierten internationalen Diagnosestandards sachgemäß anwendet. Es können sogar mit gewisser Wahrscheinlichkeit fachlich fundierte Einschätzungen über die Genese der Traumatisierung und damit über die Glaubhaftigkeit der dargelegten Verfolgungsgeschichte abgegeben werden, wenn die Darstellung der Verfolgung sorgfältig auf Merkmale hin untersucht wird, die einen konkreten Erlebnishintergrund begründet erscheinen lassen. 65 Grundsätzlich muss aber festgehalten werden, dass die Diagnostik von Traumaschäden in die Hand von Fachleuten gehört, die auch die entsprechende Sachkenntnis und Erfahrung nachweisen können. Wenn ich in Vorträgen oder zu anderen öffentlichen Anlässen, auch vor Fachpublikum über Psychotrauma spreche, dann beschleicht mich oft das Gefühl, als würde ich von einer geheimnisvollen, neu entdeckten Krankheit sprechen. Mein Kollege Dr. Mehari hat in seinem Beitrag bereits auf die Gründe aufmerksam gemacht, warum es die ”psychischen Reaktionen nach Extrembelastungen”, obwohl bereits seit 1980 in die international anerkannten Klassifikationen psychischer Erkrankungen (heute DSM IV bzw. ICD-10) als eigenständige Kategorie aufgenommen, gerade in Deutschland so schwer haben, sich in Fachkreisen durchzusetzen. Fakt ist, dass sie selbst bei Fachleuten nicht als Allgemeingut vorausgesetzt werden können. Halten wir folgendes fest: Noch 1995 wies Priebe darauf hin, dass in Deutschland noch nicht vorausgesetzt werden könne, dass die Kenntnis der diagnostischen Kriterien, geschweige denn der mittlerweile vorhandenen spezifischen Behandlungsansätze für Traumafolgen, sich in Lehre und Praxis durchgesetzt und genügend weit verbreitet hätte. Da die meisten FachärztInnen und psychologischen PsychotherapeutInnen, die heute praktizieren, ihre Ausbildung schon längst hinter sich haben, und in den Aus- und Weiterbildungen bis zum Anfang der neunziger Jahre wenig zum Thema Diagnostik und Behandlung psychischer Traumatisierung angeboten wurde, ist trotz einer erfreulichen Steigerung der Anstrengungen auf diesem Gebiet, u.a. auch des Aufbaus eines Netzwerkes von BehandlerInnen 66 und ForscherInnen auf dem Gebiet der Psychotraumatologie, davon auszugehen, dass sich an diesem Umstand noch nicht viel geändert hat. Mit anderen Worten, aktuell sind nur diejenigen Fachleute, die sich intensiv um die Anpassung ihrer Kenntnisse an den neuesten Forschungsstand bemühen, in der Lage, psychische Reaktionen auf Extrembelastungen sicher zu erkennen, zu diagnostizieren und richtig zu behandeln. Das trifft in der Regel nur für wenige Spezialisten zu, die durch ihren professionellen Alltag gehäuft mit Überlebenden extremer Gewalt konfrontiert waren. In der gesundheitlichen Regelversorgung in Deutschland können diese Kenntnisse nicht als Allgemeingut vorausgesetzt werden. Betrachtet man darüber hinaus die Gruppe von Fachleuten, die ihre Erfahrungen mit ausländischen Flüchtlingen, also im transkulturellen Bereich, gesammelt haben, so dürfte sich der Kreis der Sachverständigen noch erheblich weiter einschränken. Für traumatisierte Flüchtlinge in Deutschland sind sie in aller Regel in den Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer zu finden. Grundlagen der Psychotraumatologie Was ist ein Trauma? Nicht alles was in der Alltagssprache ein ”Trauma” genannt wird, ist auch im klinischen Sinne als ein solches zu bezeichnen. Der Begriff ”Trauma” wird in der medizinischen Wissenschaft im Sinne von ”Wunde” oder ”Verletzung” gebraucht. Auch eine körperliche Verletzung, meinetwegen eine Schnittwunde, wird als Trauma bezeichnet. In Abgrenzung dazu spre- 67 chen wir von ”Psychotrauma”, wenn ausschließlich eine seelische Verletzung gemeint ist. Beide internationale Klassifikationen beginnen ihre Kriterien zur Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung mit einer Definition des auslösenden traumatischen Ereignisses. Im ICD-10 (WHO, 1991) wird ein traumatischer Stressor als ein belastendes Ereignis mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß beschrieben. Das Ereignis muss eine bestimmte traumatisierende Kraft aufweisen, die nach menschlichem Ermessen ausreichend ist, um bei fast jedem Betroffenen starke Angst und Verzweiflung auszulösen. Das Ereignis muss seiner Natur nach geeignet sein, die traumatische Symptomatik zu determinieren. Das DSM IV gibt einem Ereignis dann eine traumatische Qualität, wenn es eine reale oder drohende Todesgefahr, ernsthafte Verletzung oder Gefahr für die körperliche Integrität beinhaltet, und die Person mit intensiver Angst, Hilflosigkeit oder panischem Schrecken erfüllt und entsprechend reagiert. Bei Kindern kann sich die Reaktion auch in desorganisiertem oder agitiertem Verhalten ausdrücken. Dabei reicht es aus, wenn die betroffene Person auch nur unmittelbar Zeuge eines solchen Ereignisses wird. Dieses sogenannte Stressorkriterium oder A-Kriterium wird durch ganz verschiedene kritische Lebensereignisse erfüllt, die in der nachfolgenden Tabelle aufgeführt sind. 68 Klassifikation von Traumen (zitiert nach Maercker 1997) Vom Menschen verursachte Traumen 4 4 4 4 4 4 4 Sexuelle/körperliche Misshandlungen in der Kindheit, kriminelle und familiäre Gewalt, Vergewaltigungen, Kriegserlebnisse, zivile Gewalterlebnisse (z.B. Geiselnahme), Folter und politische Inhaftierung, Massenvernichtung (KZ-, Vernichtungslagerhaft). Katastrophen, berufsbedingte und Unfalltraumen 4 4 4 4 4 Naturkatastrophen, technische Katastrophen (z.B. Giftgaskatastrophen), berufsbedingte (z.B. Militär, Polizei, Feuerwehr), Arbeitsunfälle (z.B. Grubenunglück), Verkehrsunfälle. Man hat bei dieser Klassifizierung eine Unterscheidung gemacht zwischen den sogenannten ”man made disaster”, den vom Menschen verursachten Traumata, und solchen, die nicht durch Menschen verursacht sind. Diese Unterscheidung ist in sofern sinnvoll, als auch die psychischen und sozialen Folgeschäden signifikante Unterschiede zeigen. Das Verhältnis der betroffenen Person zu ihrer sozialen Umwelt (v.a. ihre generelle Beziehungsfähigkeit, Sozialverhalten und Kontaktverhalten) ist in aller Regel stärker beeinträchtigt, wenn das Trauma in einem sozialen Kontext verursacht wurde. Folter, Krieg und Genozid gehören in die Kategorie der vom Menschen verursachten Traumata. Bei Folterüberlebenden finden wir überaus häufig ein generalisiertes Misstrauen gegenüber Funktions- 69 trägern von Staat oder Justiz wie z.B. Polizeibeamten, Richtern, aber auch nicht uniformierten Mitarbeitern von Staatsbehörden. Eine zweite Unterscheidung wurde hinsichtlich der Dauer und Frequenz der Einwirkung des traumatischen Stressors gemacht. Es gibt auch hier Hinweise darauf, dass lang dauernde und wiederholte Belastungssituationen oder ganze Sequenzen traumatischer Erlebnisse (Typ II) einen stärker beschädigenden Einfluss auf den Betroffenen haben als einmalige oder kurzzeitige Erlebnisse (Typ I). Vor allem chronische Verläufe der Erkrankung sind mit höherer Wahrscheinlichkeit unter den Stressoren vom Typ II zu finden. Klassifikation von Traumen (zitiert nach Maercker 1997) Kurzdauernde traumatische Ereignisse (Typ-I-Traumen) 4 4 4 4 Naturkatastrophen, Unfälle, technische Katastrophen, kriminelle Gewalttaten wie Überfälle, Schusswechsel. Länderdauernde, wiederholte Traumen (Typ-II-Traumen) 4 4 4 4 4 Geiselhaft, mehrfache Folter, Kriegsgefangenschaft, KZ-Haft, wiederholte sexuelle oder körperliche Gewalt in Form von Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlung sowie wiederholte Vergewaltigungen. 70 Vom Trauma zur posttraumatischen Erkrankung Wer die öffentliche Diskussion um den Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen in den letzten Jahren aufmerksam mitverfolgte, stieß häufig auf Argumente, die aus fachlicher Sicht dringend klärungsbedürftig sind. Auf der einen Seite erfuhr der Begriff der „Traumatisierung“ zunehmende Beliebtheit, gepaart mit zunehmend inflationärem Gebrauch. Er wurde u.a. in solcher Weise verwendet, dass die Grenze zwischen einer „normalen“ psychischen Belastungsreaktion auf ein beliebiges belastendes Ereignis und dem klinischen Krankheitsbild schwerer chronischer Folgen von Extrembelastung z.T. nicht mehr erkennbar war. Mit anderen Worten: nicht jeder, der ein Trauma erfährt, wird eine länger anhaltende klinische Erkrankung davontragen. Es gibt in den Verarbeitungsmöglichkeiten traumatischer Erfahrungen u.a. erhebliche individuelle Unterschiede. Jeder von uns erlebt mit 50% Wahrscheinlichkeit einmal in seinem Leben ein Trauma, das die Stressorkriterien der posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt. Die klinische Erfahrung zeigt aber auch, dass nicht jeder, der ein Trauma erlebt, krankheitswertige Folgeschäden davontragen wird. Das belegen epidemiologische Studien. 71 Epidemiologie I (Langkafel, 2000) 4 Wahrscheinlichkeit ein Trauma zu erleben entsprechend der Stressorkriterien der PTBS liegt bei 50% 4 Erkrankungsrisiko liegt bei 20% im Durchschnitt (etwa nach Verkehrsunfall) 4 Nach Kampfeinsätzen, Folter, sexuellen Traumata liegt das Erkrankungsrisiko zwischen 30 und 50%. Was sich mit aller Vorsicht aufgrund dieser Studie sagen lässt ist, dass bei traumatisierten Kriegsflüchtlingen und Überlebenden von Folter oder Genozid die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei 30 – 50% liegt. Wir können also nach den vorliegenden Studien damit rechnen, dass mindestens jeder dritte nach Deutschland eingereiste Flüchtling an einer traumabedingten Störung erkrankt ist oder war. Umgekehrt gilt aber auch, dass nur maximal jeder zweite, der Folter erlebt hat, auch Symptome einer posttraumatischen Erkrankung zeigt, oder anders ausgedrückt: Das Fehlen von typischen traumabedingten Krankheitssymptomen und Verhaltensauffälligkeiten lässt nicht den Schluss zu, dass beispielsweise die Foltererfahrung nicht stattgefunden haben kann. Dies ist vor allem bei Asylanhörungen wichtig zu berücksichtigen. 72 Faktoren, die eine Erkrankung determinieren können Die folgende etwas differenziertere Betrachtung des Krankheitsverlaufs und der möglichen positiven und negativen Beeinflussung des Krankheitsgeschehens und der Heilungschancen durch äußere und innere Faktoren illustriert noch einmal meine eingangs formulierte These der gemeinsamen Verantwortung aller im Asylverfahren beteiligten Akteure für die vollständige Rehabilitation von Überlebenden staatlicher Gewalt und krassen Menschenrechtsverletzungen. Warum der eine nach einem Trauma erkrankt und unter Umständen lebenslange Schäden davonträgt und ein anderer nicht erkrankt oder sich nach einiger Zeit von der Störung wieder erholt, dafür hat man einige maßgebliche Faktoren ausgemacht, die eine Rolle im psychischen Verarbeitungsprozess spielen. Die vorliegenden Modelle der Entstehung der psychischen Erkrankung sind zwar größtenteils noch nicht so weit durch empirische Studien abgesichert, dass man sie im strengen Sinne als ”bewiesen” bezeichnen könnte, sie können aber als brauchbare Arbeitshypothesen gelten, die den gesunden und den pathologischen Verarbeitungsprozess einer Traumatisierung beschreiben. 73 Eine ganze Reihe von Faktoren spielen bei der Entscheidung eine Rolle, ob ein Mensch ein traumatisches Ereignis gesund übersteht oder möglicherweise bleibende psychische Folgeschäden davonträgt. Diejenigen, die für unsere Arbeit eine wichtige Rolle spielen, sind: Trauma - Belastungserscheinungen - Störung (nach McFarlane & Yehuda 1996) Unterstützung TRAUMA Lebensereignisse Persönlichkeit Bewältigungsstile BELASTUNGSREAKTIONEN Biologische Eigenschaften Vergangene Erfahrungen Lebensereignisse Familienanamnese PSYCHISCHE STÖRUNG Persönlichkeit Reaktionen der Umwelt Das Trauma selbst: Art, Dauer und Intensität der traumatischen Erfahrung haben einen wesentlichen Einfluss auf den Krankheitsverlauf. Eine besondere Rolle scheint dabei die ”Vorhersehbarkeit” des Traumas zu spielen. Offenbar stellt die Vorhersehbarkeit eines traumatischen Ereignisses einen gewissen Schutz vor dem Gefühl des Überwältigtseins dar, das dann besonders stark ist, wenn das Trauma als zufälliges und willkürliches Ereignis erfahren wird. Hieraus erklärt sich auch das paradoxe Phänomen, dass Menschen an sich selbst brutalste Gewalterfahrungen wie Folter ohne längerdauernde Folgeschäden überstehen können. 74 Menschen, die bewusst politischen Widerstand leisten, sind oft auf die Möglichkeit vorbereitet, dass ihnen Folter widerfahren kann. Unterstützung (social support): Wenn die Person ein intaktes, tragendes und unterstützendes soziales Umfeld hat, Familie, Freunde oder Bekannte Unterstützung und Hilfe anbieten, dann ist die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung geringer bzw. die Chance der Erholung höher als wenn dieses soziale Netz nicht vorhanden ist oder nicht im Sinne einer Unterstützung funktioniert. Bei Flüchtlingen, die zum Teil ihre gesamten sozialen Bezüge aufgegeben oder verloren haben, fällt dieser stabilisierende Faktor oft ganz weg. Dies wird vor allem wichtig, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Flucht und Exil oft mit dem vollständigen Verlust des sozialen Netzes einhergehen. Der Wegfall des gewohnten sozialen Unterstützungssystems stellt einen großen Belastungsfaktor im Sinne des Erkrankungsrisikos dar. Hinzukommende kritische Lebensereignisse: Oft treten in Folge der Traumatisierung weitere kritische Lebensereignisse hinzu. Flüchtlinge sehen sich oft nach dem traumatischen Ereignis weiterer Verfolgung ausgesetzt, werden aus ihrer angestammten Umgebung vertrieben, ihrer Existenzgrundlage beraubt oder zur Flucht ins Ausland getrieben, wo sie keine sozialen Bezüge mehr haben, die bisher erlernten Kulturtechniken nicht mehr brauchbar sind und sie als Kulturfremdlinge einem fremden, unverstandenen System von Normen und Gesetzen gegenüberstehen mit vorwiegend frustranen Erfahrungen oft über eine lange Zeit hinweg, bis eine gewisse Anpassung an die neue Umgebung erreicht ist. Dies führt dann oft zu ”Sekundärtraumatisierungen”, Anpassungsstörungen (z.B. Entwurzelungssyndrom) oder langanhaltenden depressiven 75 Reaktionen. All diese zusätzlichen Belastungen begünstigen die Entwicklung der Erkrankung. Vergangene Erfahrungen: Sind dem Trauma bereits traumatische Erfahrungen vorausgegangen, so ist dies geradezu ein Prädiktor für die Entwicklung von chronischen posttraumatischen Störungen bei der Wiederholung der Traumatisierung. Entsprechend ernst zu nehmen ist die Gefahr von Chronifizierung und Dynamisierung der Störung bei Retraumatisierungen. Reaktionen der Umwelt: Das Gefühl von Sicherheit, einer gewissen Akzeptanz und Geborgenheit sind conditio sine qua non jeder psychischen Stabilisierung und jedes Behandlungserfolges bei posttraumatischen Erkrankungen. Umgekehrt wirkt sich eine Umgebung, von der aktuell noch eine reale Gefahr ausgeht, die offen oder verdeckt feindselig reagiert oder die auch nur als bedrohlich empfunden wird, als ernstes Krankheitsrisiko aus. Laufende juristische Verfahren, unsicherer Aufenthalt, frustrane Behördenkontakte haben eine ähnlich erschwerende Wirkung für die Verarbeitung der traumatischen Erfahrung. Selbstverständlich sind auch eine perspektivlose ökonomische Situation oder die gänzlich fehlende Existenzgrundlage Belastungsfaktoren, die den Krankheitsverlauf entscheidend negativ beeinflussen. Die posttraumatische Belastungsstörung Die PTBS ist die zentrale Form der pathologischen psychischen Reaktionen auf Extrembelastungen. Sie ist keinesfalls die einzige Folgeerkrankung nach Psychotrauma. Es wurde bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass PTBS in der öffentlichen Diskussion im Zentrum 76 der Aufmerksamkeit steht, weil das Symptombild als typische Folge von Traumatisierungen zu erwarten zu sein scheint, sich relativ klar beschreiben lässt und eine relativ große Kohärenz der Einzelsymptome aufweist. Sie soll an dieser Stelle detaillierter beschrieben werden. Sie wird durch ein traumatisches Ereigniskriterium (auch Stressorkriterium bzw. A-Kriterium genannt) beschrieben und dazugehörige charakteristische Symptome. Zu den Kardinalsymptomen zählen: Die posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10 und DSM IV (Langkafel, 2000) 4 Das traumatische Ereigniskriterium 4 Symptomgruppe Erinnerungsdruck (Intrusionen) 4 Symptomgruppe Vermeidung 4 Symptomgruppe anhaltende Übererregung 4 Eintritt der Störung innerhalb von sechs Monaten nach dem belastenden Ereignis Symptome des Wiedererlebens (Intrusionen): Nach einer traumatischen Erfahrung wird das Geschehen in verschiedener Form wiedererlebt. Man spricht von Nachhallerinnerungen, wenn Szenen des Geschehens sich tagsüber in Gedanken immer wieder unwillkürlich aufdrängen. Bisweilen geht der Bezug zur Realität zeitweise gänzlich verloren und die wiedererlebten Gefühle erreichen eine vergleichbare Intensität wie in 77 der traumatischen Erfahrung selbst (Flashbacks). In der Nacht kommt es zu Alpträumen. Dabei wird das traumatische Geschehen mit allen dazugehörigen Gefühlen intensiv wiedererlebt. Symptome des Vermeidens: Um den belastenden Symptomen des Wiedererlebens aus dem Wege zu gehen, vermeiden die Betroffenen alle Gedanken, Gefühle, Aktivitäten und Orte, die mit den Erinnerungen assoziativ verknüpft sind. Es kann zu weitgehendem sozialen Rückzug und Isolationstendenzen, Apathie und Interessenlosigkeit oder einem Gefühl der völligen Entfremdung und emotionalen Losgelöstheit von der sozialen Umgebung kommen. Die Betroffenen zeigen manchmal charakteristische Erinnerungsstörungen an Teile des traumatischen Geschehens bis zur vollständigen Amnesie für das gesamte traumatische Geschehen. Oft treten unwillkürliches Wiedererleben und Vermeidung hintereinander auf und es scheint dann, als würden die Betroffenen zwischen dem einen und dem anderen hin und her oszillieren. Symptome anhaltender Übererregung (Hyperarousal): Durch die traumatische Erfahrung wird das Nervensystem der Betroffenen in einen Alarmzustand versetzt, der auch lange nach dem traumatischen Geschehen fortbestehen kann, obwohl nach objektiven Kriterien kein Anlass mehr für das Gefühl der Bedrohtheit besteht. Sie drückt sich u.a. in einer Haltung andauernder Verteidigungsbereitschaft aus, in ständiger innerer Unruhe, chronischen Schlafstörungen, erhöhter Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten sowie erhöhter Schreckhaftigkeit. Die Symptome verursachen einen individuellen Leidensdruck und eine beachtliche Beeinträchtigung in verschiedenen Lebensbereichen (Be- 78 ziehungsfähigkeit, allgemeine Leistungsfähigkeit, Arbeitsfähigkeit, Lernfähigkeit). Wir werden im weiteren Verlauf auf diese Kardinalsymptome zurückkommen, wenn wir uns die Frage stellen, wie sich diese typischen Krankheitserscheinungen in der Asylanhörung auswirken können. Als nächstes möchte ich Ihnen aber die Diagnosekriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung zunächst noch einmal in ihrer Gesamtheit zeigen, und zwar so, wie sie durch die internationalen Diagnosestandards vorgegeben sind. Sie sollen sich selbst ein Bild davon machen können, dass sich der Kliniker bei der Beurteilung der Erkrankung an exakt definierte Vorgaben halten muss. Wer also sein Handwerkszeug beherrscht und auf seriöse Weise damit umgeht, der kann traumabedingte Erkrankungen zweifelsfrei erkennen und feststellen. Die psychologischen Repräsentationen traumatischer Erfahrungen haben ein physiologisches Äquivalent. Dies soll an dieser Stelle nur angemerkt werden, ohne dass ich genauer darauf eingehen möchte. Nachfolgend möchte ich Ihnen die diagnostischen Kriterien der ”Posttraumatischen Belastungsstörung” in ihren Einzelheiten zeigen. Sie sind dem DSM IV entnommen. Beide Diagnoseschlüssel (ICD-10 und DSM IV) decken sich bei diesem Störungsbild weitgehend. Sie können erkennen, dass der Kliniker, der diese Diagnose vergibt, streng definierte Kriterien und klare Vorgaben für ihre Anwendung hat, vorausgesetzt er kennt den neuesten Stand der Diagnostik und wendet die entsprechenden Standards sachgemäß an. 79 Posttraumatische Belastungsstörung Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung (DSM-IV): Kriterium A · Die Person hatte ein traumatisches Erlebnis, bei dem sie selbst oder andere tödlich bedroht, verletzungsgefährdet waren, schwer verletzt oder andere tatsächlich getötet wurden. · Unmittelbare Reaktion auf dieses Erlebnis war intensive Furcht, Hilflosigkeit und /oder Entsetzen. Kriterium B Das traumatische Ereignis bewirkte in der Folge mindestens eines der aufgelisteten Reaktionen: 1. wiederkehrende, eindringliche und belastende Erinnerungen an das Ereignis 2. entsprechende (s.o.) Träume 3. Handeln oder Fühlen, als ob das Ereignis wiederkehren würde 4. konkrete oder symbolische (auch gedankliche) Hinweisreize für das traumatische Ereignis werden als psychisch sehr belastend empfunden 5. entsprechende Hinweisreize (s.o.) lösen körperliche Reaktionen aus Kriterium C Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Wachrufen der Erinnerung an das traumatische Erlebnis verbunden sind (oder aber eine generelle Abflachung der Reagibilität); mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor: 1. bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen, Gesprächen mit Bezug zum Trauma 2. bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die an das Trauma erinnern 3. Unfähigkeit einen wichtigen Aspekt des traumatischen Erlebnisses zu erinnern 4. vermindertes Interesse und/oder Teilnahme an wichtigen Aktivitäten 5. Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen 6. Eingeschränktheit bestimmte Gefühle zu empfinden (z.B. Zärtlichkeit) 7. Gefühl/Erwartung einer eingeschränkten Zukunft (Karriere, Ehe, Kinder oder normale Lebensdauer) Kriterium D Anhaltend erhöhte Erregbarkeit, gekennzeichnet durch mindestens zwei der folgenden Symptome: 1. Schlafschwierigkeiten 2. Reizbarkeit, Wutausbrüche 3. Konzentrationsschwierigkeiten 4. übermäßige Wachsamkeit 5. starke Schreckempfindlichkeit Kriterium E Die Störung dauert länger als einen Monat an Kriterium F Die Störung verursacht erhebliches Leiden und eine Beeinträchtigung des sozialen und beruflichen Lebens 80 Besondere Probleme traumabedingt erkrankter Flüchtlinge im Asylverfahren Die Behandlungszentren für Folteropfer in Deutschland haben in der Vergangenheit immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass gerade traumabedingt erkrankte Flüchtlinge die Glaubhaftigkeitskriterien der Anhörung im Asylverfahren nicht erfüllen und dadurch negativ ausselektiert werden. Hier soll speziell auf Gründe für dieses Phänomen eingegangen werden, die eindeutig als krankheitsbedingt zu erklären sind. Genau betrachtet handelt es sich um die Kardinalsymptome Vermeidung und Wiedererinnern sowie um traumatypische Gedächtnisstörungen. Vermeidung und unwillkürliches Wiedererleben Bei aller menschenmöglichen Einfühlsamkeit und Sorgfalt des Gesprächspartners werden traumatische Erfahrungen, also solche zutiefst von Schmerzen, Scham und Schuld geprägten Erfahrungen, in aller Regel eher nicht mitgeteilt, auch wenn aus dem Verschweigen, wie beispielsweise beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, eigener Schaden erwächst. Die Qual des Wiedererinnerns, und damit der eigenen Niederlage und Schutzlosigkeit erneut ins Auge schauen zu müssen, ist oft schlimmer zu ertragen als Isolation und anderweitige Nachteile. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele darstellen, neben denen, die wir in den Beiträgen meiner Vorrednerinnen und Vorredner bereits gehört haben, die das Problem illustrieren können. Das erste Beispiel stammt nicht aus meiner eigenen Praxis. Es wurde mir jüngst von einer Einzelentscheiderin erzählt. Es handelte sich dabei um einen chilenischen Flücht- 81 ling zu Zeiten der Pinochet-Diktatur. Er erwähnte Folter als Grund für seine Flucht. Die Art und Weise jedoch, wie er über seine Verfolgungsgründe berichtete, war oberflächlich, eher emotionslos und ausweichend bei Nachfragen seitens der Entscheiderin. Entgegen der üblichen Praxis konfrontierte die Entscheiderin den Asylbewerber mit ihrer Absicht negativ zu entscheiden. Die Folge war ein völliger psychischer Zusammenbruch, bei dem der Mann eine detaillierte Darstellung brutaler Folterungen erzählte, begleitet von überwältigenden emotionalen und psychosomatischen Reaktionen, die schließlich den Einsatz eines Notarztes notwendig machten. Klinisch betrachtet handelt es sich um ein typisches Beispiel von Vermeidungsreaktionen im Zusammenhang mit traumabedingten psychischen Störungen. Was wir an diesem Beispiel aber auch sehr gut studieren können ist, dass es sich bei Vermeidungsreaktionen generell um psychische Schutzmechanismen handelt, deren offensichtliche Funktion es ist, die psychische Stabilität des Betroffenen zu gewährleisten. Wird ein solcher Abwehrmechanismus unerwartet durchbrochen, können die ausgelösten psychischen Reaktionen wie im erwähnten Beispiel die IchFunktionen des Betroffenen überwältigen und zu einer unkontrollierten Ausbreitung bisher unterdrückten Affekts und gebundener Emotionen in der Psyche führen. Der respektvolle Umgang mit diesen individuellen Schutzvorkehrungen hat daher eine schützende Bedeutung sowohl für den Betroffenen selbst, als auch für sein soziales Umfeld, in unserem Fall für die Einzelentscheiderin. Ich nutzte die Gelegenheit, die Einzelentscheiderin, die den Fall berichtete, zu fragen, welche Gefühle bei ihr durch diese außergewöhnliche Begegnung ausgelöst worden waren, und 82 wie viele solcher Fälle sie sich in ihrer Arbeit zumuten würde? Sie antwortete offen und sehr ehrlich, dass sie nicht viele solcher Ausbrüche verkraften würde. Nicht selten wissen auch die Betroffenen von den zu erwartenden Reaktionen ihrer Umgebung auf die Konfrontation mit ihren Gewalterfahrungen, und aus diesem Grunde schützen sie sowohl den Anderen als auch sich selbst vor weiteren psychischen Verletzungen, indem sie einfach schweigen. Andererseits erscheint es auch nur legitim, wenn sich ein Entscheider bewusst oder unbewusst vor der Konfrontation mit überwältigenden Emotionen seiner Interviewpartner schützt. Es dient schließlich der Erhaltung der psychischen, auf Dauer auch der physischen Gesundheit. Damit sind wir beim grundsätzlichen Dilemma in diesem Zusammenhang. Werden Vermeidungsreaktionen in der Asylanhörung durchbrochen, setzen sich alle beteiligten Akteure, Entscheider, Dolmetscher und Asylbewerber einem akuten Gesundheitsrisiko aus. Bleiben sie dagegen unangetastet, entgehen oft die entscheidenden Informationen über den politischen Verfolgungshintergrund eines Flüchtlings der Aufmerksamkeit des Entscheiders und werden im Asylverfahren nicht aktenkundig. Ein zweites Fallbeispiel stammt aus meiner eigenen Praxis. Es handelte sich um einen palästinensischen Flüchtling aus dem Libanon, der angab, vom syrischen Geheimdienst im Libanon festgenommen, nach Syrien in verschiedene Gefängnisse gebracht und schwer gefoltert worden zu sein. Wir waren nach sorgfältiger Eingangsdiagnostik relativ sicher, dass er ernstzunehmende Verfolgungsgründe vorzubringen hat. Um so erstaunter nahmen wir zur Kenntnis, dass das Protokoll der Anhörung nicht den geringsten Hinweis auf die bei uns berichtete Inhaftierung 83 und Folter enthielt. Insgesamt erschien uns die Mitschrift der Anhörung relativ inhaltslos und nichtssagend. Nach der Ursache für diesen Umstand befragt, wies der Klient auf Probleme mit dem Dolmetscher hin. In der Annahme, dass es sich um Sprachprobleme handelte, wiesen wir den Klienten darauf hin, dass er mit seiner Unterschrift unter das Protokoll Sprachprobleme explizit ausschloss und fragten, ob er über den Inhalt des Protokoll durch sachgemäße Rückübersetzung in Kenntnis gesetzt wurde. Letzteres bejahte er und gab auch zu verstehen, dass es keine Verständigungsprobleme gegeben habe. Auf meine erstaunte Nachfrage erzählte er dann, dass es vielmehr der damaszener Akzent des Dolmetschers war, der ihn augenblicklich verstummen ließ. Es schien ihm geradezu offensichtlich, dass der syrische Geheimdienst hinter diesem Arrangement stand. Er fühlte sich, seine Freunde und Familie augenblicklich in höchster Lebensgefahr. Die instinktive Reaktion war Schweigen über alles, was ihn oder andere hätte belasten können. Gleichzeitig war er unter Aufbietung äußerster Anstrengung darauf bedacht, sich nichts von dem inneren Aufruhr anmerken zu lassen, der von ihm Besitz ergriffen hatte. Die weitere Anhörung verlief diszipliniert, ruhig und erging sich in Belanglosigkeiten, sobald das Interesse des Entscheiders in die Nähe der politischen Aktivitäten meines Klienten geriet. Wenn wir ein solches Angstphänomen analysieren, ist immer die erste Frage, wie die empfundene Angst real bzw. auf Übertragungsphänomenen beruht. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass der syrische Geheimdienst in Deutschland operiert. Mit letzter Sicherheit auszuschließen ist die Berechtigung realer Angst im Konstrukt meines Klienten nicht. Dennoch zeigte die weitere Exploration von Gefühlen und Gedanken, die 84 er in dieser Situation erlebte, dass die Intensität der empfundenen Angst und Lebensbedrohung nur zum geringsten Teil aus der aktuellen Anhörungssituation stammte, sondern vielmehr ein Wiedererleben traumatischer Folterverhöre darstellt. Der damaszener Akzent des Dolmetschers hatte dabei lediglich Auslösefunktion (trigger) für einen komplexen automatischen Wiederholungsmechanismus, den man bei Traumatisierten regelmäßig beobachten kann. In der Situation selbst war es dem Betroffenen nicht möglich, den Impuls äußerster Panik als Erinnerung an etwas Vergangenes zu identifizieren und unter Kontrolle zu bringen. Vielmehr wurden die normalen Ich-Funktionen vom Angstaffekt überwältigt und eine instinktive Schutzreaktion setzte ein. Erst als er das Geschehene in der therapeutischen Situation rekonstruierte, konnte er erkennen, dass er mit seiner Reaktion in der Anhörung nicht adäquat auf die reale Situation einging, sondern auf eine traumatische Erinnerung. Die Erinnerung an Folterverhöre war in seinem Empfinden Realität geworden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat keiner der anderen Beteiligten von diesem Vorkommnis etwas gemerkt. Nicht einmal der Betroffene selbst konnte in seiner spontanen Affektreaktion den Traumatismus erkennen, der in solchen unwillkürlichen Nachhallerinnerungen, Flashbacks oder anhaltenden paranoiden Verfolgungsvorstellungen zum Ausdruck kommt. Für den Kliniker sind solche Phänomene die besten Belege für einen traumatischen Erfahrungshintergrund, denn sie entziehen sich gänzlich der bewussten Steuerung. In der Anhörung werden sie oft zum Verhängnis für den Traumatisierten. Für viele Flüchtlinge, die Folterverhöre über sich ergehen lassen mussten, wird die Anhörung selbst zur Wiederholung des Traumas. Die Anhörer werden - ohne es zu wollen oder etwas von dieser Dynamik zu ahnen - zu den Folterern von damals. Die 85 Betroffenen verlieren die Kontrolle über sich und die Interaktion und schweigen entweder über asylrelevante Bereiche oder verwickeln sich aufgrund des Kontrollverlustes in Ungereimtheiten und Widersprüche in der RaumZeit-Zuordnung ihrer Biographie. Die Entscheidung über die Gewährung von Asyl wird sehr früh nach der Ankunft in Deutschland und unter hohem Zeitdruck getroffen. Dies hat unbestrittene Vorteile. Es hat aber auch einen dramatischen Nachteil, dass nämlich schwer traumatisierte Menschen in aller Regel größte psychisch bedingte Schwierigkeiten haben, mit dem geforderten Detailreichtum und der nötigen Widerspruchsfreiheit und Glaubhaftigkeit über ihre Fluchtgründe zu sprechen. Sie erfüllen selten diese Selektionskriterien. Der gesamte Druck und die Fremdheit der Umstände, unter denen eine solche Befragung durchgeführt wird, tun ein übriges. Traumatypische Gedächtnisstörungen In der neueren psychotraumatologischen Forschung beginnt sich in den letzten Jahren herauszukristallisieren, dass es bei der Einprägung (Kodierung) und dem Wiedererinnern (Enkodierung) signifikante Unterschiede zwischen traumatischen Erinnerungen und anderen biographisch bedeutsamen, aber nicht traumatischen Erinnerungen gibt. Wir wissen heute, dass traumatische Erinnerungen aus neurophysiologischen und psychodynamischen Gründen eher fragmentierten Charakter haben und dass gerade bei traumatisierten Flüchtlingen charakteristische Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel sind. Nachfolgend sind die wichtigsten Unterschiede zwischen traumatischen und nicht-traumatischen Erinnerungen einander gegenüber gestellt. 86 Nicht-traumatische Erinnerungen Traumatische Erinnerungen Kein Wiedererleben des Ereignisses in den Initial keine sprachliche Kodierung der Erinverschiedenen Sinnesmodalitäten (olfakto- nerungen an das Trauma bei keinem der Pbn, risch, visuell, auditorisch oder kinästhetisch). unabhängig davon, ob zeitweise eine Amnesie für das Ereignis bestand oder nicht. Keine Alpträume oder Flashbacks in bezug Initiale Erinnerungen an das Trauma als soauf das Ereignis. mato-sensorische oder emotionale FlashbackErlebnisse, unabhängig vom Alter, in dem das Trauma auftrat. Kein Triggern der Erinnerungen durch Umge- Fortbestehen von sensomotorisch kodierten bungsreize. Erinnerungen auch bei den Pbn, die später ein Narrativ bzgl. des Traumas entwickeln konnten (bei 89% der Pbn). Keine Angabe von amnestischen Episoden in Partielle oder totale Amnesien bei 42% der bezug auf die berichteten Ereignisse. Pbn mit Kindheits-Traumata. Kein Versuch, Erinnerungen an das Ereignis Erhöhte Neigung zur Dissoziation (signifizu unterdrücken. kante Korrelation mit ereignis-bezogenen Variablen wie Dauer, körperlicher Missbrauch). zitiert nach: Hinckeldey, 2000 Im Asylverfahren ist vor allem die Beobachtung von Bedeutung, dass traumatische Erinnerungen oft nicht sprachlich kodiert werden, sondern eher als körperliche Empfindungen, Gefühle, Sinneswahrnehmungen. Entsprechend fällt es den Betroffenen schwer, ohne weiteres über die Erinnerungen zu sprechen. Oft ist ein langer Prozess der Rekonstruktion der Ereignisse notwendig, um einen Narrativ, also eine detailreiche, widerspruchsfreie und in sich konsistente sprachliche Form der Erinnerung zu gewinnen. Dass dieser Prozess oft jahrelanger therapeutischer Arbeit bedarf, müssen wir immer wieder beobachten, und können wir anhand vieler Einzelbeispiele belegen. Folglich ist es einer typischen Folge des 87 Traumas auf das menschliche Gedächtnis zu verdanken, dass traumatisierten Flüchtlingen eine Darstellung der eigenen Verfolgungsgeschichte entsprechend der Glaubhaftigkeitskriterien des Asylverfahrens oft nicht ohne intensive Vorbereitung und therapeutische Aufarbeitung des Geschehenen möglich ist. Vier unterschiedliche Formen von Gedächtnisstörungen sind als Traumafolge bekannt: 1. die komplette oder partielle (psycho-)traumatische Amnesie 2. generalisierte Störungen des Gedächtnisses sowohl für kulturelle als auch für autobiographische Ereignisse 3. dissoziative Prozesse, die sich als sensorische und emotionale Fragmentierung von Erfahrung darstellen und 4. die sensomotorische Organisation bzw. die fehlende semantische Repräsentation traumatischer Erfahrung van der Kolk & Fisler, 1995, zitiert nach: Hinckeldey, 2000 Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein Betroffener, dessen Erinnerungsvermögen an die traumatischen Geschehnisse ganz oder teilweise gestört ist, die Glaubhaftigkeitskriterien der Anhörung im Asylverfahren kaum erfüllen kann, je mehr sich das Gespräch an den traumatischen Kern der Verfolgungserfahrungen annähert. Wenn Erinnerungen nur fragmentiert und eher sensomotorisch kodiert wurden, so ist es praktisch unmöglich, im spontanen Erzählen einen in sich konsistenten Narrativ zu präsentieren. Wenn darüber hinaus Teile der Erinnerung schlicht fehlen oder aus 88 Gründen der psychischen Stabilität der bewussten Erinnerung nicht einfach zugänglich sind, dann bedeutet „Erinnerung“ vielmehr oft mühevolle „Rekonstruktion“. All das, was das Asylverfahren in Anlehnung an die Tradition der Glaubhaftigkeitsprüfung von Zeugenaussagen der forensischen Psychologie als selbstverständlich fordert, kann bei traumatisierten Flüchtlingen nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Dies sind im Einzelnen Detailreichtum, Farbigkeit der Darstellung, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage. 89 Synopse der aussageimmanenten Qualitätsmerkmale erlebnisfundierter Aussagen Allgemeine Merkmale Spezielle Merkmale Motivationsbezogene Merkmale Aussageinhalt: Schilderung von: Vorbringen von: Detailreichtum raum-zeitlichen Verknüpfungen Interaktionen spontanen Aussageverbesserungen Einwänden gegen die Richtigkeit der Aussage Anschaulichkeit Strukturgleichheit Logische Konsistenz Deliktspezifität Gesprächen Selbstbelastungen Komplikationen, Entlastungen des phänomenorientierten Beschuldigten Wahrnehmungen unverstandener Elemente Eingeständnissen von Erinnerungslücken Aussageweise: Gefühlsbeteiligung Erleben phänomenaler Kausalität Unstrukturiertheit eigenpsychischem Erleben Ungesteuertheit multimodaler Wahrnehmung psychischem Erleben beim Beschuldigten nebensächlichen Details originellen Details Aspekten der Beziehungsentwicklung zwischen den Beteiligten indirekten Handlungsbezügen Wirklichkeitskontrolle Aus: L. Greuel, S. Offe, A. Fabian, P. Wetzels, T. Fabian, H. Offe und M. Stadler (1999). Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage. Theorie und Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung. Weinheim: Beltz 90 Zusammenfassung und Ausblick Für traumatisierte Flüchtlinge im Asylverfahren ergeben sich mehrere große Probleme, ihre Verfolgungsgründe angemessen darzustellen. Allem voran muss der Zeitdruck genannt werden, unter dem eine Entscheidung getroffen werden muss. Ein zweites Problem stellt die Komplexität traumabedingter Störungen dar und die Schwierigkeit der Erkennung und des richtigen Umgangs mit Traumatisierungen. Wir begrüßen die Bereitschaft des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, traumatisierten Flüchtlingen im Asylverfahren größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Unseres Erachtens nach besteht dringender Bedarf für eine Anpassung des Asylverfahrens, um den Betroffenen eine reelle Chance zur Darstellung ihrer Verfolgungsgründe, und den Entscheidern eine Möglichkeit zu umfassender Sachaufklärung zu geben. Ein denkbarer Schritt der Öffnung in diese Richtung wäre es, wenn Hinweise auf eine vorliegende traumabedingte psychische Störung möglichst früh im Verfahren festgestellt und ernstgenommen würden. Eine präventive diagnostische Abklärung sollte Fachleuten vorbehalten sein. Hinweise, die sich aus Behandlungsbefunden unabhängiger Kliniker ergeben, sollten in jedem Falle ernsthaft geprüft und zur Kenntnis genommen werden. Im Falle des Vorliegens traumabedingter psychischer Störungen sollte der Betroffene die Chance bekommen, mit geschulten Entscheidern sprechen zu können, die in der Lage sein sollten, mit entsprechender Sensibilität und Sachkenntnis auf den traumatischen Erfahrungshintergrund eingehen zu können. 91 Die narrative Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen u.U. mit professioneller Unterstützung scheint geradezu eine Vorbedingung für die Fähigkeit zu sein, logisch schlüssig, detailreich, in sich konsistent und widerspruchsfrei über traumatische Verfolgungserfahrungen berichten zu können. Dies ist ein bisweilen langdauernder und mühevoller Rekonstruktionsprozess. Entsprechend darf bei Korrekturen und Differenzierungen im Laufe des Asylverfahrens nicht mehr von einem „gesteigerten Vorbringen“ ausgegangen werden. Sollte eine abschließende Klärung des Sachverhaltes in der Asylanhörung nicht möglich sein, so wäre auch die Möglichkeit der Begutachtung von traumatisierten Flüchtlingen durch unabhängige Sachverständige zu prüfen, oder die Einbeziehung von Befundberichten aus therapeutischen Behandlungen in die Entscheidungsfindung zu prüfen. Dabei wäre es wichtig, dass die Erwartungen des Bundesamtes an die Begutachtung durch unabhängige Sachverständige bzw. die formalen und inhaltlichen Ansprüche an Befundberichte aus laufenden Behandlungen im Vorfeld definiert und transparent gemacht würden. Hierzu wäre unseres Erachtens ein intensiver Diskussionsprozess zwischen Fachleuten und dem Bundesamt nötig. Von Seiten der deutschen Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer ist diesbezüglich jede Kooperationsbereitschaft zu erwarten. Fußnoten 1 “Wer der Folter erlag, der wird nicht mehr heimisch in der Welt” (Jean Améry) 92 Krankheitsbilder und Diagnostik, Untersuchung und Begutachtung von posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Folgekrankheiten. Dr. med. Waltraut Wirtgen, Ärztin für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse Es handelt sich bei der von mir vorgetragenen Untersuchung und Begutachtung um eine jetzt knapp 20-jährige Frau aus einem afrikanischen Land, die im Alter von knapp 15 Jahren nach Deutschland flüchtete. Ihr Asylantrag wurde durch das Bundesamt und das VG München abgelehnt, da die Jugendliche über die eigentlichen Gründe ihrer Flucht nicht hatte sprechen können. Als ihre Ausweisung kurz bevorstand, sprach sie erstmals gegenüber der Frau ihres Arbeitgebers über ihre Vergewaltigung. Zu diesem Zeitpunkt wurde REFUGIO München von der nun eingeschalteten Rechtsanwältin beauftragt l mit der Abklärung von Traumatisierungen aufgrund von Misshandlungen im Heimatland und l der Abklärung der Behandlungsbedürftigkeit. Aufgrund eines intensiven Informationsaustausches und im Kontakt mit der Ausländerbehörde kann die Behandlung der Klientin durchgeführt werden. Die Klientin hat jetzt eine Aufenthaltsbefugnis für 1 Jahr. 93 An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich diese junge Frau zur Vorstellung hier ausgewählt habe, da sich die Richtigkeit ihrer Angaben in der bis heute andauernden Behandlung in REFUGIO München bestätigt hat. Ausgelöst durch z.B. Alltagserfahrungen in ihrer Arbeit, die an die Täter erinnern, können Erinnerungsbilder und die entsprechenden Affektreaktionen aktiviert werden. So berichtet die Patientin ihrer Therapeutin: “Als ich einem tätowierten Mann in der Praxis Blut abnehmen musste, erinnerte ich mich plötzlich an die Vergewaltigung durch Soldaten mit Tätowierungen am Körper. Ich fing an zu zittern und hatte das Gefühl, es würde alles wieder passieren. Mich packte eine furchtbare Wut und ich musste aus dem Zimmer rennen, da ich meine Reaktionen gegenüber dem Mann nicht mehr unter Kontrolle halten konnte”. Zusätzlich bedeutsam scheint mir diese Falldarstellung, da gerade bei Jugendlichen in den Verfahren so schwerwiegende Traumatisierungen im Allgemeinen nicht erwartet werden. Exploration der traumatischen Erfahrung Wie wir in den vorausgehenden Referaten erfahren haben, stellen traumatisierte Flüchtlinge eine spezielle Gruppe von Flüchtlingen dar. Kultur- und traumaspezifische Besonderheiten müssen daher bei der Untersuchung und Begutachtung beachtet werden. 94 Für eine möglichst schonende und effektive Exploration traumatischer Erfahrungen hat sich in unserer jetzt 7-jährigen Arbeit in REFUGIO München bewährt, dass wir uns auf eine mögliche Traumatisierung einstellen. Die Befragung eines traumatisierten Menschen muss zum Ziel haben, l die Mitteilungsbereitschaft zu erhöhen, l die Erinnerungsleistung zu verbessern und l gleichzeitig eine Retraumatisierung zu verhindern. Die Befragerin /der Befrager muss bei der Befragung jegliche Art von suggestiver Fragestellung vermeiden. Offene Fragen können eher eine Belastung sein, wenn wir es mit einem Klienten zu tun haben, dessen Gedächtnis fragmentiert ist und dem es dadurch besondere Schwierigkeiten macht, sich in seinem Gedächtnis vorzutasten. Grundvoraussetzungen für eine effektive und schonende Exploration heißt, l ein stabiles Vertrauen zu dem Befrager/der Befragerin, l die Einsicht der befragten Person in die Notwendigkeit, sich an das Trauma zu erinnern, l die Vorbereitung auf starke emotionale Reaktionen während der Erinnerungen, im Sinne einer Stressimpfung. 95 Ablauf einer Befragung in REFUGIO München : Vertrauen aufbauen zwischen den GesprächspartnerInnen : l Information über REFUGIO als unabhängige Organisation, l Beschreibung der Aufgaben der PsychologInnen, ÄrztInnen und SozialpädagogInnen, l Beschreibung der KlientInnen, die REFUGIO aufsuchen und deren Symptomatik. Die Wahrnehmung, dass auch andere Menschen von dieser Problematik betroffen sind, ist hilfreich, wenn Schamgefühle wegen der eigenen traumatischen Erfahrung und der bestehenden Symptomatik vorhanden sind. Kooperation der Klientin sichern durch Information und Vorbereitung auf die Befragung, d.h.: l Sinn und Zweck der Befragung einsichtig machen (die Notwendigkeit einer detaillierten Schilderung des traumatischen Geschehens für ein besseres Verständnis der traumatischen Situation erklären; Fragen können auf diese Weise als Unterstützung und nicht als Zeichen von Gefühllosigkeit verstanden werden), l Vorhersehbar machen, in welchen Schritten und Phasen die Befragung ablaufen wird, l Abklärung über mögliche körperliche und psychische Reaktionen während des Erinnerns und die Vermittlung von Maßnah- 96 men und Verhaltensweisen, die in solchen emotionalen Zuständen hilfreich sein können. Während der belastenden Situation : 1) Was braucht die Befragte / der Befragte, wie möchte sie/er sich verhalten können ? 2) Wie soll sich die fragende Person während der belastenden Situation verhalten ? Fragen zu traumatischen Erfahrungen : l Bei der Befragung zu traumatischen Erfahrungen hat sich bewährt, das traumatische Geschehen mit sicheren Lebensphasen zu umrahmen, d.h. mit der Befragung zu der sicheren Lebensphase kurz vor der traumatischen Erfahrung beginnen und mit der Befragung der Zeit nach dem Trauma enden, die mit Sicherheit verknüpft ist. l Während der Befragung ist sicher zu stellen, dass sich die Befragte der gegenwärtigen Sicherheit bewusst ist (traumatisierte Menschen neigen zu sogenannten flashbacks, d.h. sie vermischen Gegenwart und Vergangenheit). l Bei Aufkommen von zu viel Erregung vorher vereinbarte beruhigende Maßnahmen und Verhaltensweisen anwenden, um eine Retraumatisierung zu verhindern. 97 l Durch das Debriefing-Verfahren, d.h. durch die Trennung verschiedener Erlebnisebenen (Fakten, Gedanken, Emotionen) während der Beschreibung, kann die Gedächtnisleistung trotz hoher Erre- l gung gefördert werden. Systematisieren und Ordnen der Ereignisse, der Gedanken und der Gefühle. l Berücksichtigung verschiedener Perspektiven: des Opfers, der überlebenden Person und (manchmal) der Täterin / des Täters. Exploration und Untersuchung von Frau F. B. in REFUGIO München: Unter Beachtung der oben genannten Vorgehensweisen fand die Befragung und Untersuchung bei F. B. in vier Sitzungen innerhalb von insgesamt 6,5 Stunden statt. Nach dem Konzept von REFUGIO München ist es üblich, dass jedes Erstgespräch durch mindestens zwei Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen vorgenommen wird. Im Falle von F. B. wurde beschlossen, dass neben der begutachtenden Ärztin und der Dolmetscherin diejenige Psychologin beteiligt sein sollte, die bei Behandlungsbedarf die Therapie übernehmen kann. Vorgeschichte nach Angaben von F. B. : Als einziges Kind habe die jetzt knapp 20-jährige junge Frau F. B. eine unbeschwerte Kindheit erlebt und habe bis zum Verschwinden des Va- 98 ters die 7. Schulklasse besucht. Sie habe ihre Mutter durch einen Verkehrsunfall verloren, als sie etwa 6-7 Jahre alt war. Seit dieser Zeit habe sich eine Haushälterin sehr liebevoll und wie eine Mutter um sie gekümmert. Der kleine Sohn der Haushälterin habe mit im Haus gelebt. Sie beschreibt sich damals als “unbeschwert, unselbständig, kindlich-dick und nie ernstlich krank”. Der eher schweigsame Vater sei wegen politischer Tätigkeit aus seiner Anstellung als Rechtsanwalt 1991 entlassen worden und seitdem selbständig zuhause tätig gewesen. Er habe nie darüber gesprochen, wer die Männer waren, mit denen er sich oft getroffen hatte. Als sie im Mai 1995 eines Tages aus der Schule gekommen sei, sei der Vater nicht mehr zuhause gewesen. Sie habe ihn seitdem nie wieder gesehen. Später hatte sie erfahren, dass drei Tage zuvor ein Freund des Vaters ermordet worden war. In den folgenden Tagen seien mehrmals 23 Männer gekommen (deren Uniform F. B. gut beschreiben kann), sie hätten anfangs nur mit der Haushälterin gesprochen, das Haus durchsucht und Bücher und Unterlagen des Vaters zerstört. Lange Zeit habe die Haushälterin F.B. und den kleinen Jungen versteckt, sei jedoch immer ängstlicher geworden, habe geweint und war geschlagen worden. Eines nachts habe sie die Haushälterin schreien gehört. Als sie zu ihr gelaufen war und auf Hinweis der Haushälterin weglaufen wollte, sei einer der Männer ihr nachgelaufen und hätte zu ihr gesagt:” Komm Kleine, Du gehst nicht weg.” Sie sei im Zimmer in eine Ecke gelaufen, danach wisse sie nichts mehr, sie sei bewusstlos gewesen. F. B. erinnert sich, dass sie im Anschluss daran geblutet habe, in den 99 nächsten Tagen nur im Bett gelegen, starke Schmerzen in Unterleib und Blase gehabt habe, und nichts und mit niemandem habe sprechen können. Sie habe danach nur noch sterben wollen. “Das ist schlimm bei uns. Wenn man in unserem Land entjungfert wird, ist der Wert einer Frau dahin.” “Ich fühle mich weiter wertlos, ich will nicht heiraten, will keine Familie, meine Tochter wäre dann auch wertlos und schlecht.” Das Berichten über das plötzliche Verschwinden ihres politisch aktiven Vaters, über ihre Angst bei den häufigen Hausdurchsuchungen durch Soldaten und ihre Angst bei den Misshandlungen ihrer Haushälterin lösten starke Erregung und Trauer aus. Über ihre eigene Vergewaltigung, die sie als 14-jährige erlebt hatte, konnte sie erst in der 4. Sitzung sprechen. Sie nahm dabei das Wort “Vergewaltigung” nicht in den Mund. Die vorher vereinbarten beruhigenden Maßnahmen und Verhaltensweisen konnten Retraumatisierungen verhindern. Als hilfreich hat sich eine Strukturierung der verschiedenen Erlebnisebenen bewährt. So wird bei der Befragung versucht, einzelne Fakten, Gedanken und Gefühle von einander zu trennen. Solche Maßnahmen fördern zusätzlich die Gedächtnisleistungen. F. B. berichtete darüber hinaus in späteren therapeutischen Sitzungen, dass sie sich durch das Aussprechen der Erlebnisse sogar entlastet gefühlt habe, und sie die Erinnerungen an die Vergewaltigung seitdem etwas weniger plagten. 100 Beurteilung der angegebenen Beschwerden und bei der Untersuchung erhobenen Symptome und Befunde (4 Jahre nach den traumatischen Erlebnissen): Hinsichtlich Diagnose und Beurteilung gab es anamnestisch glaubhafte Angaben über eine im jugendlichen Alter von 14 Jahren erfahrene Traumatisierung und ausgeprägte Zeichen einer mittlerweile chronifizierten Posttraumatischen Belastungsstörung, PTSD (DSM IV 309,81,-ICD 10 F 43,1). Dabei handelt es sich bereits um einen Übergang in eine Persönlichkeitsveränderung nach Traumatisierung aufgrund von Vergewaltigung, Verlust des Vaters durch dessen plötzliches Verschwinden und Zeugenschaft der Bedrohung und Misshandlung ihrer nächsten mütterlichen Bezugsperson und Vertrauten. Die Symptomatik besteht in ausgeprägter Vermeidung und Dissoziation (im Denken und im Handeln, was sich auch im Rahmen der Untersuchung zeigte; dies zeigte sich z.B., indem die Klientin plötzlich aus der Expolration “ausstieg” und völlig abwesend vor sich hin schaute), Gefühlsabspaltungen und Gefühlsüberschwemmungen (Rückzugstendenzen, Streit, Trauer), Schlafstörungen, Alpträumen, Intrusionen (belastend bleibende, filmartig ablaufende Erinnerungen), flashbacks (d.h. reaktiv die traumatische Situation mit den begleitenden Bildern, Affekten und Körpersensationen wieder zu erleben), Unruhe, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen u.a.. 101 Daneben bestehen als komorbide Störungen l depressives Syndrom mit latenter Suizidalität, l Angstsymptomatik und l psychosomatisches Syndrom, insbesondere als Körperäquivalent der PTSD mit Körpererinnerung in Form von Schmerzen im Unterbauch, Menstruationsbeschwerden, Abwehr von Sexualität, rezidivierende Blasenentzündungen, Kopfschmerzen, Herzsensationen, Schwindel. Vorgeschichte wie psychische Befunde enthielten anamnestisch wie aktuell keine Hinweise auf andere schwerwiegende psychische Erkrankungen, insbesondere nicht auf eine paranoide Psychose. Bewertung der Traumatisierung, der Befunde und Diagnosen des Krankheitsbildes anhand des Diagnoseschlüssels nach DSM IV (American Psychiatric Association), auch im Hinblick auf den Krankheitsverlauf während der knapp 2-jährigen psychotherapeutischen Behandlung in REFUGIO München : Kriterium A nach DSM IV : Die Person hat ein traumatisches Ereignis erlebt. Der Verlust des Vaters unter ungeklärten Umständen sowie die Vergewaltigung im Alter von 14 Jahren, der Verlust der mütterlichen Haushaltshilfe und Zeugenschaft bei deren Misshandlung sind als traumatische Erfahrungen zu bewerten. 102 Kriterum B nach DSM IV : Ständiges Wiedererleben. Nach 5 Jahren ist von einer chronifizierten Form der PTSD auszugehen. F.B. leidet weiter unter wiederkehrenden Erinnerungen, häufigen Alpträumen, dissoziativen Symptomen, depressiven Verstimmungen und erhöhter Reizbarkeit wie auch starken Schmerzzuständen im genitalen Bereich. Kriterium C nach DSM IV : Vermeidung, emotionale Taubheit. Vermeidung von Stimuli, die mit dem Trauma in Verbindung stehen und Gefühl der eingeschränkten Zukunft, Sichtweise als entwertete Frau und fehlende Vorstellbarkeit eines “normalen” Lebens sprechen bei F.B. für dieses Kriterium. Kriterium D nach DSM IV : Chronische Übererregung. Diese zeigt sich u.a. in Ein- und Durchschlafstörungen, Unruhe, Herzsensationen, Konzentrationsstörungen. Kriterium E nach DSM IV : die Dauer der bestehenden Symptomatik (B,C,D) spricht für eine Chronifizierung des Verlaufes der PTSD. Kriterium F nach DSM IV : die Störung verursacht klinisch bedeutsame Belastungen und Beeinträchtigungen im sozialen und beruflichen Leben. Dies zeigt sich bei F.B. durch sozialen Rückzug. Sie beeinträchtigt ihre Persönlichkeitsentwicklung, F.B. vermeidet den Kontakt zu Gleichaltri- 103 gen, da ihr in deren “normalen” partnerschaftlichem Umgang ihre eigene Eingeschränktheit und ihr Beschädigtsein als Frau bewusst wird. Zusätzlich bedeutet dieses Erleben erneute Reaktivierung der Traumatisierung und führt zu weiterer Verstärkung der Symptomatik. F.B. vermeidet ebenso den Kontakt zu Landsleuten. Die Begegnung mit diesen wäre wiederum eine Erinnerung an ihre traumatischen Erlebnisse, evtl. müsste sie ja auch über diese sprechen. Prognose : Die Zusammenschau der anamnestischen Angaben und der Beschwerden von F.B., der Beobachtung der Symptomatik und der erhobenen Befunde ergibt ein kongruentes Bild einer schwer traumatisierten jungen Frau. Alle Angaben und Befunde wurden im Verlauf der jetzt fast 2 Jahre andauernden psychotherapeutischen Behandlung durch eine Psychologin von REFUGIO München verifiziert. Angesichts der beobachteten Chronifizierung des körperlichen und psychischen Krankheitsgeschehens ist eine länger andauernde psychotherapeutische Behandlung dringend erforderlich. Der Erfolg einer psychotherapeutischen Behandlung bei traumatisierten Menschen ist nicht nur von der Therapie allein abhängig. Ohne gesicherte Lebensbedingungen und ein stabiles und sicheres soziales Umfeld können Einsichten aus der Therapie nicht in das Alltagsleben übertragen werden. Gegenwärtige Besserungen im Gesundheitszustand ebenso wie eine mögliche Verringerung der Symptomatik können bei einer ständigen Verunsicherung durch nur kurzfristig bemessene Duldungen nicht in 104 eine sinnvolle Lebensplanung umgesetzt werden und bleiben daher ohne langfristige Wirkung. Eine günstige Prognose für die Überwindung einer Traumatisierung dagegen ist dann gegeben, wenn die Patientin durch einen gesicherten Aufenthalt die Möglichkeit hat, eine Zukunftsperspektive aufzubauen und zu lernen, ihre traumatischen Erfahrungen zu überwinden, um ihren weiteren Lebensweg ohne den ständigen Schatten der Vergangenheit zu gestalten. F.B. zeigt trotz gelegentlicher psychischer Einbrüche eine große Willenskraft bei der Durchführung ihrer Arzthelferinnenausbildung. Die Prognose einer Verbesserung ihres Zustandes mit Hilfe einer psychotherapeutischen Behandlung im Rahmen eines stabilen Umfeldes ist gut. Therapieverlauf : Die Behandlung wurde begonnen mit einer Wochenstunde, konnte nach einigen Monaten reduziert werden auf eine Stunde ca. alle drei Wochen. Unter dem stabilen sozialen Umfeld und der Arbeit in einer Arztpraxis kann die Behandlung jetzt weiter reduziert werden. Die Klientin meldet sich zur Zeit, wenn sie Bedarf hat. Sie hat erstmals eine Beziehung zu einem Mann aufgenommen. Die Vulnerabilität für plötzliche Verschlechterung und Verstärkung der Symptomatik besteht jedoch weiter wie an dem anfangs beschriebenen Beispiel des Auslösers durch Konfrontation mit der Tätowierung eines Patienten in der Arztpraxis. 105 Literaturhinweise : BAFF, Richtlinien für die psychologische und medizinische Untersuchung von traumatisierten Flüchtlingen, 2. Aufl., 2000, Collatz, J., Hackhausen, W., Salman, R.(Hg.): Begutachtung im interkulturellen Feld, 1999, Forum Migration, Gesundheit, Integration, Bd. 1, Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin. Collatz, J, Koch, E., Salman, R. & Machleidt, W.: Transkulturelle Begutachtung, VWB-Verlag , Verlag für Wissenschaft und Bildung, 1997, Graessner, S., Wenk-Ansohn, M.: Die Spuren von Folter, Eine Handreichung, Schriftenreihe, Behandlungszentrum Berlin, 2000, Janoff-Bulman, R., Shattered Assumptions : Toward a New Psychology of Trauma, New York, 1992, Maerker, A. (Hg.): Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen, Springer, 1997, Maerker, A.: Posttraumatische Belastungsstörung, Psychologie der Extrembelastungsfolgen bei Opfern politischer Gewalt, Pabst, 1998, Rudolf, G., Eich, W. (Reihenhrsg.), Posttraumatische Belastungsstörung, Leitlinie und Quellentext, Schattauer Verlag, Stuttgart, 2001, Van der Kolk, B.A., The body keeps the score : Memory and the evolving 106 psychobiology of posttraumatic stress, Harvard Review of Psychiatry, 1, 1994, 253-265, Van der Kolk, B.A., McFarlane, A.C., Weisaeth, L.(Eds.), Traumatic Stress, the effects of overwhelming experience on mind, body and society. New York: Guilford, 1996. 107 108 Zur Begutachtung psychischer Folter- und Haftfolgeschäden1 Dr. med. Ferdinand Haenel, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer Die gutachterliche Tätigkeit mit der Fragestellung nach psychischen Folterfolgen ist eines der Aufgabenbereiche des Psychiaters am Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin, welcher in der Vergangenheit an Umfang deutlich zugenommen hat. Gutachten zu Asylklageverfahren bei Verwaltungsgerichten sowie Klageverfahren auf Anerkennung psychischer Spätfolgen ehemaliger politischer Häftlinge der DDR nach dem so genannten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, dem früheren Häftlingshilfegesetz (HHG), bei Sozialgerichten bilden dabei die beiden Schwerpunkte. Die Beurteilung, ob bei ausländischen Flüchtlingen psychische Folterfolgen vorliegen, setzt nicht nur psychiatrische Fachkompetenz, sondern auch Informationen über politische und kulturelle Hintergründe des Herkunftslandes voraus. Fragestellungen nach psychischen Haftfolgen, wie sie uns aktuell im Zusammenhang mit der Begutachtung psychischer Spätfolgen ehemaliger Häftlinge in der DDR wiederbegegnen, erweisen sich dann als besonders schwierig zu beantworten, wenn deren in Frage stehende Ursache Jahrzehnte zurückliegt. Als diagnostische Kategorien zur Beurteilung psychischer Traumafolgen stehen dem Gutachter zunächst einmal die Posttraumatische Belastungsstörung (DSM IV: 309.81; ICD-10; F 43.1) sowie die andauernde 109 Persönlichkeitsänderung nach Extremtrauma (ICD-10: F 62.0) zur Verfügung. Die folgende Übersicht gibt die einzelnen Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach dem DSM IV wieder. Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM IV (309.81) A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren: 1. Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die den tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten. 2. Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. Beachte: Bei Kindern kann sich dies auch durch aufgelöstes oder agitiertes Verhalten äußern. B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt: 1. Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können. Beachte: Bei kleinen Kindern können Spiele auftreten, in denen wiederholt Themen oder Aspekte des Traumas ausgedrückt werden. 110 2. Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis. Beachte: bei Kindern können stark beängstigende Träume ohne wiedererkennbaren Inhalt auftreten. 3. Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden, einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxinationen auftreten). Beachte: Bei kleinen Kindern kann eine traumaspezifische Neuinszenierung auftreten. 4. Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern. 5. Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern. C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Thema verbunden sind, oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor: 1. Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. 2. Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen. 3. Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern. 111 4. Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten. 5. Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen. 6. Eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden). 7. Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben). D. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor: 1. Schwierigkeiten, ein- und durchzuschlafen. 2. Reizbarkeit oder Wutausbrüche. 3. Konzentrationsschwierigkeiten. 4. Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz). 5. Übertriebene Schreckreaktion. E. Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als einen Monat. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. F. 112 Bestimme,ob: Akut: Wenn die Symptome weniger als drei Monate andauern. Chronisch: Wenn die Symptome mehr als drei Monate andauern. Bestimme,ob: Mit verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens sechs Monate nach dem Belastungsfaktor liegt. Neben dem Erleben eines oder mehrerer lebensbedrohlicher Traumen oder dessen Zeugenschaft (Kriterium A) finden wir unter den Kriterien B bis D die für PTSD charakteristischen Symptomgruppen der Intrusion, der Vermeidung (Avoidance) und der Übererregbarkeit (Hyperarousal). Bestehen diese Symptome länger als drei Monate, ist gemäß DSM IV die akute Form einer Posttraumatischen Belastungsstörung in eine chronische Form übergangen. Laut ICD-10, welches sich eng an der Symptombeschreibung des DSM IV orientiert, könne in der Mehrzahl der Fälle eine Heilung erwartet werden und nur bei wenigen Patienten die Störung eine sich über viele Jahre hin erstreckende chronische Verlaufsform annehmen. Letzterer ist dann die eigenständige Diagnose der andauernden Persönlichkeitsänderung (früher: Erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel (Wenzlaff 1963)) zugeordnet. Hier finden wir die psychisch reaktiven Folgen langdauernder, wiederholter und kumulativer Extremtraumatisierung eingeordnet. Andauernde Persönlichkeitsänderung ICD-10 F 62 (Erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel) Zur Diagnosestellung müssen folgende, bei dem Betreffenden zuvor nicht beobachtete Merkmale vorliegen: 113 1. Eine feindliche und misstrauische Haltung der Welt gegenüber. 2. Sozialer Rückzug. 3. Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit. 4. Ein chronisches Gefühl von Nervosität wie bei ständigem Bedrohtsein. 5. Entfremdung. Weitere Bedingungen: Dauer: > 2 Jahre Vor dem Trauma keine Persönlichkeitsänderung dieser Form. Ausgangspunkt einer Posttraumatischen Belastungsstörung in der Anamnese. Ausschluss einer organischen cerebralen Schädigung oder Erkrankung. Dazugehörige Begriffe: Persönlichkeitsänderung nach Konzentrationslagererfahrungen, nach Katastrophen, nach längerer Gefangenschaft mit der ständigen Drohung, getötet zu werden, nach längerem Ausgesetztsein gegenüber lebensbedrohlichen Situationen, wie z.B. als Terrorismus- oder Folteropfer. Während die diagnostische Kategorie der Posttraumatischen Belastungsstörung im Zusammenhang mit den Erfahrungen mit psychisch reaktiven Folgen von Vietnamkriegsveteranen in den Vereinigten Staaten in den siebziger und achtziger Jahren entwickelt worden ist, ist die Diagno- 114 se der andauernden Persönlichkeitsänderung aus den Erfahrungen mit psychischen Langzeitfolgen ehemaliger Opfer der nationalsozialistischen Konzentrationslager und Vernichtungslager hervorgegangen (Venzlaff 1963, v. Baeyer et al 1964, Niederlande 1968). Die andauernde Persönlichkeitsänderung hat im DSM IV keine entsprechende Diagnosekategorie und ist im amerikanischen Raum am ehesten vergleichbar mit dem Konzept der Complex-PTSD (Herman 1992). So wichtig es für den Behandler, den Gutachter, aber auch für die Betroffenen selbst ist, dass diese Diagnosen jetzt überhaupt zur Verfügung stehen, muss dennoch, besonders was die Begutachtung, aber auch die Therapie angeht, davor gewarnt werden, sich allzu sehr auf diese Defini-tionsvorgaben zu beschränken und zu verlassen. Denn bei Folteropfern handelt es sich in der Regel um Personen, die mehrfach, wiederholt und über Wochen, Monate, mitunter sogar bis über Jahre hin währende Zeiträume der physischen wie psychischen Folter ausgesetzt waren. Bei allen finden wir Symptome, die die Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörungen nach DSM IV entsprechen, ohne dass sich jedoch ihre Beschwerden auf diese Diagnosekategorie eingrenzen lassen. Neben psychosomatischen Beschwerden wie Lumbago, Spannungskopfschmerz infolge Muskelverspannungen sowie Gastritiden mit Magenulcera treten nicht selten Körperschemastörungen auf, welche von Zönästhesien als Ausdruck einer Dissoziation der Körper- von der Selbstrepräsentanz begleitet werden können, wie auch Depersonalisations- und Derealisationssyndrome als Ausdruck der Störung der Selbst- und Objektrepräsentanzen nicht selten bei Folteropfern zu beobachtende Phänomene sind. 115 Die Kriterien der andauernden Persönlichkeitsänderung (ICD-10; F 62.0) treffen ebenfalls auf die psychischen Beschwerdebilder vieler unserer Patienten zu, welche sich aber durchaus therapeutisch zugänglich und sich hierin als Gegenteil dessen erweisen, was der Begriff von einer “andauernden Persönlichkeitsveränderung” suggeriert. Es ist gut, dass mittlerweile die psychischen Folgen nach Extremtraumen in die beiden größten Diagnoseklassifikationen, das amerikanische DSM seit Beginn der 80er Jahre und die jüngste, 10. Internationale Klassifikation der WHO, aufgenommen worden sind; besonders im Hinblick auf die Geschichte der Entstehung dieser Diagnose, die abhängig von den Zeitepochen in den letzten hundert Jahren einem Wechsel des Vergessens und des Wiederfindens ausgesetzt gewesen war (v.d.Kolk et al 1994). Jedoch wäre eine weitere Spezifizierung der Symptomatik wünschenswert. Besonders im Hinblick auf die gutachterliche Beurteilung psychischer Schädigungsfolgen ehemaliger politischer Häftlinge in der DDR nach dem sogenannten 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ist vor einer allzu engen oder gar ausschließlichen Anlehnung an die Definitionen der Posttraumatischen Belastungsstörung und der andauernden Persönlichkeitsänderung zu warnen. Denn oft geht es dabei nicht allein um die Frage, ob psychische Symptome vorliegen, die die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder deren chronischer Form, der andauernden Persönlichkeitsänderung, erlauben, sondern es muss bei anderen, zusätzlich vorliegenden psychoneurotischen wie auch psychotischen Krankheitsbildern die Anamnese genauestens daraufhin überprüft werden, inwieweit vor der Haft eine manifeste Erkrankung vorgelegen hat 116 oder ob bei anamnestisch bestehender Disposition erst nach der Haft eine manifeste Erkrankung in Erscheinung getreten ist, die aller Wahrscheinlichkeit ohne Traumatisierung nicht oder nicht in der bestehenden Form zum Ausbruch gekommen wäre. Denn in einem solchen Falle wäre auch diese Erkrankung – zwar nicht im Sinne einer Entstehung, sondern im Sinne einer wesentlichen Verschlimmerung – als Haftfolge zu bewerten. Gibt es nun überhaupt spezielle Probleme in der Begutachtung psychischer Folterfolgen? Wenn ja, worin bestehen sie und wodurch werden sie verursacht? Die zwei folgenden Kasuistiken mögen dazu dienen, die Beantwortung dieser beiden Fragen zu erleichtern. Kasuistik 1: Herr C. ist Kurde und Landwirt aus der Türkei. Er stammt aus dem Südosten Anatoliens und lebt seit 2 Jahren als Asylantragsteller in Deutschland. Er klagt über Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Angstzuständen und Alpträume, allgemeine Freudlosigkeit, fehlende Vitalität. Seinem Bericht zufolge ist er im Frühsommer 1995 nach Deutschland geflohen, nachdem er in den beiden vergangenen Jahren jeweils für etwa 20 Tage von der türkischen Sicherheitspolizei inhaftiert, verhört und gefoltert worden sei und erneut mit Verhaftung und Folterung hätte rechnen müssen. Als Landwirt eines freistehenden, 4 km vom nächsten Ort entfernten Bauernhauses sei er der Unterstützung von PKK-Angehörigen mit Nahrungsmitteln verdächtigt worden. Anlässlich seiner ersten Verhaftung habe die Militärpolizei sein Haus niedergebrannt und seine Familie in den Nachbarort umgesiedelt. 117 Nach Art der Folter befragt, berichtet Herr C. von Schlägen mit Knüppeln auf den ganzen Körper, von Schlägen auf die Fußsohlen, von Faustschlägen ins Gesicht, von hartem Kaltwasserstrahl auf den unbekleideten Körper, von Elektroschocks und unzureichender Nahrung in einer Einzelzelle. Es handelt sich bei Herrn C. um einen sehr vorgealterten, 44- jährigen Mann. Im Gesprächskontakt ist er sehr freundlich. Anfänglich etwas zurückhaltend, versucht er bemüht und bescheiden mit leiser schneller Stimme alle Fragen schnell zu beantworten. Darunter aber wirkt er atemlos und erregt, was sich bei der Erhebung seiner Verfolgungsgeschichte noch verstärkt. Er schwitzt sehr stark. Er beginnt Daten und die Zeitenfolge von Ereignissen durcheinanderzubringen, was beim Dolmetscher Irritation auslöst und beim Untersucher Zweifel an der Richtigkeit seiner Angaben weckt. Anhand von Gegenfragen oder anhand schlichter Wiederholungen seiner unstimmigen Angaben, verbunden mit der Zusicherung, dass für die Untersuchung genug Zeit zur Verfügung stehe, kommt Herr C. in die Lage, das in seiner Darstellung auseinandergeratene Gefüge der Ereignis- und Zeitenfolge in einen inhaltlich plausiblen und nachvollziehbaren Zusammenhang wieder zusammenzusetzen. Seine Grundstimmung ist depressiv, affektiv wirkt er eingeengt und schwingungsarm, äußerlich antriebsgemindert bei deutlichen vegetativen Zeichen verstärkter innerer Erregung. Eine von mir vollführte und von ihm offenbar nicht vorausgesehene Handbewegung während der körperlichen Untersuchung lässt ihn schreckhaft zusammenzucken und den Kopf unwillkürlich zwischen die Schultern einziehen. Bei der körperlichen Untersuchung fällt eine große Zahl kleinerer, über den ganzen Rücken verteilter Narben auf, deren Herkunft Herr C. nicht 118 angeben kann. Als Ursache einer weiteren, etwa 6 cm langen, sichelförmigen und chirurgisch sehr notdürftig mit wenigen groben Nähten versorgten Narbe über der linken Schulter nennt er einen Gewehrkolbenschlag anlässlich der ersten Verhaftung. Als Ursache einer zweiten, quer an der Innenseite des rechten Oberschenkels verlaufenden 4 cm langen und 2 cm breiten Narbe, die unter dem Hautniveau liegt und keine Zeichen einer chirurgischen Nahtversorgung aufweist, gibt Herr C. eine unbehandelte Stichverletzung während der zweiten Haft an. Die nach längeren Gehstrecken schmerzhaften Fußsohlen mit weichen und bis auf die Fußknochen leicht eindrückbaren Fußballen und die breitaufliegenden Fußflächen mit fehlendem Abrollen der Zehen beim Gehen geben einen Hinweis auf Folter durch Falanga, d.h. durch Schläge auf die Fußsohlen (Skylv 1993). Beim zweiten und dritten Untersuchungstermin zur Anamneseerhebung wiederholte sich jeweils das beschriebene Phänomen des Auseinanderfallens des Ereignis- und Zeitgefüges in eben derselben Weise wie beim ersten Mal, und auch ebenso wie beim ersten Mal gelang es Herrn C. auf der Grundlage ruhiger Gegenfragen mit Geduld und Zeit alles stimmig und plausibel wieder zusammenzusetzen und durch weitere Einzelheiten zu ergänzen, ohne dass trotz der mehrfach gewechselten Ereignisund Handlungsperspektiven Widersprüche in seiner Darstellung bestehen geblieben wären. Als sich gegen Ende des dritten Untersuchungstermins Herr C. bewegen ließ, auf ein einzelnes Erlebnisdetail näher einzugehen und zu schildern, zu welcher Tageszeit die zweite Verhaftung stattgefunden, welche näheren Begleitumstände es dabei gegeben habe und wer von der Familie mit anwesend gewesen sei, bricht er bei seiner Schilderung in Tränen 119 aus. Allen Quellen zur politischen Situation in Ostanatolien zufolge (amnesty international, Auswärtiges Amt, Presseberichte sowie übereinstimmende Berichte anderer Betroffener aus derselben Region) besteht Übereinstimmung darin, dass im Rahmen des Bürgerkrieges der Türkei gegen die PKK Druck auf die Landbevölkerung ausgeübt wird, sich entweder den sogenannten Dorfschützersystem der türkischen Behörden anzuschließen oder der PKK medizinische Hilfe, Lebensmittel oder logistische Unterstützung zukommen zu lassen. Eine Position der Unparteilichkeit innerhalb dieser beiden, die Gesellschaft stark polarisierenden Kräfte gibt es für die Landbevölkerung nicht. “Übergriffe der Sicherheitskräfte in Form von Eigentumzerstörung, Freiheitsberaubung, Misshandlung oder Tötung gegenüber Unbeteiligten kommen in diesem Gebiet verbreitet vor” (Auswärtiges Amt 1994, 1995). Vorgeschichte, psychischer und körperlicher Untersuchungsbefund ergaben zusammen mit dem, was wir über die politische Situation aus diesem Gebiet wissen, die fast zweifelsfreie Sicherheit, dass Herrn Cs. Angaben zu seinem Asylantrag richtig sind. Doch nur für uns, nicht für das Bundesamt für die Asylanerkennung. Herrn Cs. Asylantrag wurde abgelehnt, laut dem Protokoll der Anhörung, welche von Gefolterten nicht selten emotional mit den Verhören, denen sie im Heimatland unterworfen waren, assoziiert wird, hatte Herr C. exakt eine Stunde Zeit, mit Hilfe eines Dolmetschers seine Asylgründe “widerspruchsfrei und glaubhaft” vorzutragen, eine Aufgabe, die Herrn C. angesichts seiner psychischen Verfassung nicht gelingen konnte. 120 Patienten mit dauerhaften, über Jahrzehnte sich erstreckenden psychischen Traumafolgen berichten häufig, dass die anfänglich häufigen Alpträume im Laufe der Jahre seltener geworden sind und dass Gedanken und Erinnerungen an das Erlittene im Alltag an Dominanz verloren hätten und diese lediglich an Jahrestagen oder anderen mit dem Trauma verknüpften Ereignissen wieder ins Bewusstsein träten. Dagegen wird häufig geklagt über starke Nervosität, erhöhte innere Erregung, gesteigerte Reizbarkeit mit aggressiven Ausbrüchen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Ungeachtet dessen, dass verstärkte Erregung und zunehmende Aggressivität oft auch im Zusammenhang mit Mediennachrichten, die mit dem Trauma zu tun haben, erlebt werden, und ungeachtet dessen, dass unter der Exploration nicht selten Betroffene von Jahrzehnte zurückliegenden Traumaereignissen in einer Weise sprechen, als hätte sich alles gerade am Tag zuvor ereignet, scheint in der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen die intrusive Teilsymptomtik aus Kategorie B zugunsten der Symptome der Übererregbarkeit aus Kategorie D in den Hintergrund getreten zu sein. Über Symptome der Vermeidung aus der Kategorie C wird wenig ausdrücklich gesprochen. Der Grund hierfür ist, dass diese Symptome mit Hilfe von subtil entwickelten Strategien im Alltag über Jahre hinweg nicht mehr als ichfremd erlebt werden, sondern als ichsyntoner Bestandteil in das eigene Persönlichkeitsbild eingebettet sind. Deswegen ist hier die Erhebung fremdanamnestischer Angaben von Familienangehörigen oder Partnern unerlässlich. Aber auch sie können zu einer erschöpfenden Beurteilung nicht ausreichend sein, wie die zweite Kasuistik darlegt. 121 Kasuistik 2: Im Rahmen einer sozialgerichtlichen Fragestellung nach psychischen Spätfolgen nach langjähriger Haft in der sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR-Zeit (Unrechtbereinigungsgesetz) kommt Herr A, ein für seine 70 Jahre noch recht rüstig wirkender Rentner, zum ersten Untersuchungstermin. Er klagt über Reizbarkeit, innere Unruhe, Aggressivität mit impulsiven Ausbrüchen bei harmlosen Anlässen im Umgang mit seinen Mitmenschen. Sobald in seiner Umgebung Themen angesprochen würden, die auch nur im entferntesten mit seinen jetzt 45 Jahre zurückliegenden Hafterlebnissen im Zusammenhang stünden, gerate er in helle Aufregung, beginne seine Stimme zu erheben, zu schreien, wobei er völlig außer sich gerate und den roten Faden seiner Gedanken verliere. Einmal so in Verlegenheit geraten, steigere sich seine Wut zusätzlich, dass er von den anderen nur mit viel Mühe wieder zur Ruhe gebracht werden könne. Drei Jahre nach dem Krieg und kurz nach Beendigung seiner Ausbildung als Förster in Mecklenburg war Herr A. von den Sowjetischen Besatzungsbehörden wegen vorgeblicher Beteiligung an Kriegsverbrechen, mit denen er aber nachweislich nichts zu tun gehabt hatte, verhaftet und zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Nach mehrwöchiger Einzelhaft mit Schlafentzug, tage- und nächtelangen Verhören mit Schlägen auf den ganzen Körper – einschließlich des 122 Kopfes mit stark blutenden Kopfplatzwunden –, nach fortwährenden Erniedrigungen, Beschimpfungen mit Todesdrohungen habe er sich schließlich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als ein in russischer Sprache verfasstes und deshalb ihm unverständliches Protokoll zu unterschreiben. Daraufhin sei eine Verhandlung und Verurteilung zu 8 Jahren Haft erfolgt, wovon er 4 Jahre in Bautzen und 4 Jahre im Zuchthaus Brandenburg zugebracht hatte, bis man ihn endlich im Jahre 1956 entließ. Es ist auffallend, wie Herr A. über die Untersuchungshaft, die Verhöre und die Jahre in der damals noch unter sowjetischer Leitung geführten Haftanstalt Bautzen berichtet. Seine Darstellung der Ereignisse, die sich vor 45 Jahren zugetragen hatten, sind mit erschreckender Lebendigkeit und Eindrücklichkeit im Raum, als hätten sie sich gerade erst gestern und nicht vor 45 Jahren zugetragen. Herr A. zählt die Namen seiner sieben Mitgefangenen aus der ersten Zeit in der Haftanstalt Bautzen auf und berichtet vom Tode jedes einzelnen, wie einer um den anderen morgens tot auf der Pritsche infolge Krankheit und Auszehrung vorgefunden worden war. Damals sei Herr A. der jüngste und kräftigste unter ihnen gewesen, welcher sie alle überlebt habe. Noch andere bildhafte und lebendige Erinnerungen schildert er, die ihn im Zustande des Wachseins aber auch in den jetzt nicht mehr so zahlreich wie früher auftretenden Alpträumen nicht losließen: Bilder von Leichen toter Mithäftlinge, welche man auf einem im Gefängnishof stehenden Pferdewagen zum Abtransport und Verscharren auf dem “Karnickelberg” aufgeschichtet hatte; wie russische Bewacher Lanzen in die leblosen Körper gestoßen hätten, um sich zu vergewissern, dass sich kein Leben mehr in ihnen befände. 123 Nach 8 Jahren wird Herr A. entlassen. Monate darauf kann er eine Stelle als Förster in Mecklenburg antreten. 4 Jahre später heiratet er, seine Frau stammt aus demselben Ort. Ein Jahr später kommt eine Tochter zur Welt. Nach der Haftentlassung über Haft und Haftumstände in der Öffentlichkeit zu sprechen, hätte erneute Strafverfolgung für ihn bedeutet. Sein Selbstvertrauen und Selbstsicherheit, seine Zukunftshoffnung, die er vor der Haft besessen hätte, sei einem dauerhaften Empfinden der eigenen Unsicherheit, Selbstzweifel und Angst gewichen, nur nichts verkehrt zu machen, um ja nicht wieder eingesperrt zu werden. Er galt als Kriegsverbrecher und fühlte sich auch schuldig wie ein solcher. Nur durch überdurchschnittliche und absolut korrekte Arbeit in seinem Beruf als Förster habe er seine Unsicherheit kompensieren können. Wenn andere seiner Kollegen nur halbe Arbeit geleistet hätten, habe er von sich aus das Doppelte leisten müssen. Hinsichtlich seiner Leistung sei er im Umkreis bekannt gewesen. Er habe sich auf diese Weise unentbehrlich zu machen gewusst. Denn nur so habe er sicher sein können, dass man ihm nicht wieder “an den Karren fahren” würde. Innere Entspannung, Ruhe und Wohlbefinden habe er nur allein draußen in der Natur gefunden. Dort war er nicht nur beruflich unterwegs gewesen, sondern habe sich oft früh morgens noch vor Sonnenaufgang auf der Flucht vor der Schlaflosigkeit zu längeren Spaziergängen aufgemacht. Er, der gegenüber seinen Zeitgenossen Angst und Misstrauen hegte und gleichzeitig überaus gereizt, verhalten aggressiv und ungeduldig reagierte, konnte draußen in der Einsamkeit Tage und Wochen geduldig damit 124 verbringen, einen Bussard zu zähmen. Angst vor und Misstrauen gegenüber Mitmenschen mit Tendenz zum Rückzug und Isolation haben seinen Lebensalltag nach der Haft geprägt. Der Welt war er seither als ein ängstlich misstrauischer Fremdling gegenübergestanden. Mit seiner Frau und seiner Tochter hatte Herr A bis zu seiner Pensionierung in einem abgeschiedenen Forsthaus im Wald gelebt. Die Arbeit als Förster, meist allein und im Freien, die entlegene Wohnstätte schien für ihn in den Jahrzehnten nach der Haftentlassung die einzig mögliche Daseinsform zu sein. Aufenthalte in geschlossenen Räumen außerhalb der eigenen vier Wände hatte er nach Möglichkeit vermieden, ebenso Fahrten in die nahegelegene Bezirksstadt. Und falls eine solche aus dienstlichen Gründen nun einmal unternommen werden musste, hatte seine Ehefrau ihn begleiten müssen. Herr A. war zu den Untersuchungsterminen im Behandlungszentrum jedesmal in Begleitung der Ehefrau erschienen. Von mir darauf angesprochen meinte er, dass es ihm unmöglich sei, alleine öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, da er an der Haltestelle und auf dem Bahnsteig sogleich “den Überblick zu verlieren” pflege. Es gehe ihm dann ähnlich wie früher als Examenskandidat im Augenblick vor der Prüfung. Wenn derlei Gänge und Fahrten ohne Begleitung einmal nicht zu umgehen wären, benötigte er den vorangehenden Tag, um Fuß- und Fahrweg, die einzelnen Stationen anhand des Stadtplans genauestens zu studieren und zu skizzieren und alle Wegabschnitte von Tür zu Tür, hin- und zurück genau sich einzuprägen. In eben derselben Weise pflege seine Familie und er bei Reisen und Ausflügen mit dem Auto zu verfahren, wobei dann auf der Skizze sogar die kleinste Etappe mit Rast- oder Picknickplatz verzeichnet sein muss. Andernfalls werde seine Unruhe zu groß und er “verliere 125 den Überblick”. Die Skizzierung des Alltags der vergangenen 40 Jahre seit der Haftentlassung ergab das Bild eines Mannes mit einer ausgeprägten, chronischen phobischen Entwicklung. Um diesen phobischen Kern hatte sich im Laufe der Jahre ein Geflecht verschiedenartigster Vermeidungsstrategien gerankt, in welchem der Berufsalltag als Förster in Wald und einsamer Natur als eine Art Nische diente und die fürsorgliche Ehefrau und später auch die Tochter eine wesentliche stützende Rolle spielten. Sie waren in dieses Vermeidungsverhalten miteinbezogen, ohne dass dies den beiden selbst so bewusst gewesen wäre. Man hatte zwar unter der Impulsivität und emotionalen Labilität des Ehemannes bzw. Vaters etwas gelitten, dies auf eine Veranlagung zu cholerischem Temperament zurückgeführt und gemeinsam mit ihm alle derartigen provozierenden Umstände im Alltag fürsorglich zu umschiffen gesucht. Schließlich hatte keine von beiden den Ehemann und Vater erlebt, wie er vor der Haft gewesen war. Ebenso war Herrn A. nicht nur seine Angst infolge seines systematischen Vermeidungsverhaltens nicht mehr bewusst, sondern auch sein Vermeidungsverhalten selbst, weil dasselbe mittlerweile systematisch in sein Alltagserleben und Persönlichkeitsbild eingebaut war, dass er es gar nicht mehr als ichfremd, sondern ichsynton erlebte. Ebensowenig war diese für die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) hochbedeutsame Symptomatik dem Vorgutachter aufgefallen, welcher Herrn A. für das Vorliegen einer “leichten posttraumatischen 126 psychovegetativen Störung” eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 % zugesprochen hatte. Anamnese und die Biographie vor der Haft (Fallschirmspringer im zweiten Weltkrieg), körperliche Untersuchungsbefunde sowie der Befund eines cranialen Computertomogramms mit regelrechter Dichte aller Hirnstrukturen ohne jegliche Zeichen einer durchblutungsbedingten cerebralen Schädigung erlaubten keine andere Diagnose als die der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extremtrauma mit mittelgradig bis schweren Anpassungsschwierigkeiten. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit wurde bezogen auf die psychische Erkrankung mit 50% eingestuft, was zusammen mit einer in einem HNO-Gutachten festgestellten Anosmie (MdE: 15 %) als Folge der Arbeitsbedingungen während der Haft eine gesamte MdE von 60 % als Haftfolge ergab, da die Anosmie sich zusätzlich auf die psychisch reaktiven Haftfolgen negativ auswirkte. Wenn sogar unter Fachkollegen derart divergente Beurteilungen hinsichtlich psychischer Traumafolgen vorkommen, so ist die Frage, ob es spezielle Probleme in der Begutachtung psychischer Folterfolgen gibt, zu bejahen. Wie mag es zu solchen unterschiedlichen Beurteilungen kommen? Eine Antwort auf diese Frage ist zunächst einmal in einem Bestandteil der Symptomatik selbst zu finden, wie die folgende Übersicht zeigt: l Misstrauen, Feindseligkeit, Entfremdung gegenüber der Umwelt l Tendenz zu Rückzug und Isolation l Scham 127 l Schuld l Assoziative Verknüpfung des Explorationsgespräches mit traumatischen Erlebnissen l Furcht vor den traumatischen Erlebnissen zugehörigen Affekten l Furcht, Ärger und schließlich Hoffnungslosigkeit und Resignation, keinen Glauben zu finden l Konzentrationsstörungen l Gedächtnisstörungen Von den in der vorstehenden Übersicht aufgeführten Charakteristika sind die meisten als Symptome in den Definitionen der Posttraumatischen Belastungsstörung sowie der andauernden Persönlichkeitsänderung wiederzufinden. Besonders hervorzuheben sind Schamgefühle besonders nach sexueller Folter sowie Schuldgefühle von Überlebenden (Niederland 1968, Levi 1991). Was unserer Erfahrung nach in den Anhörungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zuwenig Berücksichtigung findet, ist neben den bei Folteropfern häufig anzutreffenden Konzentrationsstörungen und der Verminderung der Gedächtnisleistung für wesentliche Bestandteile der traumatischen Erlebnisse die Tatsache, dass Asylantragsteller, die im Herkunftsland gefoltert und verhört worden sind, die vergangenen Verhörsituationen emotional mit der gegenwärtigen Anhörung, in der sie “widerspruchsfrei und detailgetreu” ihre Erlebnisse zur Begründung ihres Asylbegehrens vorzutragen haben, in Verbindung bringen. In psychoanalytischen Begriffen gesprochen befände sich dann der 128 Beamte, der die Anhörung durchführt, in einer spezifischen Übertragung, nämlich der Täterübertragung. Entsprechend dem verhaltenstherapeutischen Modell wäre die Situation des Explorationsgespräches im Rahmen der Anhörung zum Asylverfahren ein Stimulus, welcher die bewusst oder unbewusst vermiedenen Erinnerungen und die dazugehörenden Affekte wieder in das Bewusstsein ruft. Die Begutachtung von Folterüberlebenden mit psychischen Folterfolgen unterscheidet sich von der Begutachtung von unter anderen psychischen Erkrankungen Leidender ganz entscheidend darin, dass es ein Bestandteil der Symptomatik selbst ist, welcher die gutachterliche Exploration behindern und damit zu Fehlbeurteilungen führen kann. Das ist keineswegs eine neue Entdeckung, sondern ein Phänomen, das in Untersuchungen über psychisch reaktive Folgen von Konzentrationslageropfern im Nationalsozialismus festgestellt worden ist (“Abkapselung extremtraumatischer Erfahrungen von der Umwelt, weil sie nicht “kommunikationsfähig” sind”; “Widerstand gegen die Exploration”, v Baeyer et al 1964). Wenn es auf der einen Seite die reaktiven psychischen Symptome selbst sind, die einer objektiven gutachterlichen Beurteilung im Wege stehen können, so kann es auf der anderen Seite die Einstellung des Gutachters zum Folterüberlebenden und dessen Geschichte sein, welche seine objektive Einschätzung und Beurteilung behindert. Ebenso wie in der therapeutischen Beziehung mit Folteropfern (Lansen 1993, Wilson Lindy 1994, Bustos 1990, Haenel 1996) können sich auch beim Gutachter in seiner Beziehung zum zu Begutachtenden sehr schnell extreme Gegenübertragungspositionen mit entweder zu großer Distanz und fehlender Empathie oder zu geringer Distanz mit der Gefahr der Überidentifizierung 129 und sogar der persönlichen, empatischen Verstrickung einstellen (Hoppe 1967). Eine zu große Distanz und zu geringe Empathie kann sich beim Gutachter entwickeln aus dessen unzureichenden Kenntnissen über psychische Traumafolgen sowie fehlender Information über politische, geschichtliche Fakten und Haftbedingungen in den Herkunftsländern und aber auch dadurch, dass er, ausgehend von seiner eigenen Lebenserfahrung und seinem Bild von einer im Grunde harmonischen Welt, die Darstellungen des anderen für übertrieben und unglaubwürdig hält (Wilson, Lindy 1994). Aus der Sicht des Folterüberlebenden nimmt er dann insofern eine Eigenschaft der früheren Täter an, als er ebenso wie diese das Geschehene zu verschweigen und verleugnen scheint. Eine derartige Beziehungskonstellation ist auch ein Grund für die oft zu beobachtende resignative Zurückhaltung von Folterüberlebenden in den Explorationsgesprächen, was nicht selten Gutachter zu der irrtümlichen Annahme gelangen lässt, hier einen Menschen ohne oder mit nur gering ausgeprägten traumabedingten psychischen Symptomen vor sich zu haben. Diese fehlende Anerkennung bedeutet für die Betroffenen eine erneute Kränkung und oft schließt sich hieran eine zeit- und kostenaufwendige Kette von Widerspruchs- und Klageverfahren über sämtliche Verwaltungsund Gerichtsinstanzen an. Eine zu geringe Distanz und zu große Empathie mag beim Gutachter aus der Abwehr eigener Schuld und Schamgefühle entstehen (Hoppe 1967) oder aus Erschütterung und Entsetzen über die vom Überlebenden geschilderte traumatische Erfahrung oder aus bewusster oder 130 unbewusster Furcht heraus, von diesem in die Nähe der damaligen Täter (“Täterübertragung”) gerückt zu werden. Hieraus kann eine zu große, undistanzierte und kämpferische Hilfsbereitschaft gegenüber dem Folterüberlebenden erwachsen, die, wenn sie unreflektiert bleibt, den Gutachter dazu verleitet, gegenüber Kollegen und Behörden unsachlich, pauschal und polemisch zu argumentieren. Daher ist nicht allein das Vorhandensein psychiatrischer Fachkenntnisse sowie politisch historischer Kenntnisse über die Herkunftsländer bei der Beantwortung gutachterlicher Fragestellung von Folterüberlebenden eine entscheidende Voraussetzung, sondern ebenso wie in der Psychotherapie ist es auch bei der Begutachtung von Folterüberlebenden von grundlegender Bedeutung, zwischen den beiden bei dieser Klientel sich schnell einstellenden extremen Gegenübertragungspositionen von zu großer und zu geringer Distanz eine mittlere Position einzunehmen, welche sich durch “größtmögliche Empathie im Verbund mit größtmöglicher Distanz” (Lansen 1996) oder “kontrollierter Identifikation” (Hoppe 1967) charakterisieren lässt. Dabei hat der Gutachter zusätzlich zu berücksichtigen, welchen beträchtlichen Widerstand die psychisch posttraumatischen Symptome der Exploration bieten können. Den Konzentrationsstörungen muss er mit Geduld und Zeit begegnen. Er muss berücksichtigen, dass für schwere traumatische Erlebnisse Gedächtnisstörungen vorliegen können. Der Rückzugs- und Isolationstendenz der Überlebenden, ihrem Misstrauen gegenüber der Welt sowie der bei einem ehemaligen Opfer nicht selten anzutreffenden passiv resignativen Grundeinstellung muss er ein aktives Interesse an dessen Lebensgeschichte und den darin enthaltenen trau- 131 matischen Erfahrungen entgegensetzen sowie eine aktive Bereitschaft und Offenheit mitbringen, die spezielle Bedeutung des Traumas für das Lebensschicksal des Betreffenden soweit als möglich zu verstehen. Literatur: American Psychiatric Association, “Diagnostic an statistical manual of mental disorders“, fourth edition (DSM IV), S. 424-432, Washington DC, (1994) Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei, (1994, 1995) Baeyer W. von, Häfner H. Kisker K., “Psychiatrie der Verfolgten“, Berlin, Göttingen; Heidelberg, Springer, (1964) Bustos E., “Dealing with the unbearable. Reactions of therapists and therapeutic institutions working with survivor of torture“, in: Suefeld E (Ed), “Torture and Psychology“, New York, Hemisphere Publishing, (1990) Haenel F., “Fremdkörper in der Seele“, in: Graessner S., Gurris N., Pross C. (Ed), “Folter an der Seite des Überlebenden“, S. 14-48, München, Beck, (1996) Herman J., “Complex PTSD: a syndrom in survivors of prolonged and repeated trauma“, (1992), Journal of Traumatic Stress 15: 377-391 Hoppe K., “The emotional reactions of psychiatrists when confronting survivors of persecution“, The Psychoanalytic Forum 3: 187-196, (1967) 132 Kolk v.d.B., Herron N., Hostelter A., “The history of traume in psychiatry“, Psychiatric Clinics of North Amerika 17: 583-600, (1994) Lansen J., “Vicarious traumatization in therapists treating victims of torture and persecution“, Torture 3: 138-140, (1993) Lansen J., “Was tut “es” mit uns?“, in: Graessner S., Gurris N., Pross C. (Ed), “Folter – an der Seite des Überlebenden“, S. 253-270, München, Beck, (1996) Levi P., “Ist das ein Mensch?“, München, Hanser, (1991) Niederland W., “Studies of concentration-camp survivors“, in: Kristal H. (Ed), “Massive Psychic Trauma“, S. 23-40, New York, (1968) Skylv G., “Falanga – diagnosis and treatment of late sequela“, Torture 3: 11-15, (1993) Venzlaff U., “Psychische Spätschäden nach politischer Verfolgung“, in: Paul H., Herberg H. (Ed), S. 111-124, Basel, Karger, (1963) Wilson J., Lindy J., “Contertransference in the treatment of PTSD“, New York, Guilford, (1994) World Health Organisation, “The ICD-10 Classification of mental and behavioral disorders and diagnostic guidelines“, Geneva, (1992) Zusammenfassung: Die Begutachtung psychischer Folter und Haftfolgeschäden ist oft schwierig, weil es ein wesentlicher Bestandteil der Symptomatik selbst ist, 133 welcher einer hinreichenden Exploration und einer sich daraus ergebenden angemessenen Beurteilung im Wege stehen kann. Dies wird exemplarisch anhand zweier Kasuistiken aus der psychiatrischen Begutachtungspraxis am Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer demonstriert. Darüber hinaus scheinen die auch unter Fachkollegen auftretenden, mitunter beträchtlichen Divergenzen in der Beurteilung psychischer Traumafolgen zum einen an dem geringen Stellenwert zu liegen, welchem dem Trauma und seinen psychischen Folgen in der psychiatrischen Facharztweiterbildung bislang eingeräumt worden ist, zum anderen aber auch begründet zu sein in den extremen Positionen der Gegenübertragung von zu großer oder zu geringer Distanz, die sich ebenso wie beim Therapeuten sehr schnell auch beim Gutachter im Beziehungskontakt mit Folterüberlebenden einstellen können. Der Rückzugs- und Isolationstendenz von Folterüberlebenden, ihrem Misstrauen gegenüber der Welt sowie der bei einem Opfer häufig vorzufindenden, passiv resignativen Grundeinstellung ist von seiten des Gutachters eine aktive Bereitschaft und ein aktives Interesse an Biographie und Lebensschicksal der Betroffenen sowie der speziellen Bedeutung des Traumas für deren gesamte Lebensentwicklung entgegenzusetzen. Special problems in the assessment of the psychological sequelae of torture and incarceration Summary: The medico-legal assessment of the mental sequelae of torture and incarceration ist often difficult since the symptoms themselves can present an obstacle to adequate exploration and thus to a correct evaluation. This is illustrated by two case reports from the casebook of a psychiatric 134 assessor at the Berlin Center for the Treatment of Torture Victims. The fact that assessment of the psychological sequelae of traume can differ widely from one specialist to another would seem to result partly from the neglect of trauma and its mental sequelae in psychiatric training to date and also partly from the extreme countertransferential positions that assessors, like psychotherapists, can experience in their relations with survivors of torture. Assessors must counter the tendency of survivors of torture to withdraw and isolate themselves, their mistrust of the world and their frequently passive and resignes basic attitude with an active willingness an active interest in their stories and fate, coupled with an understanding of the special significance of the trauma for their lives as a whole. Keywords: torture, incarceration, psychological sequelae, assessment, PTSD Fußnoten 1 Erstveröffentlichung in englischer Sprache in: Maltreatment and Torture. Hrsg: M. Oehmichen. Schmidt Roemhild Verlag, Lübeck 1998 135 136 Traumatische Erinnerungen - zum Stand der neurowissenschaftlichen Forschung Gerald Hüther, Psychiatrische Klinik der Universität Göttingen 1. Die akuten Auswirkungen von Angst und Stress auf das Gehirn Immer dann, wenn ein Mensch in eine bedrohliche Situation gerät, wenn Anforderungen an ihn gestellt werden, die er nicht erfüllen kann, wenn er etwas erlebt, das seinen Erwartungen widerspricht, wenn ihm etwas “unter die Haut” geht und sein inneres, emotionales Gleichgewicht bedroht, wird eine neuroendokrine Stressreaktion ausgelöst. Sie beginnt mit einer unspezifischen Aktivierung kortikaler und/oder limbischer assoziativer Netzwerke, breitet sich über die Amygdala auf den Hypothalamus und andere Umschaltstationen autonom-vegetativer Zentren aus und führt u.a. auch zur Stimulation des zentralen und peripheren noradrenergenen Systems. Die vermehrte Noradrenalin-Ausschüttung in Kortex, Amygdala, Hippocampus und Hypothalamus erhöht die Aufmerksamkeit und die Verhaltensbereitschaft. Die Aktivierung des peripheren und sympathischen Systems führt zu den für Stress- und Angstreaktionen typischen Veränderungen von Blutfluss, Herzfrequenz, Atmung und Muskeltonus, zur Mobilisierung von Energiereserven und zu Veränderungen des Immunsystems (akute Notfallreaktionen). Gleichzeitig kommt es bei stärkeren Belastungen durch die Stimulation des Parasympaticus u.a. zu den bekannten Auswirkungen auf die Darm- und Blasentätigkeit. Im weiteren Verlauf erreicht die sich aufschaukelnde unspezifische Erregung auch neuroendokrine Kerngebiete im Hypothalamus. Die daraufhin vermehrt 137 freigesetzten Neuropeptide (CRF, ADH) stimulieren die Bildung und Sekretion von ACTH und Beta-Endorphin in der Adenohypophyse. ACTH gelangt über die systemische Zirkulation zur Nebennierenrinde und stimuliert die Sekretion von Cortisol. Im Verlauf dieser durch Angst und Stress ausgelösten Reaktionskette lassen sich auf der Ebene der zentralnervösen Reaktionen drei Phasen abgrenzen: die initiale Alarmphase (erhöhte und focussierte Aufmerksamkeit und Verhaltensbereitschaft), die Phase des Widerstandes (aktive Bewältigung) und die Phase der Erschöpfung (Ohnmacht, Hilflosigkeit). Gelingt die Aktivierung einer geeigneten Bewältigungsstrategie, so erlischt die unspezifische Erregung in den kortikalen und limbischen Zentren, und die von dort ausgehende neuroendokrine Reaktionskette kommt zum Stillstand. Gestaltet sich die Suche nach einer geeigneten Bewältigungsstrategie schwierig, so kommt es zu abwechselnden Dominanzen zwischen eher kognitiven Bereichen (präferentielle Aktivierung von Hippocampus und Isocortex) und eher emotionalen Bereichen (präferentielle Aktivierung der Amygdala). Diese wechselseitigen Aktivierungen werden als “hin- und hergerissen sein” zwischen “kühlen Kopf bewahren” (Suche nach Lösungen) und “den kühlen Kopf verlieren” (Aufregung) erlebt. Bedrohlich wird es, wenn sich eine psychische Belastung subjektiv als nicht bewältigbar erweist. Fortgesetzter Stress führt zur Schrumpfung des Somavolumens von Pyramidenzellen im Hippocampus und deren Dendriten (Kim und Yoon, 1998) und damit zu einer Verschlechterung von Lern- und Gedächtnisleistungen (Newcomer et al., 1999). Allgemein kommt es zu einer Hemmung der noradrenergen Signalübertragung, zu 138 einer Unterdrückung der Produktion von Geschlechtshormonen und neurotrophen Faktoren und damit zu einer Beeinträchtigung von neuronalen Wachstums- und Renerationsprozessen. Ein stressbedingtes Versagen des präfrontalen Kortex und des Hippocampus kann dazu führen, dass die Amygdala gegenüber den Eingängen aus Hippocampus und präfrontalem Kortex Dominanz gewinnt. Die Folge davon wäre, dass neue Lerninhalte verstärkt und resistenter gegen Löschung werden, und dass möglicherweise vorher gelöschte konditionierte Ängste wieder ausbrechen (LeDoux, 1998). 2. Die neuronale Verankerung von psychisch belastenden Erfahrungen Die das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen bestimmenden neuronalen Verschaltungsmuster und synaptischen Verbindungen sind weitaus plastischer, als man lange Zeit angenommen hatte. Die initial angelegten, zunächst noch streng genetisch determinierten Verschaltungen werden im Verlaufe der weiteren Entwicklung in Abhängigkeit von der Art ihrer Nutzung weiterentwickelt, überformt und umgebaut (“experience-dependent plasticity”). Zwar können sich Nervenzellen im Anschluss an die intrauterine Reifung des Gehirns schon vor der Geburt nicht mehr teilen (bis auf wenige Ausnahmen), sie bleiben jedoch zeitlebens zur adaptiven Reorganisation ihrer neuronalen Verschaltungen befähigt. Im Zuge derartiger Umbauprozesse kommt es zu Veränderungen der Effizienz bereits vorhandener Synapsen, etwa durch Vergrößerung oder Verringerung der synaptischen 139 Kontaktflächen, durch verstärkte oder verminderte Ausbildung prä- und postsynaptischer Spezialisierungen oder durch Veränderungen der Eigenschaften und der Dichte von Transmitterrezeptoren und damit der Effizienz der Signalübertragung. Verstärktes Auswachsen und “collateral sprouting” (Bildung zusätzlicher Seitenäste) von Axonen kann zur Neubildung von Synapsen, terminale retrograde Degeneration zur verstärkten Elimination vorhandener Synapsen führen. Durch plastische Veränderungen des Dendritenbaumes oder durch Änderung der Abschirmung von Neuronen durch Astrozyten kann das Angebot postsynaptischer Kontaktstellen erhöht oder vermindert werden. Unter normalen Bedingungen findet so im Gehirn eine ständige nutzungsabhängige Neubildung und Elimination synaptischer Verbindungen und neuronaler Verschaltungen statt (Hüther et al. 1999a). Der beim Menschen wichtigste und hinsichtlich seiner Bedeutung für die Nutzung der im Gehirn angelegten neuronalen Netzwerke und synaptischen Verschaltungen am nachhaltigsten wirksame Einfluss ist besonders schlecht operationalisierbar. Er lässt sich am Zutreffendsten mit dem Begriff “Erfahrung” umschreiben. Gemeint ist damit das im Gedächtnis eines Individuums verankerte Wissen über die in seinem bisherigen Leben entweder besonders erfolgreichen oder besonders erfolglos eingesetzten, in dieser Weise immer wieder bestätigt gefundenen und deshalb auch für die Lösung zukünftiger Probleme als entweder besonders geeignet bzw. ungeeignet bewerteter Strategien des Denkens und Handelns. Solche Erfahrungen sind immer das Resultat der subjektiven Bewertung der eigenen Reaktionen auf eine wahrgenommene und als bedeutend eingeschätzte Veränderung der Außenwelt. Sie unterscheiden 140 sich darin von allen (passiven) Erlebnissen und (passiv) übernommenen Kenntnissen und Fertigkeiten, denen kein oder noch kein Bedeutungsgehalt für die eigene Lebensbewältigung beigemessen wird. Aufgrund der normalerweise bereits während der frühkindlichen Entwicklung stattfindenden und im späteren Leben aktiv vollzogenen Einbettung des Menschen in ein immer komplexer werdendes soziales Beziehungsgefüge sind die wichtigsten Erfahrungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens machen kann, psychosozialer Natur (Hüther et al. 1999b). Die ersten individuellen Erfahrungen werden sehr wahrscheinlich bereits während der intrauterinen Entwicklung auf der Grundlage der bis dahin genetisch präformierten neuronalen Verschaltungsmuster verankert. Bereits die genetisch determinierten Verschaltungen prädisponieren das sich entwickelnde Gehirn für ganz bestimmte sensorische Wahrnehmungen, für eine bestimmte assoziative Verarbeitung dieser Eindrücke und für die Aktivierung ganz bestimmter Verhaltens- (und Gefühls-)reaktionen. Sie sind in dieser Hinsicht vergleichbar mit den im späteren Leben (aufgrund individuell gemachter Vorerfahrungen) entstandenen Erwartungen, die in ähnlicher Weise die Aufmerksamkeit, die Verarbeitung, das Denken, Fühlen und Handeln einer Person prädisponieren. Ob diese Erwartungen noch rein genetisch bedingt oder bereits durch eigene Erfahrungen begründet sind, in beiden Fällen lassen sich neue Erfahrungen nur dann machen, wenn es zu einer Diskrepanz zwischen subjektiven Erwartungen und den tatsächlich wahrgenommenen Phänomenen und damit zur Aktivierung einer neuroendokrinen Stress-reaktion kommt (Hüther, 1998). Der Nachweis von Kortikoidrezeptoren im Gehirn hat den Blick für ein 141 Phänomen geschärft, das bisher in der Stressforschung kaum beachtet wurde: Das Gehirn ist nicht nur der Ausgangspunkt, sondern auch das wichtigste Zielorgan der Stressreaktion. Die durch eine psychische Belastung im ZNS ausgelösten Reaktionen (z.B. verstärkte Katecholaminausschüttung im Zuge der Aktivierung noradrenergener Kerngebiete, vermehrte Ausschüttung von CRF und ADM durch intra- und extrahypothalamische Axone, von ß-Endorphin und adrenocortikotrophen Hormonen durch endokrine Zellen der Adenohypophyse) sind in der Lage, die im Zuge der Stressreaktion ablaufenden zentralnervösen Verarbeitungsprozesse auf vielfältige Weise zu beeinflussen. Auch die stressinduzierte Stimulation des sympathischen Nervensystems und der Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin aus dem Nebennierenmark hat eine ganze Reihe direkter und indirekter Effekte auf das ZNS. Sie reichen von Änderungen der Hirndurchblutung über die vermehrte Bereitstellung von Substraten für den Energiestoffwechsel bis hin zu Änderungen der Verfügbarkeit von Vorstufen für die Katecholamin- und Serotoninsynthese. Durch ansteigende Spiegel zirkulierender Glukokortikoide kommt es nicht nur zu einer direkten Aktivierung von Glukokortikoidrezeptoren im ZNS mit weitreichenden und oft langfristigen Konsequenzen für die Funktion der betreffenden Nerven- und Gliazellen. Auch indirekte, Glukokortikoidvermittelte periphere Effekte (Abfall der Sexualhormonspiegel, Suppression der Synthese und Ausschüttung von Mediatoren der intrazellulären Kommunikation wie Prostaglandine und Zytokine, Änderungen der Substratversorgung etc.) können zu langfristigen Veränderungen der Struktur und Funktion neuronaler Verschaltungen im ZNS führen. Welche dieser Mechanismen im Zuge einer Stressbelastung aktiviert 142 und welche langfristigen Veränderungen dadurch ausgelöst werden, hängt von der Art der Belastung ab, der sich eine bestimmte Person ausgesetzt sieht, also von der individuellen Bewertung der Kontrollierbarkeit des Stressors. Zu einer kontrollierbaren Stressreaktion kommt es immer dann, wenn die bisher angelegten Verschaltungen zwar prinzipiell zur Beseitigung der Störung geeignet, aber einfach noch nicht effizient genug sind, um diese vollständig und gewissermaßen routinemäßig zu beantworten. Eine derartige Stress-Belastung ist besser mit dem Begriff “Herausforderung” zu beschreiben. Sie beginnt, wie jede Reaktion auf einen psychischen Stressor, mit der bereits beschriebenen unspezifischen Aktivierung kortikaler und limbischer Hirnstrukturen, die zur Stimulation des zentralen und peripheren noradrenergen Systems führt (“arousal”). Kann im Zuge dieser unspezifischen Aktivierung eine Möglichkeit zur Lösung der betreffenden Anforderung gefunden werden, so kommt es mit der Aktivierung der an dieser Verhaltensreaktion beteiligten neuronalen Verschaltungen zum Erlöschen der initialen unspezifischen Aktivierung. Vor allem die verstärkte Ausschüttung von Noradrenalin in den initial aktivierten cortikalen und limbischen Hirnregionen führt zu einer ganzen Reihe von funktionellen und metabolischen Veränderungen in Nerven- und Gliazellen, die direkt oder indirekt zur Stabilisierung und Verbesserung der Effizienz der in die Antwort involvierten neuronalen Verschaltungen beitragen. Wiederholt auftretende, kontrollierbare psychosoziale Belastungen (oder besser: Herausforderungen) führen so zu einer sukzessiven Stabilisierung, Bahnung und verbesserten Effizienz der in die Antwort involvierten neuronalen Netzwerke und Verbindungen. Dieser zentralnervöse Anpassungsprozess ist in gewisser Weise vergleichbar mit peripheren Anpassungen an physi- 143 sche Stressoren, etwa der durch Kältebelastung induzierten Verdichtung des Haarkleides. Sehr komplexe, verschiedenartige und vielseitige kontrollierbare Belastungen sind offenbar notwendig, um die individuellen genetischen Möglichkeiten zur Strukturierung eines entsprechend komplexen Gehirns nutzen zu können (Hüther 1997). Wenn eine Belastung auftritt, für die eine Person keine Möglichkeit einer Lösung durch ihr eigenes Handeln sieht, an der sie mit all ihren bisher erworbenen Reaktionen und Strategien scheitert, so kommt es zu einer sog. “unkontrollierbaren Stressreaktion”. Sie ist durch eine langanhaltende Aktivierung cortikaler und limbischer Strukturen sowie des zentralen und peripheren noradrenergen Systems gekennzeichnet, die sich wechselseitig so weit aufschaukelt, dass es schließlich auch zur Aktivierung des HPA-Systems mit einer massiven und lang anhaltenden Stimulation der Cortisolausschüttung durch die Nebennierenrinde kommt. Solche unkontrollierbaren Belastungen haben andere, weitreichendere Konsequenzen auf die im Gehirn angelegten Verschaltungen als die soeben beschriebenen kontrollierbaren Stressreaktionen. Beobachtungen an Versuchstieren deuten darauf hin, dass vor allem die aus unkontrollierbaren Belastungen resultierenden massiven und langanhaltenden Erhöhungen der Glucocorticoid-Spiegel zur Destabilisierung der bereits angelegten synaptischen Verbindungen und neuronalen Netzwerke führt. Im Zuge unkontrollierbarer Belastungen wird die Noradrenalinausschüttung vermindert, der cerebrale Energieumsatz gehemmt und die Bildung neurotropher Faktoren unterdrückt. Halten derartige Belastungen länger an, so kann es sogar zur Degeneration noradrenerger Axone im Kortex und zum Absterben von Pyramidenzellen im Hippocampus kommen. 144 Verhaltensbiologische Untersuchungen zeigen in diesem Zusammenhang einen sehr interessanten Effekt: Hohe Spiegel von Glucokortikoiden, wie sie physiologischerweise bei unkontrollierbarem Stress erreicht werden, fördern die Auslöschung von erlernten Verhaltensreaktionen und führen zur Elimination vor allem solcher Verhaltensweisen, die für eine erfolgreiche Beendigung des Stress-Reaktionsprozesses ungeeignet sind (Hüther 1996). Die Aneignung neuer Bewertungs- und Bewältigungsstrategien, grundlegende Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln werden durch die vorangehende Destabilisierung und Auslöschung unbrauchbar gewordener Muster erst ermöglicht. Damit tragen beide Arten von Stressreaktionen, also die kontrollierbaren Herausforderungen wie auch die unkontrollierbaren Belastungen, in jeweils spezifischer Art und Weise, zur Strukturierung des Gehirns, d.h. zur Selbstorganisation neuronaler Verschaltungsmuster im Rahmen der jeweils vorgefundenen äußeren, psychosozialen Bedingungen bei: Herausforderungen stimulieren die Spezialisierung und verbessern die Effizienz bereits bestehender Verschaltungen. Sie sind damit wesentlich an der Weiterentwicklung und Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale beteiligt. Schwere, unkontrollierbare Belastungen ermöglichen durch die Destabilisierung einmal entwickelter, aber unbrauchbar gewordener Verschaltungen die Neuorientierung und Reorganisation von bisherigen Verhaltensmustern. Die von unkontrollierbaren Belastungen getriggerten langanhaltenden neuroendokrinen Reaktionen können offenbar über die von ihnen ausgelöste Destabilisierung neuronaler Verschaltungsmuster in limbischen und kortikalen Hirnregionen zu u.U. sehr grundsätzlichen Veränderungen des 145 Denkens, Fühlens und Handelns einer Person führen. Das Ersetzen eines alten, unter dem Einfluss bisheriger Anforderungen stabilisierten assoziativen Verschaltungsmusters durch ein neues kann bisher unkontrollierbare Belastungen kontrollierbar machen. Ein derartiger Reorganisationsprozess ist jedoch immer mit dem Risiko der Entgleisung und des unkompensierbaren Verlustes bestimmter Fähigkeiten im Bereich des Denkens, Fühlens oder Handelns behaftet (Hüther 1996). 3. Die Auswirkungen psychischer Traumatisierung Niemand hat bisher die durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöste Intensität der neuroendokrinen Stressreaktion gemessen und niemand kann vorhersagen, wie lange die durch ein solches Erlebnis ausgelöste Aktivierung stress-sensitiver neuroendokriner Regelmechanismen bei einem Menschen anhält. Mit Sicherheit aber stellt die psychische Traumatisierung den Extremfall einer unkontrollierbaren Belastung dar, die ein Mensch erleben kann. Wenn es einem Menschen nach einer solchen traumatischen Erfahrung nicht gelingt, diese unkontrollierbare Stressreaktion irgendwie anzuhalten, so ist er verloren, denn die dadurch ausgelösten Destabilisierungsprozesse können lebensbedrohliche Ausmaße annehmen. Jeder traumatisierte Mensch spürt das, und er wird deshalb mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, die traumatische Erfahrung und die posttraumatisch immer wieder aufflammenden Erinnerungen an das erlebte Trauma unter Kontrolle zu bringen. Bewährte Strategien, die er - so 146 wie andere Menschen - bisher zur Bewältigung seiner Ängste eingesetzt hat, wurden angesichts des erlebten Traumas ad absurdum geführt: Auf psychosoziale Unterstützung kann er sich nicht mehr verlassen. Der Glaube an eine fremde, göttliche Macht ist ihm ebenso verlorengegangen wie der Glaube an seine eigene Kraft. All sein Wissen und Können, sein Einfluss, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten haben sich als nutzlos erwiesen. Die einzige Strategie, die ihm nun noch Linderung verschaffen kann, ist die Abkoppelung der traumatischen Erfahrung aus dem Erinnerungsschatz, ihre Ausklammerung durch eine gezielt veränderte Wahrnehmung und assoziative Verarbeitung von Phänomenen der Außenwelt. Er ist gezwungen, mit diesen Strategien gegen die immer wieder aufflammenden Erinnerungen an das Trauma anzurennen. Falls er eine Strategie findet, die es ihm ermöglicht, die traumatische Erinnerung und die damit einhergehende unkontrollierbare Stressreaktion kontrollierbar zu machen, hört der Destabilisierungsprozess auf, und es werden nun all die neuronalen Verschaltungen gefestigt und gebahnt, die zur “erfolgreichen” Bewältigung seiner durch die traumatischen Erinnerungen ausgelösten Ängste aktiviert werden. Auf diese Weise entstehen zunächst kleine, durch ihre wiederholte “erfolgreiche” Nutzung aber schließlich immer breiter und effektiver werdende zentralnervöse “Umgehungsstraßen” und “Umleitungen”, “Verbotszonen”, “Rastplätze” und die dazugehörigen “verkehrsregelnden Leiteinrichtungen”. Gefunden werden diese Lösungen mehr oder weniger rasch und meist intuitiv, aber bis die dabei benutzten Verschaltungen hinreichend effektiv gebahnt sind, können Monate und Jahre vergehen. Die dabei ablaufenden Bahnungsprozesse können offenbar so tiefgreifend und weitreichend werden, dass bei manchem traumatisierten Menschen die Erinnerung an das traumatische Erlebnis 147 schließlich nicht mehr abrufbar ist. Bei manchen wird die gesamte emotionale Reaktionsfähigkeit und damit auch die basale Aktivität und die Aktivierbarkeit der HPA-Achse permanent unterdrückt. Bei manchen können bizarr anmutende oder gar selbstgefährdende Bewältigungsstrategien bis zur Zwanghaftigkeit gebahnt werden. Immer ist es die subjektive Erfolgsbewertung einer zunächst meist unbewusst gefundenen Strategie, die zur Aktivierung einer nunmehr kontrollierbaren Stressreaktion und damit zur Bahnung der dabei benutzten Verschaltungen führt. Zwangsläufig sind all diese gebahnten Abwehrstrategien daher individuelle Lösungen, die sich deutlich von den “normalen” Bewältigungsstrategien nicht traumatisierter Menschen unterscheiden. Damit geraten traumatisierte Menschen in ein “soziales Abseits” und werden oft als persönlichkeitsgestört oder antisozial attributiert. So schließt sich ein fataler circulus vitiosus, aus dem der Betroffene aus eigener Kraft nicht mehr herausfindet. Phänomenologisch zeigen Patienten mit einer derartigen posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) Intrusionen, d.h. wiederkehrende und stark belastende Erinnerungen und Träume, Flashback-Erlebnisse, psychische und physiologische Stressanzeichen bei Konfrontation mit Hinweisreizen, Gedanken- und Gefühlsvermeidung sowie Aktivitäts- und Situationsvermeidung in Hinblick auf das Trauma, Teilamnesie in Hinblick auf das Trauma, Entfremdungsgefühle und Affekteinschränkungen, Übererregbarkeit, Ein- und Durchschlafstörungen, Reizbarkeit und Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz und verstärkte Schreckhaftigkeit. Auf der Ebene der hormonellen Regulation lassen sich bei PTSD-Patienten Veränderungen des HPA-Systems, des SAM-Systems sowie des 148 endogenen Opiatsystems nachweisen. Bei PTSD-Patienten mit unterschiedlicher Traumatisierung (Kriegserfahrung, sexueller Missbrauch in der Kindheit etc.) wurde im Vergleich zu Gesunden und anderen psychiatrischen Patienten ein erhöhter CRF-Spiegel in der Zerebrospinalflüssigkeit, eine verringerte ACTH-Freisetzung, eine erhöhte Anzahl von Glucocorticoid-Rezeptoren auf Lymphozyten und eine reduzierte CortisolFreisetzung nach Stimulation durch CRF nachgewiesen (Yehuda et al., 1993, Bremmer et al., 2000, Sapolsky, 2000). Die zentrale und periphere Freisetzung von Katecholaminen (Noradrenalin, Adrenalin) ist erhöht. Gleichzeitig findet sich bei diesen Patienten eine starke Reduktion der Alpha-2-adrenergenen Rezeptoren. Yohimbin, ein alpha-2-Rezeptorantago-nist, der eine verstärkte Freisetzung von Katecholaminen hervorruft, löst bei PTSD-Patienten Panikattacken und Flashbacks aus, jedoch nicht bei Gesunden. Mit der erhöhten Freisetzung von CRF und Noradrenalin kommt es auch zu einer vermehrten Bildung und Abgaben von Beta-Endorphinen, die mit einer Minderung der Schmerzempfindungen einhergeht (Julien, 1997). Bisher durchgeführte PET-Untersuchungen zeigten bei PTSD-Patienten während der Präsentation Trauma-relevanten Materials oder imaginierter traumatischer Geschehnisse eine rechtsseitige Erhöhung des Blutflusses im Gyrus cinguli und der Amygdala, bei gleichzeitig linksseitiger Blutflusserniedrigung besonders in der Gegend des Brocca-Areals (Shin et al., 1997). Hirnstrommessungen bei visuellen und auditorischen Aufgaben ergaben eine verzögerte N2- und eine reduzierte P3-Amplitude, die als Schwierigkeit gedeutet werden, zwischen relevanten und irrelevanten Reizen zu unterscheiden (Ehlert et al., 1999). 149 Diese bei PTSD-Patienten beobachteten Phänomene beschreiben nur in groben Zügen das Spektrum der nach schweren, unkontrollierbaren Belastungen besonders häufig auftretenden und mit gegenwärtigen Methoden besonders gut messbaren Veränderungen. Es handelt sich hierbei nicht um neurobiologische oder neuroendokrine Ursachen der als PTSD bezeichneten Erkrankung, sondern um Anpassung neurobiologi-scher Verarbeitungsprozesse und neuroendokriner Regelmechanismen an eine langanhaltende, auf andere Weise nicht bewältigbare Stressreaktion. 4. Individuelle Vulnerabilität und protektive Faktoren Die Intensität, die Dauer und damit auch die Folgen der durch eine schwere psychische Belastung ausgelösten neuroendokrinen Stressreaktion hängt von der individuellen Bewertung ab. Diese Bewertung wiederum wird ganz entscheidend von den Erfahrungen bestimmt, die die betreffende Person bis zu diesem Zeitpunkt machen konnte. Hier spielen insbesondere frühe Kindheitserfahrungen eine ausschlaggebende Rolle (Bindungssicherheit, Erfahrungen eigener Kompetenz, innere Orientierung, soziale Einbettung, übernommene Grundhaltungen und Grundüberzeugungen, Wertmaßstäbe und Reaktionsmuster). Auch die Art des erlebten Traumas und situative Gegebenheiten sind für die individuelle Bewertung von Bedeutung. Am schwersten verarbeitbar sind Erfahrungen der eigenen Ohnmacht und des Ausgeliefertseins immer dann, wenn das Trauma durch andere Menschen ausgelöst wird und wenn das Opfer sich zudem emotional mit diesen Menschen verbunden fühlt (z.B. Missbrauch oder Vergewaltigung durch Angehörige, Gewalt, Folter und Vertreibung durch 150 Mitglieder einer bis dahin intakten Lebensgemeinschaft, etwa im Fall von sog. Bürger- und Glaubenskriegen), wenn psychosoziale Unterstützung fehlt (Isolation), wenn die bisherige Sinngebung der eigenen Lebensgestaltung zerstört wird (Glaube, Liebe, Hoffnung) und wenn mehrere traumatische Erfahrungen aufeinander folgen (multiple Traumatisierung). Besonders groß wird die Gefahr der Ausbildung posttraumatischer Störungen bei solchen Menschen, die nach einer schweren primären Traumatisierung durch Flucht und Vertreibung aus ihrem bisherigen, Sicherheit bietenden Lebenskreis herausgerissen werden und denen anschließend keine Möglichkeit geboten wird, das Trauma zu verarbeiten, eine neue eigene Lebensperspektive zu entwickeln und sich in eine neue soziale Gemeinschaft zu integrieren. Wenn solche Menschen in ihrem neuen Lebenskreis auf Ablehnung und Unverständnis stoßen und womöglich sogar mit erneuter Vertreibung bedroht werden, ist eine sekundäre Traumatisierung mit all ihren destabilisierenden, langfristigen und schwer zu behandelnden Folgen hochwahrscheinlich (vgl. Hüther 2001). Literaturverzeichnis Bremner, J.D., Ma. Narayan, E.R. Anderson, L.H. Staib, H.L. Miller und D.S. Charney (2000): “Hippocampal volume reduction in major depression“, American Journal of Psychiatry 157: 115-117. Ehlert, U., D. Wagner, M. Heinrichs und C. Heim (1999): “Psychobiologische Aspekte der posttraumatischen Belastungsstörungen“, Nervenarzt 70: 773-779. 151 Huether, G.: “The central adaptation syndrome: Psychosocial stress as a triger for adaptive modifications of brain structure and brain function“, Prog. Neurobiol. 48: 569-612, (1996). Huether, G.: “Biologie der Angst“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, (1997). Huether, G.: “Stress and the adaptive self-organization of neuronal connectivity during early childhood“, Developm. Neurosci. 16: 297-306, (1998). Huether, G.: “Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, (2001). Huether, G., L. Adler, E. Rüther: “Die neurobiologische Verankerung psychosozialer Erfahrungen“, Zsch. Psychosom. Med. 45: 2-17, (1999a). Huether G., S. Doering, U. Rüger, E. Rüther, G. Schüssler: “The stressreaction process and the adaptive modification and reorganization of neuronal networks“, Psychiatry Research 83-95, (1999b). Julien, R.M.: “Drogen und Psychopharmaka“, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, (1997). Kim, J.J. und K.S. Yoon: “Stress: metaplastic effects in the hippocampus“, Trends in Neurosciences 21: 505-509, (1998). LeDoux, J.: “Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen“, Carl Hanser Verlag, München-Wien, (1998). Newcomer, J.W., G. Selke, A.K. Melson, T. Hershex, S. Craft, K. Richards und A.L: Anderson: “Decreased memory performance in healthy 152 humans induced by stress-level cortisol treatment“, Archives of General Psychiatry 56: 527-533, (1999). Sapolsky, R.M.: “Glucocorticoids and hippocampal atrophy in neuropsychiatric disorders“, Arch. Gen. Psychiatry 57: 925-935, (2000). Shin, L.M., S.M. Kosslyn, R.J. McNally, N.M. Alpert, W.L. Thompson, S.C. Rrauch, M.L. Macklin und R.K. Ptman: “Visual imagery and perception in posttraumatic stress disorder. A positron emission tomographic investigation“, Arch. Gen. Psychiatry 54: 233-241, (1997). Yehuda, R., E.L. Giller und J.W. Mason: “Psychoneuroendocrine assessment of posttraumatic stress disorder“, Progress in NeuroPsychopharmacology and Biological Psychiatry 17: 541-550, (1993). 153 154 Psychotherapie und Medizin im Rahmen des Ausländerrechts Dr. H.-Jochen Zenker, Gesundheitsamt Bremen Medizinische und psychologische Beratung, Diagnostik, Therapie und Begutachtung kommen in verschiedenen Bereichen des Ausländerrechts zur Anwendung. Außerdem schreibt das seit 01.01.2001 gültige Infektionsschutzgesetz (IfSG) spezifische Maßnahmen für einreisende Ausländer vor. Sowohl das Asylverfahrensgesetz (§ 62) als auch das IfSG gehen ausschließlich vom epidemiologisch kaum begründbaren Seuchenschutzprinzip aus. Ein Erstberatungs- und Behandlungsangebot für einreisende Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge auf freiwilliger Basis (Bremer Modell) ist aus den bestehenden Gesetzen nicht abzuleiten. Auch das 1993 eingeführte und 1997 novellierte Asylbewerberleistungsgesetz begrenzt die medizinischen und psychologischen Versorgungsmöglichkeiten. Die Intention des Gesetzgebers war die deutliche Schlechterstellung der Zielgruppe im Vergleich zur Krankenhilfe bei Sozialhilfeempfängern. Von einigen Experten wird darin ein Verstoß gegen das Grundgesetz gesehen. Das medizinische Leistungsspektrum wird auf akute Erkrankungen wie zum Beispiel Schmerzbehandlungen oder Hilfen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt sowie sonstige Leistungen zur Sicherung der Gesundheit (§§ 4 und 6 Asylbewerberleistungsgesetz) reduziert. Die vom Gesetzgeber geforderte Differenzierung nach akut-chronisch, unaufschiebbar, nicht dringlich bzw. zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich, nicht unbedingt notwendig, entspricht nicht den Entscheidungs- und Handlungsmustern unseres Versorgungssystems, 155 da bei vielen Krankheitsbildern und Verläufen (z.B. Diabetes, Epilepsie etc.) diese Unterscheidung nicht möglich ist. Außerdem verhindert der gesetzliche Rahmen außer Impfungen Ansätze sinnvoller Präventionsmaßnahmen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Wirklichkeit der medizinischen und psychologischen Versorgung zumindestens im somatischen Bereich besser ist als vom Gesetzgeber intendiert, da sich das Versorgungssystem pragmatisch über die vorgegebenen Restriktionen hinweg setzt. Diese Tatsache darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach wie vor an spezifischen Angeboten für Migranten z.B. im Sektor der Sprachvermittlung mangelt. Im Folgenden wird vertieft auf medizinisches und psychologisches Handeln vor dem Hintergrund des Ausländergesetzes eingegangen. Flüchtlinge, die zwangsweise in ihre Heimat zurückgeführt werden sollen, haben nach § 53 Abs. 6 und § 55 Ausländergesetz die Möglichkeit, bei einer hierzulande zu behandelnden Erkrankung eine Verlängerung der Duldung zu erreichen. Bei Patienten mit schweren bzw. unheilbaren Erkrankungen aus dem somatischen Bereich kommen die wiederholten Aufenthaltsverlängerungen einem Bleiberecht gleich. Bei Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen wie z.B. Patienten, die an einem posttraumatischen Stresssyndrom (PTSD) leiden, ist die Situation sehr viel schwieriger. Kritiker konstatieren, dass sie gar nicht gesund werden können, da sie dann aus dem Lande ausgewiesen würden. Sie müssen krank bleiben, um sich nicht der Gefahr einer Retraumatisierung im Heimatland auszusetzen. Dieses “nicht-gesundwerden-können/dürfen” stellt ein großes Problem dar, welches nicht zuletzt ethische Fragen aufwirft. Hinzu kommt, dass kurzfristige Duldun- 156 gen psychosoziale Beratung und Therapie extrem erschweren, da den betroffenen Migranten die existenzielle und emotionale Sicherheit fehlt, die eine wesentliche Voraussetzung für die Linderung ihrer Beschwerden darstellt. Hier besteht für Behandler wie Gutachter die Gefahr der Instrumentalisierung durch das Ausländerrecht, die Ausländerbehörden, aber auch durch die betroffene Klientel und die sie vertretenden Initiativen und Anwälte. Im Folgenden wird am Beispiel einer 47-jährigen Frau gezeigt, wie kriegsbedingte Störungen ausländerrechtlich beurteilt werden. Der niedergelassene Arzt der Patientin bestätigte, dass sie im Bosnien-Krieg während eines Lageraufenthaltes gefoltert, misshandelt und vergewaltigt wurde. Seitdem leide sie an Angstzuständen und Depressionen. Eine psychiatrische Behandlung sei unbedingt erforderlich, aber wegen Unkenntnis der deutschen Sprache nicht möglich. Der niedergelassene Internist entschied sich deshalb, selbst psychiatrische Gespräche mit der Klientin zu führen. Er attestierte, dass eine Psychotherapie wahrscheinlich lebenslang notwendig ist. In der Ausländerakte wird vermerkt, dass eine Behandlung auch in Bosnien-Herzegowina möglich ist. Außerdem könne besser geholfen werden, wenn die Therapie in der Heimatsprache erfolgt. Als weitere Begründung für die Rückführungsmöglichkeit der Klientin wird deren Teilnahme an einer Orientierungsfahrt angeführt. In den ersten Jahren des Aufenthaltes in Deutschland, insbesondere bis zum sogenannten Trauma-Erlass Ende 1995, ging die Patientin in keine psychiatrische Behandlung. Daraus leitet die Ausländerbehörde eine Weigerung ab und forderte die Klientin zur Ausreise auf. Bemerkenswert ist, wie Sachbearbeiter von Ausländerbehörden sich über die Zuhilfenahme 157 von medizinischen Lexika etc. versuchen sachkundig zu machen, ohne Beratung und professionellen Sachverstand einzubeziehen. So wird konstatiert und in der Akte festgehalten, dass Angstzustände und Depressionen grundsätzlich in Bosnien-Herzegowina behandelbar seien, ebenso werden Informationen über die vom Hausarzt verordneten Medikamente eingeholt. Da die Klientin angab, interniert gewesen und gefoltert bzw. vergewaltigt worden zu sein, wird beim Internationalen Roten Kreuz in Zagreb nachgefragt, ob sie dort registriert wurde. In einem Antwortbrief des ICRC wurde die Registrierung verneint, aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Rote Kreuz nicht in der Lage war, alle Lager aufzusuchen, das heißt, eine fehlende Registrierung bedeute nicht, dass jemand nicht interniert und misshandelt wurde. Dieser Hinweis wird vom Ausländeramt nicht zur Kenntnis genommen. Sie wird nicht nach ErlassLage anerkannt, eine Ausreiseverfügung erstellt. Es folgen Anfragen beim Auswärtigen Amt, ob die vom Hausarzt verordneten Medikamente in Bosnien-Herzegowina erhältlich seien. Ebenso wird bei der Deutschen Botschaft in Sarajevo angefragt. Den Antworten ist zu entnehmen, dass nur in allgemeiner Form Stellung bezogen werden kann. Manche Medikamente seien erhältlich, jedoch “detaillierte Fragen etwa zur Verfügbarkeit bestimmter Medikamente an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten oder zur Vermittlung von Dialyse-, Altenheim- und Pflegeplätzen übersteigen bei weitem die Möglichkeiten der Botschaft”. Es folgt eine Ausreiseverfügung, die Klientin legt Widerspruch ein. Nach mehreren Duldungsverlängerungen im Abstand von 3 bis 6 Monaten wird sie zur Begutachtung beim zuständigen Gesundheitsamt vorgestellt. 158 Ergebnis des Gutachtens: Frau X. ist alleinstehend, bis auf Verwandte in Schweden und USA wurde ihre aus Visegrad stammende Familie während des Bosnien-Krieges umgebracht. Frau X. selbst wurde während eines Lageraufenthaltes gefoltert, misshandelt und vergewaltigt. Bereits kurze Zeit nach der Einreise in die Bundesrepublik zeigte Frau X. Beschwerden einer schwersten posttraumatischen Belastungsstörung. Damals standen eine massive motorische Unruhe, eine tiefe Depression, Angstzustände mit Alpträumen und Konzentrationsstörungen im Vordergrund. Die Folgen der Traumatisierung machten es Frau X. unmöglich, frühzeitig die eigentlich notwendige Beratung und Psychotherapie anzunehmen. Erst Anfang 1999 fand sie den Weg zum Therapiezentrum A. Nach Entbindung von der Schweigepflicht bestätigten mir die dort tätige Therapeutin ebenso wie der Hausarzt, dass Frau X. auch heute noch als schwerst traumatisiert und behandlungsbedürftig anzusehen ist. Die Reisefähigkeit von Frau X. ist auf absehbare Zeit, wahrscheinlich auf Dauer, ausgeschlossen. Die Rückkehr wäre mit der Gefahr der Retraumatisierung im Sinne psychischer Dekompensation verbunden. Nach aller fachlichen Erfahrung ist eine erneute Untersuchung nicht vor Ablauf von 12 Monaten sinnvoll. Frau X. wurden die Möglichkeiten weiterer beratender und therapeutischer Hilfen erläutert. Dr. Y. Arzt für Psychiatrie Gesundheitsamt Z. 159 Die Probleme, denen sich ein Gutachter, insbesondere bei traumatisierten Flüchtlingen, stellen muss, sind die folgenden: Er wird konfrontiert mit der Forderung, die Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Während der Begutachtung besteht eine Retraumatisierungsgefahr, berufsethische Grundsätze und seine medizinisch-psychologische Sozialisation qualifizieren ihn eher, Fragen zur Diagnostik und Behandlung und weniger zur Reisefähigkeit zu beantworten. In diesem Feld besteht eine erhebliche Gefahr der Instrumentalisierung. Brisant ist die Tatsache, dass sich der Gutachter bewusst sein muss, bei fälschlicherweise angenommenem Fehlen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit dazu beizutragen, dass ein Mensch in eine extrem retraumatisierende Lebenssituation zurückgeschickt wird. Eine zum Thema Reisefähigkeitsgutachten unternommene Recherche in acht europäischen Ländern (Schweden, Dänemark, Norwegen, Niederlande, Deutschland, Schweiz, Frankreich und Großbritannien) kam zu dem Ergebnis, dass annähernd gleiche verfassungs- und ausländerrechtliche Regelungen bestehen. Die Bereitschaft, Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen, ist unterschiedlich. Krankheit wird in allen Staaten als Abschiebehindernis anerkannt. Die Praxis ist jedoch gekennzeichnet durch ein weites Spektrum: Von der umfassenden Bewertung der Erkrankung und der Lebensumstände der Betroffenen (sowohl im Gast- als auch im Heimatland) bis hin zur alleinigen Begutachtung der Transportfähigkeit. Ebenso werden in manchen Ländern hausbzw. spezialärztliche Atteste ohne weitere Begutachtung anerkannt, es gibt jedoch auch Länder, in denen Ärzte der Gesundheitsfachverwaltung 160 bzw. “geeignete” (Polizei)-Ärzte eingeschaltet werden. Fachliche Empfehlungen bzw. politische Stellungnahmen der jeweiligen nationalen Ärztekammern gibt es nur in der Schweiz und in Deutschland. So hat bereits der Deutsche Ärztetag 1998 festgestellt: “Da eine Rückführung der Flüchtlinge zu einem Zeitpunkt noch bestehender Lebensunsicherheit ärztlich nicht vertretbar ist, sollte sie in diesen besonderen Fällen erst dann erfolgen, wenn die Gefahr einer erneuten Traumatisierung nicht mehr gegeben ist.” Viele begutachtende Psychologen und Ärzte sehen sich nicht nur an ihre Berufsethik und das Berufsrecht gebunden, sondern zum Beispiel auch an die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte. Dort ist aus dem Artikel 3 abzuleiten, dass es eine Menschenrechtsverletzung darstellt, wenn ein Mensch, der unter hiesigen Bedingungen medizinische Hilfe erfährt, in ein Land zurückkehren muss, welches ein niedriges Gesundheitsniveau hat. Die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte ist auch in der Bundesrepublik in nationales Recht zu überführen. Wegen der nicht unerheblichen fachlichen und ethischen Komplikationen, die das Thema gesundheitliche Begutachtung von Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlingen beinhalten, hat das Gesundheitsamt in Bremen seine Psychologen und Ärzte weitergebildet und Grundsätze formuliert. 161 1. Amtsärztliche “Reisefähigkeits”-Gutachten bei Migranten gehen der Frage nach, ob eine gesundheitliche Störung im Sinne des Ausländergesetzes (§ 53 Abs. 6) oder etwaige gesundheitliche Folgen körperlicher und seelischer Art, die sich aus der Abschiebung ergeben können, ein Abschiebehindernis darstellen. 2. Aus Sicht moderner medizinischer Behandlungsmöglichkeiten stellt sich im Rahmen der Reisefähigkeitsbegutachtung die Frage nach der Transportfähigkeit im engeren Sinne nicht. 3. Die Beurteilung der Reisefähigkeit erfordert umfangreiche Qualifikation, Erfahrung und die Fähigkeit des Gutachters, seinen Auftrag und seine Rolle kontinuierlich zu reflektieren. 4. Amtliche ärztliche Gutachten bei Migranten führt nur das Gesundheitsamt durch, da es über die notwendige institutionelle Fachlichkeit, Objektivität und Neutralität verfügt. 5. Die besondere Schwierigkeit bei der Begutachtung zur Reisefähigkeit liegt in dem Interessengegensatz zwischen den Auftraggebern, in der Regel den Ausländerbehörden, und den zu Begutachtenden und / oder ihren rechtlichen Vertretern. Der amtsärztliche Gutachter ist diesen Interessengegensätzen ausgesetzt, er muss sich der Gefahr einer Instrumentalisierung bewusst sein. 6. Der amtsärztliche Gutachter beurteilt die Krankengeschichte, den Gesundheitszustand und die Glaubwürdigkeit der zu untersuchenden Person nach bestem Wissen und Gewissen und unter den Bedingungen der aktuellen Versorgung in Deutschland. Einbezogen werden verlässliche Kenntnisse über die Infrastruktur des Gesundheitswesens im Heimatland des zu Begutachtenden. Berücksichtigt werden auch die Schilderungen über Vorerfahrungen des 162 Betroffenen im Herkunftsland. 7. Bei der Untersuchung von Migranten wird der Gutachter – wie bei allen Begutachtungsvorgängen – zunächst sowohl anamnestische Angaben und geklagte Beschwerden der Probanden als auch schriftlich vorgelegte Atteste und Befunde als Grundlage für seine Begutachtung heranziehen. Darüber hinaus geht das Gesundheitsamt davon aus, dass ihm alle, beim Auftraggeber vorhandenen, für die Begutachtung wichtigen schriftlichen Unterlagen und Informationen zugänglich gemacht werden. Darauf aufbauend folgt der Gutachter dem Prinzip, durch eigene Anschauung und Auseinandersetzung mit den schriftlichen Unterlagen Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten zu überprüfen und zu einer eigenständigen Bewertung des Beschwerdebildes oder Krankheitsverlaufes zu kommen. Sollte dies nicht mit letzter, objektiv nachzuweisender Exaktheit möglich sein, wird der Gutachter im Zweifelsfall die Maßnahmen vorschlagen, die aus ärztlicher Sicht eine Minimierung der Gesundheitsgefährdungen zum Ziel haben. 8. Grundsätzlich reicht die Begutachtung der einzelnen Person, bei Bedarf ist das soziale Beziehungs- und Unterstützungssystem einzubeziehen. 9. Amtsärztliche Gutachten sind an die Bereitstellung ausreichender Sprachvermittlung gebunden. 10. Grundlage der Begutachtung ist der Standard an Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik auf dem Boden des Asylbewerberleistungsgesetzes. 163 11. Für direkte Unterstützung bei Abschiebevorgängen, beispielsweise als Begleiterinnen oder Begleiter auf dem Transport, stehen Mitarbeiter des Gesundheitsamtes nicht zur Verfügung. Schlussfolgerungen: Verantwortung sollte immer dort übernommen werden, wo sie hingehört: Die Flüchtlingsfrage ist primär eine politische, sekundär eine humanitäre und tertiär eine medizinisch-psychologische. Eine Umkehr der Verantwortungs- und Entscheidungshierarchie ist immer mit der Gefahr einer Instrumentalisierung verbunden. Es wird dringend empfohlen, auf regionaler und nationaler Ebene Projektgruppen bzw. Qualitätszirkel einzurichten, die sich aus Vertretern des Bundesamtes, der örtlichen Ausländerbehörden, der Verwaltungsgerichte, der Ärztekammern, der begutachtenden Ärzte und der Beratungs- und Therapiezentren für traumatisierte Flüchtlinge zusammensetzen. 164 Dokumentation der Fachtagung „Traumatisierte Flüchtlinge im Asylverfahren“ Helge Margaret Knipping Jean Améry: “Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt”. I. Einleitung Für Menschen, die Folter, schwere Misshandlungen, physische und psychische Erniedrigung erlebt haben, ist danach nichts mehr, wie es einmal war. Gefühle wie Vertrauen und Sicherheit existieren nicht mehr. Im Bereich des asyl- und ausländerrechtlichen Verfahrens tragen immer mehr Flüchtlinge vor, auf Grund dieser psychischen und physischen Erlebnisse unter traumatischen Erfahrungen zu leiden. Behörden und zum Teil auch Politiker müssen sich mit einer komplexen Fragestellung auseinander setzen, bei der neben rechtlichen auch medizinische und psychologische Aspekte eine wesentliche Bedeutung haben. Auf Anregung der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, Frau Dr. Sonntag-Wolgast, hat das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 26.04.2001 eine Fachtagung zu dem Thema: 165 “Traumatisierte Flüchtlinge, Psychopathologie und Handlungsbedarf, praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Grundlagen bei Diagnostik und Behandlung” durchgeführt. Die Veranstaltung richtete sich an Vertreter aus Politik und Praxis, die sich im Bereich des Asyl- und Ausländerrechts mit traumatisierten Flüchtlingen und ihren besonderen Problemen auseinander setzen. Medizinische und psychologische Experten haben umfassend zu den unterschiedlichen Formen von Traumata, den Möglichkeiten ihrer Erkennbarkeit und Behandelbarkeit informiert. Die Themen beschäftigten sich im Einzelnen mit folgenden Problemstellungen: 1. dem Begriff des Traumas im interkulturellen Kontext (Dr. Mehari, PSZ-Frankfurt), 2. der Verifizierung von psychischen Folgeschäden nach Extremtraumatisierung, der Feststellung sowie den Behandlungsmöglichkeiten, der Glaubhaftigkeit von Ereignisberichten, anhand von Fallstudien (Dietrich Koch, Elise Bittenbinder, Xenion-Berlin), 3. den Krankheitsbildern und ihrer Diagnostik, der Untersuchung und Begutachtung von posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Folgeschäden (Dr. Waltraud Wirtgen, REFUGIO-München; Dr. Ferdinand Haenel, BZFo-Berlin), 166 4. dem Stand der neurowissenschaftlichen Forschungen zu traumatischen Erinnerungen (Prof. Dr. Gerald Hüther, Universität Göttingen), 5. medizinischen und psychotherapeutischen Problemen im Rahmen des Ausländerrechts (Dr. Jochen Zenker, Gesundheitsamt Bremen), 6. mit den Notwendigkeiten für Verfahren, Aufenthalt und Behandlung aus Sicht der Psychosozialen- und Behandlungszentren (Statements der Referenten – vgl. Zusammenfassung der Vorträge II.). Die nachfolgende Zusammenfassung enthält kurz die wesentlichen Inhalte (II.) der einzelnen Vorträge, verbunden mit den Empfehlungen (II.) der Referenten für die Praxis, einschließlich der sich anschließenden Tagungsdiskussion (III.) mit den Ergebnissen (IV.) für das zukünftige Verfahren. II. Wesentliche Inhalte der Vorträge/Empfehlungen der Referenten mit den Notwendigkeiten für Verfahren, Aufenthalt und Behandlung aus Sicht der Psychosozialen- und Behandlungszentren (vgl. I. 6.) 167 1. Der Begriff des Traumas im interkulturellen Kontext (Dr. Mehari, PSZ-Frankfurt) Menschen werden weltweit misshandelt und gefoltert und in elementaren Menschenrechten verletzt. Immer wurde Folter dazu benutzt, Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen, psychisch, physisch und pharmakologisch. Das Erleben von Folter kann bei den betroffenen Menschen zu einer Traumatisierung führen (Trauma: Wunde, Verletzung). Betroffene leben in dem Konflikt, Ereignisse zu verdrängen und sie andererseits angemessen zu verarbeiten. Die Psychotraumatologie als neues Forschungsgebiet der Psychologie befasst sich mit Fragen der kulturspezifischen Diagnostik, angemessenen Interventions- und Behandlungsansätzen sowie mit der Sensibilisierung der Gesellschaft. Dabei kommt der kulturspezifischen Diagnostik besondere Bedeutung, aber auf Grund der Vielfalt der Kulturen auch eine besondere Schwierigkeit zu. Behandlungsmethoden und Therapien müssen entsprechend entwickelt werden. Empfehlungen von Dr. Mehari für die Praxis: - Aus Rückmeldungen von Klienten über die Anhörung zeigt sich, dass der Zugang zur Erlebniswelt traumatisierter Menschen vielfach schwierig ist. - Um den Zugang zu ihnen zu finden, bedarf es einer inneren Haltung, die traumatisierten Menschen deutlich macht, dass sie respektiert, geachtet und geschätzt werden. 168 - Das Wissen über Traumata/Traumatisierung muss intensiviert werden, um die damit verbundenen schwierig zu bewertenden verschiedenen Verhaltensweisen besser verstehen zu können, größere Kompetenz auch bei Fachleuten ist dazu notwendig. - Zu einem besseren Verständnis der unterschiedlichen Kulturen ist Schulung zu den sozio-kulturellen Hintergründen notwendig. 2. Die Verifizierung von psychischen Folgeschäden nach Extremtraumatisierung, ihre Feststellung sowie Behandlungsmöglichkeiten, die Glaubhaftigkeit von Ereignisberichten, anhand von Fallstudien (Elise Bittenbinder, Dietrich Koch, Xenion Berlin) Bei der Schwierigkeit, psychische Folgeschäden nach Extremtraumatisierung zu verifizieren, steht die Verantwortung für die betroffenen Menschen im Vordergrund. Nicht jedes Trauma führt zu einer länger anhaltenden klinischen Erkrankung. In der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen bestehen erhebliche individuelle Unterschiede. Stabilisierende Faktoren für Leben und Situation der Asylbewerber sind eine wesentliche Hilfe in diesem Verarbeitungsprozess. Die Durchführung der Anhörung unmittelbar nach der Ankunft in Deutschland kann für Menschen mit schweren traumatischen Erlebnissen zu einer Wiederbelebung des Schrecklichen führen, das noch nicht verarbeitet worden ist. Aus diesem Grund können sie sich oftmals erst nach sehr langer Zeit zu ihren Erlebnissen äußern. Entsprechende Fälle erfordern oftmals einen größeren Zeitaufwand, der nach Ansicht des Referenten eingeräumt werden sollte. 169 Der Verarbeitungsprozess bei Folteropfern ist sehr schwierig, es wird viel Zeit und Geduld benötigt, um diesen Prozess überhaupt einzuleiten und zu begleiten. Menschen mit traumatischen Erlebnissen stellen daher hohe Anforderungen an alle Verfahrensbeteiligten. Ihre Schicksale können auch zu seelischen Belastungen der Verfahrensbeteiligten (insbesondere der EE) führen, für die eine Entlastung angeboten werden sollte (Supervision). Traumaschäden können diagnostiziert werden durch wissenschaftlich abgesicherte internationale Diagnosestandards. Die Diagnose kann nur von entsprechend ausgebildeten Fachleuten getroffen werden. In diesem Bereich ist verstärkter Fortbildungsaufwand für ausgebildete Fachleute notwendig, insbesondere auch in Hinsicht auf interkulturelle Faktoren. Die Kommunikation zwischen Psychologen, Juristen und Verwaltungspraktikern, basierend auf Kompatibilitätsproblemen bedingt durch unterschiedliche Denk- und Begriffssysteme, müsste in stärkerem direkten Austausch verbessert werden. Empfehlungen von Herrn Koch für die Praxis: - Es gibt keine Regel, einen traumatisierten Menschen zu erkennen. Derjenige, der entsprechende Symptome zeigt, kann ebenso glaubhaft sein wie derjenige, der über sein erlebtes Schicksal flüssig erzählen kann. Es gibt kein standardisierbares Verhaltensmuster. - Die posttraumatische Symptomatik z.B. die PTBS, sollte sehr früh 170 im Asylverfahren erkannt werden, um sie entsprechend bewerten zu können. Es wäre sinnvoll, Experten bereits im Vorfeld zu einer Untersuchung hinzu zu ziehen. - Das Verfahren mit traumatisierten Flüchtlingen stellt eine große Belastung auch für die betroffenen Entscheider dar. Schutz durch Supervision als aktive Burnout-Prophylaxe ist daher sinnvoll. Empfehlungen von Frau Bittenbinder für die Praxis: - Flüchtlinge sollten ihre Erlebnisse und Erfahrungen besser in das Verfahren einbringen können, so zum Beispiel auch auf schriftlichem Wege, wie in Kanada, unter Zuhilfenahme fachlicher Unterstützung und Beratung. Ein solches Verfahren könnte den Druck mindern und es erleichtern, sich über Erlebtes zu äußern. - Informationen, die sich aus der Beratung und Behandlung im Nachhinein (nach Abschluss der Anhörung oder des Verfahrens) ergeben, müssten leichter in das Verfahren eingebracht werden können. Die rechtlichen Hürden erschweren die Arbeit. Diese rechtlichen und bürokratischen Schwierigkeiten müssten überwunden werden, um die Arbeit zu vereinfachen und zu erleichtern. - Zur Begutachtung traumatisierter Menschen müssten Fachleute ausgebildet werden, die diese Aufgabe übernehmen, damit die Zentren sich wieder vorrangig ihrer eigentlichen Aufgabe, der Behandlung Traumatisierter widmen können. 171 3. Die Krankheitsbilder und ihre Diagnostik, die Untersuchung und Begutachtung von posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Folgeschäden (Dr. Waltraud Wirtgen, REFUGIO München, Dr. Ferdinand Haenel, BZFo Berlin) Psychische Störungen auf Grund von Folter führen bei Flüchtlingen vielfach zu einer posttraumatischen Belastungsstörung oder zu einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extremtrauma. Solchermaßen festgestellte Diagnosen können nicht uneingeschränkt auf alle betroffenen Flüchtlinge angewendet werden, da auf Grund der Vielzahl der Kulturen und Foltermethoden die Leiden über die beschriebenen Kriterien hinaus gehen und sich auf unterschiedliche Art zeigen können. Problematisch in der Diagnose, Therapie und in der Bundesamtsanhörung ist, dass betroffene Menschen auf Grund des Vermeidungs- und Verdrängungsverhaltens, das aber zum Überleben für sie notwendig wird, in der Wahrnehmung und Erinnerung gestört sind. Diese Symptome behindern auch die gutachterliche Exploration mit der Folge, dass Fehlbeurteilungen möglich sind. Damit Gutachter selbst nicht in Extreme zwischen Empathie und Distanz verfallen, sollten sie “durch größtmögliche Emphatie im Verbund mit größtmöglicher Distanz“ oder mit “kontrollierter Identifikation” handeln. Die Exploration traumatisierter Menschen sollte schonend erfolgen, mit dem Ziel, die Gesprächsbereitschaft des Asylbewerbers zu erhöhen und Verständnis für diese Situation auf Seiten des Befragers zu stärken. Für eine Therapie wird als Voraussetzung das Erkennen einer Traumatisie- 172 rung verbunden mit einem gefestigten Aufenthaltsstatus gefordert, da ansonsten keine sinnvolle Durchführung möglich ist. Die Erkennung psychischer Folterfolgen setzt psychiatrische Fachkompetenz und Informationen über politische und kulturelle Hintergründe des Herkunftslandes voraus. Empfehlungen von Dr. Haenel für die Praxis: - Traumatisierte Flüchtlinge benötigen psychosoziale, therapeutische und medizinische Unterstützung. Diese ist nur sinnvoll bei einer verfestigten aufenthaltsrechtlichen Situation, die Angst vor einer drohenden Abschiebung macht die Therapie unmöglich. - Um traumatisierten Flüchtlingen gerecht werden zu können, wird eine modifizierte Verfahrensweise empfohlen: sind in der Anhörung Anzeichen für eine Traumatisierung durch Folter oder Krieg erkennbar, sollte ein Gutachter hinzu gezogen werden. - Außerdem ist ein höherer Zeitaufwand für die Anhörung notwendig. Im Falle positiver Entscheidungen des Bundesamtes bei nachgewiesener Folter sollte der Bundesbeauftragte keine Berechtigung haben, ein Rechtsmittel dagegen einzulegen, denn dadurch werden traumatisierte Flüchtlinge erneut schockiert und eventuell retraumatisiert. 173 Empfehlungen von Frau Dr. Wirtgen für die Praxis: - Um traumatisierten Flüchtlingen im Verfahren und in ihrer schwierigen Lage gerecht zu werden, sollte eine Verfahrensberatung im Vorfeld stattfinden (z.B. schaut sich in Ludwigsburg eine fachlich ausgebildete Kollegin die neu ankommenden Flüchtlinge an, die Beratung und Zusammenarbeit mit dem Bundesamt führt nach Auskunft der Referentin zu einer Straffung der Verfahrensweise mit positivem Verfahrensausgang). Die psychosozialen Zentren fordern eine solche Beratung bereits seit 4-5 Jahren. Eine Begutachtung von Traumatisierten vor der drohenden Abschiebung könnte so vermieden werden. - In vielen Fällen müssten entsprechend qualifizierte und ausgebildete Fachleute als Gutachter hinzu gezogen werden. Polizeiärzte werden mangels einer entsprechenden Fachausbildung wegen der komplexen Probleme in der Regel nicht als Gutachter hinzu gezogen. - Bei einer Standardisierung von Gutachten sollten speziell für diese schwierigen Fälle qualifizierte Fachleute hinzu gezogen werden. Die Verantwortung gegenüber traumatisierten Flüchtlingen erfordert ein sorgfältiges Verfahren. Außerdem sollte eine nochmalige Überprüfung von Gutachten der PSZ durch eine zusätzliche Bewertung nicht zur Regel werden. - Eine Kostentragung der therapeutischen Behandlung müsste geregelt werden, diese Behandlungen werden vom Asylbewerberleistungsgesetz nicht erfasst. 174 4. Der Stand der neurowissenschaftlichen Forschungen zu traumatischen Erinnerungen (Prof. Dr. Gerald Hüter, Göttingen) In der medizinischen - speziell neurowissenschaftlichen - Forschung zur Problematik der traumatischen Erinnerungen wurde herausgefunden, dass sich bei traumatisierten Menschen die traumatisierenden Symptome verschlimmern, wenn sie in unkontrollierte Belastungssituationen kommen. Angst und Stress verstärken sich. Wenn zur Angstbewältigung keine Lösungen mehr vorhanden sind, werden innerlich eigene Lösungen gesucht: es erfolgt eine Abspaltung des einen Ichs vom andern Ich, es kommt zu Wahrnehmungs- und Erinnerungsstörungen. Wenn das Ich weiter verletzt wird, besteht letztendlich nur der Ausweg in der Selbstverletzung. Ruhe nach normalen Maßstäben zu finden, ist nicht mehr möglich. Es muss zunächst eine sichere emotionale Basis gefunden werden. Insbesondere für Kinder ist diese wichtig, fehlt sie, dann bleiben im ganzen Leben die Wahrnehmungen gestört. Eine Objektivierung der subjektiven Empfindungen ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Empfehlungen von Prof. Dr. Hüther für die Praxis: - Die Folgen von Traumata und ihre Bewertung kann immer nur subjektiv erfolgen. Objektiv messbare Größen dafür existieren nicht. - Jede primäre Traumatisierung führt zu Folgeschäden, eine zweite gravierende Belastung führt zu 4-fach stärkerem und häufigerem 175 Auftreten von Folgeschäden. - Flüchtlinge, die traumatisiert sind, bedürfen einer sorgfältigen Behandlung. Man muss genau überlegen, was mit ihnen geschieht, sie sollten keinesfalls in die Situation, aus der sie gekommen sind (wenn möglich, auch nicht in das Herkunftsland), zurückgeschickt werden. - Man kann diese Menschen nicht alleine lassen, sie bedürfen dringend Hilfe in dreierlei Hinsicht: sie brauchen Möglichkeiten, eigene Kompetenzen wieder unter Beweis zu stellen, sie brauchen psychosoziale Hilfe und sie brauchen inneren Halt, ein eigenes Weltbild und eine Sinngebung für ihr Leben. 5. Medizinische und psychotherapeutische Probleme im Rahmen des Ausländerrechts (Dr. Jochen Zenker, Gesundheitsamt Bremen) Medizinische und psychologische Versorgungsmöglichkeiten für Flüchtlinge bestehen in eingeschränktem Maße. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist die medizinische Versorgung für Flüchtlinge beschränkt auf die Behandlung akuter Leiden sowie auf die Sicherung der Gesundheit. Präventionsmaßnahmen sind davon nicht betroffen, insbesondere nicht psychotherapeutisch notwendige Behandlungen, die zudem die Möglichkeit der sprachlichen Verständigung miteinander erfordern. Hinsichtlich der in vielen Fällen erbetenen Begutachtungen wird nach der Glaubwürdigkeit und Reisefähigkeit von Patienten gefragt. Insbesondere hinsichtlich der Reisefähigkeit kann diese nur dann bejaht werden, wenn die Umstände für Betroffene in den Heimatländern keinerlei Gefahr 176 einer Retraumatisierung bergen. Begutachtungen können nur von denjenigen vorgenommen werden, die dazu auch ausgebildet sind. Um mit allen Verfahrensbeteiligten die komplexe Problematik gemeinsam zu behandeln, wird auf regionaler und nationaler Ebene die Bildung von Qualitätszirkeln empfohlen. Empfehlungen von Dr. Zenker für die Praxis: - Alle Fachleute im Umgang mit Traumatisierten sollten sich auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren: Beratung, Behandlung und Begutachtung von Traumatisierten. - Eine Instrumentalisierung der Arbeit von Ärzten und Psychologen wird abgelehnt. In diesem Bereich handelt es sich um eine humanitäre Aufgabe. Dieser Appell sollte auch von der Politik stärker beachtet werden. - Eine Arbeitsgemeinschaft von allen in diesem Bereich tätigen Richtern, ABH, Praktikern des Bundesamtes, Therapeuten, Ärzten, Psychologen sollte regional/überregional ins Leben gerufen werden mit dem Ziel der Kommunikation über unterschiedliche Aufgaben und Rollenverständnisse. - Kontinuierliche Fortbildung zu der Gesamtproblematik ist notwendig. - Die PSZ benötigen eine finanzielle Absicherung zur Wahrnehmung ihrer Aufgabe. 177 III. Zusammenfassung der Tagungsdiskussion Im Anschluss an die Vorträge und Statements der Referenten wurden einzelne Schwerpunktthemen der Tagung aufgegriffen und erörtert. 1. Begutachtung im Asylverfahren/Zusammenarbeit mit den PSZ - Das Bundesamt sowie alle Verfahrensbeteiligten benötigen für die Beurteilung traumatisierter Antragsteller Hilfe von dazu ausgebildeten Fachleuten. - Im Falle eines Gutachtenauftrages an die PSZ kann der Auftrag von Institutionen nur zu solchen Flüchtlingen erfolgen, die nicht Patienten des Gutachters sind. In diesen Fällen kann das Gutachten zu positiven und negativen Resultaten kommen, in Bezug auf psychische und physische Ursachen. - In den Stellungnahmen durch die PSZ, die sie für ihre Patienten abgeben, werden jedoch keine negativen, den Klienten ungünstigen Feststellungen getroffen, in negativen Fällen werden keine Stellungnahmen abgegeben. Dazu wäre auch die Entbindung von der Schweigepflicht notwendig, die in diesen Fällen eher unwahrscheinlich ist. - Die von den PSZ abgegebenen Stellungnahmen und Gutachten werden nach objektiven Kriterien gefertigt, d.h. sie werden “de leges artis” gefertigt und entsprechen formal und inhaltlich wissenschaftlichen Anforderungen. - Die Objektivität der Experten ist eine zentrale Voraussetzung. Problematisch kann dies sein, wenn der Gutachter auch der behandelnde 178 - - - Therapeut/Arzt ist. In diesen Fällen wird eine Trennung der Personen gefordert. Die PSZ geben in den Fällen nur Stellungnahmen ab, wenn sie behandelnder Arzt/Therapeut sind. Die PSZ müssen ihre Rolle in diesem Verfahren definieren und klären. Durch die zunehmende Gutachtertätigkeit sehen sich die Zentren in eine Rolle gedrängt, die sie nicht übernehmen wollen, da sie sich eher als Therapie- und Hilfseinrichtungen verstehen. Zur Begutachtung traumatisierter Flüchtlinge werden Gutachten standards mit formellen und inhaltlichen Kriterien erarbeitet. Die Fachsprache der Gutachten sollte verständlich und für den Laien nachvollziehbar sein. Die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft kann den fachlichen Austausch der am Asylverfahren Beteiligten unterstützen und fördern. 2. PSZ-Experten als Gutachter im Asylverfahren - Die PSZ regen an, in die Gutachtentätigkeit weitere Experten mit einzubeziehen, soweit fachlich ausgebildete Experten im Bereich Traumatologie arbeiten. Die PSZ wollen dabei auch dem Bundesamt behilflich sein, geeignete Fachleute zu finden. - Im Falle der Hinzuziehung von Experten außerhalb der PSZ sind sie bereit, ihre Befundberichte weiter zu reichen. Sie enthalten Informationen, die über längere Zeiträume gesammelt worden sind und nach Meinung der PSZ wenig störanfällig, daher hilfreich für Fremdgutachter sind. 3. Die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) 179 - Die Beurteilung, ob eine PTBS vorliegt, ist im Einzelfall schwierig und anhand der subjektiv sehr stark differierenden Empfindungen nur sehr schwer objektivierbar. Ermittelte Fakten können anhand entwickelter Messmethoden nachvollzogen werden. - Die entwickelten Messverfahren sind für unterschiedliche Kulturkreise nur begrenzt anwendbar, da sie hauptsächlich für den westlichen Kulturkreis entwickelt worden sind. - Die Probleme der interkulturellen Verschiedenheit sowie der Objektivierung der PTBS sind in der Psychotraumatologie auch auf Grund ihrer Schwierigkeit noch sehr wenig erforscht. 4. Die Frage nach der Reisefähigkeit/Suizidalität in der Begutachtung - Die Frage nach der Reisefähigkeit oder der Gefahr der Suizidalität im Gutachtensauftrag kann so nicht gestellt werden. Ärzte und Psychologen als Referenten der Fachtagung befürchten bei dieser Frage eine Instrumentalisierung für eine bestimmte Richtung. Eine Reduzierung auf diese Fragestellung in Gutachtensaufträgen lehnen sie daher ab. 5. Schriftlicher Fragebogen zur Vorbereitung der Anhörung - Die Einführung eines schriftlichen Fragebogens zur Befragung Traumatisierter im Vorfeld der Anhörung ist insgesamt kein sinnvolles Instrument nach Auffassung der Experten der Fachtagung. Flüchtlinge können in vielen Fällen mit dieser Situation nicht umgehen, 180 weil sie die Verfahrenssituation nicht oder kaum verstehen. - Die in einem Fragebogen gemachten Aussagen besitzen keinen Wert ohne entsprechende Anamnese durch einen Fachmann. IV. Ergebnisse/Ausblick Es wurde deutlich, wie vielschichtig die Problematik im Verfahren mit traumatisierten Flüchtlingen ist und wie notwendig ein umsichtiger und behutsamer Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen daher sein muss. Die Einbeziehung und Hilfe von Fachleuten ist für Diagnose und Therapie unerlässlich. Im Bereich der Psychotraumatologie besteht erheblicher Forschungsbedarf verbunden mit der Ausbildung entsprechend qualifizierter Fachleute. Diese erste Fachtagung im Bundesamt hat die Teilnehmer für diese schwierige und komplexe Thematik sensibilisiert. Sie hat Experten aus Medizin und Psychologie sowie Praktiker aus Behörden und Gerichten zusammengeführt, um über Fachgrenzen hinweg eine Basis für einen künftigen Austausch zu schaffen. Zusammenfassend zu der Tagung wurden folgende Anregungen für das Verfahren mit traumatisierten Flüchtlingen festgehalten: - Eine kontinuierliche psychologische Schulung aller EE ist notwendig, um dem Verfahren mit traumatisierten Flüchtlingen gerecht werden zu können. - Im Asylverfahren muss für eine der Schwierigkeit des Einzelfalles 181 angemessene, adäquate Verfahrensweise gesorgt werden. - Eine psychologische Sensibilisierung und Schulung von Dolmetscherinnen und Dolmetschern ist im Verfahren mit traumatisierten Asylbewerbern erforderlich. - Eine Zusammenarbeit aller Beteiligten im Asylverfahren zur Erarbeitung von Gutachtenstandards fördert eine transparente und dem Einzelfall angemessene Verfahrensweise. Der Aufbau eines Gutachterpools im Bundesamt wurde angeregt. - Es wäre wünschenswert, den begonnenen fachübergreifenden Erfahrungsaustausch fortzusetzen. 182 Autorenverzeichnis Dr. Fetsum Mehari Fetsum Mehari, geb. am 23.01.1949, arbeitet seit 1985 als Psychotherapeut im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge und Opfer organisierter Gewalt in Frankfurt/Main. 1973 Einreise nach Deutschland als Asylbewerber aus Eritrea. Nach Anerkennung als politischer Flüchtling studierte er klinische Psychologie in München und Würzburg. Er schrieb seine Dissertation über das Thema „Exil, Trauma und Psychopathologie“. Elise Bittenbinder Elise Bittenbinder, geb. 1955, Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Eichstätt. Psychotherapeutische Ausbildungen in systemischer Familientherapie (Köln), Strategic Therapy (Family Therapy Institute of Washington D.C./USA), Hypnotherpie (Milton H. Erickson Institut Rottweil b. Heidelberg). Seit 1988 Tätigkeit als Psychotherapeutin im Psychosozialen Zentrum für ausländische Flüchtlinge in Köln. Vorsitzende der „Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer“ (BAFF). 183 Dipl.-Psych. Dietrich F. Koch Dietrich F. Koch, geb. am 01.11.1956, ist Diplom-Psychologe, Klinischer Psychologe und Psychotherapeut BDP. Ausbildung in methodenintegrativer FT (Berliner Institut für Familientherapie), klinischer Hypnose (Milton Erickson Institut Berlin). Leiter der Psychotherap. Beratungsstelle für politisch Verfolgte XENION, Berlin. Schwerpunktarbeit mit extremtraumatisierten Flüchtlingen, Kriegs- und Folterüberlebenden. Seit 1997 Vorstandsmitglied der „Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer“. Dr. med. Waltraud Wirtgen Waltraud Wirtgen, geb. am 10.03.1933, arbeitet seit 1980 als Ärztin für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse und ist Freie Mitarbeiterin als Ärztin in REFUGIO München. Von 1954 bis 1961 Medizin-Studium an der FU Berlin. Danach Kliniktätigkeit in Innerer Medizin und Frauenheilkunde/Geburtshilfe. Von 1967 bis 1980 niedergelassene Ärztin für Allgemeinmedizin mit Schwerpunkt Frauenheilkunde und Psychotherapie in München. 184 Dr. med. Ferdinand Haenel Ferdinand Haenel, geb. 1953 in Mannheim, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 1993 am Behandlungszentrum für Folteropfer mit Tätigkeitsschwerpunkt in der psychiatrischen, psychotherapeutischen Diagnostik und Behandlung von Personen mit psychisch reaktiven Folterfolgen aus anderen Kulturkreisen. Nach dem Abitur Studium Mathematik/Informatik in Freiburg i.Brsg.. Seit 1976 Medizin-Studium in Berlin. Danach wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Physiologie der FU Berlin. Facharztausbildung u.a. am Krankenhaus am Urban in Berlin-Kreuzberg. Ausbildung in Gestalttherapie und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther Gerald Hüther, geb. 1951, hat in Leipzig Biologie studiert und wurde dort promoviert. Von 1979 bis 1989 arbeitete er am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen an Hirnentwicklungsstörungen. Er hat sich 1988 am Fachbereich Medizin der Universität Göttingen habilitiert und erhielt die Venia legendi für Neurobiologie. Von 1989 bis 1994 baute er eine Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Göttingen auf, die er seitdem leitet. 185 Dr. med. H.-Jochen Zenker MPH H.-Jochen Zenker, geb. 1944, ist Arzt für Psychiatrie, Öffentliches Gesundheitswesen und Sozialmedizin. Seit 1993 ist er Leiter des Gesundheitsamtes Bremen. Helge Margaret Knipping Helge Margaret Knipping, geb. 1953; Jurastudium in Saarbrücken und Bonn; im Bundesamt in der Vergangenheit verantwortlich für den Bereich Rechtsdokumentation sowie für die Neukonzipierung der asylspezifischen Fortbildung der Mitarbeiter der Verfahrensabteilung; im Jahr 2000 Auslandseinsatz bei dem Centre des Etudes Européennes de Strasbourg; derzeit als Referentin tätig in der Grundsatzabteilung mit Schwerpunkt Migration/Integration von Ausländern. 186 187