Sind schamanische Rituale Medizin? Annäherungen aus Sicht einer Anthropologie des Heilens Mag. Dr.Veronica Futterknecht Mag. Dr. Michaela Noseck‐Licul Dienstag, 22. Mai 2012 Ablauf des Vortrags ❖ Was kann man unter Schamanismus verstehen? ❖ Was ist ein schamanisches Heilritual? ❖ Wie wirken schamanische Heilrituale? ❖ Was ist der Beitrag einer Anthropologie des Heilens? Dienstag, 22. Mai 2012 SCHAMANISMUS: Etymologie und Definition ❖ Tungusisch/Evenkisch (Ostsibirien): „saman“: sa bedeutet „wissen“, „können“ oder auch jemand, der erregt, bewegt, erhoben ist ❖ bis heute noch keine allgemein anerkannte Definition ❖ Definition von S.M. Shirokogoroff (1999): (1) Schamane ist Herr oder Herrin der Geister (2) Er oder sie hat eine Gruppe von Geistern unter Kontrolle (3) Anerkannter Komplex von Methoden, Praktiken und Paraphernalia (4) Theoretische Rechtfertigung der Praktiken (5) Schamanen verfügen über eine spezielle soziale Position Dienstag, 22. Mai 2012 SCHAMANISMUS: Definitionsversuche ❖ Mircea Eliade: 1951/1975: „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“ („Le Chamanisme et les techniques archaiques de l’extase“) ❖ Schamanismus = Technik der Ekstase ❖ Schamanismus wird bei Eliade auf den Begriff der Seelenwanderung begrenzt: „Wie wir festgestellt haben, ist das spezifische Element des Schamanismus nicht die Einkörperung von Geistern durch den Schamanen, sondern die Ekstase durch welche die Himmel- oder Unterweltsfahrt herbeigeführt wird.“ (Eliade 1975: 461) Dienstag, 22. Mai 2012 SCHAMANISMUS: Definitionsversuche ❖ Kocku von Stuckrad (2003): 4 zentrale Charakteristika: (1) Veränderte Bewusstseinszustände (2) Seelisch-geistige Reise in andere Wirklichkeitsbereiche (3) Kontakt mit Wesenheiten der anderen Welt (4) Ritueller therapeutischer Aspekt für sich selber, eine Gruppe oder eine andere Person 10 Dienstag, 22. Mai 2012 SCHAMANISMUS: Definitionsversuche ❖ Definition von Manfred Kremser: „Der Schamane ist ein religiös-medizinischer Spezialist, der durch ekstatische Techniken mit transzendenten Wesen in Verbindung treten kann. Ebenso gehören das Erleben anderer Wirklichkeitsebenen und das Eintreten in visionäre Bereiche zum Wesen schamanischer Betätigung. Aufgrund ihrer Fähigkeiten zur Bewusstseinstransformation werden Schamanen jüngst auch als Pioniere der Bewusstseinsforschung bezeichnet.“ (Kremser 2002) Dienstag, 22. Mai 2012 Der/die Schamane/-in – ein/-e Topmanager/-in ❖ Gesundheit ❖ Spirituelles Heil ❖ Soziale Dimension ❖ Ökonomische Probleme ❖ Kunst 10 Dienstag, 22. Mai 2012 Kosmologie, Krankheitsursachen und Geister ❖ Vorstellungen von Geistern und „wissenden Instanzen“ (Vgl. Kremser 2002) ❖ Beziehungen zur geistigen Welt ❖ Kosmologie (Amaringo) ❖ Krankheitsursachen: natürlich, übernatürlich ❖ Versöhnung, Heilung Dienstag, 22. Mai 2012 von Beziehungen Visionäre Kunst: Pablo Amaringo (1938-2009) www.ayahuascavisions.com Dienstag, 22. Mai 2012 Kosmologie, Krankheitsursachen und Geister ❖ Vorstellungen von Geistern und „wissenden Instanzen“ (Vgl. Kremser 2002) ❖ Beziehungen zur geistigen Welt ❖ Kosmologie (Amaringo) ❖ Krankheitsursachen: natürlich, übernatürlich ❖ Versöhnung, Heilung Dienstag, 22. Mai 2012 von Beziehungen Was ist ein Heil/Ritual? ❖ Vielfalt von Ritualen und Ritualkonzepten ❖ Verschmelzung von Weltbild, sozialen Strukturen und Individuum ❖ Ablauf eines Heilrituals: - Divination – Ergründung der Ursache für ein Problem Handlungsanweisungen Ziel – Reintegration durch Wiederherstellung von Beziehungen, Versöhnung ❖ Ritualgeschehen als Gesamtkunstwerk aus symbolischer Kommunikation, Interaktion und verändertem Bewusstsein Dienstag, 22. Mai 2012 Was ist ein schamanisches Ritual? Beispiel eines Heilrituals aus dem Kontext des burmesischen buddhistischen Schamanismus 19 Dienstag, 22. Mai 2012 Wie wirken schamanische Heilrituale? ❖ Klinische Studien? ❖ Evidence Based Medicine für schamanische Rituale? ➡ Schwierigkeiten in der Umsetzung naturwissenschaftlich-medizinischer Forschung auf komplexes Ritualgeschehen ➡ Es gibt nur wenige Studien zu Teilaspekten eines schamanischen Rituals, ihre Qualität entspricht oft nicht den Anforderungen der EBM 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Anthropologie des Heilens ❖ Was ist Heilung ? ❖ Wirkung von Symbolen ❖ Rhetorik des Heilens ❖ Kulturanthropologische Bewusstseinsforschung ❖ Erleben im Ritual – Embodiment ❖ Beiträge auf methodischer Ebene 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Symbole wirken Benennung Diagnose als Teil der Behandlung, bikausale Erklärungen zu dahinter liegenden Ursachen (übereinstimmende) Erklärungsmodelle, Arzt und Patient/Heiler und Klient kommunizieren in einem geteilten Kontext und Mythen verstehen einander Offenlegung über negative Erlebnisse reden können Der Habitus des Arztes/Heilers z.B. der beliebte, sportliche, gut aussehende Chirurg; der/die Schamane/-in im Schamanenkostüm Art und Inhalt der Kommunikation Enthusiastische, freundliche Ärzte vs. uninteressierte, ruppige Ärzte, Positive vs. negative Botschaft,Versprechen Aufmerksamkeit und Zuwendung Form von Medikamenten Farbe, Menge, Darreichung als Tablette, Kapsel oder Spritze Magie der Apparate Apparatemedizin und Geräte aus der Komplementärmedizin Aufwändige Prozeduren und Rituale Operationen als besonders gefährlicher, aber auch wirksamer Eingriff, aufwändige Rituale (Moerman 2002) 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Rhetorik der Heilung Geteiltes Vorwissen, Kontextwissen (predisposition) Vertrauen, Ermächtigung (empowerment) Veränderung (transformation) (Csordas 2002) 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Anthropologische Bewusstseinsforschung ohne subjektives Erleben und qualitative Forschungsmethoden kein Verständnis, keine Bedeutung und letztlich auch keine Vergleichbarkeit ohne Neurowissenschaften und physiologische Parameter keine Systematik und Vergleichbarkeit 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Erleben und seine physiologischen Korrelate „Durch die synergetisierenden, meist nächtlichen Tanz-, Inkantations- und Trommelrhytmen und -melodien kann der kranke Mensch wieder Fuß fassen in die heilende, synergetische Anbindung an positive, kraftvolle Archetypen, Metaphern und Mythen seines Stammes bzw. seiner kulturellen Gruppenidentität. (...) Nicht zuletzt durch die im Ritual ausgelösten, kräftigen Stöße von opioiden Neuropeptiden, Melatonin, Oxytocin etc. bekommen die kulturellen Archetypen, Metaphern und Mythen einen hohen emotionalen, beruhigenden, mitunter stark beglückenden Heilungswert.“ (Quekelberghe 1993:178) 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Beiträge auf methodischer Ebene ❖ Qualitative Forschungsmethoden ❖ Teilnehmende ❖ Beobachtung Beobachtende Teilnahme ... als Voraussetzung und Begleitung von Wirksamkeitsstudien 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Auto-Ethnographie und transpersonales Forschen Robert Borofsky (1994): „On Knowledge and Knowing in Cultural Activities“ Karl Wernhart (1999): Anthropologie als eine „Wissenschaft vom Menschen für den Menschen, eine dialogische Kulturwissenschaft mit Praxisbezug“ Unterschiedliche Formen der Wissens- und Erkenntnisgewinnung im wissenschaftlichen Forschungsprozess 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Auto-Ethnographie „Autoethnografie ist ein Forschungsansatz, der sich darum bemüht, persönliche Erfahrung (auto) zu beschreiben und systematisch zu analysieren (grafie), um kulturelle Erfahrung (ethno) zu verstehen.„ (Ellis et al. 2010: 345) ❖ Kritische Reflexion, Selbst-Beobachtung ❖ Intersubjektivität 35 Dienstag, 22. Mai 2012 Transpersonales Forschen „Wenn man aus einer akademischen Wissenschaft auf einer Universität kommt, dann ist ja der Wissensbegriff sehr eingeengt – meist auf das eingeengt, was unserem Wachbewusstsein zugänglich ist und mit den Regeln der Logik und Vernunft abgehandelt werden kann. Wenn man sich aber jahrelang mit ethnologischer Religions- und Bewusstseinsforschung beschäftigt, dann merkt man früher oder später, dass das nur ein kleiner, ein ganz verschwindend kleiner Teil des eigentlichen Wissens ist und dass Wissen auch noch woanders angesiedelt ist.“ (Kremser 2002: 114) Dienstag, 22. Mai 2012 Literatur Borofsky, Robert „On Knowledge and Knowing in Cultural Activities“. In: Borofsky, Robert (Hrsg.) Assessing Cultural Anthropology. McGraw-Hill, 1994, S.331-348 Csordas, Thomas Body, Meaning, Healing. Palgrave, New York, 2002 Eliade, Mircea Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt a.M., 1975 Ellis, Carolyn; Adams Tony E.; Bochner, Arthur P. Autoethnografie. In: Mey/Mruck (Hrsg.) Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie,VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2010. S. 345-357 Kremser, Manfred Am Anfang war das Ritual — Schamanische Aufstellungsarbeit in indigene Kulturen?. In: Gunni L. Baxa & Christine Essen & Astrid H. Kreszmeier (Hg.):Verkörperungen — Systemische Aufstellung, Körperarbeit und Ritual. Heidelberg, 2002 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Literatur Moerman, Daniel Meaning, Medicine and the „Placebo Effect.“ Cambridge University Press, 2002 Quekelberghe, Renaud Symbolisches Heilen im Kulturvergleich In: Curare 17, 1993 S. 175-178 Sirokogorov, Sergej M. The Psychomental Complex of the Tungus. Berlin, 1999 Stuckrad, Kocku von Schamanismus und Esoterik: Kultur- und Wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen. Leuven (Belgium), 2003 Wernhart, Karl „Ethnologie: Wissenschaft vom Menschen für den Menschen. Dialogische Kulturwissenschaft und Praxisbezug.„ In: Dostal, Walter; Niederle, Helmut A., Wernhart, Karl. Wir und die Anderen: Islam, Literatur und Migration. S. 23-27. Wiener Beiträge zur Anthropologie und Ethnologie, Band 9, WUV Universitätsverlag. 1998 34 Dienstag, 22. Mai 2012 Vielen Dank an die beteiligten Institutionen und Sponsoren! Dienstag, 22. Mai 2012