hr Brief

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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion: Dr. Regina Oehler
Wissenswert
Tierporträt:
Zikaden
von
Diemut Klärner
24.06.2010, 08.30 Uhr, hr2-kultur
Sprecherin:
Zitator:
10-079
COPYRIGHT:
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Vorschlag für die Anmoderation:
Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Frauen. Dieser boshafte
Spruch des Griechen Xenarchos spielt darauf an, dass nur die männlichen
Zikaden singen. Wenn überhaupt - unsere einheimischen lassen kaum etwas
von sich hören. Diemut Klärner hat diese leisen Zikaden ebenso im Blick wie
deren geräuschvolle Verwandte.
Atmo Zikaden
Sprecherin
Wer gerne südlich der Alpen Urlaub macht, der wird sie
kennen, die Gesänge der Zikaden. In Pinienwäldern ertönen
sie ebenso wie in Olivenhainen. Der Dichter Heinrich Vierordt
fand sogar mitten in Venedig singende Zikaden.
Zitator
In der Gondel steuernd nach Torcello,
Hatt’ ich noch zwei kleine Passagiere
Zu der Morgenseefahrt eingeladen,
Dürre, braune, winz’ge Passagiere:
Silberstimmig zirpende Zikaden
In dem messingdrahtgeflochtnen Käfig!
Zu den vielen angebotnen Grillen
Hab ich diese käuflich noch erstanden
Auf dem Grillenmarkt an dem Rialto.
Sprecherin
Ähnlich wie Grillen kommen auch viele Arten von Zikaden in
unscheinbaren Brauntönen daher. Dank diese Tarnfärbung
sind sie schwer zu entdecken, selbst wenn sie ziemlich
zahlreich auftreten.
O-Ton Z01
Und die Singzikaden im Speziellen werden durchaus auch
recht groß. Es gibt also auch eine Art, die so 3 bis 4 cm in der
Länge misst. Das ist also schon ganz ordentlich für ein
Insekt.
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Sprecherin
meint Dr. Kai Füldner, Leiter des Naturkundemuseums in
Kassel. Beachtlich ist auch die Spannweite der Flügel. Bei
den lautstarken Zikaden in Südeuropa beträgt sie bis zu zehn
Zentimeter.
O-Ton Z02
Und Zikaden können damit auch ganz ordentlich fliegen. Aber
trotzdem fallen sie eigentlich in der Umwelt eher selten auf.
Man hört sie eben eher im Fall der Singzikaden.
Zitator
Horch, sie singen, und ich lehne lässig
In den Lederkissen meines Bootes;
Unter mir das träumerische Plätschern
Der Lagune, meine ich: zu liegen
Tief in Gras und flüsterndem Getreide.
Vor der schläfrig halbgeschlossnen Wimper
Gaukeln Pfauenaugen und es tönen
Sommersonnige Zikadensänge.
Atmo Zikaden
Sprecherin
Es sind stets männliche Zikaden, die solche Töne
hervorbringen. So machen sie artgleiche Weibchen auf sich
aufmerksam. In ihrer Lautstärke übertreffen die Singzikaden
alle anderen Insekten.
O-Ton Z03
Das ist ja auch eine ganz spezielle Art und Weise, wie sie
diese Geräusche hervorbringen. Anders als Grashüpfer z. B.,
Seite 4
die ja stridulieren, also ihre Hinterbeine reiben, haben die
Zikaden eine Art eigenes Organ im Körper drin,
Sprecherin
und zwar im vorderen Teil ihres Hinterleibs. Links und rechts
sitzt dort jeweils so etwas wie eine kleine Trommel, ein
Trommelorgan. Von außen sichtbar ist eine elastische Platte,
die von einem kräftigen Muskel immer wieder eingedellt
wird. Sobald der Muskel erschlafft, springt die Platte in ihre
ursprüngliche Lage zurück. Dieser Mechanismus erinnert an
eine Blechdose, deren gewölbter Deckel sich eindrücken
lässt und bei nachlassendem Druck wieder ausbeult. Zikaden
lassen ihre schallproduzierenden Platten allerdings mehrere
hundert Mal pro Sekunde hin- und herschwingen.
Atmo Zikaden
Sprecherin
Die Zikaden verbergen die vibrierenden Platten und den
größten Teil des Hinterleibs unter ihren Flügeln. Ohne
weiteres sichtbar ist nur die breite Brust, in der die
Flugmuskeln sitzen, und der Kopf mit den seitlich plazierten
Augen.
O-Ton Z04
Was man nicht gleich sieht, ist ein unter den Körper
eingeklappter langer Saugrüssel. Das ist wie so eine Art
Strohhalm, so kann man sich das vorstellen. Der besteht aus
mehreren Segmenten, und den braucht die Zikade, um an
Pflanzensäfte ranzukommen. Davon ernährt sie sich nämlich,
Sprecherin
und zwar von Jugend an. Schon als winzige Larven zapfen die
Zikaden die Leitungsbahnen von Pflanzen an. Diese
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Ernährung ist allerdings sehr unausgewogen. Pflanzensäfte
enthalten nämlich nur wenig Bausteine für Proteine, dafür
aber um so mehr Zucker, das unmittelbare Produkt der
Fotosynthese. Deshalb nimmt eine Zikade oft übermäßig viel
Zucker zu sich.
O-Ton Z05
Da sie das nicht alles verbrauchen kann, scheidet sie es zum
Teil aus, ähnlich wie bei Blattläusen auch. Und das ist dann
der sogenannte Honigtau. Und da kommen dann wieder die
Ameisen und finden das ganz spannend.
Sprecherin
Wenn sich die Ameisen am klebrigen Honigtau gütlich tun,
dann nehmen sie gleichzeitig dessen Produzenten in Schutz.
Davon profitieren vor allem die zarten Zikadenlarven, die dem
Angriff eines Marienkäfers zum Beispiel sonst wehrlos
ausgeliefert wären. Eine nordamerikanische Buckelzikade
kann die Ameisen bei drohender Gefahr sogar regelrecht
herbeirufen. Die Weibchen dieser Zikadenart wachen über
ihren schutzbedürftigen Nachwuchs, können einen hungrigen
Marienkäfer aber nicht aus eigener Kraft abwehren. Statt
dessen versetzen sie den Stängel, an dem sie saugen, in
charakteristische Schwingungen. Mit diesem Signal
alarmieren sie benachbarte Ameisen, die prompt herbeieilen
und sich als Leibwächter nützlich machen.
Dass Zikaden auf diese Weise mit Ameisen kommunizieren,
wurde bislang nur bei einer einzigen Art beobachtet. Statt
volltönender Gesänge nur lautlose Vibrationen auszusenden,
das ist bei Zikaden jedoch gang und gäbe. Fast alle
mitteleuropäischen Arten sind für Menschenohren unhörbar.
Kai Füldner weiß, welchen man hierzulande häufig begegnet.
O-Ton Z06
Die hier in Massen zum Teil vorkommen, das ist einmal die
Schaumzikade. Wenn man sich im Mai mal die verschiedenen
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Stängel anguckt und denkt, huch, da hängt ja so ein Tropfen
Spucke. Das ist manchmal fast an jedem Pflanzenstängel der
Fall.
Sprecherin
Kuckucksspeichel werden diese Schaumflöckchen genannt.
Wer ein bisschen in dieser vermeintlichen Spucke
herumstochert, der stöbert ein kleines grünes Tierchen auf.
Das ist die Larve einer Schaumzikade. Spezielle
Schleimstoffe stabilisieren den schaumigen Mantel. Darin
verborgen, ist die Zikadenlarve gut geschützt vor diversen
Fressfeinden.
Atmo Vögel
Sprecherin
Besonders weit verbreitet ist die Wiesen-Schaumzikade, nur
einen halben Zentimeter lang und in verschiedenen
Brauntönen gefleckt. Eher ins Auge fällt die Blutzikade.
O-Ton Z07
Die ist schwarz mit roten Tupfen auch ganz typisch, sitzt auch
an Pflanzenstängeln und saugt da rum. Und das ist
besonders auffällig, die können hervorragend springen.
Zikaden sind Weltmeister im Springen, die können aus dem
Stand einen halben Meter springen,
Seite 7
Sprecherin
und manchmal kommen sie sogar mehr als einen Meter weit,
obwohl sie nicht einmal einen Zentimeter groß sind. Solch
gewaltige Sprünge sind nur mit einem Trick zu schaffen: Mit
Muskelkraft spannen die Zikaden zunächst eine elastische
Feder an der Basis ihrer Hinterbeine. Wenn die dort
gespeicherte Bewegungsenergie dann freigesetzt wird,
strecken sich die Hinterbeine plötzlich. Dabei beschleunigen
sie das Insekt in nur einer Millisekunde auf zwanzig
Kilometer pro Stunde.
Nach der weit entfernten Landung scheinen tarnfarbig
braune oder grüne Zikaden meist unauffindbar. Viel leichter
zu entdecken ist die Blutzikade mit ihrem plakativen Rot und
Schwarz. Diese Farbkombination ist zum Beispiel auch für
Marienkäfer typisch. Sie signalisiert, dass ein Insekt
ungenießbar ist. Bei Meisen wurde bereits nachgewiesen,
dass sie schwarz-rot gefärbte Beutetiere instinktiv meiden.
Atmo Meisen
Sprecherin
Als Larve hat die Blutzikade noch keine schwarz-roten
Flügel. Anders als die Larve der Wiesen-Schaumzikade lebt
sie im Erdboden und saugt dort an Wurzeln. Wie Zikaden
heranwachsen, schildert Kai Füldner.
O-Ton Z08
Da schlüpft aus dem Ei schon so ein kleines Tierlein, was so
ein bisschen schon aussieht wie eine Zikade. Und die wird
dann immer größer, sie häutet sich, viermal in der Regel bei
Zikaden. Die fast erwachsenen Larve sieht der echten Zikade
schon ganz ähnlich, es fehlen nur die Flügel. Und aus dieser
letzten Larve - ohne dass eine Puppe vorkommt - schlüpft
dann die fertige Zikade, die ihre Flügel entfaltet und
aushärtet und dann fliegen kann.
Seite 8
Sprecherin
Anders als bei Schmetterlingen findet der Umbau zum
erwachsenen Insekt also nicht in einer speziellen Ruhephase
statt. Im Gegenteil, Zikaden, die unterirdisch heranwachsen,
sind im letzten Larvenstadium sogar besonders mobil.
Schließlich gilt es, sich aus dem Erdboden ans Licht zu
graben. Typisch für diese Larven sind kräftige Vorderbeine,
die wie eine Kombination aus Schaufel und Spitzhacke
aussehen.
Im Tageslicht spielt sich dann die letzte Verwandlung ab.
An einen Pflanzenstängel geklammert, fahren die
Zikadenlarven zum letzten Mal aus der Haut. Insekten
müssen sich im Laufe ihres Lebens deshalb mehrmals
häuten, weil sie ein Außenskelett tragen.
O-Ton Z09
Man muss sich das vorstellen wie so eine Art Ritterrüstung,
so einen Komplettpanzer, aus dem der Mensch
herauskriechen würde. Die hinterbleibt, die gibt ja auch die
Form vor, was dringesteckt hat. Nur dass natürlich wir
komplett anders gebaut sind, unser Skelett ist innen drin im
Körper, das weiß jeder. Bei Insekten ist es eben außen
herum, die sind innen drin weich und außen herum hart.
Sprecherin
Sie stecken in einer komplizierten Kombination aus Röhren,
Platten und Spangen. Biegsame Gelenkhäute machen diese
Konstruktion beweglich. Wachsen kann so ein Außenskelett
jedoch nicht. Dafür bleibt jeweils nur die kurze Zeitspanne
unmittelbar nach dem Schlüpfen, wenn das neue Skelett
noch dehnbar ist. Dann kann die Zikade auch ihre Flügel
entfalten, die vorher in erstaunlich kleinen Taschen verstaut
waren. Wenn die Zikade schließlich davonfliegt oder -springt,
bleibt ihre leere Larvenhaut zurück.
Seite 9
Atmo Zikaden
Sprecherin
An den Larvenhäuten der großen Singzikaden ist gut zu
erkennen, wo sie auf der Rückseite aufgeplatzt sind, damit
das Tier heraussteigen konnte. Zu den Singzikaden zählt
auch die Bergzikade, obwohl die kaum etwas von sich hören
lässt, wie Kai Füldner bestätigt.
O-Ton Z10
Also ich habe selber auch noch keine gehört, aber wir haben
durchaus Freilandfunde, auch hier aus Nordhessen,
Südniedersachsen. Sie kommt vor.
Sprecherin
Am Meißner zum Beispiel ist diese etwa zwei Zentimeter
große Zikade zu finden, allerdings nicht oben auf dem Berg.
Den Namen Bergzikade trägt sie trotzdem zu Recht. Südlich
der Alpen tummelt sie sich nämlich in viel höheren Lagen als
ihre großen, lautstarken Verwandten. Da sie nicht unbedingt
ein mediterranes Klima braucht, kann die Bergzikade von
allen Singzikaden am weitesten nach Norden vordringen. Sie
besiedelt bei uns aber nur besonders warme und sonnige
Südlagen.
O-Ton Z11
Das ist eben eine wärmeliebende Art, die auch nicht jeden
Sommer hier auftritt. Und hören tut man sie tatsächlich nicht.
Also, das was man draußen hört, sind Grillen oder
Heuschrecken, aber Zikaden spielen hier von der
Geräuschkulisse her keine Rolle.
Atmo Heuschrecken
Seite 10
Sprecherin
Wo Heuschrecken so eifrig zirpen, übertönen sie die zarten
Laute der Bergzikade. Trotz ihrer recht ansehnlichen Größe
werden Bergzikaden auch leicht übersehen, denn als
erwachsene Insekten leben sie nur wenige Wochen. Ihre
Larvenzeit ist dafür um so länger: Sechs bis acht Jahre
verbringt die Bergzikade im Erdboden und zapft dort
Pflanzenwurzeln an. Den Rekord hält jedoch die
nordamerikanische 17-Jahr-Zikade. Ihr Name verrät, wie
viele Jahre es dauert, bis eine neue Generation
herangewachsen ist. Entsprechend groß sind die
Zeitabstände, in denen diese Zikade in Massen auftritt.
O-Ton Z12
auf den Punkt genau alle 17 Jahre, so lange bleibt die im
Larvenstadium - auch in einer Ruhephase - um sich alle 17
Jahre dann als fertiges Insekt zu treffen und zu paaren. Und
die nächste Generation braucht wieder so lange, also ganz
erstaunlich.
Sprecherin
Wenn die 17-Jahr-Zikaden wieder mal in großen Scharen ans
Licht kommen, dann sind sie ein gefundenes Fressen für
viele andere Tiere. Aber - die 17-Jahr-Zikade profitiert davon,
dass sich ihre Fressfeinde nicht so leicht auf einen Rhythmus
von 17 Jahren einstellen können.
Bei uns sind etwa 500 Zikadenarten heimisch. Und die
meisten produzieren Jahr für Jahr eine neue Generation. Die
kleinen braunen Dornzikaden gehören zu den wenigen, die
zwei Jahre brauchen, um sich zu erwachsenen Tieren zu
entwickeln. Die Dornen, die ihnen ihren Namen geben, sitzen
wie zwei seitliche Hörner an einem stark vergrößerten
Halsschild. Bei einigen tropischen Verwandten der
Dornzikade hat sich dieser Halsschild in einen bizarren Helm
verwandelt.
Seite 11
Manchmal trägt er auch skurrile Auswüchse, verziert mit
langen Stacheln und gestielten Kugeln. Nicht minder
extravagant kommen die „Laternenträger“ daher. Leuchten
können diese Zikaden zwar nicht, doch ihre teils unförmig
dicken, teils lanzenförmigen Schnauzen machen sie zu den
Pinocchios unter den Zikaden.
O-Ton Z13
Das sind also ganz markante und auffällige Tiere, die werden
ja bis zu 18, 20 cm groß, von der Flügelspannweite her, also
Flügellänge vielleicht so 8, 9 cm. Und das sind natürlich auch
zum Teil Formen und Farben, die wir hier nur ansatzweise
bei kleinen Arten haben, aber durch die Größe ist das sehr
imposant.
Sprecherin
Spektakulär sind manche tropischen Zikaden auch dank ihrer
farbenfrohen Flügel, sie sehen bunten Schmetterlingen zum
Verwechseln ähnlich. Andere fallen eher durch ihre
akustischen Darbietungen auf, vor allem nach Einbruch der
Dunkelheit:
O-Ton Z14
Und da fällt es uns natürlich besonders auf, weil die anderen
Geräusche des Tages wegfallen. Und dann kann das
tatsächlich nerven. Und in den Tropen ist das sehr, sehr
eindrücklich. Also die großen Zikadenarten dort, die rauben
den Leuten wirklich den Schlaf. Touristen, die dort
hinkommen, die haben da wirklich ein Problem mit, weil sie
es nicht kennen.
Seite 12
Sprecherin
Südostasiens Regenwälder beherbergen Zikaden, die einen
ohrenbetäubenden Lärm erzeugen können, vergleichbar mit
dem Piff einer Dampflokomotive oder mit dem Geschrei eines
Esels. Da können die Singzikaden des Mittelmeerraums zum
Glück nicht mithalten. In ihrer hartnäckigen Eintönigkeit sind
sie dennoch faszinierend. Dass ihr Zirpen geradezu magisch
wirken kann, das bezeugt ein Gedicht von Karl Krolow.
Zitator
In den Zikaden
ist ein Zauberer versteckt,
der singt.
Jung ist er
wie Laub und Zeisige,
die das Ohr verhexen.
Das Gemurmel der Krüge
ist das Echo seiner Stimme.
Mit unsichtbaren Händen
schüttet er Mittagsblau
vor die Haustüren.
Nachts ist er ein Spion
im Blut von Mann und Mädchen,
ehe sie in ihre Körper
zurückkehren.
Die Zikaden
finden keinen Schlaf.
Atmo Zikaden
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