NAUTILUS POLITIKBERATUNG Andreas Kolbe Öffentliche Meinung vs. Wahlumfragen vs. Schweigespirale Wahlumfragen sind kein Ausdruck öffentlicher Meinung1 Keine anderen politischen Ereignisse als Wahlen finden in der medialen Berichterstattung eine derart hohe Resonanz. Ein zentraler Bestandteil der Berichterstattung sind Wahlumfragen. Informiert man sich näher über dieses Thema, so begegnet man zwangsläufig dem viel diskutierten Begriff öffentliche Meinung. Um es vorwegzunehmen: Dieser Aufsatz geht davon aus, dass eine veröffentlichte Wahlumfrage kein Ausdruck öffentlicher Meinung ist, sein Ziel ist es, einen Literatur –und Wissensüberblick zu diesem speziellen Thema aufzustellen. Zuvor jedoch einige obligatorische Ausführungen zum Begriff öffentliche Meinung. 1. Öffentliche Meinung: Ein Phänomen Der Begriff erscheint im deutschen Sprachgebrauch erstmals in einer Übersetzung von lateinisch verfassten Schriften über Hexenprozesse im Jahr 1702 (Noelle-Neumann, 1996/1982: 345). Für Noelle ist der Begriff ein Phänomen, er spiegelt sich in einer Vielzahl anderer Begriffe wieder.2 Bauer sieht in der öffentlichen Meinung eine Stimme, mit „(…) betörende[r] Gewalt, der zu widerstreben dem einzelnen schwer fällt“ (Bauer, 1914: 1). Für Fuchs und Pfetsch bestehen die wichtigsten Verständnisvarianten von öffentlicher Meinung in den „aggregierten Individualmeinungen der Bürger“ einerseits und in den „öffentlich kommunizierten Meinungen ganz 1 Dieser Text ist eine spezielle Weiterführung des Grundlagen-Aufsatzes „ Wahlumfragen und ihr vermeintlicher Einfluss auf das Wahlverhalten“. Bitte lesen Sie diesen Aufsatz zuerst, kostenloser Download unter: www.nautilus-politikberatung.de. 2 „(…) ungeschriebenes Gesetz (Thukydides, Aristoteles), Reputation (Machiavelli, Kardinal Richelieu, John Locke), >>vox populi<< (Altes Testament)/ >>publica voce<< (Machiavelli) (…), Klatsch, Tabu, Zeitgeist, Sitte, Konsens, soziale Kontrolle, Gerüchte, etc. …“ in: Noelle-Neumann, 1996/1982; 345. 1 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG unterschiedlicher Akteure“ andererseits (Fuchs/Pfetsch, 1996: 113). Hennis sieht den einzigen Definitionsversuch bei Elisabeth Noelle und Erich-Peter Neumann: „Danach handelt es sich bei der öffentlichen Meinung nicht gleichsam um die Meinung des personifiziert gedachten Staatsvolks, sondern um ein komplexeres Phänomen, das man seinem Wesen nach viel eher als ein Kraftfeld oder Spannungsfeld, vielleicht auch als Strömungsfeld vorstellen sollte, und zwar als ein Feld, das man aus der Vogelperspektive betrachtet“ (Hennis, 1957/1999: 43). Hennis betrachtet diese Beschreibung eher als Bild, weniger als Definition. Bezogen auf die Wahlforschung kritisiert er: „Die Meinungsforschung verkennt den fundamentalen Unterschied zwischen Wählen und Meinen“ (Hennis, 1957/1999: 61). Die Änderung der Meinung in politischen Fragen bewirkt nicht zwangsläufig eine Änderung der Parteipräferenz. Man kann aus Gewohnheit die Partei wählen, die man regelmäßig wählt, obwohl man die Ziele oder das Programm einer alternativen Partei im Augenblick als angemessener empfindet. „Einer der gefährlichsten Effekte der Meinungsumfrage ist, daß sie die Menschen unter Zugzwang setzt, auf eine Frage zu antworten, die sie sich nicht gestellt haben“ (Bourdieu, 1993: 215). Bezogen auf Wahlumfragen bedeutet dies, dass die geäußerte Wahlabsicht in einer Wahlumfrage neben Unentschiedenen auch von Nicht-Wählern stammen kann. Auch unter diesem Gesichtspunkt stößt der Begriff der öffentlichen Meinung an seine Grenzen. Eine ausdifferenzierte Beschreibung von öffentlicher Meinung bieten Fuchs und Pfetsch: „Eine Meinung setzt einen Gegenstand voraus, über den man sich eine Meinung bildet. Im Kontext des politischen Systems sind die wichtigsten Gegenstände politische Themen und politische Akteure. Eine Meinung zu Themen und Akteuren kann auf zwei ganz unterschiedliche Weisen geäußert werden. Erstens durch eine allgemeine Be2 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG wertung im Sinne von gut/schlecht, richtig/falsch, stark/schwach etc. Zweitens durch eine inhaltliche Präferenz, die mit einem Thema oder mit programmatischen Positionen der Akteure verbunden ist“ (Fuchs/Pfetsch, 1996: 105). In Bezug auf Wahlumfragen sind hier die Fragen nach der Bewertung der einzelnen Faktoren und nach der Relevanz von Sachthemen unbeantwortet. Die veränderten Rahmenbedingungen zu jeder Wahl verlangen, dass eine derartige Betrachtung nach jeder Wahl neu erfolgt. Ein Einfluss im Sinne einer Bestärkung in der eigenen Meinung ist in diesem Kontext vorstellbar. Das Vieldeutigkeitsdilemma dieses Begriffs zeigen Fuchs und Pfetsch auf. Sie unterscheiden drei Bedeutungsdimensionen: Öffentliche Meinung ist erstens ein Aggregat der Individualmeinungen zu einem Thema, zweitens auf Themen beschränkt, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden und drittens die Meinung, die aus einem öffentlichen und vernünftigen Diskurs heraus entsteht (Fuchs/Pfetsch, 1996: 107f.). Wie schwierig es ist, eine allgemein gültige Definition für den Begriff öffentliche Meinung zu finden, beweist Harwood Childs. Er stellte 1965 insgesamt 50 Definitionen von öffentlicher Meinung zusammen (NoelleNeumann, 1996/1982: 84). Fünfunddreißig Jahre später hat sich an dieser Situation nichts geändert: Entman und Herbst gelangen in ihrer Untersuchung zu Ausprägungen des Begriff zu folgendem Ergebnis: “One implicit argument we have been making in this chapter is that public opinion and mass media are so often conflated and so intricately interwined that we must consolidate the study of media and public opinions” (Entman/Herbst, 2001: 221). Bereits in den Fünfzigern und Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts wurden Forderungen danach laut, den Begriff aufzugeben (NoelleNeumann, 1996/1982: 84). Sie fanden anscheinend wenig Gehör. Öffent- 3 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG liche Meinung wird auch weiterhin ein Phänomen bleiben, denn „der Begriff ist einfach nicht totzuschlagen“ (Noelle-Neumann, 1996/1982: 85). Zusammenfassend wird festgehalten: Öffentliche Meinung wird kontrovers diskutiert und entzieht sich einer genauen Definition. Eine ausdifferenzierte Betrachtung der Kontroverse um den Begriff ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht zweckdienlich, da hier davon ausgegangen wird, dass Wahlumfragen kein Ausdruck oder Abbild öffentlicher Meinung sind. 2. Wahlumfragen sind kein Ausdruck öffentlicher Meinung Wahlumfrageergebnisse sollten nicht als öffentliche Meinung ausgelegt werden. Kommentare wie „35 Prozent der Wähler sind der Meinung, dass die Partei regieren sollte“ oder auch auf die gleiche Prozentzahl bezogen: „die Mehrheit ist der Meinung, dass die Partei regieren sollte“ sind unkorrekt. Die Präferenz für eine Partei oder für einen Kandidaten bildet sich individuell heraus und kann durchaus in einer Meinung zu einem Sachverhalt begründet liegen. Bei Stammwählern spielt diese Meinung wiederum keine oder nur eine verschwindend geringe Rolle für die Wahlentscheidung. Weil aber nicht ersichtlich ist, wie es zur Präferenz für die zum Befragungstag genannte Partei kam, verbietet es sich, in der Gesamtbetrachtung von einer öffentlichen Meinung zu sprechen. Das Konzept der pluralistic ignorance (die Mehrzahl täuscht sich über die Minderzahl), kann bei der Frage nach dem Einfluss von Wahlumfragen in der Bundesrepublik Deutschland nicht angewandt werden. Aufgrund des Koalitions- und Mehrparteiensystems kann nur über die Koalitionsvermutungen spekuliert werden. Bevor diskutiert wird, ob es durch pluralistic ignorance einen Einfluss geben könnte, das heißt ob und inwieweit die Erwartung, dass ein politisches Lager die Wahl gewinnt, eine Modifikation im Wahlverhalten auslöst, müssen vorher die Frage nach der Stärke der 4 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG Lageridentifikation und die Frage nach der Bereitschaft, die Stimme lagerübergreifend verändert abzugeben, geklärt werden. In der Vielzahl der Fachliteratur wird in der Diskussion über öffentliche Meinung zwischen Meinungsumfragen und Wahlumfragen oft nicht unterschieden. „Was die Wahlabsichten angeht, dass sind geäußerte Verhaltensabsichten. Da können wir die Verteilung angeben, also in dieser Bevölkerungsgruppe sieht es so aus, in jener so aus. Aber das ist es dann auch. Da kann ich in der Tat nicht von öffentlicher Meinung sprechen“ (Kolbe: Interview mit Manfred Güllner). „Auch die immer wiederholte Forderung, nicht von einer öffentlichen Meinung zu sprechen, sondern anzuerkennen, daß es mehrere öffentliche Meinungen nebeneinander geben kann, fußt auf einem entsprechenden Irrtum. Es gehört zum demokratischen Prozeß, daß Meinungen miteinander ringen, wobei dieser Prozess oft lange und mit wechselnden Mehrheiten anhält. Aber von öffentlicher Meinung kann man erst sprechen, wenn sich ein Lager so durchgesetzt hat, daß man in der Öffentlichkeit nicht mehr dagegen sprechen kann, ohne Gefahr, sich zu isolieren und an den Medienpranger gestellt zu werden“ (Noelle-Neumann, 1998: 92). Wäre diese Darstellung gültig, so stieße die Publikation von Wahlumfragen vor Wahlen auf Bedenken, da sie eine Bedrohung für die in den Umfragen zurückliegenden Parteien bedeuten würde. In Bezug auf Wahlumfragen verhält sich diese Ansicht konträr zum Konzept der selektiven Wahrnehmung. Entscheidender als die Zahlen selbst sind die Worte, mit denen sie kommentiert werden. Aus Gründen der Objektivität wäre es dienlich und vorteilhaft, Kriterien oder Muster zu entwickeln, in denen standardgemäß festgelegt wird, wie Wahlumfragen zu kommentieren sind. Damit könnte eine einschlägige, falsche oder übertriebene Darstellung und Kommentierung vermieden werden. Die Zahlen sollten danach eine sachlich-neutrale Beschreibung erhalten, keine bewertenden oder beschreibenden Kom5 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG mentare, wie sie leider allzu oft üblich sind. Kommentare und Bewertungen des Autors sollten als solche stärker gekennzeichnet werden. Als Fazit ist demnach festzustellen, dass die Begriffe „Meinung“ und „öffentliche Meinung“ im Zusammenhang mit veröffentlichen Wahlumfrageergebnissen vermieden werden sollten. 3. Öffentliche Kommunikation und Wahlumfragen im Wahlkampf Wenn ein Einfluss von Wahlumfragen auf das Wahlverhalten vermutet wird, dann setzt dies voraus, dass Wahlumfragen in den Medien und da vor allen in Zeiten des Wahlkampfes kommuniziert werden. „Der Wahlkampf ist Prototyp für einen Meinungsbildungsprozeß“ (Feist/Liepelt, 1986: 178). Bezogen auf die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung bedeutet dies, dass der Wahlkampf ein Forum darstellt, in dem Politiker, Journalisten oder Umfrageforscher über die Medien die Möglichkeit haben, ihre Wahlumfrageergebnisse zu publizieren und damit zu kommunizieren. Neidhardt bezeichnet die Sprecher als Quellen und die Medien als Vermittler (Neidhardt, 2001: 502). Die Fragen sind nun erstens: Welche Ergebnisse werden veröffentlicht und wie werden sie kommuniziert? Zweitens: Warum werden Wahlumfragen öffentlich kommuniziert? Medien konkurrieren untereinander um die neuesten, interessantesten und „sensationellsten“ Umfrageergebnisse, die sie in ihrer Funktion als Nachrichtenwert interessieren. Diesem Interesse liegt die Mutmaßung zugrunde, dass die Medien die Neugier der Wähler beziehungsweise der Medienkonsumenten befriedigen. „Gerade die Nachfrage der Medien nach Umfragen hat immer mehr zugenommen. Noch nie wurden vor einer Wahl 6 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG in Deutschland so viele Umfragen veröffentlicht wie im Jahr 2002“ (Lianos, 2003: 16). Wahlumfragen dienen demnach wirtschaftlichen Gesichtspunkten einerseits, der Befriedigung von vermuteter Neugier unter den Wählern in Wahlkampfzeiten andererseits. An dieser Schnittstelle werden Wahlumfragen im Wahlkampf kommuniziert. Wahlumfragen werden in den Medien aber in den seltensten Fällen sachlich kommentiert: „Moderne Öffentlichkeit ist ein relativ frei zugängliches Kommunikationsfeld, in dem ,Sprecher‛ mit bestimmten Thematisierungsund Überzeugungstechniken versuchen, über die Vermittlung von ,Kommunikateuren‛ bei einem ,Publikum‛ Aufmerksamkeit und Zustimmung für bestimmte Themen und Meinungen zu finden“ (Neidhardt, 1994: 7). Öffentlich-rechtliche und private Fernsehkanäle sendeten 1998 anlässlich der Bundestagswahl ein „Overkill-Volumen (…), nämlich zusammen 131,5 Stunden wahlkampfrelevante politische Informationssendungen, darüber hinaus noch einmal 34,2 Stunden Nachrichtensendungen mit Wahlbezug“ (Schulz/Zeh/Quiring, 2000: 420). In der Bundesrepublik Deutschland ist von Wahl zu Wahl ein ähnlicher Trend wie in den USA zu beobachten: “The 2000 election campaign saw more polls and reporting of polls than ever before” (Traugott, 2001: 389) Die Sprecher sind in diesem Fall die Journalisten. Ihre Überzeugungstechnik besteht darin, „(…) die Tatsächlichkeit der Tatsachen, die behauptet werden, möglichst eindrucksvoll zu demonstrieren“ (Neidhardt, 1994: 18). Aus dem Ergebnis einer Wahlumfrage wird auf diesem Weg ein fast klares Wahlergebnis, weil sich Zahlen als wahrscheinliches Wahlergebnis eben besser verkaufen als Umfrageergebnisse. Ein Umfrageergebnis eignet sich zudem weniger zum Dramatisieren eines Beitrags. „Man hat ja 2002 gesehen, dass die Nachfrage von Journalisten extrem hoch war. Und da ging es eben nicht nur um die Zahlen, sondern auch um die Interpretation, da war die Frage: ,Ist die Wahl entschieden oder ist sie nicht entschieden?´“ (Kolbe: Interview mit Manfred Güllner). 7 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG Wenn Politiker Wahlumfragen im Wahlkampf im eigenen Interesse einsetzen oder dies zumindest versuchen, wird von Instrumentalisierung gesprochen: „Danach können zwei vorherrschende Instrumentalisierungsformen unterschieden werden: zum einen die, explizit-argumentative‛ Bezugnahme mit dem Ziel der offenen Stimmenwerbung und Rechtfertigung politischen Handelns; zum anderen die Verwendung von Umfragen zum Zweck der Strategieplanung. (…) Im zuerst genannten Anwendungsfall werden aktuelle Umfrageergebnisse kommentiert, um auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluß zu nehmen. Die zweite Art der Instrumentalisierung dient der langfristigen Planung der thematischen und personellen Schwerpunkte der Öffentlichkeitsarbeit einer Partei“ (Engel, 1987: 268). Politiker kommentieren die Ergebnisse von Wahlumfragen zumeist nicht nach sachlichen Kriterien, sondern instrumentalisieren sie im Wahlkampf nach dem Kriterium des eigenen Vorteils. In den meisten Fällen fällt die Bewertung eines Umfrageergebnisses positiv für die eigene Partei aus. Die Bewertung ist an die Wähler adressiert und mit der Vermutung bedacht, dass ein gutes Umfrageergebnis für die Partei auch bei der Wahl von Nutzen ist. Politiker agieren in der Erwartung, durch eine positive Kommentierung der Wahlumfragen für ihre Partei und damit für sich persönlich einen Vorteil zu erringen, „denn anders als für den Kandidaten hängt für einen Wahlberechtigten vom Abschneiden der Parteien bei einem Urnengang nicht die persönliche Existenz ab“ (Schoen, 2002: 9). Diese Erwartung ist laut Güllner ein Irrtum: „Ich glaube, viele Akteure in allen Parteien denken immer noch, sie könnten mit Umfragen im psychologischen Kampf um die Wähler punkten. Aber das funktioniert nicht. Das ist denen aber auch schwer beizubringen, weil aus Wahlkämpfen meist nichts gelernt wird“ (Kolbe: Interview mit Manfred Güllner). Das Publikum im Wahlkampf besteht aus Wählern. Politiker nutzen die Medien, um das Publikum in ihrem Sinne zu überzeugen, die Medien engagieren sich ihrerseits, um die Bedürfnisse des Publikums zu befriedigen. Dabei unterstützen sich beide teilweise gegenseitig. 8 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG Es wird davon ausgegangen, dass das Publikum beeinflussbar ist. „Die Medien mit ihrem affirmativen Charakter sind Bestandteil dieser politischen Kultur und ermöglichen es dem einzelnen, seine individuelle Wahrnehmung in eine kollektive zu transformieren“ (Feist/Liepelt, 1986: 163). Dieser Vermutung liegt die Annahme zugrunde, der Wähler bilde sich eine individuelle Meinung über die vorherrschende Meinung. Wenn sich die Situation aber so darstellt wie beispielsweise vor der Bundestagwahl 20023, dann kann nicht von einer vorherrschenden Meinung gesprochen werden. „Im Gedächtnis blieb der Showdown zwischen dem Institut für Demoskopie (IfD) Allensbach und forsa, die die Hoffnung ihrer schwarzen und roten Auftraggeber mit ihren Zahlenkolonnen anheizten“ (Lianos, 2003: 15). Zwar stellen sich Politiker im Wahlkampf nur hinter die entsprechend für sie günstig erscheinenden Zahlen, aber anhand der Aussage von FDP-Politiker Westerwelle wird deutlich, dass sie zumindest intern auch die gegenläufigen Wahlumfragen anderer Institute ernst nehmen: „Kurz vor den Wahlterminen sind sie seit langem zu Seismografen für die politische Stimmung im Land geworden – die Umfragedaten der verschiedenen in Deutschland agierenden Meinungsforschungsinstitute“ (Westerwelle, zitiert nach Güllner, 2002: 119). Parteien lassen die Ergebnisse von Meinungsforschungsinstituten auch von anderen Instituten überprüfen. Die SPD beauftragte im Wahlkampf 1969 das Infas-Institut, um die Ergebnisse von Infratest zu überprüfen (Hetterich, 2000: 173). Die Beschreibung der Funktionalität von Umfrageergebnissen für Parteien im Wahlkampf von Noelle aus dem Jahr 1959 hat bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren: „Die Meinungsforschung ist nicht ohne Einfluß auf die großen Parteien geblieben. Es findet keine bedeutendere Wahl mehr statt, bei der nicht zuvor die Wählerschaft einer genauen Analyse unterzogen wird, und zwar im Auftrag einer oder mehrerer Parteien. Die Resultate solcher Analysen liefern entscheidende Unterlagen für den Entwurf von 3 Ergebnisse von letzten Wahlumfragen vor der Wahl: Tabelle IV: 126. 9 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG Plakaten und die Texte von Flugschriften. Argumente werden auf Verständlichkeit und Wirkung geprüft, geeignete Werbeträger werden nach systematischer Kontrolle ausgewählt“ (Noelle, zitiert nach Schmidtchen, 1959: 109). Die große Bedeutung von Umfragen im Vorfeld von Wahlen ist für die Wähler nicht immer sichtbar, wie es Westerwelle am Beispiel für die FDP beschreibt: „Ein aktuelles Beispiel aus Sicht der FDP ist dabei die Wahlkampagne in Berlin im Herbst 2001. Die zuständigen Parteigremien der FDP hatten beschlossen, die Auseinandersetzung bei der Abgeordnetenhauswahl in klarer Abgrenzung zur PDS zu führen. Aufgabe der Meinungsforscher war es nun, festzustellen, auf welchen Themenfeldern die Bürgerinnen und Bürger die größten Kompetenzunterschiede zwischen FDP und PDS erkennen konnten. (…) Der Erfolg am Wahltag – die FDP erreichte mit 9,9 Prozent das beste Ergebnis seit 1954 – gab dieser Strategie recht“ (Westerwelle, zitiert nach Güllner, 2002: 210). Laut Hetterich wird die Rolle der Umfrageforscher im Wahlkampf als sehr einflussreich eingestuft: „Außerdem wird unterstellt, dass die Demoskopen mit ihren Forschungsergebnissen weitgehend die Ausrichtung der Kampagne bestimmen“ (Hetterich, 2000: 46). Zusätzlich können in Verbindung mit Wahlumfragen thematisch verwandte Umfrageergebnisse publiziert werden, die das gewünschte Bild verstärken sollen. Besonders in den USA werden in Wahlkämpfen so genannte push polls eingesetzt. Diese Polls basieren nicht auf einer zufällig gezogenen Stichprobe, sondern auf Umfragen, die ausschließlich unter Anhängern eines Kandidaten durchgeführt wurden, um den Gegenkandidaten negativ darzustellen. Traugott und Lavrakas definieren push polls als “a method of pseudo polling in which political propaganda is disseminated to naive respondents who have been tricked into believing they have been sampled for a poll that is sincerely interested in their opinions. Instead the push poll´s real purpose is to expose respondents to information … in order to influence how they will vote in election” (Traugott/Lavrakas, zitiert 10 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG nach Renka, 2004: 8). Asher sieht dies ähnlich: “Push polls are an election campaign tactic disguised as legitimate polling” (Asher, zitiert nach Renka, 2004: 8). Zwar kommunizieren Wähler über Medien, dafür interagieren Medien nur in den seltensten Fällen mit den Wählern. Medien interagieren dagegen mit Politikern und umgekehrt. Die Kommunikationsnetze der Wähler sind für einen Einfluss von Wahlumfragen auf das Wahlverhalten von höherer Bedeutung, denn in ihnen kommunizieren sie nicht nur, sondern sie interagieren miteinander, sprechen über politische Themen – und damit auch über Wahlumfragen: „Nicht die Medien, sondern Ereignisse schaffen Nachrichten und damit Gesprächsstoff. Nicht der Gesprächsstoff, sondern seine Bewertung und Ausdeutung im Lichte politischer Loyalitäten und Referenzen bestärken Meinungen oder stellen sie in Frage“ (Feist/Liepelt, 1986: 156). Wenn es einen Einfluss von Wahlumfragen auf das Wahlverhalten gibt, dann ist die Ursache am ehesten auf der Ebene interpersonaler Kommunikationsnetze zu suchen. Allerdings ist zu vermuten, dass in sozialen Milieus eine dominierende politische Ausrichtung vorherrscht und somit die objektive Diskussion über politische Fragen und damit auch über Wahlumfragen als unwahrscheinlich erscheint. Wahlumfragen könnten aber auch ein Korrektiv zu vorherrschenden Gruppenmeinungen darstellen. Donsbach stellt fest: „Mit jeder Parlamentswahl in der Bundesrepublik Deutschland wächst die Rolle, die die politische Meinungsforschung darin spielt“ (Donsbach, 1984: 388). An einem sachlichen Diskurs scheinen aber weder Politiker noch die Medien Interesse zu bekunden. Im Angesicht eines zunehmend fluiden Elektorats erscheinen Wahlausgänge besonders spannend, denn unvorhergesehene Ereignisse können die Stimmung stark beeinflussen. Diese Entwicklung stellt die Umfrageinstitute vor eine anspruchsvolle Aufgabe: „Immer seltener kann man sich bei Umfragen auf die Rohdaten verlassen. Der Last-Minute-Wähler, die 11 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG Flut, der Irak-Krieg, den es noch gar nicht gab, die Medien, die Momentaufnahmen als Prognosen verkauften, Politiker und Bevölkerung damit irritierten und schließlich – im Falle Allensbach – die anderen Institute, die durch ihre Veröffentlichungen neue Stimmungslagen erzeugten, sie alle arbeiten gegen den festgelegten Wähler“ (Lianos, 2003: 15). Feist und Liepelt haben herausgefunden, dass „Bürger, die sich durch intensive Mediennutzung auszeichnen, (…) auf trendsetzende Ereignisse sensibler als die übrige Bevölkerung“ reagieren (Feist/Liepelt, 1986:160). Folgendes ist also festzustellen: Wahlumfragen werden als Nachrichtenwert und als Instrument einer möglichen Beeinflussung kommuniziert, da nur die Medien und die Politiker die Möglichkeit haben, sie zu thematisieren. Der Einfluss auf den Wähler wird nach den bisherigen Erkenntnissen überschätzt. Die Thematisierung von Wahlumfragen in der interpersonalen Kommunikation wurde noch nicht erforscht. 4. Wahlumfragen und Schweigespirale Das Konzept der Schweigespirale wurde von Noelle anlässlich der Bundestagswahlen 1965 und 1972 entwickelt: „Die Figur der Schweigespirale versucht zu klären, wie öffentliche Meinung sich verändert“ (NoelleNeumann, 1998: 86). Die Definition geht davon aus, dass ein Wahlumfrageergebnis ein Ausdruck öffentlicher Meinung ist. Für die Vermutung, dass das Konzept der Schweigespirale auf Wahlumfragen übertragbar ist, muss die Definition dann lauten: Die Figur der Schweigespirale versucht zu klären, wie Wahlverhalten sich verändert. Die Schweigespirale besteht aus vier Annahmen, die durch Verknüpfung neben der Bildung und Verteidigung auch die Modifizierung der öffentlichen Meinung erklären sollen: 1. Die Gesellschaft gebraucht gegenüber abweichenden Individuen Isolationsdrohungen. 2. Die Individuen empfinden ständig Isolationsfurcht. 12 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG 3. Aus Isolationsfurcht versuchen die Individuen unablässig, das Meinungsklima einzuschätzen. 4. Das Ergebnis der (quasistatistischen) Einschätzung beeinflusst ihr Verhalten vor allem in der Öffentlichkeit und insbesondere durch Zeigen oder Verbergen von Meinungen, zum Beispiel Reden oder Schweigen. (Noelle-Neumann, 1996/1982: 358) Die Schweigespirale baut auf den Konformitätsexperimenten von Asch und Milgram auf. Die beiden Sozialpsychologen fanden heraus, „daß sich die Menschen aus Isolationsfurcht einer Mehrheitsauffassung auch dann anschließen, wenn sie eindeutig erkennen können, daß das Urteil falsch ist. (…) Die Menschen beobachten ihre Umwelt, lassen sich von außen leiten und suchen Anerkennung“ (Gallus/Lühe, 1998: 24), mit anderen Worten: „Mit den Wölfen heulen“ (Noelle-Neumann, 1996/1982: 20). Für Noelle entstand der Eindruck, dass sich im Wahlkampf 1965 und 1972 Union-Wähler eher zurückhielten und nicht so stark für ihre Partei eintraten wie die SPD-Wähler, weil sie Angst hatten, sich dadurch zu isolieren. An diesem Punkt beginnt der Prozess der Schweigespirale: „Wer sieht, daß seine Meinung an Boden verliert, verfällt in Schweigen. Indem die einen laut reden, öffentlich zu sehen sind, wirken sie stärker, als sie wirklich sind. Es ergibt sich eine optische oder akustische Täuschung für die wirklichen Mehrheits-, die wirklichen Stärkeverhältnisse, und so stecken die einen andere zum Reden an, die anderen zum Schweigen, bis schließlich die eine Auffassung ganz untergehen kann“ (Noelle-Neumann, zitiert nach Gallus/Lühe, 1998: 27). Das Konzept ist nicht identisch mit dem von Lazarsfeld beschriebenen Bandwagoneffekt. Während das Individuum beim Bandwagoneffekt danach strebt, auf der Gewinnerseite zu stehen, versucht das Individuum im Konzept der Schweigespirale der Isolation zu entgehen, unabhängig davon, auf wessen Seite es sich befindet. In diesem Zusammenhang weist 13 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG Noelle auf ein illustratives Sprichwort der alten Römer hin: „Wer schweigt stimmt zu“ (Noelle-Neumann, 1998: 86). Im Jahr 1976 veröffentlichte Noelle eine Studie zur Wirkung des Fernsehens auf das Wählerverhalten, wobei sie rund 100 Journalisten befragte. Die Kernaussagen lauteten im Ergebnis: „1. Das Erwartungsklima vor einer Wahl bestimmt das Wählerverhalten (…), ,die Schweigespirale‛ (…) verstärke mit ihrer Zurückhaltung das für ihre Partei ungünstige Meinungsklima. 2. Weil das Fernsehen 1976 eine dem vorherrschenden CDU/CSU-Trend zuwiderlaufende Stimmungslage suggerierte, setzte es unter den politisch interessierten Zuschauern eine Schweigespirale gegen die CDU/CSU in Gang. (…) 3. Voraussetzung für diese Entwicklung war die spezifische politische Ausrichtung von Fernsehjournalisten, die ihre Meinung in das Medium haben einfließen lassen.“ (Feist/Liepelt, 1986: 155) Einwände gegen diese Thesen können nicht nur mit der sehr geringen Fallzahl von Befragten begründet werden. Dass das Fernsehen tatsächlich einen Meinungsumschwung verursacht habe, ist nicht bewiesen, sondern wird von Noelle nur vermutet. Vor allem bei ihrer dritten These ist unklar, ob die Meinung der Journalisten in den Medien auch tatsächlich so deutlich wiedergegeben wurde. Eine empirische Datengrundlage gibt es dafür nicht. Auch Güllner steht dem Konzept der Schweigespirale ablehnend gegenüber: „Die Grundthese ist vielleicht nicht ganz unsinnig, aber das, was Noelle draus gemacht hat, ist ja in erheblichem Maße angreifbar“ (Kolbe: Interview mit Manfred Güllner). Als Noelle das Konzept erstellte, gab es – mit Ausnahme der Jahre von 1966 bis 1969 – nur eine große Oppositionspartei im Bundestag. Nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag im Jahr 1983 und spätestens nach dem Einzug der PDS im Jahr 1990 sollte das Konzept mit Bezug auf 14 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG das aktuelle Mehrparteiensystem überprüft werden, vor allem im Hinblick auf die Tatsache, dass mehr als eine Oppositionspartei im Parlament existiert. Interessant ist dabei vor allem die Rolle der PDS, die von 1998 bis 2002 in Fraktionsstärke eine Oppositionspartei im Parlament stellte, welche wie die Regierungsparteien im linken Lager beheimatet war. Zu vermuten ist, dass vor allem durch immer stärker entpolitisiert geführte Wahlkämpfe und durch eine Annäherung der Parteien in der politischen Mitte die Gefahr der Isolation durch Bekennen zu einer Partei deutlich geringer ist als in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Inwieweit durch Wahlumfragen eine Schweigespirale entsteht, die wiederum einen Einfluss auf das Wahlverhalten hat, ist ebenso schwer zu überprüfen wie ein genereller Einfluss auf das Wahlverhalten. Da der Wahlakt letzten Endes geheim ausgeführt wird, ist es unmöglich, die in der Befragung gegebenen Antworten zu kontrollieren. Wenn jedoch eine durch Wahlumfragen hervorgerufene Schweigespirale ihre Wirkung entfaltet, dann ist unklar, ob die Wirkung bis in die Wahlkabine hineinreicht oder ob der Wahlakt ein Korrektiv gegenüber der Wirkung der Schweigespirale ist. Die Tatsache, dass nach der Wahl eine höhere Anzahl von Wählern in Wahlumfragen angibt, für den Gewinner votiert zu haben, spricht im Ergebnis eher für die Korrektivvermutung. Einen Einfluss auf das Wahlverhalten hat die Schweigespirale demnach nicht. (Verwendung und Veröffentlichung nur mit Zustimmung des Autors) Kontakt: [email protected] 15 www.nautilus-politikberatung.de NAUTILUS POLITIKBERATUNG Weitere Aufsätze zu diesem Thema: Kolbe, Andreas (2004/2006): Die Unkenntnis und ihr Missverständnis Wahlumfragen in den Medien. Berlin (Link) Kolbe, Andreas (2004/2006): Von Giftmischerinnen und Datenhexern - Politiker und ihre Ansichten über die Umfrageforschung. Berlin. (Link) Literatur Bauer, Wilhelm (1914): Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen. Ein Versuch, 7. Auflage, Tübingen: Mohr. Bourdieu, Pierre (1993): Die öffentliche Meinung gibt es nicht, in: Soziologische Fragen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 212-223. 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