Agitiertheit bei Demenz im Tagesverlauf - Ruhr

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Aus dem Westfälischen Zentrum Bochum - Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum
komm. Direktor: PD Dr. med. W. Vollmoeller
Agitiertheit bei Demenz im Tagesverlauf
Prospektive kontrollierte Längsschnittuntersuchung an 82
älteren Personen
INAUGURAL – DISSERTATION
zur
Erlangung des Doktorgrades der Medizin
einer
Hohen Medizinischen Fakultät
der Ruhr-Universität Bochum
vorgelegt von
Norbert Pauly
aus Oberhausen
2004
II
Dekan:
Prof. Dr. med. G. Muhr
Referent:
Priv. Doz. Dr. med. S. G. Schröder
Korreferent: Prof. Dr. med. U. Trenckmann
Tag der Mündlichen Prüfung: 12.07.2005
III
- Für meinen Sohn Wieland -
IV
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ………………………………………………….. VII
Tabellenverzeichnis …………………………………………………… VIII
Abkürzungsverzeichnis …………………………………….................. XI
1
Einleitung ……………………………………….......................................1
2
Theoretischer Hintergrund und Fragestellung ………………..… 3
2.1
Dementielle Erkrankungen als Herausforderung für Geriatrie,
Gerontopsychiatrie und Altenpflege …………………………………………. 3
2.2
Die nichtkognitiven Symptome der Demenz ……………………………… 6
2.3
Das Konstrukt Agitiertheit ……………………………………………………... 10
2.3.1
Begriffsbestimmung …………………………………………………………... 10
2.3.2
Agitiertheit und Demenz: Klassifikation, Diagnostik und
Ätiologie …………………………………………………………………………... 12
2.3.2.1
Agitiertheit und Diagnoseglossare …………………………………….. 12
2.3.2.2
Agitiertheit bei Demenz, Ursachen und Behandlungsformen .. 16
2.4
Das Konstrukt Sundowning ………………………………………………...... 27
2.4.1
Begriffsbestimmung …………………………………………………………... 27
2.4.2
Empirische Befunde zu tagesrhythmischen Agitiertheitszuständen bei Demenzkranken ……………………………………………... 28
2.5
Hypothesen ………………………………………………………….……………... 34
3
Methode und Untersuchungskollektive …………………………… 35
3.1
Standardisierte Erfassung von Agitiertheit mit dem CohenMansfield Agitation Inventory (CMAI) …………………………………….. 35
3.1.1
Vom Konzept Agitiertheit zum CMAI ………………………………..….. 35
3.1.2
Aufbau, Auswertung und Versionen …………………………………….. 35
3.1.3
Die verwendete CMAI-Testversion ……………………………………….. 37
3.1.4
Deutsche CMAI-Versionen ………………………………………………….. 39
3.2
Der Mini-Mental-Status-Test (MMST) als Kurztest zur Erfassung
der globalen Leistungsfähigkeit ……………………………………………… 41
V
3.3
Durchführung der Untersuchung ……………………………………………. 42
3.3.1
Datenerhebung im Westfälischen Zentrum Bochum,
Psychiatrie und Psychotherapie …………………………………………… 43
3.3.2
Datenerhebung im Altenheim „Haus am Glockengarten“ ……….. 44
3.4
Datenerfassung und Bearbeitung……………………………………………. 44
3.4.1
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 1……………………………….. 45
3.4.2
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 2………………………………… 45
3.4.3
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 3………………………………… 46
3.4.4
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 4………………………………… 46
3.4.5
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 5………………………………… 46
3.5
Beschreibung der Stichprobe………………………………………………….. 47
3.6
Analyse der Rohwerte……………………………………………………………. 52
4
Ergebnisse ………………………………………………………………………... 53
4.1
Zur ersten Hypothese: Das Kollektiv der Demenzpatienten ist
signifikant agitierter als die gesunde Kontrollgruppe. …………..….. 53
4.2
Zur zweiten Hypothese: Agitiertheit tritt in der Gruppe der Demenzkranken signifikant ausgeprägter nachmittags als morgens auf.... 55
4.3
Zur dritten Hypothese: Das globale Ausmaß an Agitiertheit ist
mit dem Schweregrad der Demenz assoziiert ……………………….… 55
4.4
Zur vierten, komplexesten Hypothese: Die drei Unterformen der
Agitiertheit („Dimensionen“ gemäß CMAI) sind in den drei
Demenzschweregraden unterschiedlich ausgeprägt …………….…… 59
4.4.1
Ausprägung der Dimension „Unruhiges und Unangemessenes
Verhalten“. ..…………….……………………………………………………..... 59
4.4.2
Ausprägung der Dimension „Verbal agitiertes Verhalten“ …….... 62
4.4.3
Ausprägung der Dimension „Aggressives Verhalten“ ..…………... 64
4.5
Zur fünften Hypothese: Anhand der zirkadianen Rhythmik lassen
sich Untergruppen (Typen) der Demenzkranken bilden ..………….. 68
4.5.1
Tagesrhythmik der Agitiertheit ..…………………………..……………… 68
4.5.2
Tagesrhythmik der einzelnen Dimensionen ..………………………... 71
4.5.2.1
Tagesrhythmik der Dimension Unruhiges und Unangemessenes Verhalten ……………………………………………………………… 71
4.5.2.2
Tagesrhythmik der Dimension Verbal Agitiertes Verhalten. .... 73
VI
4.5.2.3
4.5.3
Tagesrhythmik der Dimension Aggressives Verhalten. ...……... 75
Konkordanz der Tagesrhythmik der Agitiertheit insgesamt mit
derjenigen ihrer drei Dimensionen ..………………………..…………... 77
5
Diskussion ..……………………………………………………………………… 79
5.1
Methodendiskussion ..…………………………….………………………...... 79
5.1.1
Ausfüllen der CMAI – Testversion – Bögen ..………………….…….. 79
5.1.2
Beurteilung der Stichprobe ..………………………….…………………... 80
5.1.3
Einschätzung des Demenzschweregrades mittels MMST ..….….. 81
5.1.4
Das Testinstrument: der CMAI – deutsche Version ..……………... 82
5.1.5
Die drei Beobachtungszeiträume ..…………………………………….... 82
5.1.6
Begriffliche Verwendung von „Sundowning“, „Sunrising“ und
„Constant“ ..……………………………………………………………………… 83
5.1.7
Definition von „Sundowning“, „Sunrising“ und „Constant“..……. 84
5.2
Ergebnisdiskussion ..………………………………………….……………....… 85
5.2.1
Das Kollektiv der Demenzpatienten ist signifikant agitierter als
die gesunde Kontrollgruppe ………………………………………………… 85
5.2.2
Agitiertheit tritt in der Gruppe der Demenzkranken signifikant
ausgeprägter nachmittags als morgens auf…....………………….... 86
5.2.3
Das globale Ausmaß an Agitiertheit ist mit dem Schweregrad
der Demenz assoziiert ..……………………………………………………… 86
5.2.4
Die drei Unterformen der Agitiertheit („Dimensionen“ gemäß
CMAI) sind in den drei Demenzschweregraden unterschiedlich
ausgeprägt ……………….……………………………………………………... 87
5.2.5
Anhand der zirkadianen Rhythmik lassen sich Untergruppen
(Typen) der Demenzkranken bilden ..…………………………….……. 89
5.3
Schlussbemerkung ....…………………………………………………………… 94
Zusammenfassung………………………………………………………………………. 96
Literatur...…………………………….………………………………………...………….. 98
Anhang..………………………………………………………………………...........…. 112
CMAI (Cohen-Mansfield-Agitation-Inventory) – deutsche Version
Lebenslauf…………………………………………………………………………………. 114
VII
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1:
Anteil der Alzheimerdemenz und der vaskulären Demenz
an den Altersdemenzen (Ott et al 1995)..…………………….. 5
Abbildung 2:
Demenzdiagnosen der Stichprobe ……………………………... 49
Abbildung 3:
Altersverteilung der Stichprobe …………………………………. 51
Abbildung 4:
CMAI-Summen-Mittelwerte im Vergleich dement vs.
nichtdement, verteilt über die drei Untersuchungs
zeiträume ……………………………………………………………..… 54
Abbildung 5:
CMAI,-,Summen,-,Mittelwerte, unterteilt nach Beobachtungszeiträumen und Demenzschwegrad ………………. 57
Abbildung 6:
Mittelwerte des CMAI von jedem einzelnen Probanden … 58
Abbildung 7:
CMAI – Summen - Mittelwerte für die Dimension Unruhiges
und unangemessenes Verhalten, unterteilt nach
MMST-Kategorie ……………………………………………………… 61
Abbildung 8:
Mittelwerte der Summe Unruhiges und Unangemessenes
Verhalten der einzelnen Personen, unterteilt nach
MMST-Kategorie ……………………………………………………… 61
Abbildung 9:
CMAI – Summen - Mittelwerte für die Dimension Verbal
agitiertes Verhalten, unterteilt nach MMST-Kategorie ….. 63
Abbildung 10: Mittelwert der Summe Verbal Agitiertes Verhalten der
einzelnen Personen, unterteilt nach MMST-Kategorie ..… 64
Abbildung 11: CMAI – Summen - Mittelwerte für die Dimension
Aggressives Verhalten, unterteilt nach MMST-Kategorie… 66
Abbildung 12: Mittelwert der Summe Aggressives Verhalten der einzelnen
Personen, unterteilt nach MMST-Kategorie …………………. 66
Abbildung 13: Differenz der Mediane CMAI 2 minus CMAI 1 der einzelnen
Probanden, gruppiert nach MMST-Kategorie ………………. 69
Abbildung 14: Differenz der Mediane CMAI 2 minus CMAI 1 für die
Dimension Unruhiges und Unangemessenes Verhalten
der einzelnen Probanden, gruppiert nach MMSTKategorie ………………………………………………………………… 72
Abbildung 15: Differenz der Mediane CMAI 2 minus CMAI 1 für die
Dimension Verbal Agitiertes Verhalten der einzelnen
Probanden, gruppiert nach MMST-Kategorie ………………. 74
Abbildung 16: Differenz der Mediane CMAI 2 minus CMAI 1 für die
Dimension Aggressives Verhalten der einzelnen Probanden,
gruppiert nach MMST-Kategorie …………………………......... 76
VIII
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Prävalenz von leichter kognitiver Beeinträchtigung und
Demenz in der Altenbevölkerung gemäß der „Canadian
Study of Health and Aging“ …………………………………………… 4
Tabelle 2:
Verteilung der kognitiven Leistungsfähigkeit der
Stichprobe ……………………………………………………………….... 50
Tabelle 3:
Art und Häufigkeit von Psychopharmaka in der
Demenzgruppe …………………………………………………………… 52
Tabelle 4:
CMAI – Summen - Mittelwerte sämtlicher Untersuchungs
bögen im Vergleich nichtdement vs. dement ………………… 53
Tabelle 5:
CMAI – Summen - Mittelwerte , - Mediane und - Standardabweichungen im Vergleich nichtdement vs. dement,
verteilt über die drei Untersuchungszeiträume ………………. 54
Tabelle 6:
CMAI – Summen – Mittelwerte, - Mediane und – Standardabweichungen unterteilt nach Beobachtungszeitraum und
Demenzschweregrad …………………………………..……………… 57
Tabelle 7:
CMAI - Summen – Mittelwerte, - Mediane und – Standardabweichung für die Dimension Unruhiges und Unangemessenes Verhalten, unterteilt nach MMST-Kategorie
und Beobachtungszeiträumen …………………………………….. 60
Tabelle 8:
CMAI – Summen - Mittelwerte und Mediane für die
Dimension Verbal agitiertes Verhalten, unterteilt
nach MMST-Kategorie und Beobachtungszeiträumen..….… 63
Tabelle 9:
CMAI - Summen – Mittelwerte, - Mediane und – Standardabweichungen für die Dimension Aggressives Verhalten,
unterteilt nach MMST-Kategorie und
Beobachtungszeiträumen…………………………………………….. 65
Tabelle 10:
Anzahl der Personen in den Agitiertheitsgruppen,
unterteilt nach MMST-Kategorie ……………………………..…… 70
Tabelle 11
Anzahl der Personen in den Agitiertheitsgruppen für die
Dimension Unruhiges und Unangemessenes Verhalten,
unterteilt nach MMST-Kategorie …………………………………… 72
Tabelle 12:
Anzahl der Personen in den Agitiertheitsgruppen für
die Dimension Verbal Agitiertes Verhalten, unterteilt
nach MMST-Kategorie ……………………………………………..… 74
Tabelle 13:
Anzahl der Personen in den Agitiertheitsgruppen für
die Dimension Aggressives Verhalten, unterteilt nach
MMST-Kategorie …………………………………………………..…… 77
IX
Tabelle 14:
Differenzen CMAI 2-1 der „Sundowner“ und „Sunriser“,
unterteilt nach Summe und einzelnen Dimensionen
(Konkordanzbestimmung). Herausgehoben sind die
Werte, die außerhalb der 2-fachen Standardabweichung
liegen……………………………………………………………….………. 78
Abkürzungsverzeichnis
ABRS
Agitatet Behavior Rating Scale
AD
Alzheimerdemenz
APA
American Psychiatric Association
BPSD
Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia
CMAI
Cohen-Mansfield-Agitation-Inventory
DAT
Demenz vom Alzheimertyp
DGPPN
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde
DSM-IV
Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen
ICD-10
Internationale Klassifikation psychischer Störungen („International
Classification of Disease“)
M
Mittelwert
MID
Multiinfarkt-Demenz
MMST
Mini Mental Status Test
p
„probability“, statistischer Wert
IPA
International Psychogeriatric Association
SD
Standardabweichung („standard deviation“)
SPSS
Statistical Package for Social Sciences
SSRI
Selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer („selectiv serotonine
reuptake inhibitor“)
VD
Vaskuläre Demenz
VT
Verhaltenstherapie
VTK
Verhaltenstherapeutisches Kompetenztraining
WHO
Weltgesundheitsorganisation („World Health Organisation“)
1
1
Einleitung
Der natürliche Alterungsprozess des Gehirns sowie pathologische zerebrale
Veränderungen werden in der Regel mit dem Nachlassen kognitiver
Leistungen assoziiert. So wird die Diagnose einer Demenz primär durch das
Vorhandensein kognitiver Störungen gestellt. Die in der Forschung bereits
zunehmend beachteten nichtkognitiven Symptome der Demenz finden in
Diagnostik und Therapie dagegen noch nicht die nötige Beachtung.
Das
Schicksal
Demenzkranker
mit
dem
Verlust
der
Fähigkeit
zur
eigenständigen Lebensführung wird in der Regel von Betreuenden und
Pflegenden mitgetragen. Spätestens hierbei steht die nichtkognitive
Symptomatik in Form von Verhaltensstörungen wie Angst, Depression,
Agitiertheit, Umkehr des Tag-/Nacht-Rhythmus’, Wahn, Halluzinationen und
Aggression ebenso im Blickpunkt wie die defizitären Urteils-, Gedächtnisoder Orientierungsleistungen. Die Mehrzahl der Demenzkranken entwickeln
derartige Begleitsymptome (Ballard 2001). Für die Belastung der Pflegenden
ist diese in der Regel sozial unverträgliche, nichtkognitive Symptomatik von
entscheidender
Bedeutung
und
führt
oft
zu
einer
Heimaufnahme,
Krankenhausbehandlung oder vormundschaftsrichterlicher Intervention.
In Anbetracht der weiteren Zunahme der Lebenserwartung, dem Anstieg
der Erkrankungszahlen und einer Verknappung öffentlicher Gelder wird es in
Zukunft auch darum gehen, Demenzen frühzeitig zu erkennen, frühzeitig
und rational zu behandeln und eine Heimunterbringung hinauszuzögern. Bei
einer frühestmöglichen Erkennung der Krankheit können pharmako-,
verhaltens- und milieutherapeutische Strategien gezielter geplant werden,
so dass sich gesundheitspolitische und medizinökonomische Optimierungen
erreichen lassen (Calabrese 2002).
2
Einen herausragender Stellenwert unter den nichtkognitiven Störungen hat
der in der Fachterminologie als Agitiertheit bezeichnete Symptomkomplex.
Gemeinsam mit der Datenerhebung zur Validierung der deutschen
Übersetzung des international wichtigsten Instrumentes zur Erfassung
agitierten Verhaltens von Demenzkranken (Hülser 2001), dem CMAI
deutsche Version, wurden im Jahre 2001 in zwei Bochumer Einrichtungen
an 55 demenzkranken und 27 nichtdementen Personen Daten erhoben, die
für
die
vorliegende
Fragestellung
die
tageszeitliche
Rhythmik
von
Agitiertheit erfassen. Damit soll dem in der Fachliteratur des letzten
Jahrzehnts immer wieder diskutierte Phänomen des „Sundowning“, einer
Häufung von Agitiertheitszuständen Demenzkranker in den Nachmittagsund Abendstunden, empirisch nachgegangen werden.
Im
ersten
Teil
Erkrankungen
der
als
vorliegenden
Arbeit
gesellschaftliche
werden
und
die
dementiellen
medizinökonomische
Herausforderung diskutiert und die Fachliteratur zum Syndrom Agitiertheit
sowie seine Relevanz bei psychischen Störungen, speziell bei Demenzen,
dargestellt . Die neuesten Forschungsergebnisse zur Tagesrhythmik
agitierten Verhaltens bei Demenzkranken, insbesondere zum Thema
Sundowning,
werden
zusammengefasst
und
im
Rahmen
der
Ergebnisdiskussion kritisch gewertet. Die methodischen Kapitel stellen die
beiden im Rahmen unserer Untersuchung angewandten Testinventare, das
Cohen-Mansfield Agitation Inventory und den Mini-Mental-Status-Test vor.
Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bildet der zweite Teil mit der eigenen
Untersuchung und der statistischen Analyse des Datenmaterials zum
agitierten Verhalten und dessen zirkadianer Rhythmik bei Demenzkranken.
3
2
Theoretischer Hintergrund und Fragestellung
2.1
Dementielle
Erkrankungen
als
Herausforderung
für
Geriatrie, Gerontopsychiatrie und Altenpflege
Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigt in den industrialisierten
Ländern kontinuierlich an. Der Rückgang der Mortalität einerseits und der
Fertilität andererseits haben im Laufe des letzten Jahrhunderts zu einer
drastischen Veränderung der Alterspyramide geführt und werden diese in
naher Zukunft „auf den Kopf stellen“.
Lag der Bevölkerungsanteil der über 65-jährigen im Deutschen Reich um
1910 noch bei 5 %, so hat sich der Anteil auf 15,9 % in 1998 erhöht. Dabei
ist die absolute Zahl der unter 65-jährigen nur geringfügig gestiegen, die
Zahl der über 65-jährigen hat sich dagegen vervierfacht, die Zahl der über
80-jährigen gar verzehnfacht. Die mittlere Lebenserwartung nach Erreichen
des 65. Lebensjahres hat sich bei Frauen um 40% auf 83,9 Jahre, bei
Männern sogar um 45% auf 80,1 Jahre erhöht (Bickel 2003).
Die Konsequenzen für das Versorgungssystem sind beträchtlich, da
Krankheitshäufigkeit,
Pflegebedürftigkeit
und
Inanspruchnahme
von
medizinischen und sozialen Einrichtungen stark altersabhängig sind. Die
bestehenden sozialen Sicherungssysteme können diesen veränderten
Erfordernissen kaum noch standhalten, was sich in immer höheren
Sozialversicherungsbeiträgen
und
einem
immer
stärker
werdenden
„Reformdruck“ auf die Politik äußert.
Demenzen
und
Haupterkrankungen
Depressionen
hinsichtlich
sind
ihrer
die
beiden
Prävalenz
psychiatrischen
und
ihrer
4
sozialökonomischen Bedeutung im Alter (Stoppe 2000). Diese beiden
Entitäten sind auch vergleichsweise am besten untersucht.
Die Demenz ist die psychische Alterskrankheit schlechthin, da sie relativ
selten unter 65 Jahren auftritt, ihre Häufigkeit mit steigendem Alter aber
steil zunimmt (s. u.). Gemäß der „Canadian Study of Health and Aging“
(Graham et al. 1997) liegt die Prävalenz in der Gruppe der über 65-jährigen
der Demenzen bei 8% (davon 2,6% schwere, 3,1% mittelschwere und
2,3% leichte Formen). 16,8% leiden an einer leichten kognitiven
Beeinträchtigung, 75,2% sind kognitiv nicht beeinträchtigt (s. Tab. 1).
Tab.1: Prävalenz von leichter kognitiver Beeinträchtigung und Demenz in
der Altenbevölkerung gemäß der „Canadian Study of Health and
Aging“ (Graham et al. 1997)
leicht
Demenz
mittelschwer
schwer
leichte kognitive Störung
kognitiv unbeeinträchtigt
2,3%
3,1%
2,6%
16,8%
75,2%
8%
92%
Für die deutschen Senioren errechnen sich aus Metaanalysen Demenzraten
zwischen 6 und 8,7%. Hochgerechnet ergibt sich daraus eine Zahl zwischen
770 Tausend und 1,1 Mio. Demenzkranker in Deutschland.
Die Prävalenz der Demenz steigt mit zunehmenden Alter exponentiell: In
der Altersgruppe der 65-69-jährigen sind es 1,2% Demenzkranke; 2,8% in
der Altersgruppe der 70-74-jährigen, 6% in der Gruppe der 75-79-jährigen,
13,3% in der Gruppe der 80-84-jährigen, 23,9% bei den 85-89-jährigen und
34,6 % bei den über 90-jährigen in der deutschen Bevölkerung (Beyreuther,
K., Einhäupl, K. M., Förstl, H., Kurz, A. 2002).
5
Ab dem 85.- 90. Lebensjahr scheint sich der exponentielle Anstieg
abzuschwächen, ab dem 95. Lebensjahr kommt es möglicherweise zu
keinem weiteren Zuwachs mehr (Richie und Kildea 1995).
Die EURODEM-Studie (Ott et. al. 1995) findet die Demenz vom Alzheimertyp
(DAT) mit etwa 72% als häufigste Form, die vaskuläre Demenz mit 16% an
zweiter Stelle. Kosunen et al. (1996) fanden in 8 von 10 Fällen vaskulärer
Demenz auch alzheimertypische histopathologische Veränderungen. Somit
wird heute angenommen, dass eine „Alzheimerpathologie“ bei über 80%
der Demenzen eine wesentliche Rolle spielt.
12%
16%
Alzheimer Demenz
Vaskuläre Demenz
Andere Ursachen
72%
Abb. 1 Anteil der Alzheimerdemenz und der vaskulären Demenz an den
Altersdemenzen (Ott et al 1995).
Obwohl auf den zunehmenden institutionellen Pflegebedarf immer wieder
hingewiesen wird, ist nach Böger und Pickartz (2001) heute immer noch die
Familie das primäre Versorgungssystem im Falle des eingetretenen
Hilfsbedarfs. Dabei sind es zu 90 Prozent Frauen zwischen 40 und 75 Jahren
- Ehefrauen, Töchter oder Schwiegertöchter - welche mit Abstand die
meisten pflegerischen Leistungen aufbringen. Insgesamt gibt es 1,6
6
Millionen Pflegebedürftige in Deutschland (Ministerium für Arbeit und
Soziales 1996, in ).
Lediglich
vier
Prozent
der
über
65jährigen
leben
in
stationären
Einrichtungen (Geuß, 1990). Nach Förstl, Sattel und Bahro (1993), werden
80 Prozent aller Demenzkranken zuhause gepflegt.
Pflegende Angehörige und professionelle Pflegekräfte werden bei uns in
Deutschland eher selten zum Forschungsgegenstand gemacht, wohingegen
in den USA das Thema „Caregivers“ schon seit zwei Jahrzehnten zu den
gerontologischen Forschungsschwerpunkten zählt. Führt die Pflege von
Dementen bei den Angehörigen per se schon zu einer dramatischen
Zunahmen von Befindlichkeitsstörungen und Depressionen (Böger und
Pickartz 2001), so haben Verhaltensauffälligkeiten der Demenzkranken wie
fortwährendes Schreien, rastloses und desorientiertes Umherlaufen oder gar
Handgreiflichkeiten einen negativen Einfluss auf das Verhältnis zwischen
Pflegenden und Kranken, zermürben die Familien und führen zu Einweisung
in stationäre Einrichtungen wie Krankenhaus oder Pflegeheim (Neistein und
Siegal 1996).
2.2
Die nichtkognitiven Symptome der Demenz
Die Diagnoseglossare Internationale Klassifikation Psychischer Störungen,
ICD-10,
der
Weltgesundheitsorganisation
(Dilling
2000)
und
das
Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen, DSM-IV (Saß
1996), benennen die kognitiven Defizite als ein Leitsymptom der Demenz.
7
Die ICD-10 fordert für die Demenz, die als Folge einer Gehirnerkrankung
auftrete, das Vorliegen kognitiver Störungen als Beeinträchtigung von
Bereichen wie
-
Gedächtnis
-
Denken
-
Orientierung
-
Auffassung
-
Rechnen
-
Lernfähigkeit
-
Sprache
-
Urteilsfähigkeit.
Die kognitiven Störungen müssen bedeutsame Beeinträchtigungen in
sozialen
(z.
B.
Verschlechterung
beruflichen)
des
Bereichen
Leistungsniveaus
verursachen
nach
sich
und
so
ziehen.
eine
–
Differentialdiagnostisch sind eine Bewusstseinstrübung bzw. ein Delir
auszuschließen.
In der allgemeinen Beschreibung der diagnostischen Minimalbedingungen
der Demenz im ICD-10 wird neben der kognitiven Symptomatik zumindest
erwähnt, dass diese häufig begleitet ist von einer Verschlechterung der
emotionalen Kontrolle, des sozialen Verhaltens sowie der Motivation – diese
so genannten nichtkognitiven Symptome können laut ICD-10 den kognitiven
Symptomen gelegentlich auch vorangehen.
Die Forschungskriterien der ICD-10 (Dilling 1994) führen weiterhin auf:
-
Emotionale Labilität
-
Vergröberung des Sozialverhaltens
-
Reizbarkeit
-
Apathie.
8
„Zusätzliche Symptome“ können an 5. Stelle des ICD-10-Schlüssels kodiert
werden:
-
sonstige Symptome, vorwiegend wahnhaft
-
sonstige Symptome, vorwiegend halluzinatorisch
-
sonstige Symptome, vorwiegend depressiv
-
sonstige gemischte Symptome.
Das DSM-IV fordert ähnliche (kognitive) Symptome für die diagnostische
Einstufung
als
Demenz:
mindestens
eines
der
Beeinträchtigung
Symptome
Aphasie,
des
Gedächtnisses
Apraxie,
Agnosie
plus
oder
Exekutivfunktionsstörung.
Zur Diagnose einer Alzheimerdemenz oder vaskulären Demenz kann „mit
Verhaltensstörungen“ hinzugefügt werden.
Ein entscheidender Unterschied beider Klassifikationssysteme liegt in der
Aussage zum Zeitfaktor der Demenzsymptomatik; laut ICD-10 müssen für
eine zuverlässige klinische Diagnose die erwähnten Symptome und
Störungen mindestens sechs Monate lang bestehen, im DSM IV wird kein
Zeitkriterium angegeben.
In beiden Diagnoseglossaren sind die nichtkognitiven Störungen nicht
diagnoserelevant.
Dies ist um so überraschender, da bereits der Erstbeschreiber der nach ihm
benannten Demenz, Alois Alzheimer, in seinem Tübinger Vortrag im Jahre
1906 (publiziert 1907), von „einer eigenartigen Erkrankung der Hirnrinde“
sprach und dabei eine Vielzahl nichtkognitiver Symptome wie Wahn,
Verkennungen, Halluzinationen, Aggressivität und Unruhe einbezog.
9
Schröder (1998) verweist auf die seit etwa 10 Jahren zunehmende
Hinwendung
des
nichtkognitiven
klinischen
und
wissenschaftlichen
Demenz-Psychopathologie
und
Interesses
gruppiert
zur
diese
folgendermaßen (ohne somatische Symptome):
-
Depressivität, Ängstlichkeit, Maniformität, Affektlabilität
-
Paranoide
Wahnvorstellungen,
Illusionäre
Verkennungen,
Halluzinationen
-
Abulie, Agitiertheit, Umherlaufen, Aggressivität, Schreien.
Gemäß den Befunden von Schröder (1998) sowie unter Verweis auf die
Mehrzahl der Studien ist das psychopathologische Bild bei der Demenz von
Alzheimer-Typ und der vaskulären Demenz kaum zu unterscheiden.
Von der International Psychogeriatric Association (IPA 1996) wurde für die
nichtkognitiven Symptome der Begriff der „Behavioral and Psychological
Symptoms of Dementia (BPSD)“ geprägt. Diese oft diskontinuierlich
auftretenden Begleitsymptome beziehen sich auf Veränderungen von
Stimmung, Verhalten und Gedankeninhalten und beinhalten Aggression,
Agitation, Depressionen, Ängste, Halluzinationen, sexuelle Disinhibition.
Laut Schröder (1998) sind die mit Abstand häufigsten Symptome paranoides
und aggressives Verhalten.
Bei anderen Autoren ist Agitiertheit mit 55% das am häufigsten auftretende
BPSD-Phänomen, wobei die Prävalenz von BPSD allgemein als sehr hoch
angegeben wird: zwischen etwa 80% (Ballard et al. 2001) und 100%
(Rainer et al.1999).
In der neueren Literatur wird diskutiert, Subtypen der Demenz nach
Vorkommen von nichtkognitiven Begleitsymptomen zu klassifizieren – z.B.
nach dem Vorhandensein von Depression (Starkstein u. Robinson 1996).
10
Kranke
des
Typs
Demenzentwicklung
I
ihre
nehmen
kognitiven
hiernach
im
Initialstadium
Beeinträchtigungen
und
der
daraus
folgende Implikationen wahr, so dass die affektive Störung vermutlich eine
Reaktion ihres Erlebens ist. In Bild gebenden Verfahren konnten hier keine
Stoffwechselveränderungen gefunden werden. Beim Typ II dagegen besteht
eine schwere Depression häufig schon zu Beginn oder vor der klinischen
Manifestation der Demenz. Diese Patienten nehmen ihre Defizite nicht wahr,
bagatellisieren und zeigen keine Therapiebereitschaft. Bei ihnen zeigte sich
in
Bild
gebenden
Verfahren
linkshemisphärisch
eine
Stoffwechselaktivitätsverminderung.
2.3
Das Konstrukt Agitiertheit
In diesem Kapitel soll zuerst der Begriff AGITIERTHEIT genauer bestimmt
und definiert werden (Kapitel 2.3.1), bevor die aktuellen Diagnoseglossare
ICD-10 und DSM-IV hinsichtlich dieser Symptomgruppe durchgesehen
werden (Kapitel 2.3.2.1). Im letzten Unterkapitel (2.3.2.2) soll ausführlicher
auf den Zusammenhang zwischen Agitiertheit und Demenz und auf die
zentrale Stellung von Agitiertheit im Rahmen der nichtkognitiven Symptome
eingegangen werden.
2.3.1
Begriffsbestimmung
Das lateinische agere = handeln sowie agitare = antreiben, aufregen,
aufreizen geben uns Aufschluss über die Wortherkunft für die in der Medizin
beziehungsweise
Agitiertheit.
Psychiatrie
gebräuchlichen
Begriffe
Agieren
und
11
Eine andere Möglichkeit der Übertragung ins Deutsche, das Synonym
Agitation, ist laut Duden der Bedeutung im politischen Sinne vorbehalten (=
politische Hetze und intensive politische Aufklärungs- und Werbetätigkeit).
Das Klinische Wörterbuch Pschyrembel (1990) gibt folgende Erklärung:
Agieren (lat.
agere
handeln):
Bezeichnung
der
analytischen
Psychotherapie für das Ausleben von verdrängten (meist infantilen)
Emotionen und (unbewussten) Wünschen.
agitans (lat. agitare antreiben): erregend, agitiert, erregt
Agitiertheit: syn. Agitatio; motorische Unruhe und gesteigerte
körperliche Erregbarkeit, Vorkommen: z. B. Delir, Katatonie oder
Psychose.
Der Begriff Agitiertheit wird im Glossar der Fachausdrücke im Anhang C des
DSM-IV (Saß et al. 1996) folgendermaßen erklärt:
Agitiertheit
(Psychomotor.
Arousal).
Übermäßige
motorische
Aktivität, die mit einem Gefühl innerer Anspannung einhergeht. Die
Aktivität ist in der Regel unproduktiv und wiederholt sich ständig. Sie
zeigt sich in Verhaltensweisen wie Hin- und Herlaufen, Zappeln,
Händeringen, Zerren an den Kleidern und Nicht-Stillsitzen-Können.
Im DSM-IV wird in diesem Sinne Unruhe, Erregung und psychomotorische
Unruhe synonym verwandt.
Das Psychologische Wörterbuch von Dorsch (1998) gibt folgende Erklärung:
12
Agitation (lat. agitare antreiben, aufregen), Handeln, bes. als
Aufreizen.
- (med.) Unruhe, Erregung, erregte Bewegung, wie z. B. bei paralysis
agitans (Schüttellähmung) oder agitierter Depression (hochgradige
motorische Unruhe mit klagend-anklagender Verstimmung) - Agitiertsein soviel wie in Erregung sein mit bestimmten Zeichen innerer und
äußerer Unruhe.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass beide Begriffe, Agitiertheit und
Agitation, im deutschen Sprachraum im medizinischen Sinne verwendet
werden können. Da der Begriff Agitiertheit geläufiger erscheint und in den
genannten beiden maßgeblichen Diagnoseglossaren verwandt wird, wird
dieser im weiteren beibehalten.
2.3.2
Agitiertheit und Demenz: Klassifikation, Diagnostik und
Ätiologie
2.3.2.1
Agitiertheit und Diagnoseglossare
Mit dem Begriff Agitiertheit wird eine Gruppe von Symptomen beschrieben,
eher
im
Sinne
eines
unspezifischen
Symptomkomplexes
als
eines
eigentlichen diagnostischen Terminus´. Als ursächlich können folgende
Aspekte angenommen werden:
-
psychiatrische Störungen, wie affektive und schizophrene Psychosen,
neurotische Störungen
-
neurologische Erkrankungen, wie das Parkinson-Syndrom, Chorea,
Enzephalitiden, Demenzen
13
-
Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus, Hormonstörungen (z.
B. Hyperthyreose), Ernährungsstörungen, Organerkrankungen (z. B.
chronisch obstruktive Lungenerkrankungen, Herzinsuffizienz)
-
Medikamentennebenwirkungen,
(z.B.
Theophyllin,
ß2-Mimetika,
Antidepressiva vom SSRI-Typ, Neuroleptika, Antidementiva)
-
psychogen ausgelöst (Angst, Nervosität, Fehlwahrnehmungen)
-
Entzugserscheinungen (Alkohol, Benzodiazepine, Heroin)
In
der
Internationalen
Klassifikation
Psychischer
Störungen
(International Classification of Diseases, ICD 10) der WHO finden
sich unter Kapitel V (F) Hinweise zu psychomotorischer Unruhe oder
Agitiertheit bei verschiedenen Krankheitsbildern:
-
F05 Delir, nicht durch Alkohol oder sonstige psychotrope
Substanzen bedingt, hier als diagnostische Leitlinie Nr. 3:
„Psychomotorische Störungen (Hypo- oder Hyperaktivität und nicht
vorhersehbarer Wechsel zwischen beiden)“
-
F06.1 organisch katatone Störung, hier als diagnostische
Leitlinie Nr. 2: „Erregung (starke Hypermotilität mit oder ohne
Tendenz zur Fremdgefährlichkeit)“
-
F1x.0 akute Intoxikation. Unter den diagnostischen Leitlinien wird
aufgeführt: „z. B. können dämpfende Substanzen Agitiertheit und
Überaktivität hervorrufen…“
-
F20 Schizophrenie und F20.2 katatone Schizophrenie, hier als
diagnostische Leitlinie Nr. 2: „Erregung (anscheinend sinnlose
motorische Aktivität, die nicht durch äußere Reize beeinflusst ist)“
14
-
F30 Affektive Störung: manische Episode mit „gesteigertem
Antrieb und Aktivität“. Zur Differentialdiagnose wird angemerkt, dass
„die gesteigerte Aktivität, die Ruhelosigkeit und der häufige
Gewichtsverlust von ähnlichen Symptomen bei Hyperthyreose und
Anorexia nervosa“ zu unterscheiden sei. Auch die gegen Ende des
mittleren Lebensabschnittes vorkommenden „Anfangsstadien einer
„agitierten Depression“ können Ähnlichkeiten mit der gereizten Form
einer Hypomanie zeigen.
-
F31 bipolare affektive Störung. Agitiertheit wird hier für die
gegenwärtig gemischte Episode (F31.6) beschrieben und findet
sich natürlich ebenso bei der jeweils gegenwärtig unipolaren
Ausprägungsform.
-
F32 Affektive Störung: depressive Episoden mit den „typischen
Störungen des somatischen Syndroms“ wie u. a. „der objektive
Befund einer psychomotorischen Hemmung oder Agitiertheit“.
-
F43
Belastungs- und Anpassungsstörungen gehen einher mit
vermehrter Unruhe, Konzentrationsproblemen, Hypervigilanz und
weiteren Symptomen erhöhten Arousals. Bei diesen Störungen wie
der
akuten
Belastungsreaktion
oder
der
posttraumatischen
Belastungsstörung wird der Terminus Agitiertheit jedoch nicht
verwandt.
In dem offiziellen Klassifikationssystem der APA (American Psychiatric
Association),
dem
Diagnostischen
und
Statistischen
Manual
15
Psychischer Störungen, DSM-IV (Saß 1996), finden sich Hinweise zu
Agitiertheit und synonymen Begriffen an entsprechenden Stellen:
-
291.8
Alkoholentzug,
Kriterium
B:
unter
anderem
„psychomotorische Agitiertheit“. Des Weiteren sind psychomotorische
Unruhe,
Verlangsamung
oder
Agitiertheit
auch
Kriterien
des
Kokainentzuges (292.0) oder anderen Substanzentzuges.
-
292.89
Amphetaminintoxikation
Amphetaminentzug,
jeweils
unter
und
dem
292.0
Kriterium
B:
„psychomotorische Agitiertheit oder Verlangsamung“.
-
303.0 Alkoholintoxikation unter dem Kriterium B: „klinisch
bedeutsame
unangepasste
Veränderungen
(z.
B
Verhaltens-
unangemessenes
oder
psychische
aggressives
oder
Sexualverhalten).
-
295.2 Schizophrenie, Katatoner Typus, unter einem fakultativen
Kriterium : „2. übermäßige motorische Aktivität (die offenkundig
nicht zweckgerichtet ist und nicht durch äußere Reize beeinflusst
wird)“.
-
296.2x Affektive Störungen, Major Depression; wobei unter 5.
die „Psychomotorische Unruhe und Verlangsamung … durch andere
beobachtbar, nicht nur das subjektive Gefühl von Rastlosigkeit oder
Verlangsamung“ angeführt wird.
16
-
296.0x Affektive Störungen, Manische Episode; wobei unter 6.
eine „gesteigerte Betriebsamkeit … oder psychomotorische Unruhe“
als Symptom genannt wird.
-
309.81
Posttraumatische
Belastungsstörung
und
308.3
Akute Belastungsstörung; bei beiden wird von Symptomen
erhöhten Arousals und motorischer Unruhe gesprochen.
Unter F0 Organische Störungen des ICD-10 sowie Delir, Demenz,
Amnestische und Andere Kognitive Störungen des DMS-IV werden
in beiden Diagnoseglossaren der Begriff Agitiertheit nicht aufgeführt (s. o.).
Lediglich bei den Leitlinien des Delirs (293.0 und F05) werden
„psychomotorische
Störungen“
und
„erhöhte
oder
verminderte
psychomotorische Aktivität“ genannt.
2.3.2.2 Agitiertheit bei Demenz, Ursachen und Behandlungsformen
Der Begriff der Agitiertheit findet sich zwar relativ häufig in den
Diagnoseglossaren,
Symptomen
der
gehört
Demenz
aber
und
nicht
findet
zu
den
diagnoserelevanten
sich
dort
nicht
einmal
an
nachgeordneter Stelle. Eine umfassende Darstellung des Konstrukts
Agitiertheit findet sich weiter unten.
Die
als
agitiertes
Verhalten
oder
Verhaltensstörung
beobachtbaren
Veränderungen im Krankheitsverlauf können psychologisch als Versuche des
Betroffenen verstanden werden, seine Defizite zu bewältigen, für die ihm
keine adäquaten Strategien mehr zur Verfügung stehen. Die jeweilige
Auslösung, Ausprägung und Dauer vieler Symptome sind einerseits
17
abhängig
vom
Krankheitsstadium,
können
andererseits
aber
auch
situationsbedingt in Form überraschender, nicht überschaubarer bis
überfordernder Konstellationen sein. Für Außenstehende können sie
nachvollziehbar und manchmal sogar vorhersehbar sein. Nach Stuhlmann
(in Wächtler, 2003) gibt es für den Problembereich Unruhe, dem nach Kurz
und Jendroska (2002) stabilsten nichtkognitiven Syndrom , folgende
Ursachen:
- körperlich-medizinische wie die direkte Auswirkung von organischen,
morphologischen Gehirnveränderungen; körperliche Zustände wie
Hunger, Harndrang oder Schmerzen, die nicht identifiziert oder
angemessen ausgedrückt werden können; Medikamentenreaktionen;
Bedürfnis nach Bewegung; Flüssigkeitsmangel oder auch das Erleben
von Stress und innerer Anspannung.
-
Ursachen
in
Raumtemperatur,
(bekannten)
der
Umgebung
Reizüberflutung,
Personen,
den
wie
eine
unangemessene
Unterstimulation,
Eindruck
des
Suche
nach
Eingesperrtseins,
Umgebungswechsel, Fehlwahrnehmungen oder auch eingeschränkte
Informationsverarbeitung.
-
Mögliche
andere
Ursachen
liegen
im
Nichtverstehen
von
Anweisungen, in zu hohen Anforderungen, im Erleben eigener
Hilflosigkeit, im Zusehen bei Aktivitäten anderer, in zu großer
Komplexität einer Aufgabe, in der Übertragung von Ungeduld seitens
der Betreuungsperson oder im Tragen von zu enger oder warmer
Kleidung.
Als ätiologische Faktoren der Agitiertheit werden von Mintzer und BrawmanMintzer (1996) biologische Faktoren neben Umweltfaktoren diskutiert. In
der zitierten Übersichtsarbeit wird auf einen möglichen Zusammenhang
zwischen Agitiertheit und einer Angststörung hingewiesen. Agitiertheit
18
könnte Ausdruck von Überforderung (Konstrukt des „Excess disability“) sein.
Agitiertheit oder Aggressivität als „Catastrophic Reaction“, z. B. nach
Schlaganfall mit plötzlicher Überforderung durch die Umwelt wurde laut
Mintzer als ein Konstrukt schon im Jahre 1952 durch K. Goldstein
eingeführt.
Nach Cohen-Mansfield und Billig (1986) findet sich in der Literatur kein
einheitliches Konzept von Agitiertheit. In einer Literaturübersicht stellen die
genannten Autoren fest, dass in den meisten der von ihnen angestellten
Studien
Zusammenhänge
zwischen
den
einzelnen
agitierten
Verhaltensweise aufgezeigt werden konnten. Sie folgern daraus, dass
Agitiertheit als globales Konstrukt verstanden und untersucht werden sollte.
Sie definieren Agitiertheit als eine
„unangemessene verbale, stimmliche oder motorische Aktivität,
die von einem Beobachter nicht als direktes Resultat der
Bedürfnisse oder Verwirrung der agitierten Person angesehen
werden kann“.
Nach Cohen-Mansfield ist agitiertes Verhalten immer sozial unangemessen
und kann sich auf dreierlei Arten manifestieren (Cohen-Mansfield, Marx und
Rosenthal 1989):
- beleidigend oder aggressiv gegenüber sich selbst oder anderen (z.B.
schlagen, greifen)
- angemessenes Verhalten mit einer unangemessenen Frequenz (z.B.
ständiges Hilfe-Rufen)
- sozial unangemessen in einer spezifischen Situation (z.B. lautes Singen
beim Essen)
Eine Handlung wird dann als agitiert bezeichnet, wenn dem Beobachter das
Bedürfnis nicht ersichtlich ist. Entsprechend würde ein unablässiges
19
Herumwandern einer dementen Person als agitiert bezeichnet, obwohl
möglicherweise innere Gründe die Person dazu veranlassen, diese aber dem
Beobachter nicht direkt zugänglich sind.
In den meisten Fällen dürfte es sich bei agitiertem Verhalten um eine
Überlagerung von subjektiven Bedürfnissen und Reaktionen auf kognitive
Fehlverarbeitung handeln, wobei endogene Rhythmen einen weiteren
Faktor darstellen. So könnte das unruhige morgendliche Umherlaufen einer
dementen Frau die Suche nach ihren vermeintlich verloren gegangenen
Kindern
bedeuten,
andererseits
wäre
die
morgendliche
ängstliche
Besorgtheit als Ausdruck eines depressiven Morgentiefs zu interpretieren.
Nach der Auffassung von Cohen-Mansfield und Billig (1986) muss
Agitiertheit
von
medizinischen
Zuständen
abgegrenzt
werden,
die
undifferenziertes unruhiges Verhalten hervorrufen und der Agitiertheit
ähneln, wie z.B. psychomotorische Unruhe bei Delirien, bei endogene
Erkrankungen (z. B. Hyperthyreose), metabolischen Störungen oder
neurologischen Erkrankungen (z. B. Chorea, M. Parkinson).
Eine
Assoziation
zwischen
einer
Dysfunktion
des
serotonergen
Neurotransmittersystems und Agitiertheit ist bekannt und könnte auch bei
Demenzpatienten Aggressivität und Agitiertheit begründen. Behandlungen
mit Serotoninwiederaufnahmehemmern zeigten positive Ergebnisse (Pollock
et al. 2002) und unterstreichen die Annahme eines Serotonindefizits,
ebenso gab es positive Effekte durch andere serotonerg wirkende
Substanzen, wie Buspiron und Trazodon (Sultzer et al. 2001, Cooper 2003).
Verschiedene Arten agitierten Verhaltens könnten also Ausdruck einer
unterschiedlichen
Ätiologie
sein
unterschiedlicher Interventionen.
und
bedürften
dann
entsprechend
20
Es stellt sich nun die Frage der medikamentösen und nichtmedikamentösen Behandlungsstrategien bei agitierten Demenzpatienten.
Der Bereich der therapeutischen Einflussnahme umfasst folgende Aspekte:
Die
-
medikamentöse Behandlung
-
„menschliche“ Zuwendung mit problemlösender Zielrichtung
-
verhaltenstherapeutische Maßnahmen im engeren Sinne
-
psychoedukative Maßnahmen zur Angehörigenschulung.
medikamentösen
Maßnahmen
zur
Beeinflussung
agitierten
Verhaltens sind umfangreich. Die medikamentöse Beeinflussung ist mehr
oder weniger krankheitsspezifisch, d. h. sie greift unterschiedlich selektiv in
die zugrunde liegende Stoffwechselimbalance ein. So kommen zum einen
unspezifisch sedierende Psychopharmaka wie Benzodiazepine (z. B.
Diazepam, Oxazepam, Lorazepam) und schwach-potente Neuroleptika (z. B.
Melperon, Zuklopenthixol, Pipamperon) zur Anwendung. Weit verbreitet
wird Haloperidol eingesetzt, wobei auch atypische Neuroleptika wie
Risperipon, Olanzapin und Ziprasidon positive Effekte bei Unruhe aufweisen
(McGaffogan et al. 1997, Stoppe und Staedt 1999, Kindermann et al. 2002,
Neugroschl 2002, Yildiz et al. 2003).
Weitere
Behandlungsmöglichkeiten
bieten
Stimmungsstabilisierer,
wie
Lithium, Carbamazepin und Valproat, die sich in der Studie von Zayas und
Grossberg (1996) als wirksam erwiesen haben. Gleichermaßen belegten sie
die Wirksamkeit des sedierenden und serotonergen Antidepressivums
Trazodon gegenüber Agitiertheit und Aggressivität (Sultzer 2001). Einen
weiteren Therapieansatz stellt Tiaprid dar, ein D2-Antagonist, der im
Vergleich zu Haloperidol weniger Nebenwirkungen bei gleicher Wirksamkeit
aufwies (Allain et al. 2000).
21
Spezifischere
ebenfalls
Behandlungsmaßnahmen
gegen
Agitiertheit.
So
durch
werden
Antidementiva
positive
wirken
Erfahrungen
von
Behandlungen mit Cholinesterasehemmern berichtet: Wilcock et al. (2000)
und
Tariot
et
al.
(2000)
Verhaltenensauffälligkeiten
konnten
unter
der
signifikante
Besserungen
Behandlung
mit
von
Galantamin
feststellen. In einer Studie von Rösler et al. (1998/1999) über 104 Wochen
besserte Rivastigmin hingegen Aggressivität nicht. Unter der Behandlung
mit Donepezil verringerte sich abendliche Unruhe bei einem Patienten mit
Lewy-Body-Demenz (Skjerve und Nygaard 2000).
Menschliche Zuwendung erfolgt in erster Linie durch pflegende
Angehörige sowie ambulant und institutionell tätige Pflegekräfte, die sich
den
Bedürfnissen
zugewandt,
„verhaltenslenkend“
und
spezielle
therapeutische Ziele verfolgend mit dem Kranken beschäftigen.
Das Wesentliche einer empathischen und zugleich effektiven Zuwendung
gegenüber einem dementen Patienten mit agitiertem Verhalten ist das
Verstehen lernen von Verhaltensproblemen. Die nach außen sichtbaren
Verhaltensprobleme des Demenzkranken sind eine Art inadäquate Strategie,
die eigenen Befindlichkeiten und Probleme zu bewältigen. Mechanismen der
Anpassung und Bewältigung und des Coping sind nach Stuhlmann (2003)
vielschichtig; sie reichen von freundlicher Anpassung, Suche nach Sicherheit
und Geborgenheit, depressiver und ängstlicher Verarbeitung von Defiziten
über psychischen und sozialen Rückzug, von wahnhaftem Erleben bis hin zu
expansiven und aversiven Verhaltensweisen. Eine genaue Analyse der
Probleme sollte eine Sichtweise ermöglichen, die das Erleben des Kranken
mit berücksichtigt. Idealerweise könnte dies neue Perspektiven eröffnen, die
eine Neubewertung des Problems oder zumindest eine positive Distanz
zulassen. Auch das Akzeptieren und Aushalten von Situationen, die
krankheitsbedingt nicht zu ändern sind, ist dann oft einfacher. Hilfreich ist,
22
den Einfluss von Biographie und Primärpersönlichkeit des Kranken
nachzuvollziehen und als eine Ressource zu begreifen.
Im Folgenden sollen in Anlehnung an Stuhlmann (2003) allgemeingültige
Hinweise für den Umgang mit Demenzkranken in Hinblick auf die
Verbesserung des Wohlbefindens des Kranken und eine Verringerung sozial
unverträglichen Verhaltens aufgeführt werden:
-
Den eigenen nonverbalen Ausdrucks beobachten bzw. kontrollieren.
Oft reagiert der Kranke direkter und intensiver auf Tonfall, Gesichtsausdruck, Ungeduld oder Ärger als darauf, was inhaltlich gesagt
wird.
-
Nicht fordernd auftreten und den Grundton der Kommunikation
selbst bestimmen.
Ruhiges und freundliches Auftreten kann sich (genauso wie das
Gegenteil)
auf
den
Kranken
übertragen.
Die
Eröffnung
der
Kommunikation sollte mit ein paar Worten zur eigenen Person und
Tätigkeit sowie einem neutralen Thema beginnen. Es sollten einfache
Fragen, langsam und deutlich (aufgrund der Schwierigkeiten in der
Informationsverarbeitung) gestellt werden.
-
Berührung kann Nähe und Sicherheit vermitteln.
Das Gespräch kann unterstützt werden durch gleichzeitiges Berühren
des Kranken, wobei aber darauf zu achten ist, dass es nicht als
Zudringlichkeit erlebt wird. Blickkontakt sollte möglichst auf der
Augenhöhe des zu betreuenden Kranken erfolgen.
-
Möglichst ständigen Sichtkontakt aufrechterhalten.
Das Wahrnehmen einer vertrauten Bezugsperson gibt Sicherheit –
deren Verschwinden löst sofort ein Gefühl des Unsicherseins aus.
-
Den Tagesablauf übersichtlich gestalten und feste Gewohnheiten
etablieren.
23
-
Diskussionen über problematische Verhaltensweisen vermeiden,
stattdessen ablenken. Loben statt zu kritisieren.
-
Unter- sowie Überforderung erkennen und vermeiden. Keinen
Leistungsmaßstab wie bei Gesunden anlegen.
-
Umgebung
nach
Überstimulation,
Unruhe
bedingenden
Unordnung,
Lärm
und
Ursachen
untersuchen:
Geräusche,
fehlende
Orientierung, zu enge oder zu weitläufige räumliche Umgebung,
fehlende Rückzugs- und Entspannungsmöglichkeiten u. a. m.
Für die Verhaltenstherapie (VT) bei dementiellen Erkrankungen gibt es
neben
der
eigentlichen
Domäne,
dem
kognitiven
Training,
im
nichtkognitiven Symptombereich drei Indikationen:
-
die depressiven Verstimmungen,
-
psychotische Störungen und
-
agitiertes und aggressives Verhalten.
Eine verhaltenstherapeutische Behandlung bzw. Intervention im Sinne der
Reduzierung nichtkognitiver Symptomatik richtet sich nicht allein auf eine
Verhaltensmodifikation
zum
Aufbau
erwünschten
und
zum
Abbau
unerwünschten Verhaltens. Sie erzielt auch über den so genannten
Brückeneffekt (vgl. Haupt 2003) eine Verbesserung der Befindlichkeit der
betreuenden Angehörigen.
Depressive Verstimmungen dementer Patienten durch kognitive Techniken
und Aktivtätsaufbau zu verändern, ist ein in der Wirksamkeit mehrfach
bestätigtes verhaltenstherapeutisches Vorgehen (vgl. Teri et al. 1997). Auch
das Verhaltenstherapeutische Kompetenztraining (VTK) nach Ehrhardt u.
Plattner (1999) stellt eine aus bisherigen Forschungsergebnissen abgeleitete
24
Arbeitsgrundlage
zur
Verbesserung
depressiver
Verstimmungen
bei
Demenzkranken dar.
Bei
psychotischen
milieutherapeutische
unvertrauten
und
Störungen
sind
Interventionen
komplexen,
Umgebungsstrukturierung
(vgl.
Haupt
potentiell
2003)
sinnvoll.
aversiv
und
Bei
wirkenden
Umgebungsbedingungen wie es vor allem im institutionellen Rahmen der
Fall sein dürfte, steigt bei mittelschwer bis schwer ausgeprägter Demenz
das Risiko von Wahn, Halluzinationen und Verkennungen mit konsekutiven
Verhaltensauffälligkeiten. Vorbeugende Strategien können dabei kaum
entwickelt werden, vielmehr geht es darum, auslösende Phänomene wie
Spiegelungen, Geräuschkulissen oder bestimmte Fernsehsendungen zu
erkennen,
zu
eliminieren
oder
umzugestalten.
Milieutherapeutische
Interventionen sollten laut Höwler (2000) dergestalt sein, dass durch
Modifikation der Umgebung eine optimale Anpassung des Kranken an diese
Umgebung gelingt, sich der Grad der Ablesbarkeit („Dekodierung“) für den
dementen Patienten erhöht und damit seine Selbständigkeit erhalten bleibt.
Zudem werden Maßnahmen zur sensorischen Stimulation durch haptisch
anregende Materialien und angenehme Gerüche beschrieben. Weiterhin
plädiert Höwler für „Snoezelen“-Räume, die sich zur Beruhigung bei
Antriebssteigerung und Kontrollverlust bewährten.
Für Agitiertheit und aggressives Verhalten bei leicht bis mittelschwer
dementen Kranken werden von Teri et al. (1997) so genannte multimodale
Interventionen beschrieben:
-
individuell
zusammengestellte
Kombination
aus
tagesstrukturierenden, bewegungstherapeutischen und angenehmaktivierenden Erlebnissen für den Demenzkranken.
25
-
für die Pflegenden die Vermittlung von Problemlösestrategien bei
schwer
zu
bewältigenden
Situationen
mit
dem
Kranken;
Selbstmanagementstrategien andererseits.
Burgio et al. (1992) beschreiben in Ihrer Untersuchung die Anwendung
zweier verhaltenstherapeutischer Behandlungsformen:
-
differentielle positive Verstärkung inkompatiblen Verhaltens
Hierbei handelt es sich um eine Technik, welche die Häufigkeit einer
unangemessenen Verhaltensweise reduzieren soll, indem der Patient
für das Nichtauftreten dieses Verhaltens während einer bestimmten
Zeitspanne positiv verstärkt wird (täglich 10-15 Min. Zeit in Anspruch
nehmend, keine Nebenwirkungen).
-
„Time-out“ oder Auszeit
Bei dieser leicht aversiven Maßnahme wird die Person nach jedem
Auftreten unangemessenen Verhaltens zeitlich kontingent für 10
Minuten in ein anderes Zimmer gebracht, das Vorgehen wird stets im
Zusammenhang mit positiver Verstärkung angewandt (anfänglich 2030 Minuten täglicher Zeitaufwand und mögliche Nebenwirkung in
Form von Widerstand und Ansteigen störender Verhaltensweisen).
Die Psychoedukation von Angehörigen in Selbsthilfegruppen ist zu einem
wichtigen Bestandteil der psychosozialen Versorgung Demenzkranker
geworden.
Sie
ermöglicht,
in
den
verschiedensten
Bereichen
den
Bezugspersonen, angemessen mit den Problemen der Krankheit umzugehen
und sich auf zukünftige Veränderungen einzustellen. Dabei kann die eigene
Lebenssituation
Unterstützung
thematisiert
ermöglicht
sowie
werden.
gegenseitige
Grundzüge
Entlastung
der
Arbeit
und
der
Angehörigengruppen, die wegen des großen Informationsbedarfs zumindest
zeitweise von professionellen Helfern moderiert werden sollten, sind bei
26
Kurz
(1987)
dargestellt.
Folgende
Zielvorstellungen
umreißen
den
inhaltlichen Rahmen der Selbsthilfegruppenarbeit:
-
Wissen über die Krankheit erwerben
-
die Krankheit als Tatsache annehmen
-
Verhaltensweisen der Kranken verstehen
-
die äußeren Lebensbedingungen an die Krankheit anpassen
-
das eigene Verhalten an die Krankheit anpassen
-
für sich selbst sorgen.
Von Bayer-Feldmann und Greifenhagen (1995) wurde eine systemisch
orientierte,
familientherapeutische
Elemente
einbeziehende
Gruppenintervention mit Angehörigen von Demenzkranken beschrieben, die
den
Belastungsgrad
der
Pflegenden
zu
senken
vermochte.
Schwerpunktthemen waren der Alltag zu Hause, die Gestaltung des
Tagesablaufs,
soziale
Kontakte,
Problemsituationen,
Gefühle,
Belastungsgrenzen und Möglichkeiten der Regeneration der Pflegenden.
Nach Haupt (2003) ist Angehörigenarbeit auch in Bezug auf die Häufigkeit
und
Intensität
von
nichtkognitiven
Störungen
der
Demenzkranken
therapeutisch wirksam und es ließ sich somit der bereits erwähnte
„Brückeneffekt“ nachweisen.
27
2.4
Das Konstrukt Sundowning
2.4.1
Begriffsbestimmung
Eine nächtliche Exazerbation an Verhaltensauffälligkeiten wurde lange als
häufige, wenn auch nicht spezifische Störung bei Alzheimerdemenz
angesehen. Die Ursache dafür ist allerdings weitestgehend unbekannt.
Der
englische
Begriff
Sundowning
(„Sonnenuntergangsphänomen“)
kennzeichnet die empirisch beobachtete Zunahme von psychomotorischer
und verbaler Unruhe, Aggressivität, Verwirrtheit und Getriebenheit von
Demenzkranken in der zweiten Tageshälfte bzw. gegen Abend.
Schröder
(1998)
bezeichnet
Sundowning
als
ein
Subsyndrom
der
Disinhibition („Enthemmung“).
Erstaunlicherweise findet sich weder in den gängigen Diagnoseglossaren
ICD-10
und
DSM-IV
noch
in
der
deutschsprachigen
Monographie
„Demenzen“ (Beyreuther 2003) ein Hinweis auf das seit Jahren in der
Fachliteratur immer wieder diskutierte Phänomen des Sundowning. Im
Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (Förstl 2003) findet
Sundowning im Kapitell „Schlafstörungen“ Erwähnung.
Für die zirkadianen Rhythmusstörungen im Rahmen gerontopsychiatrischer
Erkrankungen gibt es einen großen Forschungsbedarf, worauf auch Sloan et
al. (1996) hinweisen.
28
2.4.2
Empirische
Befunde
zu
tagesrhythmischen
Agitiertheitszuständen bei Demenzkranken
In diesem Kapitel werden die Ergebnisse empirischer Studien zum Thema
Sundowning referiert.
Evans (1987) untersuchte das „Sundown Syndrome in Institutionalized
Elderly“ an 59 dementen und 30 nichtdementen Bewohnern eines
Altenheims. An zwei aufeinander folgenden Tagen über jeweils 10 Minuten
wurden die Probanden von geschulten Mitarbeitern mit dem „Confusion
Inventory“
hinsichtlich
psychosozialer
und
psychomotorischer
Verhaltensmerkmalen erfasst. 12,4 % der Gesamtpopulation waren
Sundowner, davon waren 82 % dement. 85 % der Dementen zeigten kein
Sundowning (d. h. nur 15 % der Dementen wiesen Sundowning auf). Ein
signifikanter Zusammenhang zur Medikation ließ sich nicht herstellen,
Sundowner erhielten aber eher weniger Medikation als Nicht-Sundowner.
Ebenso wenig ließ sich ein Zusammenhang mit demographischen Faktoren
erkennen.
In einer Studie mit 35 Alzheimerpatienten fanden Gallagher-Thompsen
et al. (1992), dass Sundowning mit dem Schweregrad der Demenz
korreliert und dass insbesondere Sundowning mit vermehrter Belastung der
Pflegenden einhergeht. Im Gegensatz dazu führte morgendliche Agitiertheit
zu keiner höheren Belastung. Als „Nebenbefund“ stellte sich heraus, dass
Patienten mit Sundowning einer raschere Verschlechterung der kognitiven
Leistungen aufwiesen. 6 von 35 (17 %) wiesen ein „reines“ Sundowning auf
(hier definiert als ein Unruhe-Höhepunkt nur nachmittags, abends und
nachts im Vergleich zu Personen, die zusätzlich vormittags und morgens, d.
h. den ganzen Tag über Unruhe aufwiesen).
29
Laut Ergebnissen von Bliwise et al. (1992) soll Sundowning bei 28 % der
Dementen vom Alzheimertyp vorkommen und keine Korrelation zum MMSTScore bzw. den Stadien der kognitiven Beeinträchtigung des Kranken
aufweisen. Jedoch soll es nach Bliwise einen negativen Prädiktor im Sinne
eines rascheren kognitiven Verfalls darstellen.
Riemann und Dressing (2003) bemerken zu den Ursachen des gegen
Abend zunehmenden desorientierten, unruhigen und agitierten Verhaltens
„eine
Amplitudenabflachung
altersentsprechend
zirkadianer
vermehrte
Rhythmen,
Vulnerabilität
die
über
hinausgeht.
eine
Diese
Amplitudenabflachung könnte bei der Alzheimer-Demenz durch eine
Degeneration von Neuronen im Nucleus supraopticus und Nucleus
suprachiasmaticus verursacht werden. Durch eine reduzierte körperliche
Aktivität, geringe Lichtexposition und mangelnde Strukturierung durch
soziale Kontakte werden die zirkadianen Rhythmen noch weiter verflacht.
Zusätzlich führen oft auch sedierende Pharmaka, wie etwa Neuroleptika, die
dementen Patienten nicht selten verabreicht werden, auf Dauer zu einem
´hangover` mit erhöhtem Tagschlaf“.
Martin et al. (2000) untersuchten 85 Alzheimerpatienten über drei Tage
und beurteilten sie alle 15 Minuten mittels Agitatet Behavior Rating Scale
(ABRS). Sie fanden einen Agitiertheitshöhepunkt um 14.38 Uhr, wobei die
Uhrzeit des Höhepunktes bei unterschiedlichen Individuen stark variierte.
Die individuellen Agitiertheitsrhythmen zeigten sich sehr stabil. Diejenigen
mit zeitlich schwächer abgrenzbaren Agitiertheitsrhythmen hatten insgesamt
ein geringes Unruheniveau während des ganzen Tages. Andere zeigten
stärker ausgeprägte rhythmischen Perioden von unruhigen oder ruhigen
Phasen. Diese hatten ihren Unruhehöhepunkt am Nachmittag. Als „richtige
30
Sundowner“ („true sundowners“) wurden lediglich 2 Patienten (2,4 %) mit
einem Unruhehöhepunkt in den Abendstunden klassifiziert. Die Autoren
kommen zu dem Schluss, dass „Sundowning“ ein zu ungenaues Konstrukt
zur Beschreibung agitierten Verhaltens ist und dass Sundowning nicht
generell oder typischerweise bei agitierten Patienten auftritt.
Sourial et al. (2001) fanden bei 56 Dementen eines Pflegeheims, die über
14 Tage in 3 Schichten mittels CMAI untersucht wurden, bei 95 %
mindestens eine agitierte Verhaltensweise und bei 75 % mindestens eine
gewalttätige Verhaltensweise. 6 % zeigten 17 (von 29) oder mehr agitierte
Verhaltensweisen. Die Häufigkeit der meisten Verhaltensweisen variierte
über die drei Schichten nicht, aggressives Verhalten trat allerdings vermehrt
in der Nachtschicht auf. Die Dauer der Unterbringung, die kognitive
Beeinträchtigung und die Menge notwendiger Psychopharmaka korrelierten
mit der Häufigkeit agitierten Verhaltens und dies wiederum mit der
Belastung des Pflegepersonals.
Volicer et al. (2001) stellen eine Studie zu „Sundowning and Circadian
Rhythms in Alzheimer´s Disease“ vor. Mittels Bewegungsmesser wurde bei
25 Alzheimerpatienten vs. 9 nichtdementen Personen die motorische
Aktivität in 5-Minuten-Intervallen gemessen. Die Pflegekräfte wurden
angehalten, die Patienten in Sundowning-Gruppen mit „nie“, „selten“,
„gelegentlich“
und
„häufig“
einzustufen.
8
Patienten
zeigten
ein
gelegentliches, 3 ein häufiges Sundowning (insgesamt 11 Personen
entsprechend 44 % der Alzheimerpatienten). Alzheimerpatienten zeigten
weniger Tagesaktivität, aber mehr Nachtaktivität als Nichtdemente, wobei
der Aktivitätshöhepunkt bei den Alzheimerpatienten später lag (16.38 Uhr
vs. 12.08 Uhr). Die Körpertemperatur wies einen ca. 2 h späteren
Höhepunkt und bei „Sundownern“ eine geringere Amplitude auf, was die
31
Autoren als Hinweis auf eine Störung im Nucleus suprachiasmaticus
deuteten. Ein Zusammenhang zwischen Schlafstörungen und Sundowning
zeigte sich nicht. Die Autoren plädieren dafür, den Begriff „Sundowning“
daher nur für Verhaltensstörungen während des Nachmittags und Abends
zu verwenden, nicht aber während der Nacht.
Sundowning tritt nicht nur bei der Alzheimerdemenz auf, sondern wurde
auch bei toxischen, metabolischen und entzündlichen Enzephalopathien
beschrieben (Bliwise 1994). Nach Bliwise weisen auch Parkinsonpatienten
eine evtl. sogar höhere Rate an Sundowning auf als Alzheimerkranke. Es
könne angenommen werden, dass durch die Erkrankung so genannte
interne Zeitgeber gestört sind, wie z.B. der Melatoninstoffwechsel. Es
konnte gezeigt werden, dass durch Modifikation dieser internen Zeitgeber
durch externe Zeitgeber wie helles Licht Agitiertheit und nächtliche Unruhe
bei Dementen und Nichtdementen positiv beeinflussbar ist (Bliwise 1994).
Eine Behandlung mit Melatonin führt zu einer Abschwächung von
Sundowning, zu einer allgemeinen Reduzierung von agitiertem Verhalten
und zu einer Verbesserung des Nachtschlafes (Cohen-Mansfield 2000,
Cardinali et al. 2002).
Untersuchungen von Mishima et al. (1995) fanden Unterschiede zwischen
Alzheimerpatienten und Patienten mit Multiinfarktdemenz (MID) in der
Störung
zirkadianer
Rhythmen.
Sie
konnten
zeigen,
dass
bei
Alzheimerkranken im Gegensatz zu MID ein linearer Zusammenhang
zwischen dem Grad der Demenz und dem Ausmaß an Tages- bzw.
Nachtaktivität besteht. So zeigten Alzheimerpatienten trotz z. T. schwerer
Demenz noch eine deutliche Tagesrhythmik der Körpertemperatur, während
bei MID-Patienten diese Tagesrhythmik uneinheitlich gestört war. Die
Autoren folgern daraus, dass bei der Alzheimerdemenz die internen
32
Zeitgeber für die Körpertemperatur noch erhalten sind und sich der
Zusammenhang zwischen Unruhe und Grad der Demenz auf einer höherer
Organisationsebene abspielen dürfte.
Cohen-Mansfield (1989) fand in einer kleineren Studie bei acht
Dementen, dass zwei ein Sundown-Syndrom aufwiesen. Vier Personen
zeigten
allerdings
ein
Unruhemaximum
am
Morgen
bzw.
in
den
Vormittagsstunden. Dabei traten zu den unterschiedlichen Tageszeiten
unterschiedliche Unruhe-Items hervor: morgens eher „ständiges Verlangen
nach Aufmerksamkeit“, „verbale Aggression“, „wiederholte Manierismen“,
„Fluchen“, „Greifen und Stoßen“. Nachmittags/abends hingegen zeigten sich
vorzugsweise „auf jemanden zugehen“, „Versuche, sich zu befreien“ und
„Spucken“.
In einer weiteren Studie konnten Cohen-Mansfield et al. (1992) den
Befund bestätigen, dass bestimmte Verhaltensweisen mit bestimmten
Tageszeiten assoziiert sind. So fanden sie aggressives Verhalten betont
während der Mittagzeit und am Abend. Nachts zeigte sich vor allem die
Kategorie „Merkwürdige Bewegungen“, morgens dagegen „Umherlaufen“.
„Wiederholte Manierismen“ zeigten sich schwerpunktmäßig tagsüber.
„Konstantes Fordern nach Aufmerksamkeit“ fand sich schließlich ebenfalls
am häufigsten während der Mittagzeit. Dabei bildete sich individuell ein
konstantes Unruhemuster ab.
Einen Zusammenhang von unterschiedlichen Ausprägungen agitierten
Verhaltens (aggressives, physisch-nicht-aggressives und verbal-agitiertes
Verhalten) und verschiedenen Aspekten aus der Lebensgeschichte fanden
Cohen-Mansfield et al. (1989 b). Heimbewohner, die Lebensereignisse
wie Katastrophen, Scheidung, Immigration oder finanzielle Probleme erlitten
33
hatten, neigten im Seniorenheim lediglich zu physisch-nicht-aggressivem
agitiertem Verhalten (wie z.B. Umherlaufen). Heimbewohner, die zeitlebens
niemals umgezogen waren, neigten vermehrt zu aggressivem Verhalten
sowie physisch-nicht-aggressivem Verhalten.
Koss et al. (1997) fanden einen Zusammenhang zwischen dem
Ausprägungsgrad der Alzheimerdemenz und dem Grad der Agitiertheit.
Während sich in allen Demenzgraden bei einem Teil der Kranken (12 - 16
%) ein Unruheschwerpunkt abends darstellen ließ, war die Häufigkeit
abendlicher Unruhe bei einem Demenzgrad von MMST von 5 bis 9 Punkten
besonders ausgeprägt (36 %). Ein morgendlicher Unruhehöhepunkt ergab
sich lediglich bei 4 bis 10 % der Dementen.
Zusammenfassend
lässt
sich
feststellen,
dass
das
Phänomen
„Sundowning“ möglicherweise nur bei einer Untergruppe Dementer zu
finden ist und mit einer rascheren Progredienz der Demenzerkrankung
einhergeht. Das Auftreten von Sundowning stellt eine erhebliche Belastung
für Pflegende dar. Kritisch anzumerken ist, dass keine Einigkeit darüber
besteht, welchen Zeitraum der Terminus „Sundowning“ umgreift. So wird
der Begriff von einigen Autoren für den Nachmittag und Abend verwendet,
andere beziehen auch die Nacht mit ein.
34
2.5 Hypothesen
2.5.1 Das Kollektiv der Demenzpatienten ist signifikant agitierter
als die gesunde Kontrollgruppe.
2.5.2 Agitiertheit
tritt
in
der
Gruppe
der
Demenzkranken
signifikant ausgeprägter nachmittags als morgens auf.
2.5.3 Das globale Ausmaß an Agitiertheit ist mit dem Schweregrad
der Demenz assoziiert.
2.5.4 Die drei Unterformen der Agitiertheit („Dimensionen“ gemäß
CMAI)
sind
in
den
drei
Demenzschweregraden
unterschiedlich ausgeprägt.
2.5.5 Anhand der zirkadianen Rhythmik lassen sich Untergruppen
(Typen) der Demenzkranken bilden.
35
3
Methode und Untersuchungskollektive
3.1
Standardisierte Erfassung von Agitiertheit mit dem CohenMansfield Agitation Inventory (CMAI)
3.1.1
Vom Konzept Agitiertheit zum CMAI
Die Gründe für die Entwicklung des CMAI waren für Cohen-Mansfield die
vielfachen Beobachtungen, dass in erster Linie die nichtkognitiven
Symptome
der
Demenz,
Verhaltensstörungen,
eine
insbesondere
enorme
Agitiertheit
Belastung
für
die
und
weitere
Betroffenen,
Angehörigen und professionelle Pflegepersonen darstellen (Cohen-Mansfield
1989). Sie erhöhen im Sinne von Prädiktoren oder Risikofaktoren die
Wahrscheinlichkeit einer Heimunterbringung und führen zu erheblichen
Problemen bei der Pflege der Betroffenen (Haupt und Kurz 1993).
Als standardisiertes wissenschaftliches Verfahren ermöglicht das CMAI, die
Häufigkeit agitierten Verhaltens zu objektivieren und zu beforschen. Es
wurde ursprünglich als Fremdbeurteilungsskala primär zum Einsatz in Altenund Pflegeheimen entwickelt.
3.1.2
Aufbau, Auswertung und Versionen
Die von Jiska Cohen-Mansfield entwickelte erste Fassung des CMAI (CohenMansfield 1991) listet 29 agitierte Verhaltensweisen auf die aufgrund der
verfügbaren wissenschaftlichen Literatur und Befragung von Pflegepersonal
36
ausgesucht wurden. Als Fragebogen für Pflegepersonal lässt sich mit Hilfe
dieser Skala die Frequenz dieser Verhaltensweisen messen.
Jede Verhaltensweise wird auf einer 7-stufigen Skala gemäß ihrer Häufigkeit
über den Zeitraum der letzten zwei Wochen eingestuft (1 bedeutet „nie“, 2 „weniger als einmal pro Woche“, 3 - „ein- oder zweimal pro Woche“, 4 „mehrfach pro Woche“, 5 - „ein- oder zweimal pro Tag“, 6 - „mehrfach pro
Tag“, 7 bedeutet „immer“). In einigen Versionen werden weitere
Antwortmöglichkeiten gegeben: 8 - „Verhalten würde vorkommen, wenn es
nicht verhindert würde“, 9 - „trifft nicht zu“.
Spätere Versionen erhalten eine zusätzliche 5-stufige Störungsgradskala,
um die Belastung des Beobachters mitzuerfassen. Diese Skala ist subjektiv
und erhebt im Gegensatz zur Häufigkeitsskala keinen Anspruch auf
Beobachterübereinstimmung.
Eine Kurzform des CMAI besteht aus 14 Items, die auf der Grundlage einer
5-stufigen Häufigkeitsskala beurteilt werden (Cohen-Mansfield 1991).
Eine lange Fragebogen-Version des CMAI mit 37 Items liegt in zwei
Ausführungen, einer für Angehörige und einer für Pflegende im häuslichen
Bereich, vor (Cohen-Mansfield 1991).
Das CMAI mit seinen 29 Items unterscheidet laut einer Studie an
Pflegeheimbewohnern folgende vier Faktoren, die via Faktorenanalyse
ermittelt wurden (Cohen-Mansfield et al. 1989):
-
Faktor 1 : „Physisch aggressives Verhalten“ mit den Items Schlagen,
Treten, Stoßen, Kratzen, Fluchen - verbale Aggression, Greifen.
-
Faktor 2: „Physisch nicht-aggressives Verhalten“ mit den Items
Herumlaufen, Unangemessene Kleidung, Wiederholen von Sätzen o. Fragen,
Versuche zu einem anderen Ort zu gelangen, Dinge unangemessen
handhaben, Allgemeine Unruhe / Ruhelosigkeit, Wiederholte Manierismen.
37
-
Faktor 3: „Verbal agitiertes Verhalten“ mit den Items Beschweren,
Ständiger ungerechtfertigter Wunsch nach Aufmerksamkeit oder Hilfe,
Negativismus, Schreien.
-
Faktor 4 (nur am Tage): „Verstecken, Horten“ mit den Items Verstecken,
Horten.
In einer Untersuchung an zu Hause lebenden Demenzkranken fanden sich
hingegen die Faktoren „Physisch nicht-aggressives Verhalten“, „Physisch
aggressives Verhalten“, „Verbal nicht- aggressives Verhalten“ und „Verbal
aggressives Verhalten“ (Cohen-Mansfield 1991). Somit stimmen die
Ergebnisse
Populationen
der
Faktorenanalyse
nicht
überein,
unterschiedlicher
was
dafür
spricht,
Schichten
dass
und
verschiedene
Populationen Unterschiede im agitierten Verhalten aufweisen.
3.1.3
Die verwendete CMAI-Testversion
Da unangemessenes Verhalten intra- und interindividuell mit großer
Variabilität über den Tagesverlauf auftritt (Cohen-Mansfield, 1994), sind für
konsistente Aussagen längere Beobachtungszeiträume erforderlich.
Um in unserer Studie auch Verlaufsbeobachtungen der Agitiertheit in
zirkadianen Rhythmen in Hinblick auf das Sundowning-Syndrom abbilden zu
können,
wurde
die
Studie
so
konzipiert,
dass
mehrmals
täglich
Beobachtungen dokumentiert werden.
So wurden die Probanden eine Woche lang von examiniertem und bezüglich
des CMAI geschultem Pflegepersonal über folgende Zeiträume hinweg
beurteilt:
-
Frühschicht, 7-14 Uhr – Bogen 1 (CMAI-1)
-
Spätschicht, 14-21 Uhr – Bogen 2 (CMAI-2)
38
-
Nachtschicht, 21-7 Uhr – Bogen 3 (CMAI-3)
Die Datenerfassung erfolgte gleichzeitig zur Durchführung der hier
vorgelegten Studie, als auch – in Kooperation mit dem Institut für Klinische
Psychologie der Psychologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum - zur
Validierung der deutschen Version des CMAI (Hülser 2001).
Die von uns angewandte Testversion des CMAI enthält neben den 29
Verhaltensweisen aus dem CMAI zur Kreuzvalidierung noch vier Items der
Fremdbeurteilungsskala Sandoz Clinical Assessment Geriatric Scale (SCAG)
und fünf Items der Nurses Observation Scale for Geriatric Patients
(NOSGER). Aus der SCAG wurde der Faktor Soziales Verhalten mit den
Items „Reizbarkeit / Missmut“, „Feindseligkeit“, „Aufdringlichkeit“ und
„Unkooperatives Verhalten“ entnommen. Aus dem NOSGER wurde die
Dimension Sozialverhalten mit den Items „Ist unruhig in der Nacht.“, „Läuft
davon.“, „Ist reizbar und zänkisch.“, „Ist aggressiv (in Worten und Taten).“
und „Ist eigensinnig: hält sich nicht an Anweisungen und Regeln.“ in die
Testversion integriert. Die von den Pflegenden ausgefüllte Testversion
bestand demnach aus 38 Items.
Jedes Item wird zur Häufigkeit seines Auftretens zwischen „nie“ und
„immer“ auf einer 5-stufigen Skala eingestuft, des weiteren auf einer 5stufigen Skala zum Ausmaß der hierdurch verursachten Störung (Wie
störend ist das Verhalten?) zwischen „gar nicht“ und „extrem“. Eine
zusätzliche Kategorie „trifft nicht zu“ konnte angekreuzt werden, falls ein
Verhalten nicht möglich war (z. B. „Herumlaufen“ einer fixierten Person).
Wegen der Seltenheit dieser Antwort wurde sie für die vorliegende
Auswertung mit „nie“ gleichgesetzt.
39
Neben den insgesamt 21 CMAI-Bögen für jede Person wurde ein Datenblatt
mit Angaben zu Diagnose, Alter, Geschlecht, Familien- und beruflichem
Status sowie den Aufnahmegründen in die Institution ausgefüllt.
3.1.4
Deutsche CMAI-Versionen
Die deutsche Version des CMAI (vgl. Hülser 2001) liegt in zwei Versionen
vor.
Die
beiden
Versionen
unterscheiden
sich
hinsichtlich
des
Beobachtungszeitraums (s.u.).
Die deutsche Version des CMAI gruppiert drei Dimensionen mit insgesamt
23 Items:
I Unruhiges und unangemessenes Verhalten
1.
Allgemeine Unruhe / Ruhelosigkeit
2.
Herumlaufen / Zielloses Umherirren
3.
Versuche, zu einem anderen Ort zu gelangen
4.
Dinge unangemessen Handhaben
5.
Unangemessene Kleidung oder Entkleiden
6.
Dinge Zerreißen oder Zerstören
7.
Essen / Trinken unangemessener Dinge
8. Seltsame Geräusche Produzieren (z.B. sonderbar Lachen oder
Weinen)
9.
Dinge Verstecken
10.
Dinge Horten
II Verbal agitiertes Verhalten
1.
2.
Wiederholen von Sätzen oder Fragen
Negativismus
40
3.
Ständiger ungerechtfertigter Wunsch nach Aufmerksamkeit oder
Hilfe
4.
Beschweren
5.
Schreien
6.
Fluchen oder verbale Aggressionen
III Aggressives Verhalten
1. Sich oder andere Verletzen
2. Mit Dingen Werfen
3. Schlagen (auch sich selbst)
4. Treten
5. Greifen (nach Leuten)
6. Stoßen
7. Kratzen
Zusätzliche Verhaltensweisen aus der amerikanischen Langfassung, wie
„Wiederholte Manierismen“, „Verbal sexuell Belästigen“, „Körperlich sexuell
Belästigen“, „Absichtliches Hinfallen“, „Spucken“ und „Beißen“ können
angegeben und mittels einer 5-stufigen Skala eingeteilt werden, gehen aber
in den Summenwert nicht mit ein.
Die deutsche Version 1 dient einer minutiösen Verhaltensbeobachtung
und nennt drei Beobachtungszeiträume, nämlich von 7-14 Uhr, von 14-21
Uhr und von 21-7 Uhr, was den Dienstschichten des an der Untersuchung
teilnehmenden
Pflegepersonals
(Frühschicht,
Mittagschicht
und
Nachtschicht) entspricht.
Jedes Verhalten wird auf einer jeweils 5-stufigen Skala nach Häufigkeit
zwischen ‚1 = nie’ und ‚5 = immer’ und nach Belastung zwischen ‚1 = gar
nicht (belastend)’ und ‚5 = extrem (belastend)’ eingestuft. So ergibt sich ein
41
Summenwert von minimal 23 bis maximal 115 für die Häufigkeit und für die
Belastung.
Die gröbere deutsche Version 2 unterscheidet sich von der Version 1 in
dem längeren Beobachtungszeitraum von einer Woche sowie in der 7stufigen Skala für Häufigkeit des jeweiligen Verhaltens (1 = nie, 2 =
weniger als einmal pro Woche, 3 = ein- oder zweimal pro Woche, 4 =
mehrmals pro Woche, 5 = ein- oder zweimal täglich, 6 = mehrmals täglich,
7 = mehrmals stündlich).
3.2
Der Mini-Mental-Status Test als Kurztest zur Erfassung der
globalen Leistungsfähigkeit
Der Mini Mental Status Test (Folstein et al. 1975, in der deutschen
Übersetzung von Kessler et al. 1990 als MMST abgekürzt) stellt einen
Kurztest für die globale kognitive Leistungsfähigkeit dementer Patienten dar.
Es handelt sich um ein Screening-Verfahren zur Erfassung kognitiver
Störungen das gut standardisiert und weltweit verbreitet ist.
Die Durchführung des Tests dauert in der Regel 10-15 Minuten. Es werden
die Bereiche Orientierung, Nachsprechen, Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis,
Visuokonstruktion und Sprache geprüft. Es können maximal 30 Punkte
erreicht
werden.
Die
Grenze
zwischen
Normalbefund
und
einem
pathologischen kognitiven Status wird von den Autoren bei einem Punktwert
von 26 angegeben. Dabei stellt der MMST kein geeignetes Instrument zur
Früherkennung von Demenzen dar, da auch oberhalb von 26 Punkten eine
beginnende Demenz nicht ausgeschlossen werden kann (Kukull et al. 1994).
Der Übergang von leichten bis mittelschweren Demenzformen wird bei 1820 Punkten angegeben, der Übergang von mittelschweren zu schweren
42
Formen bei ca. 10 Punkten (Schröder 1998). Trotz einiger Nachteile und
Mängel stellt der MMST sozusagen den Goldstandard unter den klinisch
praktikablen psychometrischen Leistungstests dar. Mittlerweile wird in den
Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde (DGPPN) die Durchführung von psychometrischen Tests,
so auch des MMST, vor dem Einsatz von Antidementiva und zur
Verlaufskontrolle im Sinne eines Monitorings gefordert (Praxisleitlinien in
Psychiatrie und Psychotherapie).
3.3
Durchführung der Untersuchung
Die Daten wurden in zwei Einrichtungen erhoben:
1. Im Westfälisches Zentrum Bochum, Psychiatrie und Psychotherapie
(Universitätsklinik), Station für Gerontopsychiatrie.
Das Westfälische Zentrum Bochum, Psychiatrie und Psychotherapie ist eine
psychiatrische Fachklinik der Vollversorgung und versorgt als regional
zuständiges Fachkrankenhaus den Bochumer Osten mit etwa 280.000
Einwohnern.
Neben
acht
Stationen
mit
unterschiedlichen
Behandlungsschwerpunkten (darunter die Station für Gerontopsychiatrie)
existieren zwei Tageskliniken und eine Institutsambulanz, die unter
anderem schwerpunktmäßig Alzheimerpatienten behandelt.
2. Im Städtischen Alten- und Pflegeheim Haus am Glockengarten. Es liegt
zentral in Bochum-Altenbochum. Es hat 430 Bewohner, die in zehn
Wohnbereichen pflegerisch betreut werden.
43
Das zentrale Beurteilungsinstrument (CMAI) wurde in beiden Einrichtungen
durch Pflegekräfte bearbeitet, da nur durch diese am intensivsten mit den
zu Pflegenden beschäftigte Berufsgruppe zutreffende Aussagen zu erhalten
waren.
3.3.1
Datenerhebung
im
Westfälischen
Zentrum
Bochum,
Psychiatrie und Psychotherapie
Die Untersuchung wurde von der Ärztlichen und Pflegerischen Leitung
genehmigt und unterstützt. Es erfolgte eine ausführliche Vorstellung der
Untersuchung im Rahmen einer Teamsitzung der GerontopsychiatrieStation, wobei das Pflegepersonal über Ziel und Nutzen der Untersuchung
unterrichtet, in der Anwendung des CMAI geschult sowie zur Mitarbeit
motiviert wurde. Des weiteren wurde eine schriftliche Information an die
teilnehmenden
Mitarbeiter
ausgehändigt.
Diese
bestand
aus
einem
Anschreiben an das Pflegepersonal, einem Muster-Exemplar des CMAIBogens sowie Informationen zu den Skalen und Hinweisen zum Ausfüllen.
Diese Hinweise wurden gemäß den „Instruktionen für Interviewer“ (CohenMansfield, 1991) erstellt.
Die
Datenerhebung
erfolgte
im
März
und
April
2001
auf
der
Gerontopsychiatrischen Station. Es wurden eine Woche lang 11 Patienten,
die nach den diagnostischen Kriterien fachärztlich ausgewählt worden
waren, anhand der Bögen durch das examinierte Pflegepersonal beurteilt.
Unterstützt wurde der reibungslose Ablauf der Untersuchung von der für die
Station zuständigen Diplom-Psychologin.
44
3.3.2
Datenerhebung im Altenheim „Haus am Glockengarten“
Das Vorgehen im „Haus am Glockengarten“ erfolgte in ähnlicher Form. Die
Heimleitung des städtischen Altenheims unterstützte die Untersuchung und
beantragte die Genehmigung bei der Stadt Bochum. Die Durchführung
wurde
im
Rahmen
einer
Wohnbereichsleiterrunde
den
leitenden
Pflegekräften vorab erläutert. In zehn Wohnbereichen sollten jeweils zehn
Personen beurteilt werden, 5 Demente und 5 Nichtdemente. Die
Wohnbereiche erhielten entsprechend je zehn Umschläge mit den
notwendigen Bögen (je Umschlag 21 CMAI-Testversion–Bögen, d. h. 3
Untersuchungszeiträume an 7 Tagen, und das Datenblatt). Zusätzlich
wurden auch hier schriftliche Hinweise zum Ausfüllen der Bögen und
Informationen zu den Skalen ausgegeben. An der Datenerhebung
beteiligten sich schließlich 8 Wohnbereiche, wobei insgesamt 71 Personen
beurteilt werden konnten.
Das
Kriterium
für
die
Auswahl
der
Beurteilenden
(examiniertes
Pflegepersonal) im Rahmen dieser Untersuchung war die mit den
Patienten/Bewohnern
verbrachte
(Beobachtungs-)Zeit.
Es
sollte
sich
möglichst um eine für den Betreffenden hauptsächliche und ihm vertraute
Pflegekraft handeln („Bezugspflege“).
3.4
Datenerfassung und Bearbeitung
Die ausgewerteten Daten dieser Arbeit sind die des CMAI dt. Version 1
und stellen somit Daten einer validierten Fremdbeurteilungsskala dar. Zur
Auswertung kommt die Skala Häufigkeit des Verhaltens, da die Skala
„Belastung durch das Verhalten“ einen stark subjektiven Charakter hat. Zur
45
sprachlichen Vereinfachung wird im Folgenden nur vom CMAI gesprochen,
wenn diese CMAI - Version gemeint ist.
Der CMAI besteht aus 23 Items, wodurch die Mindestpunktzahl 23 beträgt,
da jedes Item minimal (bei einer Häufigkeit „nie“) mit 1 Punkt bewertet
wird. Die maximale Punktzahl beträgt 115 (Häufigkeit „immer“ entspricht 5
Punkte). Auf die Dimension „Unruhiges und unangemessenes Verhalten“
fallen 10, auf die Dimension „Verbal agitiertes Verhalten“ 6, auf die
Dimension „Aggressives Verhalten“ 7 Items.
Die statistische Bearbeitung der Daten erfolgte mit dem Programm „SPSS
for Windows“ (Diehl 2001). Zur Bearbeitung der Hypothesen 1-4 wurden
zunächst
jeweils
deskriptive
Statistiken
mit
der
Berechnung
von
Mittelwerten, Medianen und Standardabweichungen verwendet.
3.4.1
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 1
Zur Beurteilung der ersten Hypothese, ob demente Personen generell ein
erhöhtes Maß an Agitiertheit zeigen, wurden die Mittelwerte der CMAIWerte sämtlicher Beurteilungsbögen der Stichprobe (demente Personen) mit
der Kontrollgruppe (nichtdemente Personen) verglichen. Signifikanzen
wurden mittels einfaktorieller Varianzanalyse (ANOVA) errechnet.
3.4.2
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 2
Es wurden die Mittelwerte der CMAI-1-Bögen (morgens), der CMAI-2-Bögen
(nachmittags) und der CMAI-3-Bögen (nachts) der beiden Gruppen
46
miteinander
verglichen.
Signifikanzen
wurden
mittels
einfaktorieller
Varianzanalyse (ANOVA) berechnet.
3.4.3
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 3
Die Mittelwerte der CMAI-1, -2, und -3 der Kontrollgruppe wurde mit den
verschiedenen Demenzschweregraden (entsprechende MMST-Kategorien)
verglichen. Mittels einfaktorieller Varianzanalyse (ANOVA) und Post-HocMehrfachvergleiche (Tukey-Test) wurden statistische Unterschiede ermittelt.
3.4.4
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 4
In diesem Schritt wurde die Kontrollgruppe mit der Gruppe der Dementen,
unterteilt
nach
dem
Schweregrad
der
Demenz,
in
den
einzelnen
Dimensionen des CMAI (Unruhiges und unangemessenes Verhalten – Verbal
agitiertes Verhalten – Aggressives Verhalten) miteinander verglichen. Die
statistische
Auswertung
Varianzanalyse
ANOVA
erfolgte
und
des
wiederum
mittels
Tukey-Tests
in
einfaktorieller
den
Post-Hoc-
Mehrfachvergleichen.
3.4.5
Bearbeitung der Daten zur Hypothese 5
Zur Bearbeitung der Frage, ob sich anhand der zirkadianen Rhythmik
Untergruppen bei den dementen Personen bilden lassen, wurden getrennt
die Mediane der Bögen CMAI 1, 2, 3 jedes Probanden ermittelt. Es wurden
dann die Differenzen von Median (CMAI 2) und Median (CMAI 1) gebildet.
Es
lassen
sich
so
Agitiertheitsschwerpunkt
drei
Gruppen
abbilden:
vormittags/morgens,
die
die
Gruppe
Gruppe
mit
mit
einem
47
Agitiertheitsschwerpunkt nachmittags/abends und die Gruppe mit einem
konstanten Level an Agitiertheit.
Im Falle eines positiven Differenzwertes liegt bei der betreffenden Person
ein
Agitiertheitsschwerpunkt
am
Nachmittag/Abend.
Im
Falle
eines
negativen Differenzwertes hat die Person einen Agitiertheitsschwerpunkt am
Morgen/Vormittag. Es stellte sich nun die Frage, wann eine Person in die
eine oder andere Gruppe einzustufen ist. Als Grenze hierfür wurde die 2fache Standardabweichung der Mittelwerte der CMAI der Nichtdementen
gewählt. Die Personen, die mit der Differenz oberhalb der 2-fachen
Standardabweichung liegen, wurden als „Sundowner“ bezeichnet, die, die
unterhalb der 2-fachen Standardabweichung liegen, als „Sunriser“, ein
durch uns eingeführter Terminus. Die Personen, die innerhalb der
zweifachen Standardabweichung liegen, wurden „Constants“ genannt.
Mittels
Chi-Quadrat-Test
erfolgte
die
statistische
Bearbeitung
und
Bewertung.
Für alle statistischen Verfahren wurde ein p-Wert < .05 als statistisch
signifikant festgelegt.
3.5
Beschreibung der Stichprobe
Vorab ist auf Grund divergierender Verwendung des Begriffes „stationär“
Folgendes zu bemerken: Aus Sicht der Pflegenden handelt es sich bei den
beiden Stichproben in den genannten Institutionen um „stationäre“
Personen. Aus medizinischer Sicht hingegen würde man nur die derzeit in
der Klinik behandelten Personen als „stationär“ bezeichnen, die Personen in
der Alteneinrichtung sind aus medizinischer Sicht „ambulant“.
48
In die Studie gehen die Daten von insgesamt 82 Personen ein.
Elf
Personen
waren
zum
Untersuchungszeitpunkt
Patienten
im
Westfälischen Zentrum Bochum, Psychiatrie und Psychotherapie. Zehn der
elf Personen aus dem Westfälischen Zentrum hatten eine DemenzDiagnose, eine Person bot klinisch keine Zeichen einer Demenz.
Von den 71 im Rahmen unserer Studie untersuchten Bewohnern des
„Hauses Am Glockengarten“ hatten 45 eine dementielle Erkrankung, 26
dagegen nicht.
Die Stichprobe besteht demnach aus 55 Personen mit einer Demenz (67%)
und 27 Kontroll-Personen ohne Demenz (33%).
Von den Dementen wurden 12 Personen (22%) unter „Demenz vom
Alzheimertyp“ (DAT), 29 (52%) als „Senile Demenz“, 13 (24%) als
„Vaskuläre Demenz“ (VD) und 1 Person (2%) unter „Gemischter Demenz“
(DAT+VD) in den jeweiligen Einrichtungen geführt (siehe Abb. 2). Für die
Gruppe
der
nichtdementen
„Rheuma/Bandscheibenleiden“,
„Depression/Schizoaffektive
Personen
viermal
Psychose“,
wurden
„Herzinsuffizienz“,
„Apoplex“,
zehnmal
dreimal
zweimal
„Parkinsonsyndrom“, „Tumorleiden“ und „keine Erkrankung“ sowie einmal
„Alkoholabusus“ genannt. Die Diagnosen im Seniorenheim waren von den
ambulant behandelnden niedergelassenen Ärzten gestellt worden, die
Diagnosen in der Klinik von den behandelnden Klinikärzten.
49
DAT; n=12
(22%)
Senile Demenz;
n=29 (52%)
VD; n=13 (24%)
DAT+VD; n=1
(2%)
Abb. 2: Demenzdiagnosen der Stichprobe
Bei den Personen, bei denen klinisch eine Demenz diagnostiziert wurde,
erfolgte die Durchführung des MMST zur Sicherung der Demenzdiagnose
und zur Einschätzung des Demenzgrades. Bei 3 der 55 dementen Personen
konnte kein MMST erhoben werden. Eine Person befand sich zum Zeitpunkt
der Testdurchführung im Krankenhaus, zwei waren verstorben. Die
Erhebung des MMST im „Haus Am Glockengarten“ erfolgte ca. zwei Wochen
nach Abschluss der Datenerhebung (Ende Juli 2001). Im Westfälischen
Zentrum für Psychiatrie wurde der MMST etwa zeitgleich mit der
Datenerhebung
durchgeführt.
Leistungsniveaus zeigt Tabelle 2.
Die
Verteilung
des
kognitiven
50
Tab. 2: Verteilung der kognitiven Leistungsfähigkeit der Stichprobe
Kognitiver Status
nicht dement
leicht dement,
MMST20-26
mittelschwer dement,
MMST 10-19
schwer dement,
MMST <10
dement, MMST unbekannt
gesamt
Anzahl der Personen
27 (33%)
5 (6%)
19 (23%)
28 (34%)
3 (4%)
82 (100%)
Das Geschlechterverhältnis betrug 64 Frauen (78%) zu 18 Männern (22%).
Dies entspricht einem Verhältnis von 3,5 : 1, was für diese Altersgruppe in
etwa repräsentativ ist und in der Literatur ähnlich angegeben wird (Bickel,
H. in Förstl, 2003).
Die Altersverteilung reicht in der Stichprobe von 47 bis 101 Jahren wobei
drei Personen unter 60 Jahre alt waren. Der Altersdurchschnitt lag bei 80,6
Jahren (SD=9,4). Das erste Quartil der Altersverteilung umfasst `bis 75
Jahre’, das dritte Quartil `bis 87 Jahre`. Abbildung 3 zeigt die
Altersverteilung
der
Stichprobe.
In
der
Kontrollgruppe
lag
die
Altersverteilung zwischen 63 und 90 Jahren (Mittelwert 78,7; Median 80)
mit 18 Frauen (67%) und 9 Männern (33%). In der Gruppe der Dementen
lag die Altersverteilung zwischen 47 und 101 (Mittelwert 81,5; Median 82),
davon waren 46 Personen weiblich (84%) und 9 männlich (16%).
51
Altersverteilung der Stichprobe
25
Anzahl der Personen
20
15
10
5
0
bis 50
51-55
56-60
61-65
66-70
71-75
76-80
81-85
86-90
91-95
96-100 101-105
Abb. 3: Altersverteilung der Stichprobe
Von den untersuchten Personen waren neun (11%) verheiratet, 58 (71%)
verwitwet, drei (4%) ledig und vier (5%) geschieden. Beruflich waren
früher 28 (34%) als Hausfrauen, 10 (12%) als angelernte Arbeiter 23
(28%) als Facharbeiter, vier (5%) als mittlere Angestellte / Meister, drei
(4%) in leitender Tätigkeit und zwei (2%) selbstständig tätig gewesen. Bei
22 Personen (27%) fehlten hierzu die Angaben.
Der überwiegende Anteil der Untersuchten wurde psychopharmakologisch
behandelt. Dabei erhielten 44 (80%) der dementen Personen eine
sedierende Medikation, 4 (7%) erhielten ein Antidementivum, eine Person
(2%) erhielt ein Antidepressivum.
52
Tab. 3: Art und Häufigkeit von Psychopharmaka in der Demenzgruppe
Anzahl der Personen
Prozent %
44
80
1
4
2
7
Sedierendes
Medikament
Antidepressivum
Antidementivum
3.6
Analyse der Rohwerte
Jede Person sollte über sieben Tage anhand von jeweils drei CMAI-TestBögen beurteilt werden, d. h. für jede Person sollten 21 Bögen ausgefüllt
werden. Bei 82 Personen ergibt dies eine Anzahl von 1722 Bögen.
Tatsächlich kam es jedoch „nur“ zu einem Rücklauf von 1698 Bögen (24
Bögen fehlten). Bei 7 Personen fehlt ein einzelner Bogen, bei zwei Personen
fehlen
je
drei
aufeinander
folgende
Bögen,
so
dass
hier
ein
Beobachtungszeitraum von sechs Tagen anstatt sieben Tagen in die
Berechnungen eingeht. Bei einer Person fehlen 11 Bögen, d. h. es gehen
nur 10 Bögen in die Berechnung ein. Bei der Einzelfallbetrachtung fiel diese
Person allerdings als nichtdemente Person mit tageszeitunabhängigen und
durchgängig niedrigen CMAI-Werten auf, so dass von keiner relevanten
Beeinflussung der Rechenergebnisse auszugehen war.
53
4 Ergebnisse
Im Folgenden werden die Ergebnisse in der Reihenfolge der Hypothesen
wiedergegeben (s. Kap. 2.5), die Ergebnisdiskussion (Kap. 5.2) ist ebenso
gegliedert.
4.1 Zur ersten Hypothese: Das Kollektiv der Demenzpatienten ist
signifikant agitierter als die gesunde Kontrollgruppe.
Vorab sei noch einmal darauf hingewiesen, dass der minimal CMAI-Wert,
sozusagen die „Null-Linie“ des CMAI bei 23 Punkten liegt.
Betrachtet man sämtliche CMAI-Bögen der Kontrollgruppe, so ergibt sich ein
Mittelwert von 24,8. In der Gruppe der Dementen liegt der Mittelwert bei
32,48. Dieser Unterschied ist mit einem Signifikanzniveau p von .00
hochsignifikant (s. Tab. 4).
Tab. 4: CMAI – Summen – Mittelwerte sämtlicher Untersuchungsbögen im
Vergleich nichtdement vs. dement
keine Demenz
Demenz
Mittelwert
24,80
32,48
Standardabweichung
3,26
10,35
Auf die jeweiligen Beobachtungszeiträume bezogen, bleibt dieses Ergebnis
konstant (s. Tab. 5). In allen drei Untersuchungszeiträumen waren die
Unterschiede
mit
p
=
.00
hochsignifikant.
Im
Mittel
zeigte
die
Kontrollgruppe der nichtdementen Personen somit fast keine Agitiertheit,
während demente Personen in allen drei Untersuchungszeiträumen ein
deutliches, signifikant höheres Maß an Agitiertheit aufwiesen.
54
Tabelle 5 gibt einen Überblick über die genannten Daten. Abbildung 4 verdeutlicht
die Angaben graphisch.
Tab. 5: CMAI – Summen - Mittelwerte , - Mediane und Standardabweichungen im Vergleich dement vs. nichtdement,
verteilt über die drei Untersuchungszeiträume
Beobachtungszeitraum
7 - 14 Uhr (CMAI-1)
M
14 - 21 Uhr (CMAI-2)
21 - 7 Uhr (CMAI-3)
Median
SD
M
Median
SD
M
Median
SD
keine
25,61
Demenz
24,00
4,08
25,35
24,00
3,23
23,42
23,00
1,41
Demenz 34,87
32,00
10,78 33,88
31,00
10,47 28,62
25,00
8,55
36
34
Mittelwert der CMAI - Punktwerte
32
30
28
26
Gruppe
24
keine Demenz
22
Demenz
7- 14 Uhr
14 - 21 Uhr
21 - 7 Uhr
Beobachtungszeitraum
Abb. 4: CMAI – Summen - Mittelwerte im Vergleich dement vs.
nichtdement, verteilt über die drei Untersuchungszeiträume
55
4.2 Zur zweiten Hypothese: Agitiertheit tritt in der Gruppe der
Demenzkranken signifikant ausgeprägter nachmittags als
morgens auf.
Bereits aus den unter 4.1 genannten Daten (s. insbesondere Abb. 4) ist
abzulesen, dass ein generell höheres Maß an Agitiertheit bei dementen
Personen am Nachmittag/Abend oder gar in der Nacht nicht zu verzeichnen
ist.
Im
Gegenteil
zeigt
sich
Agitiertheit
etwas
ausgeprägter
am
Vormittag/Morgen, allerdings ohne Signifikanz (p=.36). Eine differenziertere
Betrachtung der Agitiertheit bei verschiedenen Demenzschweregraden
erfolgt in den Kapiteln 4.3 und 4.4.
4.3
Zur dritten Hypothese: Das globale Ausmaß an Agitiertheit ist
mit dem Schweregrad der Demenz assoziiert.
Betrachtet man die entsprechenden Daten (s. Tab. 6 und Abb. 5) unter dem
Aspekt
einer
Aufteilung
der
Gruppe
der
Dementen
nach
Demenzschweregrad, so zeigt sich Folgendes:
Bezogen auf die Gesamtsummenwerte zeigt sich eine kontinuierliche
Zunahme an Agitiertheit mit dem Grad der Demenz. Hierbei bestehen im
Tukey-Test statistisch signifikante Unterschiede zwischen der Kontrollgruppe
und allen anderen Gruppen. Auch schwer Demente unterscheiden sich von
allen anderen Gruppen signifikant. Keine signifikanten Unterschiede sind
zwischen
leicht
und
mittelschwer
Dementen
und
zwischen
MMST-
Unbekannten und leicht /mittelschwer Dementen Personen zu erkennen
(MMST-Unbekannte gehörten am ehesten zur Gruppe der leicht bis
mittelschwer Dementen, s. u.).
56
Betrachtet man die einzelnen Untersuchungszeiträume, so gestaltet sich die
Beurteilung allerdings komplizierter:
Am Morgen/Vormittag zeigt sich keine kontinuierliche Zunahme an
Agitiertheit abhängig vom Schweregrad der Demenz. Leicht demente
Personen zeigen im Mittel hiernach eine deutlichere Agitiertheit am Morgen,
in einem Maß wie schwer demente.
In den beiden anderen Beobachtungszeiträumen stellt sich hingegen
hypothesengemäß eine kontinuierliche Zunahme der Agitiertheit je nach
Demenzschweregrad dar. Die drei dementen Personen, bei denen der
Demenzgrad nicht ermittelt werden konnte, liegen mit ihren Mittelwerten
durchgehend in einem höheren Bereich als die Gruppe der Nichtdementen,
im Vergleich mit der Gruppe der mittels MMST Erfassten liegen sie im
Bereich der leicht bis mittelschwer Dementen, so dass deduktiv auf einen
leicht bis mittelschweren Demenzgrad geschlossen werden könnte.
Als überraschend kann gewertet werden, dass in der Gruppe der leicht
Dementen offensichtlich ein Agitiertheitsschwerpunkt am Morgen/Vormittag
zu verzeichnen ist. Die Aussage „je dementer, desto agitierter“ trifft am
Morgen nur mit Ausnahme der leichten Demenzformen zu. Diese zeigen sich
am Morgen agitierter als mittelschwer und nicht demente Personen und
gleich agitiert wie schwer Demente. Allerdings ist diese Gruppe mit 5
Personen sehr klein (s. Kap. 5.2.3). Allein die Gruppe der Dementen ohne
MMST-Erfassung zeigt einen abendlichen Agitiertheitshöhepunkt, wobei die
schlecht definierte Gruppe mit der kleinen Fallzahl von 3 Personen keine
statistische Wertung zulässt.
57
Tab. 6: CMAI – Summen – Mittelwerte, - Mediane und Standardabweichungen unterteilt nach Beobachtungszeitraum und
Demenzschweregrad.
Beobachtungszeitraum
MMSTKategorie
M
7 - 14 Uhr
Median SD
M
14 - 21 Uhr
Median
SD
M
21 - 7 Uhr
Median
SD
Normalbefund
25,61
24,00
4,08
25,35
24,00
3,23
23,42
23,00
1,41
20-26
Punkte
36,19
30,00
13,62
29,51
26,00
8,57
24,94
23,00
4,43
32,00
10,11
32,64
30,00
9,23
27,21
24,00
32,00
10,79
35,67
32,50
11,35
30,47
27,00
27,00
5,15
32,52
31,00
9,24
25,81
23,00
10-19
33,69
Punkten
unter 10
36,10
Punkten
unbekann
28,29
t
gesamt
M, SD
24,8
SD 3,2
30,48
SD 10,8
31,2
SD 9,4
34,08
9,34
SD 10,8
28,87
5,34
SD 7,3
7,83
38
36
34
Mittelwert Summe auf CMAI
32
MMST Kategorie
30
Normalbefund
28
20 - 26 Punkte
26
10 -19 Punkte
24
unter 10 Punkten
22
unbekannt
7- 14 Uhr
14 - 21 Uhr
21 - 7 Uhr
Beobachtungszeitraum
Abb. 5: CMAI
–
Summen
Mittelwerte,
unterteilt
Beobachtungszeiträumen und Demenzschweregrad
nach
58
In der folgenden Abbildung 6 sind die
CMAI–Summen-Mittelwerte
sämtlicher Personen einzeln graphisch dargestellt. Es lässt sich gut
erkennen, wie mit abnehmender kognitiver Leistungsfähigkeit die relative
Häufigkeit an höheren CMAI-Werten, d.h. an Agitiertheit zunimmt, wobei
drei schwer demente Personen CMAI-Werte erreichen, die in den anderen
Gruppen nicht anzutreffen sind. Die Einzelfallbetrachtung dieser „Ausreißer“
zeigt in allen drei Fällen Frauen mit Seniler Demenz, wobei eine Frau mit +5
einen abendlichen Unruheschwerpunkt aufweist, eine Frau mit -7 einen
morgendlichen und die dritte mit -2 keinen nennenswerten Morgen/AbendUnterschied bietet (vgl. hierzu Kap. 4.5). Die übrigen schwer Dementen
zeigen eine den mittelschwer Dementen ähnliche, relativ homogene
Verteilung bis zu einem CMAI-Summen-Mittelwert von 42.
60
nicht dement
55
MMST 20-26
MMST 10-19
CMAI-Mittelwerte
50
MMST <10
MMST unbek.
45
40
35
30
25
20
0
10
20
30
40
50
60
70
Einzelne Probanden, nach MMST-Kategorie gruppiert
Abb. 6: Mittelwerte des CMAI von jedem einzelnen Probanden
80
90
59
4.4 Zur vierten, komplexesten Hypothese: Die drei Unterformen der
Agitiertheit („Dimensionen“ gemäß CMAI) sind in den drei
Demenzschweregraden unterschiedlich ausgeprägt.
Bei den drei Dimensionen des CMAI handelt es sich um „Unruhiges und
Unangemessenes Verhalten“, „Aggressives Verhalten“ und „Verbal agitiertes
Verhalten“.
Im
Folgenden
betrachten
wir
nacheinander
diese
drei
Dimensionen unter dem Gesichtspunkt des Demenzschweregrades.
4.4.1 Ausprägung
der
Dimension
„Unruhiges
und
Unangemessenes Verhalten“.
Der Mindestpunktwert in dieser Dimension beträgt 10. Die einzelnen
Mittelwerte, unterteilt nach den drei Beobachtungszeiträumen sind in
Tabelle 7 dargestellt. Die Abbildung 7 verdeutlicht die Mittelwerte der
Beobachtungszeiträume
graphisch.
Abbildung
8
zeigt
die
Summenmittelwerte der einzelnen Personen und veranschaulicht bildlich die
Streuung
der
Mittelwerte
und
die
kontinuierliche
Zunahme
dieser
Agitiertheitsdimension mit dem Grad der kognitiven Beeinträchtigung.
Die Kontrollgruppe zeigt durchgängig Werte nahe „Null“. Betrachtet man
auch hier die Gesamtwerte, so zeigt sich wiederum eine kontinuierliche
Zunahme der Mittelwerte abhängig vom Demenzschweregrad. Im TukeyTest finden sich statistisch signifikante Unterschiede zwischen der
Kontrollgruppe und allen anderen Demenzschweregraden sowie allen
Demenzschweregraden untereinander. Lediglich zwischen den MMSTUnbekannten und leicht bzw. mittelschwer Dementen besteht kein
60
statistisch signifikanter Unterschied, was die Annahme stützt, dass diese
Gruppe leicht bis mittelschwer demente Personen beinhaltet.
Schwer demente Personen zeigen vormittags und nachmittags die höchsten
Werte. Die Gruppe der leicht Dementen (grüne Kurve) zeigt bei hohem
Vormittagswert einen Abfall zum Nachmittag. Mittelschwer demente
Personen zeigen eine Zwischenstellung, wobei auch hier, wie bei den
schwer
Dementen
zwischen
Vormittag
und
Nachmittag
kaum
ein
Unterschied ist. Alle Gruppen sind nachts deutlich weniger agitiert. Die drei
MMST-Unbekannten zeigen auch hier eine abendlichen Zunahme, erreichen
abends sogar ähnlich hohe Werte wie schwer Demente.
Tab. 7: CMAI – Summen - Mittelwerte, - Mediane und Standardabweichung für die Dimension Unruhiges und
Unangemessenes Verhalten, unterteilt nach MMST-Kategorie und
Beobachtungszeiträumen
MMSTKategorie
Normalbefund
20-26
Punkte
10-19
Punkte
unter 10
Punkten
unbekann
t
Unruhiges und Unangemessenes Verhalten
Beobachtungszeitraum
7 - 14 Uhr
14 - 21 Uhr
21 - 7 Uhr
M
Median SD
M
Median SD
M
Median SD
10,74
10,00
2,03
10,71
10,00
1,39 10,02
10,00
,69
15,54
12,00
6,34
12,94
11,00
4,01 10,56
10,00 1,27
16,34
15,00
6,66
16,10
15,00
6,01 12,66
11,00 4,76
17,36
15,00
7,11
17,29
15,00
6,88 13,55
11,00 5,32
13,52
13,00
3,41
16,48
14,00
7,03 12,24
10,00 4,22
gesamt
M, SD
10,4
SD 1,5
13,1
SD 4,9
15,0
SD 6,1
16,0
SD 6,7
14,0
SD 5,3
61
Mittelwert Summe Unruhiges Verhalten
18
16
14
MMST Kategorie
Normalbefund
12
20-26 Punkte
10-19 Punkte
10
unter 10 Punkten
MMST unbekannt
8
7- 14 Uhr
14 - 21 Uhr
21 - 7 Uhr
Beobachtungszeitraum
Abb. 7: CMAI – Summen - Mittelwerte für die Dimension Unruhiges und
unangemessenes Verhalten, unterteilt nach MMST-Kategorie
35
nicht dement
Summe Unruhiges und
Unangemessenes Verhalten
MMST 20-26
MMST 10- 19
30
MMST <10
MMST unbek.
25
20
15
10
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Einzelne Probanden, nach MMST-Kategorie gruppiert
Abb. 8: Mittelwerte der Summe Unruhiges und Unangemessenes Verhalten
der einzelnen Personen, unterteilt nach MMST-Kategorie
62
4.4.2 Ausprägung der Dimension „Verbal agitiertes Verhalten“
Der Mindestpunktwert dieser Dimension beträgt 6. Die niedrigsten Werte
finden sich auch hier bei der Kontrollgruppe, wobei der Punktwert in dieser
Dimension nicht kontinuierlich mit der Demenzschwere zunimmt. Leicht
Demente zeigen höhere Werte als mittelschwer Demente. Im Tukey-Test
stellen sich signifikante Unterschiede zwischen der Kontrollgruppe und allen
Demenzgraden dar (außer zu den MMST-Unbekannten). Kein signifikanter
Unterschied besteht zwischen den schwer Dementen und den leicht
Dementen, den MMST-Unbekannten und mittelschwer Dementen sowie
zwischen den mittelschwer und leicht Dementen. Schwer Demente
unterscheiden sich aber signifikant von mittelschwer dementen Personen.
Anders als bei den anderen Dimensionen zeigen hier die leicht Dementen
(grüne
Kurve)
eine
Maximalwert
am
Vormittag,
während
sie
am
Nachmittag/Abend leicht unter den Wert der mittelschwer und schwer
Dementen fallen. Die mittelschwer und schwer Dementen zeigen sich
morgens und nachmittags/abends annähernd gleich agitiert. Leicht demente
Personen scheinen somit insbesondere durch diese Dimension am Morgen
aufzufallen.
63
Tab. 8: CMAI – Summen - Mittelwerte und Mediane für die Dimension
Verbal agitiertes Verhalten, unterteilt nach MMST-Kategorie und
Beobachtungszeiträumen
Verbal Agitiertes Verhalten
Beobachtungszeitraum
7 - 14 Uhr
14 - 21 Uhr
21 - 7 Uhr
M
Median SD
M
Median SD
M
Median SD
MMSTKategorie
Normalbefund
20-26
Punkte
10-19
Punkte
unter 10
Punkten
unbekann
t
7,83
7,00
2,60
7,65
7,00
2,18
6,40
6,00
1,07
11,89
11,00 5,44
8,97
7,00
3,54
6,84
6,00
1,61
9,80
9,00
4,29
9,35
8,00
3,69
7,42
6,00
3,12
10,26
9,00
4,60
9,94
8,00
4,28
8,87
8,00
4,12
7,71
7,00
2,05
9,00
10,00
2,74
6,57
6,00
1,25
Summe
M, SD
7,2
SD 2,1
9,3
SD 4,4
8,8
SD 3,8
9,7
SD 4,4
7,7
SD 2,3
Mittelwert Summe Verbal Agitiertes Verhalten
13
12
11
10
MMST Kategorie
Normalbefund
9
20-26 Punkte
8
10-19 Punkte
7
unter 10 Punkten
6
MMST unbekannt
7- 14 Uhr
14 - 21 Uhr
21 - 7 Uhr
Beobachtungszeitraum
Abb. 9: CMAI – Summen - Mittelwerte für die Dimension Verbal agitiertes
Verhalten, unterteilt nach MMST-Kategorie
64
20
nicht dement
Summe Verbal Agitiertes Verhalten
18
MMST 20-26
MMST 10-19
16
MMST <10
MMST unbek.
14
12
10
8
6
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Einzelne Probanden, nach MMST-Kategorie gruppiert
Abb. 10: Mittelwert der Summe Verbal Agitiertes Verhalten der einzelnen
Personen, unterteilt nach MMST-Kategorie
Abbildung 10 verdeutlicht, dass in dieser Dimension die Zunahme mit
steigender kognitiver Beeinträchtigung nicht so eindeutig ausfällt wie in den
beiden anderen Dimensionen und dass auch in der Kontrollgruppe zwei
Personen durch höhere Werte auffallen.
4.4.3 Ausprägung der Dimension „Aggressives Verhalten“
Der Mindestwert in dieser Dimension beträgt 7. Auch hier besteht wieder
kein kontinuierlicher Punktezuwachs abhängig vom Demenzschweregrad in
der Gesamtwertung. Die leicht Dementen zeigen höhere Werte als die
mittelschwer Dementen (vgl. Tab. 9). Signifikant sind die Unterschiede
zwischen der Kontrollgruppe gegenüber leicht bzw. schwer Dementen, nicht
65
aber gegenüber mittelschwer Dementen. Signifikant sind auch die
Unterschiede mittelschwer zu schwer dement und mittelschwer zu leicht
dement.
In dieser Dimension zeigt die Gruppe der schwer Dementen morgens und
nachmittags/abends fast gleich bleibend hohe Werte (vgl. Abb. 11). Leicht
demente Personen zeigen vormittags ein ähnlich hohes Maß an aggressivem
Verhalten wie schwer Demente, nachmittags/abends aber ein geringeres
Maß an aggressiven Verhaltensweisen. Mittelschwer demente Personen
bieten in dieser Dimension ein niedriges Punkte-Niveau, anscheinend wie
die Kontrollen, ein überraschender Befund.
Tab. 9: CMAI – Summen – Mittelwerte, - Mediane und –
Standardabweichungen für die Dimension Aggressives Verhalten,
unterteilt nach MMST-Kategorie und Beobachtungszeiträumen
MMSTKategorie
Normalbefund
20-26
Punkte
10-19
Punkte
unter 10
Punkten
unbekann
t
Aggressives Verhalten
Beobachtungszeitraum
7 - 14 Uhr
14 - 21 Uhr
21 - 7 Uhr
M
Median SD
M
Median SD
M
Median SD
7,04
7,00
,31
7,0
7,00
,50
7,00
7,00
,00
8,76
7,00
3,63
7,60
7,00
2,16
7,53
7,00
2,03
7,55
7,00
2,04
7,19
7,00
1,01
7,13
7,00
,74
8,48
7,00
2,62
8,43
7,00
3,13
8,06
7,00
2,67
7,05
7,00
,22
7,05
7,00
,22
7,00
7,00
,00
Summe
M, SD
7,0
SD 0,3
7,9
SD 2,8
7,3
SD 1,4
8,3
SD 2,8
7,0
SD 0,2
66
Mittelwert Summe Aggressives Verhalten
9,0
8,5
8,0
MMST Kategorie
Normalbefund
7,5
20-26 Punkte
10-19 Punkte
7,0
unter 10 Punkten
MMST unbekannt
6,5
7- 14 Uhr
14 - 21 Uhr
21 - 7 Uhr
Beobachtungszeitraum
Abb. 11: CMAI-Summen-Mittelwerte für die Dimension
Verhalten, unterteilt nach MMST-Kategorie
Aggressives
16
Summe Aggressives Verhalten
nicht dement
15
MMST 20-26
14
MMST 10-19
MMST <10
13
MMSt unbek.
12
11
10
9
8
7
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Einzelne Probanden, nach MMST-Kategorie gruppiert
Abb. 12: Mittelwert der Summe Aggressives Verhalten der einzelnen
Personen, unterteilt nach MMST-Kategorie
67
Abbildung 12 verdeutlicht anhand der individuellen Werte die ausgeprägte
Zunahme an aggressivem Verhalten in der Gruppe der schwer dementen
Personen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass schwer demente Personen in
allen drei Dimensionen die höchsten Werte aufweisen. Sie weisen im Mittel
in allen drei Dimensionen morgens/vormittags und nachmittags/abends
gleich bleibend hohe Werte auf.
Mittelschwer demente Personen zeigen im Mittel in allen Dimensionen zu
allen drei Beobachtungszeiträumen niedrigere Werte als schwer demente,
sind morgens/vormittags und nachmittags/abends annähernd gleich agitiert,
sind aber im Vergleich zu den leicht Dementen morgens weniger verbal
agitiert
und
weniger
aggressiv,
zeigen
also
eher
unruhiges
und
unangemessenes Verhalten.
Leicht demente Personen haben in allen drei Dimensionen des CMAI
vormittags höhere Werte als nachmittags/abends; für Verbal agitiertes
Verhalten und Aggressives Verhalten sind sie auffälliger als mittelschwer
Demente, allerdings nicht signifikant. In beiden Dimensionen zeigen leicht
Demente vormittags sogar höhere Werte als schwer Demente. Die
Ergebnisse der leicht dementen-Gruppe ist allerdings zurückhaltend zu
bewerten, da die Gruppe mit 5 Personen so klein ist, dass statistische
Aussagen kaum möglich sind (vgl. Kap. 5.2.4).
Insgesamt stellt sich dar, dass Aggressives Verhalten besonders bei schwer
dementen Personen deutlich zunimmt, während Verbal Agitiertes Verhalten
sich auch bei nicht dementen Personen findet. Die Dimension Unruhiges
und Unangemessenes Verhalten spiegelt analog zum CMAI-Summenscore
den Grad der kognitiven Beeinträchtigung im Sinne einer kontinuierlichen
Zunahme wider.
68
4.5 Zur fünften Hypothese: Anhand der zirkadianen Rhythmik lassen
sich Untergruppen (Typen) der Demenzkranken bilden.
Wie in Kapitel 3.4.5 beschrieben, wurden die Mediane der CMAI 1-Bögen
von den Medianen der CMAI 2-Bögen für jeden einzelnen Probanden
subtrahiert, so dass sich bei jeder Person eine ganze positive oder negative
Zahl ergab. Im ersten Schritt (nachfolgendes Kapitel 4.5.1) wurden die
Mediane der Summenwerte des CMAI ausgewertet, d.h. alle drei
Dimensionen der Agitiertheit, alle 23 Items, kamen zur Auswertung.
In weitern Schritten wurden die drei Dimensionen des CMAI wieder einzeln
untersucht (4.5.2 – 4.5.5).
4.5.1 Tagesrhythmik der Agitiertheit
Das erste Ergebnis ist visuell in Abbildung 13 dargestellt. Deutlich wird, dass
bei nicht dementen Personen die Differenzen kaum von der Null-Linie
abweichen, d. h. dass diese Personen vormittags und nachmittags gleich
stark (oder besser gesagt: gleich wenig) agitiert sind. Die leicht dementen
Personen zeigen vornehmlich einen Ausschlag im „negativen“ Bereich, d.h.
diese Personengruppe zeigte, wie bereits in Kap. 4.4 deutlich wurde, einen
Agitiertheitsschwerpunkt am Vormittag. Die Gruppe der mittelschwer und
schwer Dementen zeigt sowohl „negative“ als auch „positive“ Werte. Dies
bedeutet, dass einige Personen vormittags, andere nachmittags agitierter
waren. In allen Schweregradgruppen gibt es einige Personen, deren Werte
nahe der Null-Linie liegen, die also morgens und nachmittags gleich viel
oder gleich wenig Agitiertheit zeigten. Der Mittelwert der Differenzen CMAI
2 – CMAI 1 für die Kontrollgruppe (Nichtdemente) liegt bei 0,08, die
Standardabweichung bei 2,34. Gemäß unseren in Kapitel 3.4.5 dargestellten
69
Kriterien erfüllen diejenigen Personen die „Sundowner“-Voraussetzung, die
oberhalb von 4,76 liegen (0,08 plus zweifache Standardabweichung), d. h.
ab einem Punktwert von ‚+5’. Diejenigen, die unterhalb von ‚-4,6’ liegen
(0,08 minus zweifache Standardabweichung), also ab einem Punktwert von
‚5’, erfüllen die „Sunriser“- Bedingung. Diejenigen, die innerhalb des
Intervalls liegen, sind per definitionem „Constants“.
15
nicht dement
10
nachmittags / abends agitierter
MMST 20-26
MMST 10-19
Diff. CMAI 2-1, Mediane
MMST<10
5
MMST unbek.
0
-5
-10
morgens / vormittags agitierter
-15
Einzelne Probanden
Abb. 13: Differenz der Mediane CMAI 2 minus CMAI 1 der einzelnen
Probanden, gruppiert nach MMST-Kategorie
70
Tab. 10: Anzahl der Personen in den Agitiertheitsgruppen unterteilt nach
MMST-Kategorie
Agitiertheitsg
ruppen
NormalCMAIbefund
Gesamtwert
innerhalb 227
facher SD
sundowner
0
sunriser
0
gesamt
27
MMST-Kategorie
20-26
Punkte
10-19
Punkte
unter 10
Punkten
unbekannt
dement
gesamt
gesamt
3
14
17
2
36 (66%)
63
0
2
5
3
2
19
5
6
28
1
0
3
9 (16%)
10 (18%)
55 (100%)
9
10
82
In der Gruppe der Dementen sind somit 9 Personen (16%) Sundowner, 10
Personen (18%) Sunriser und 36 Personen (66%) sind Constants (vgl. Tab.
10). In der nicht-dementen Kontrollgruppe finden sich keine Sundowner
oder Sunriser. Auffällig sind in der Gruppe der leicht Dementen die
herausragenden Werte von zwei Personen die ein ausgeprägtes Sunrising
darstellen und für die im Kapitel 4.4 genannten Ergebnisse verantwortlich
sind. Dabei handelt es sich um zwei Frauen mit den Diagnosen „Senile
Demenz“ und „Vaskuläre Demenz“. In den Gruppen der mittelschwer und
schwer Dementen zeigt sich keine Tendenz in die eine oder andere
Richtung, allerdings ist mit zunehmendem Demenzschweregrad eine
Tendenz weg von der Nulllinie zu erkennen, d.h. schwer Demente neigen
vermehrt zu zirkadianen Agitiertheitsschwerpunkten.
Dies lässt sich auch statistisch nachweisen: Mittels Chi-Quadrat-Test für
k x l Felder nach Pearson ergibt sich ein Chi² von 18,39 mit einer Signifikanz
von .018, was für einen Zusammenhang der MMST-Kategorie mit der
Variablen spricht.
Die Gruppe der Sundowner hat einen CMAI-Mittelwert von 36,0 (SD 10,8);
die Sunriser weisen einen CMAI-Mittelwert von 37,9 (SD 12,0) auf; die
Gruppe der Constants erreichen einen CMAI-Mittelwert von 27,8 (SD 7,39).
Im Tukey-Test zeigen sich mit p=.00 statistisch signifikante Unterschiede
71
sowohl zwischen den CMAI-Werten der Sundowner-Gruppe und der der
Constants als auch zwischen CMAI-Werten der Sunriser-Gruppe und der der
Constants. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Sundowner und Sunriser
insgesamt ein höheres Agitiertheitsniveau haben als Personen ohne
zirkadianen Agitiertheitsschwerpunkt.
4.5.2
Tagesrhythmik der einzelnen Dimensionen
4.5.2.1 Tagesrhythmik
der
Dimension
Unruhiges
und
Unangemessenes Verhalten
Das Ergebnis bezüglich der Dimension Unruhiges und Unangemessenes
Verhalten ist in Abbildung 14 und Tabelle 11 dargestellt. Bei einem
Mittelwert der CMAI-Dimension in der Kontrollgruppe von 0,07 und einer
Standardabweichung
von
1,3
fallen
diejenigen
in
die
Kategorie
„Sundowner“, die oberhalb von 2,67 liegen (also „ab 3“), in die Kategorie
„Sunriser“, die unterhalb von -2,53 liegen (also „ab -3“). Dies sind hier 9
Sundowner und 9 Sunriser. Der Chi²-Test für k x l Felder zeigt hier mit
einem Wert von 17,4 einen Wert über der erwarteten Häufigkeit von 5; mit
Signifikanzniveau von .025 besteht ein signifikanter Zusammenhang
zwischen der MMST-Kategoriegruppe und der drei Variablen, Sundowner,
Sunriser und Costants. Die Verteilung der Werte ähnelt der des GesamtCMAI.
72
Diff. CMAI 2-1 (Unruhiges und Unangemessenes
Verhalten)
12
nachmittags / abends agitierter
10
nicht dement
MMST 20-26
8
MMST 10-19
6
MMST <10
4
MMST unbek.
2
0
-2
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
-4
-6
-8
morgens / vormittags agitierter
-10
Einzelne Probanden
Abb. 14: Differenz der Mediane CMAI 2 minus CMAI 1 für die Dimension
Unruhiges und Unangemessenes Verhalten der einzelnen Probanden,
gruppiert nach MMST-Kategorie
Tab. 11: Anzahl der Personen in den Agitiertheitsgruppen für die
Dimension Unruhiges und Unangemessenes Verhalten, unterteilt
nach MMST-Kategorie
AgitiertheitsMMST-Kategorie
gruppen
Dimension:
Normalbe 20-26
10-19 unter 10
Unruhiges und
fund
Punkte Punkte Punkten
Unangemessenes
Verhalten
innerhalb 2-facher
27
3
14
18
SD
sundowner
0
0
3
5
sunriser
0
2
2
5
gesamt
27
5
19
28
unbekannt
dement
gesamt
gesamt
2
37 (67%)
64
1
0
3
9 (16%)
9 (16%)
55 (100%)
9
9
82
73
Auch in dieser Dimension zeigen Sundowner und Sunriser statistisch
signifikant höhere Werte im CMAI als Constants. (Constants 12,4;
Sundowner 18,6; Sunriser 17,4)
4.5.2.2
Tagesrhythmik der Dimension Verbal Agitiertes Verhalten
In dieser Dimension bildete die Kontrollgruppe einen Mittelwert von 0,1 bei
einer Standardabweichung von 1,7. Personen, die über einem Wert von 3,5
liegen (also ab 4) gehören in dieser Dimension zur Gruppe der Sundowner;
Personen, die unterhalb von -3,3 liegen (also ab -4) zur Gruppe der
Sunriser. Abbildung 15 veranschaulicht das Ergebnis, in Tabelle 12 werden
die entsprechenden Zahlen genannt. Drei Personen fallen in die SundownerKategorie, vier in die Sunriser-Kategorie. Auffällig ist, dass auch die
Kontrollgruppe erheblich um den Mittelwert streut (siehe hierzu auch das
Kapitel 4.4.2). Weiterhin ist bemerkenswert, dass die Mehrheit der
dementen Personen innerhalb der Standardabweichung liegt. Im Chi²-Test
für k x l Felder nach Pearson zeigt sich ein Wert von 18,5 bei einer
Signifikanz von .017, was für einen statistisch signifikanten Zusammenhang
der Variablen mit der MMST-Kategorie spricht.
74
6
Diff. CMAI (Verbale Agitiertes Verhalten) 2-1
nicht dement
nachmittags / abends agitierter
MMST 20-26
4
MMST 10-19
MMST <10
2
MMST unbek.
0
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
-2
-4
-6
-8
morgens / vormittags agitierter
-10
Einzelne Probanden
Abb. 15:
Differenz der Mediane CMAI 2 minus CMAI 1 für die Dimension
Verbal Agitiertes Verhalten der einzelnen Probanden, gruppiert nach
MMST-Kategorie
Tab. 12: Anzahl der Personen in den Agitiertheitsgruppen für die
Dimension Verbal Agitiertes Verhalten unterteilt nach MMST Kategorie
Agitiertheitsgruppe
MMST-Kategorie
n
Normal- 20-26 10-19 unter 10 unbedement
Dimension: Verbal
gesamt
befund Punkte Punkte Punkten kannt
gesamt
Agitieres Verhalten
innerhalb 2-facher SD
27
3
18
24
3
48 (87%)
75
sundowner
0
0
1
2
0
3 (6%)
3
sunriser
0
2
0
2
0
4 (7%)
4
gesamt
27
5
19
28
3
55 (100%)
82
75
Sundowner und Sunriser liegen in dieser Dimension wiederum signifikant
höher im CMAI verglichen mit den Constants (Sundowner 9,3; Sunriser
11,5; Constants 8,0) .
4.5.2.3
Tagesrhythmik der Dimension Aggressives Verhalten
Die Kontrollgruppe der nicht dementen Personen zeigt in dieser Dimension
einen Mittelwert von 0,05 bei einer Standardabweichung von 0,58. So
gehören alle diejenigen Personen der Stichprobe zu den Sundownern, die
oberhalb von 1,21 liegen (also „ab 2“); die Personen unterhalb von -1,11
liegen („ab -2“) sind per definitionem Sunriser. Die entsprechenden
Verteilungen und Häufigkeiten zeigen Abbildung 16 und Tabelle 13. In
dieser Dimension fallen insbesondere die schwer Dementen mit häufiger
Morgen- oder Abendbetonung des aggressiven Verhaltens auf, während 2
von 5 leicht dementen Personen durch eine morgendliche Aggressivität
auffallen. Im Chi²-Test für k x l Felder ergibt sich ein Wert von 16,87 mit
einer Signifikanz von .031, somit besteht ein Zusammenhang der
Agitiertheitsgruppen mit der MMST-Kategorie, also mit der kognitiven
Leistungsfähigkeit.
Auch in dieser Dimension zeigen sich Sundowner und Sunriser signifikant
über den Constants (Constants 7,3; Sundowner 8,0; Sunriser 8,8).
76
5
nachmittags / abends agitierter
Diff. CMAI (Aggressives Verhalten) 2-1
4
nicht dement
MMST 20-26
3
MMST 10-19
MMST <10
2
MMST unbek.
1
0
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
-1
-2
-3
morgens / vormittags agitierter
-4
Einzelne Pobanden
Abb. 16: Differenz der Mediane CMAI 2 minus CMAI 1 für die Dimension
Aggressives Verhalten der einzelnen Probanden, gruppiert nach
MMST-Kategorie
77
Tab. 13: Anzahl der Personen in den Agitiertheitsgruppen für die
Dimension Aggressives Verhalten, unterteilt nach MMST –
Kategorie
Agitiertheitsgrup
pen
Dimension:
NormalAggressives
befund
Verhalten
innerhalb 2-facher
27
SD
sundowner
0
sunriser
0
gesamt
27
4.5.3
MMST-Kategorie
20-26
Punkte
10-19 unter 10
Punkte Punkten
unbekannt
dement
gesamt
gesamt
3
18
26
3
50 (91%)
77
0
2
5
0
1
19
1
1
28
0
0
3
1 (2%)
4 (7%)
55 (100%)
1
4
82
Konkordanz der Tagesrhythmik der Agitiertheit insgesamt
mit derjenigen ihrer drei Dimensionen
Es
stellt
sich
die
Frage,
ob
Personen,
die
im
Gesamt-CMAI
beispielsweiseSundowner sind, auch in den einzelnen Dimensionen als
solche auffallen. Die Tabelle 14 zeigt, dass die Sundowner- und
Sunrisergruppen der CMAI-Summen nicht vollständig mit den Sundowner/Sunrisergruppen der einzelnen drei Dimensionen übereinstimmen. So
finden sich bei der Differenz CMAI 2-1 insgesamt 19 Personen mit
Sundowning
oder
Sunrising.
Von
diesen
zeigen
13
entsprechende
Auslenkungen in der Dimension Unruhiges und unangemessenes Verhalten,
6 entsprechende Auslenkungen in der Dimension Verbal Agitiertes Verhalten
und 5 in der Dimension Aggressives Verhalten.
78
Tab. 14: Differenzen CMAI 2 minus 1 der einzelnen Sundowner und
Sunriser, unterteilt nach Summe und einzelnen Dimensionen
(Konkordanzbestimmung). Herausgehoben sind die Werte, die
außerhalb der 2-fachen Standardabweichung der Kontrollgruppe
liegen
Sundown
er
Sunriser
gesamt
Diff. CMAI 2-1
Diff. CMAI 2-1
Diff. CMAI 2-1
Unruhiges und
Verbal
Summe
unangemessenes
agitiertes
Verhalten
Verhalten
7
0
4
0
5
4
0
0
7
3
4
0
9
5
2
0
6
4
-1
0
7
5
2
0
5
1
0
4
12
10
2
0
6
3
3
0
-9
1
-9
0
-6
-5
-1
0
-5
-2
0
0
-7
-8
0
0
-11
-7
-6
-2
-13
-3
-7
-3
-6
-5
-1
0
-7
-6
0
-1
-9
1
-7
2
-12
0
-3
-3
19
13 von 18
6 von 7
5 von 5
Diff. CMAI 2-1
Aggressives
Verhalten
79
Nur 4 Personen sind in mehr als einer Dimension statistisch auffällig.
Andererseits sind einige Personen in einzelnen Dimensionen statistisch
auffällig, nicht jedoch im Summenwert: Für die Dimension Unruhiges und
unangemessenes Verhalten 5 von 18; für die Dimension Verbal Agitiertes
Verhalten 1 von 7. Letztere 6 Personen sind in Tabelle 14 nicht aufgeführt.
Schließlich sind alle Personen, die eine entsprechende Auslenkung bei
Aggressivem Verhalten zeigen, auch im Gesamt-CMAI auffällig.
5
Diskussion
5.1 Methodendiskussion
5.1.1
Ausfüllen der CMAI – Testversion – Bögen
Die Beurteilung der Probanden und das Ausfüllen der CMAI-Bögen erfolgte
durch das Pflegepersonal. Obwohl eine sorgfältige Einführung in die
Thematik durchgeführt wurde, handelte es sich nicht um ein in solchen
Aufgaben erfahrenes Personal. Zwar verbrachten die Pflegenden täglich die
ganze Schicht über (also annähernd 8 Stunden) mit den Probanden, wie
intensiv allerdings der pflegerische Kontakt jeweils war, bleibt aber letztlich
unklar. Das Ausfüllen der CMAI-Bögen erfolgte durch mehrere Personen;
eine gute Interraterreliabilität für das Testinstrument CMAI konnte für die
englischsprachige Version allerdings von Shah et al. 1998 nachgewiesen
werden. Zudem ist bei klinisch erfahrenem und in die Thematik
eingearbeitetem Pflegepersonal von einer korrekten Handhabung des
Testinstruments CMAI auszugehen. Die Pflegenden konnten die ganze
Schicht überblicken und waren erfahren im Umgang mit den ihnen
80
bekannten Probanden, was sich positiv auf die Korrektheit beim Ausfüllen
der Beurteilungsbögen ausgewirkt haben dürfte.
Die beurteilenden Pflegepersonen wurden im Rahmen dieser Arbeit auf
Wunsch des Pflegepersonals nicht individuell erfasst, so dass keine
Beobachterübereinstimmung berechnet werden konnte. Der Hauptgrund
dafür war die Skepsis des Pflegepersonals beider Einrichtungen in Hinblick
auf eine mögliche Kontrolle der Pflegenden. Aufgrund der hohen Fluktuation
des Pflegepersonals war es zudem leider unmöglich, Beobachterpaare für
eine Überprüfung der Beobachterübereinstimmung zu bilden.
Die
Datenerfassung
erfolgte
in
vergleichbaren
Studien
durch
wissenschaftlich geschultes Personal (z. B. Evans 1987; Koss et al. 1997).
Hier wurden die Beurteilungsbögen von erfahrenen Klinikern ausgefüllt, die
ihrerseits jedoch nur kurze Zeit (z. B. zweimal 10 min pro Tag) mit den
Probanden verbrachten oder aber Angaben von Pflegenden rekrutierten.
Intensivere Beobachtungen der Probanden durch einen Kliniker ergeben
zwar engmaschige Ergebnisse, gehen aber wegen der oft begrenzten
Ressourcen auf Kosten der Fallzahl.
5.1.2
Beurteilung der Stichprobe
Die Altersverteilung der Kontrollgruppe lag mit M=78,7 etwas unter der der
Dementengruppe (M=81,5). Die Demenzdiagnosen benannten 52% Senile
Demenz, 22% DAT, 24% VD und 2% DAT/VD. Der Begriff „Senile Demenz“
impliziert einerseits keine Festlegung auf eine Ätiologie der dementiellen
Erkrankung, andererseits besteht eine Assoziation zur DAT durch den
gebräuchlichen Begriff „Senile Demenz vom Alzheimertyp“. Setzt man
„Senile Demenz“ mit DAT gleich, so hätte unsere Stichprobe eine 75%ige
Alzheimerpathologie.
Dies
entspräche
ungefähr
der
Häufigkeit
der
81
anzunehmenden Fälle mit Alzheimerpathologie (siehe Abb. 1). Interpretiert
man den Begriff „Senile Demenz“ als unspezifisch, so wären 4/5 dieser Fälle
als DAT anzunehmen. Hätten weiter 2/3 der VD eine Alzheimerpathologie,
so würde sich nach dieser Berechnung ein ungefährer Anteil von 78%
Alzheimerpathologie errechnen. Somit hätte unsere Stichprobe einen Anteil
an DAT-Pathologie von ca. 78-80%, was wiederum der typischen Verteilung
innerhalb der Demenzen entspricht.
5.1.3
Einschätzung des Demenzschweregrades mittels MMST
Der MMST ist zwar ein gebräuchliches, leider aber nicht sehr valides
Testinstrument. Zur Einschätzung des Demenzschweregrades eignet er sich
aber dennoch, zudem wird er breit angewandt. Seine Schwäche besteht
insbesondere darin, beginnende, sehr leichte Demenzgrade nicht zu
erfassen. Kukull et al. (1994) empfehlen einen Cut-Off von 27 Punkten, um
die Anzahl an Falsch-Negativen zu minimieren. Unsere Demenzstichprobe
wurde nach klinischen Gesichtspunkten ermittelt. Bei klinisch dementen
Personen wurde der MMST zur Validierung der Demenzdiagnose und zur
Schweregradeinteilung
durchgeführt.
Die
klinisch
nicht
demente
Kontrollgruppe erhielt keinen MMST, so dass eine klinische Fehleinschätzung
(eine demente Person wird klinisch als nicht dement eingestuft) nicht
revidiert werden konnte. Einschränkend muss aber gesagt werden, dass am
ehesten eine leichtgradige Demenz unerkannt geblieben sein könnte und
gerade hier der MMST oft versagt.
82
5.1.4
Das Testinstrument: der CMAI-deutsche Version
Durch die gleichzeitige Validierung des CMAI-deutsche Version, der der
vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, ist von einem validen Testinstrument
auszugehen
(Hülser
2001).
Eine
hohe
Test-Retest-Reliabilität
und
Interraterreliabilität der englischsprachigen Originalversion konnten Shah et
al. (1998) nachweisen. Auch die einzelnen Dimensionen wurden mittels
Faktorenanalyse ermittelt und sind als valide einzuschätzen. Sie stimmen im
Wesentlichen mit den von Cohen-Mansfield gefundenen Faktoren überein
(Cohen-Mansfield 1989).
5.1.5
Die drei Beobachtungszeiträume
Da die Pflegenden die Beurteilung der Agitiertheit und das Ausfüllen der
CMAI-Bögen
übernahmen,
orientierten
wir
uns
aus
leicht
nachzuvollziehenden Gründen an der Dauer der jeweiligen Schichten als
Beobachtungszeiträume (7-14 Uhr, 14-21 Uhr, 21-7 Uhr). Damit können
Aussagen über die jeweiligen Beobachtungszeiträume getroffen werden. Mit
einer Dauer von 2 mal 7 Stunden (tagsüber) bzw. 10 Stunden (nachts) sind
die Beobachtungszeiträume allerdings relativ lang. Ein Maximum an
Agitiertheit könnte z.B. kurz nach 14 Uhr oder kurz vor 21 Uhr, irgendwann
dazwischen oder über die ganzen Stunden auftreten. In allen Fällen wäre
die
Person
als
Sundowner
definiert.
Je
engmaschiger
die
Beobachtungszeiträume bzw. die Beurteilungszeitpunkte liegen, umso
genauer lässt sich ein Unruhehöhepunkt und ein „naturgetreues Abbild“ der
zirkadianen Agitiertheit bestimmen. Aus organisatorischen Gründen war dies
in der vorliegenden Untersuchung leider nicht möglich. Von Martin et al.
(2000) wurde ein durchschnittliches Agitiertheitsmaximum gegen 14:38 Uhr
83
mit einer hohen zeitlichen Varianz der Agitiertheitsmaxima beobachtet. In
unserer Studie würde eine Person mit Unruhemaximum gegen 14 Uhr
fälschlicherweise
als
„Constant“
eingestuft
werden.
Engmaschigere
Beurteilungszeiträume gehen bei eingeschränkten Ressourcen allerdings
öfter auf Kosten der Probandenzahl oder der gesamten Beobachtungszeit
(siehe Kap. 5.1.1).
5.1.6
Begriffliche Verwendung von „Sundowning“, „Sunrising“
und „Constant“
Der Begriff Sundowning wird in der Literatur nicht einheitlich gebraucht.
Insbesondere besteht keine Einigkeit über den genauen Zeitrahmen oder
Zeitpunkt, an dem es zu einer Zunahme an Agitiertheit, Rastlosigkeit und
Verwirrtheit kommt. Einige Autoren bezeichnen mit Sundowning eine
abendliche oder nächtliche Unruhe, so z. B. McGaffigan und Bliwise (1997).
Martin
et
al.
(2000)
meinen
mit
Sundowning
einen
abendlichen
Unruhezeitpunkt gegen 19 Uhr und bezeichnen die entsprechend (kleine)
Gruppe als „true sundowners“. Die meisten Autoren beziehen auch die
Nachmittagsstunden mit ein (z. B. Volicer et al. 2001). Weitere Studien
finden jeweils unterschiedliche Zeiträume [16:30-23 Uhr (Cohen-Mansfield
et al. 1992; 19-22 Uhr (Martino-Saltzmann 1991); 16-20 Uhr (O´Leary et al.
1993)], an denen bestimmtes agitiertes Verhalten vermehrt auftreten soll.
Der Begriff „Sunrising“ wurde von uns in Analogie zum „Sundowning“Begriff
entwickelt.
Wir
bezeichnen
damit
die
in
den
Morgen-
/Vormittagstunden vermehrt auftretende Agitiertheit, wohlwissend, dass
auch
hier
der
relativ
große
Zeitrahmen
„Sonnenaufgang“ etwas entgegenspricht.
der
Vorstellung
von
84
Der Begriff „Constant“ wurde von uns als Bezeichnung für diejenigen
Personen
gewählt,
deren
Agitiertheitslevel
in
den
beiden
ersten
Untersuchungszeiträumen im Vergleich zu den nicht dementen Personen
nicht wesentlich abwichen, d.h. „konstant“ waren. Das Problem eines
Unruhemaximums um den Schichtwechsel herum wurde bereits oben
diskutiert (Kap.5.1.5).
5.1.7
Definition von „Sunrising“, „Sundowning“ und „Constant“
Als Grenze für die Einteilung in eine der drei Agitiertheitsgruppen wurde
folgendes Vorgehen gewählt: Die Differenz CMAI 2 minus CMAI 1 wurde
gebildet. Aus diesen Differenzen wurde in der Kontrollgruppe der
Nichtdementen
der
Mittelwert
gebildet.
Ausgehend
von
einer
Normalverteilung gehörten Personen, die außerhalb einer 2 (1,96)-fachen
Standardabweichung mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% nicht mehr zu
dieser Kontrollgruppe. Im Weiteren wurden nicht die Mittelwerte der
Differenzen zur Klärung der Frage der Agitiertheitsgruppen gewählt,
sondern die Mediane. Dieses Vorgehen erschien uns sinnvoll, da ein
Mittelwert durch einzelne Extremwerte in die eine oder andere Richtung
ausgelenkt werden kann, wohingegen beim Median sichergestellt ist, dass
die gleiche Anzahl an Werten oberhalb und unterhalb liegen (so wird z. B.
eine Person zum Sundowner, wenn sie nur an einem oder zwei Tagen eine
nachmittägliche Unruhe aufweist, sonst aber über den Tag verteilt konstant
(un)ruhig ist).
Diese Bewertungsmethode geht auch von der Annahme aus, dass nicht
demente Personen keinen nennenswerten zirkadianen Unruheschwerpunkt
aufweisen. Da bekanntlich auch andere psychiatrische Erkrankungen, wie z.
B. schwere Depressionen oder andere affektive Psychosen mit einer
85
Tagesrhythmik
einhergehen,
muss
dies
bei
der
Bewertung
der
Kontrollgruppe mit berücksichtigt werden. Hier hatten drei Personen die
Diagnose: Depression/Schizoaffektive Psychose. Auch die anderen Personen
der Kontrollgruppe waren nicht gesund. Sie litten unter diversen
organischen
Erkrankungen,
Untersuchungsergebnis
die
hatten
möglicherweise
(vgl.
Kap.
Einfluss
3.5).
auf
das
Inwieweit
Agitiertheitsschwerpunkte bei den Dementen genuiner Ausdruck der
Demenzerkrankung oder einer psychiatrischen Sekundärerkrankung sind
wird im Kapitel 5.2.5 diskutiert.
5.2.
Ergebnisdiskussion
5.2.1
Das Kollektiv der Demenzpatienten ist signifikant agitierter
als die gesunde Kontrollgruppe.
Wir fanden in unserer Untersuchung bei den Demenzkranken insgesamt
eine signifikant höhere Häufigkeit an agitiertem Verhalten, was sich auch
jeweils für alle drei Untersuchungszeiträume bestätigte. Dieses Ergebnis
deckt sich mit den Befunden anderer Studien zu diesem Thema. Als eine der
ersten untersuchte Cohen-Mansfield 1988 den Zusammenhang zwischen
Agitiertheit und dem Grad der kognitiven Beeinträchtigung. Sie fand unter
165 Heimbewohnern vermehrte Agitiertheit bei den kognitiv stärker
beeinträchtigten. Koss et al. (1997) fanden bei 241 an Alzheimerdemenz
Erkrankten und 64 Kontrollpersonen ein mit der kognitiven Beeinträchtigung
einhergehendes Maß an Agitiertheit. Reisberg (1987) berichtet, dass 58%
seiner ambulanten Alzheimerpatienten signifikante Verhaltensauffälligkeiten
aufwiesen. Als Hauptsymptome wurden Agitiertheit und Verkennungen
genannt.
86
5.2.2
Agitiertheit tritt in der Gruppe der Demenzkranken
signifikant ausgeprägter nachmittags als morgens auf.
Diese These ließ sich für unsere Stichprobe nicht bestätigen. Im Gegenteil
wurde eine leichte Betonung der Agitiertheit am Morgen deutlich. Die
ursprüngliche These ging von der Annahme aus, dass eine relevante Anzahl
an DAT-Patienten ein nachmittägliches Agitiertheitsmaximum aufweisen und
dass alle übrigen Personen über den Tag verteilt ein ungefähr konstantes
Agitiertheitslevel aufweisen. Wenzel und Schröder (1998) fanden an einer
Stichprobe
von
15
Patienten
bei
den
DAT-Patienten
ein
hohes
Unruhemaximum am Nachmittag, bei Mischdemenzen (DAT/VD) ein etwas
geringeres Agitiertheitsmaximum am Nachmittag, gefolgt von den VDPatienten, die über den Tag nahezu konstant waren. In unserem
überwiegend alzheimerdementen Kollektiv ließ sich dieser Befund nicht
replizieren.
5.2.3 Das globale Ausmaß an Agitiertheit ist mit dem Schweregrad
der Demenz assoziiert.
Wie sich aus Tabelle 6 (Seite 46) erkennen lässt, steigt das Ausmaß an
Agitiertheit mit dem Schweregrad der Demenz kontinuierlich an. Dabei
fanden sich signifikante Unterschiede zwischen fast allen Demenzgraden,
allerdings nicht zwischen leicht und mittelschwer Dementen. Ein deutlicher
Agitiertheitssprung zeigt sich zwischen der Kontrollgruppe und den leicht
Dementen und nochmals zwischen den mittelschwer und schwer Dementen,
wohingegen zwischen den leicht und mittelschwer dementen Personen kein
signifikanter Unterschied bestand. Koss et al. (1997) beschrieben ebenfalls
eine Zunahme an Agitiertheit mit dem Demenzgrad und insbesondere auch
87
einen
deutlichen
Anstieg
bei
den
schwerst
dementen
Formen.
Einschränkend muss zu unseren Ergebnissen aber gesagt werden, dass die
Gruppe der leicht dementen Personen mit 5 sehr klein ist, wobei 2 Personen
ein relativ hohes Maß an Unruhe aufweisen („Ausreißer“) und den Mittelwert
dieser Gruppe dadurch „hochtreiben“. Die Übersicht über die Mittelwerte der
einzelnen Personen verdeutlicht eine diffuse Zunahme an Agitiertheit mit
dem Schweregrad der Demenz. In der Gruppe der schwer dementen
Personen fallen 3 Personen durch ein erhebliches Maß an Agitiertheit auf,
wobei der Rest dieser Gruppe ein ähnliches Verteilungsmuster zeigt wie die
Gruppe der mittelschwer Dementen. Bei diesen 3 Personen handelt es sich,
wie sie Einzelfallanalyse zeigt, um schwerst Demente mit MMST-Werten von
jeweils 0, 1 und 2.
5.2.4 Die drei Unterformen der Agitiertheit („Dimensionen“ gemäß
CMAI)
sind
in
den
drei
Demenzschweregraden
unterschiedlich ausgeprägt.
Die drei Dimensionen des CMAI umfassen Unruhiges und Unangemessenes
Verhalten mit 10 Items, Verbal Agitiertes Verhalten mit 6 Items und
Aggressives Verhalten mit 7 Items. Für die einzelnen Dimensionen fanden
wir unterschiedliche Ausprägungen bezogen auf den Grad der kognitiven
Beeinträchtigung.
Für die Dimension Unruhiges und Unangemessenes Verhalten fanden sich
die höchsten Werte bei den schwer Dementen, gefolgt von den
mittelschwer Dementen, wobei beide Gruppen im statistischen Mittel
morgens und nachmittags nahezu konstant blieben. Leicht demente
Personen waren in dieser Dimension weniger agitiert, zeigten aber ein
88
Agitiertheitsmaximum am Morgen. Diese Dimension scheint somit eher
typisch für schwerer kognitiv beeinträchtigte Personen zu sein. Auch in der
Studie von Koss et al. (1997) zeigte die Gruppe mittelschwer bis schwer
Dementer (MMST-Punktwerte 5-20) ein Maximum in der Dimension
„Physically nonaggressive“, was in etwa unserer Dimension entspricht.
Insgesamt finden auch wir eine Zunahme dieser Dimension mit dem Grad
der kognitiven Beeinträchtigung.
In der Dimension Verbal Agitiertes Verhalten zeigen wiederum die leicht
Dementen morgens hohe Werte, sogar höhere als schwer Demente; im
Mittel liegen sie allerdings etwas unter denjenigen der schwer Dementen.
Diese Dimension scheint somit eher agitiertes Verhalten von leicht
Dementen abzubilden. Schwer und mittelschwer Demente sind im Mittel
morgens und nachmittags gleichermaßen verbal agitiert. Cohen-Mansfield
berichtet von einer morgendlichen Betonung der Items „verbale Aggression“
und „ständiges Verlangen nach Aufmerksamkeit“ (Cohen–Mansfield et al.
1989). Diese Items finden sich in der Dimension Verbal Agitiertes Verhalten
wieder. Insofern scheinen unsere Ergebnisse diesen Befund zu bestätigen.
Unsere im nachfolgenden 5.2.5 diskutierten Ergebnisse relativieren diese
Aussage allerdings.
Für die Dimension Aggressives Verhalten stellen sich zwar insgesamt
niedrige Werte dar, zwischen mittelschwer und schwer Dementen ist aber
ein deutlicher Sprung in Richtung ausgeprägterer Aggressivität sichtbar.
Deutlich ist auch eine Zunahme an aggressivem Verhalten mit der Schwere
der Demenz. Auch Koss et al. (1997) berichten von relativ seltenem
Auftreten aggressiver Verhaltensweisen im Vergleich zu anderem agitierten
Verhalten, fanden es aber auch signifikant gehäuft bei schwer und
insbesondere bei schwerst Dementen (MMST-Punktwert 0-4). Somit
89
stimmen unsere Ergebnisse mit denjenigen von Koss et al. überein.
Ursächlich zu diskutieren ist ein Zusammenhang mit einem Defizit an
verschiedenen Neurotransmittern (Serotonin, Noradrenalin, Dopamin und
GABA), das im Untergang von Neuronen im Verlauf der dementiellen
Erkrankung begründet ist. So scheinen niedrige Serotoninspiegel im Liquor
cerebrospinalis mit aggressivem Verhalten assoziiert zu sein (Zayas und
Grossberg 1996). Die Gruppe der leicht Dementen zeigte unerwarteterweise
morgens aggressives Verhalten in der Größenordnung
der
schwer
Dementen; möglicherweise ist dies Ausdruck einer zugrunde liegenden
depressiven Störung (vgl. hierzu Kapitel 5.2.5). Allerdings ist auf Grund der
geringen Fallzahl von 5 leicht Dementen in unserer Stichprobe die
entsprechende statistische Auswertung problematisch.
In der Literatur wird zwar immer wieder auf diese Dimensionen von
Agitiertheit hingewiesen, die meisten Studien beschäftigen sich aber mit der
Erfassung einzelner Symptome der Agitiertheit (z. B. Cohen-Mansfield et al.
1989; Sourial et al. 2001).
Cohen-Mansfield und Marx stellten 1989 eine Studie vor, in der sie die
unterschiedlichen Dimensionen mit lebensgeschichtlichen Ereignissen in
Verbindung setzten. Die Autoren fanden hierdurch eine Korellation zwischen
früheren traumatisierenden Ereignissen und körperlich nicht aggressivem
agitiertem Verhalten.
5.2.5 Anhand der zirkadianen Rhythmik lassen sich Untergruppen
(Typen) der Demenzkranken bilden.
Das
Auftreten
und
die
Häufigkeit
eines
Sundownsyndroms
wird
unterschiedlich bewertet. Wie bereits weiter oben (vgl. Kap. 5.1.6)
90
beschrieben, ist der Begriff Sundowning zeitlich nur unscharf umrissen und
wird von einigen Autoren auf den Abend, von anderen auf Nachmittag,
Abend und Nacht bezogen. Auch wird oft nur unscharf definiert, wie
ausgeprägt die abendliche Betonung der Unruhe bzw. Agitiertheit sein
muss, sodass eine Person als Sundowner bezeichnet wird. Wir haben aus
oben genannten Gründen (vgl. Kap. 3.4.5) als Grenze die doppelte
Standardabweichung der Mittelwerte der nichtdementen Kontrollgruppe
gewählt. Aber auch diese Grenzziehung ist problematisch, weil sie
voraussetzt, dass Sundowning bei nicht dementen Personen nicht auftritt.
Möglicherweise auf Grund dieser definitorischen Unsicherheiten finden
unterschiedliche
Autoren
auch
unterschiedliche
Häufigkeiten
von
Sundownern. Martin et al. (2000) definierten Sundowning relativ strikt als
Unruhehöhepunkt gegen 19 Uhr (vgl. Kap. 5.1.6) und fanden somit nur 2,4
% „echte“ Sundowner. Volicer et al. (2001) fanden dagegen bei 44% ihres
dementen Untersuchungskollektivs ein gelegentliches oder regelmäßiges
Sundowning. Die meisten Studien, die sich mit dem Thema befassen, finden
ein Sundownsyndrom bei ca. 10-25% der dementen Probanden (CohenMansfield 1989, Evans 1987, Martin et al. 2000), wobei Koss et al. (1997)
eine Zunahme mit dem Grad der Demenz feststellen konnten.
In unsere Stichprobe fand sich unter den genannten Bedingungen bei 9 von
55 Personen (=16%) ein Sundowning. Davon waren 3 von 19 mittelschwer
dement (= 15,4%) und 5 von 28 (=17,8%) schwer dement (bei einer
Person war der Demenzgrad unbekannt). Somit bestätigt sich auch in
unserem Kollektiv eine Zunahme an Sundowning mit der Schwere der
kognitiven Beeinträchtigung.
Sunriser, also Personen mit einem morgendlichen Agitiertheitshöhepunkt
fanden sich bei 10 dementen Personen (=18%), wobei 2 der 5 leicht
Dementen ein Sunrising aufwiesen (=40%), 2 der 19 mittelschwer
91
Dementen (=10,5%) und 6 von 28 schwer dementen Personen (=21%).
Statistisch signifikant war ein Mehr an Agitiertheit bei den Sundownern und
Sunrisern im Vergleich mit der Gruppe der Constants.
Vom Auftreten eines morgendlichen Unruhemaximums, von uns „Sunrising“
genannt, wurde bereits vereinzelt berichtet. So fanden Gallagher-Thompsen
et al. (1992) bei 8 von 35 Dementen (23%) ein morgendliches
Agitiertheitsmaximum, das aber zu keiner Mehrbelastung bei der Pflegenden
geführt hatte. In der Studie von Cohen-Mansfield (1989) hatten 4 von 8
Untersuchten ein morgendliches Agitiertheitsmaximum, während nur 2
Personen ein Sundowning aufwiesen. Bliwise et al. (1992) fanden bei 20%
einer zu Hause lebenden dementen Population
eine
morgendliche
Exazerbation an Agitiertheit, während 28% ein Sundowning (hier zeitlich
weit gefasst) aufwiesen. Es gibt also Befunde, die durchaus zu den unsrigen
passen.
Betrachtet man die einzelnen Fälle (vgl. Abb. 13), so ist augenscheinlich,
dass mit zunehmender Demenz die Streuung um die Nulllinie größer wird,
d.h. immer mehr Probanden entweder morgens/vormittags oder
abends/nachmittags einen Agitiertheitsschwerpunkt aufweisen, der aber nur
gelegentlich die Sunriser- bzw. Sundowner-Bedingung erfüllt. Nach der
Verteilung der Punktwolke scheint es einen fließenden Übergang zwischen
den Constants und den Sunrisern/-downern zu geben. Dies könnte
zusätzlich
die
große
Spannbreite
an
gefundenen
Häufigkeiten
des
Sundownsyndroms erklären: ein Verschieben der „Messlatte“ hebt oder
senkt die Anzahl an Sundownern.
Insgesamt lässt sich sagen, dass mit zunehmender dementieller Entwicklung
die Tendenz, morgendliche oder abendliche Agitiertheitsschwerpunkte zu
entwickeln, allgemein zunimmt.
92
Die Ursachen von Sundowning sind weiterhin unbekannt. Diskutiert werden
die Störung endogener Zeitgeber, z. B. durch eine Dysfunktion des
Melatoninstoffwechsels (Cardinali et al. 2002), ein Zusammenhang mit
Schlafstörungen, Einflüsse der Umgebung (wie z.B. Schichtwechsel oder
weniger
Pflegepersonal
in
der
Spätschicht)
oder
Störungen
im
suprachiasmatischen Nucleus, so dass im Sinne einer Entkopplung
endogene Rhythmen der Umgebung nicht mehr angepasst werden können
(Volicer et al. 2001).
Die Diskussion über Ursachen morgendlicher Unruheschwerpunkte wird
hingegen kaum geführt. Aus klinisch-psychiatrischer Sicht liegt es nahe,
dass es sich bei den morgendlichen Unruhezuständen um das Zeichen einer
Depression im Sinne eines depressiven Morgentiefs handeln könnte.
Beziehungen zwischen Depression und Demenz können erstens im Sinne
einer „echten“ Komorbidität bestehen, da die beiden Erkrankungen die
häufigsten psychiatrischen Erkrankungen des Alters darstellen.
Zweitens können Depressionen reaktiv, also als Reaktion auf die
wahrgenommenen Defizite einer Demenz auftreten. Hier wäre zu vermuten,
dass besonders leicht demente Personen depressiv reagieren, indem sie ihre
Defizite wahrnehmen. Rainer et al. (1999) sahen ein Depressionsmaximum
vier Jahre nach Diagnosestellung mit einer Abnahme in späteren
Krankheitsstadien, möglicherweise wegen schwindender Möglichkeit der
Eigenwahrnehmung (Anosognosie). Schröder (1998) fand dagegen eine
gleichmäßige Verteilung der Depessivität über alle Demenzstadien.
Als dritte Form der Depression ist nach Lauter und Dame (1991) die
Depression in dementia zu nennen, wobei sich nach dieser Auffassung die
Depression direkt aus der Demenzerkrankung entwickelt („organisch“). Dies
ergibt sich aus dem morbogenen Defizit an Serotonin und Noradrenalin in
den
Gehirnen
Alzheimerkranker,
bedingt
durch
den
Untergang
an
Neuronen. In unserem Kollektiv sahen wir in der Gruppe der leicht
93
Dementen keine Sundowner, sondern nur Sunriser, was als möglicher
Hinweis auf eine zugrunde liegende depressive Störung angesehen werden
könnte (also eher im Sinne einer reaktiven Depression).
Mittels Gesamt-CMAI wurden 19 Personen als Sundowner oder Sunriser
identifiziert. Die Dimension Unruhiges und Unangemessenes Verhalten
stimmt mit dem Ergebnis des Gesamt-CMAI am besten überein: 13 der 19
Sundowner/-riser
zeigen
auch
in
dieser
Subskala
entsprechende
Extremwerte. In der zweiten Dimension (Verbal Agitiertes Verhalten) sind
nur 6 diese 19 Personen gleichermaßen auffällig. Lediglich in der Dimension
Aggressives Verhalten sind alle auffälligen Personen auch mittels GesamtCMAI als Sundowner oder Sunriser erfasst. In dieser Dimension zeigt eine
Person im Gesamt-CMAI ein Sunrisermuster, im aggressivem Verhalten aber
ein Sundownermuster (vgl. Tab. 14, zweitunterste Person). Einige Personen,
die in den einzelnen Dimensionen auffällig sind, werden vom Gesamt-CMAI
jedoch nicht als Sundowner/-riser erfasst. Dies bedeutet, dass es vom
Untersuchungsinstrument
abhängig
ist,
welche
Demenzkranken
als
Sundowner oder Sunriser erfasst werden.
Es lässt sich in den ersten beiden Dimensionen keine Tendenz dahingehend
ausmachen, dass sie betont abends oder morgens auftreten. Zwar ist in der
Gruppe der leicht Dementen für alle Dimensionen eine morgendliche
Exazerbation, insbesondere für die Dimension Verbal Agitiertes Verhalten
herauszulesen, jedoch ist die Gruppe so klein, dass keine relevanten
Aussagen getroffen werden können. Für mittelschwer und schwer Demente
streuen die Werte in den beiden ersten Dimensionen diffus um die Nulllinie
herum.
Die
Untersuchung
Dimension
eine
Aggressives
morgendliche
Verhalten
Betonung.
zeigte
8
in
Personen
unserer
waren
morgens/vormittags aggressiver (vgl. Abb. 16), davon erreichten 4 die
94
Sunriserbedingung dieser Dimension. 2 Personen waren nachmittags
aggressiver (davon erreichte eine Person die Sundownerbedingung).
Eine Studien von Cohen-Mansfield et al. (1992) ergab, dass bestimmte
Verhaltensweisen zu bestimmten Tageszeiten vermehrt auftraten und dass
Sundowning mit Verhaltensweisen wie „Merkwürdige Laute Produzieren“,
„Nach Dingen Greifen“ und „Aggressives Verhalten“ assoziiert war. Gerade
Letzteres ließ sich in unserer Untersuchung insofern nicht bestätigen, da
sich in unserem Kollektiv die Demenzkranken morgens eher aggressiv
zeigten.
5.3
Schlussbemerkung
Agitiertheit ist ein häufiges Syndrom bei den Demenzerkrankungen, das mit
Fortschreiten der Erkrankung die Betroffenen als auch die Pflegenden vor
extreme Belastungen stellt. Um zukünftig spezifische Möglichkeiten der
Vorbeugung, Diagnostik und Behandlung dementieller Agitierheit generieren
zu können, hat sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gesetzt, das Syndrom
Agitiertheit bei Demenz besser zu erforschen, dies insbesondere hinsichtlich
ihrer zirkadianen Rhythmik und speziellen Ausprägung. Entgegen der in der
Fachliteratur verbreiteten Auffassung, Demenzkranke seien in der Regel
nachmittags agitierter im Sinne des Sundowning, fanden wir ebenso viele
Demenzkranke, die morgens agitierter waren im Sinne des Sunrising.
Die Ursachen von Agitiertheit und deren zirkadianer Rhythmik sind vielfältig,
und können in der Erkrankung selbst (Degeneration sog. interner
Zeitgeber), in der veränderten und verändert wahrgenommenen Umgebung
oder der individuellen Reaktion darauf (z. B. depressive Verstimmungen)
liegen. Die weitere Erforschung von Agitiertheit mit dem Ziel der suffizienten
Behandlung ist nötig, um die Betreuung Demenzkranker zu verbessern.
95
Dabei ist die standardisierte Erfassung von Agitiertheit mit dem CMAI eher
für wissenschaftliche Studien als für den Routineeinsatz in Heimen und
Kliniken geeignet.
96
Zusammenfassung
Durch die Zunahme an älteren Menschen in der Bevölkerung wird das
Thema Demenz zunehmend aktuell. Die nichtkognitiven Symptome der
Demenz wie Agitiertheit, Depression und Wahn führen zu außerordentlichen
Belastungen bei den Pflegenden.
Die vorliegende Studie untersucht das Thema „Agitiertheit bei Demenz im
Tagesverlauf“ an 55 dementen und 27 nichdementen Personen. Im
Mittelpunkt steht das Phänomen „Sundowning“, d. h. die vielfach in der
Literatur beschriebene Zunahme von Agitiertheit bei Dementen in den
Nachmittags- und Abendstunden. 11 der Untersuchten waren Patienten in
einer psychiatrischen Klinik, 71 waren Bewohner eines Seniorenheims. Die
Gruppe der Dementen wurde mittels MMST in drei Demenzschweregrade
eingeteilt. Mit der Agitiertheitsskala CMAI-deutsche Version wurden die
Personen vom betreuenden examinierten Pflegepersonal über 7 Tage,
jeweils über den Zeitraum der 3 Schichten beurteilt.
Die Altersverteilung der Dementen lag zwischen 47 und 101 Jahren
(Mittelwert 81,5), die der nichtdementen Kontrollgruppe zwischen 63 und
90 Jahren (Mittelwert 78,7). Es wurden fünf Hypothesen untersucht und
ausgewertet.
1. Das Kollektiv der Demenzkranken zeigte sich signifikant agitierter als die
Kontrollgruppe,
sowohl
insgesamt
als
auch
in
den
einzelnen
Untersuchungszeiträumen.
2. Agitiertheit trat in der Gruppe der Demenzkranken nicht ausgeprägter
nachmittags/abends als morgens/vormittags auf.
3. Das globale Ausmaß an Agitiertheit nahm mit dem Grad der Demenz zu,
wobei sich das Maß an Agitiertheit sämtlicher Demenzstadien signifikant von
dem der Nichtdementen unterschied.
97
4. Die einzelnen „Dimensionen“ des CMAI (Unruhiges und Unangemessenes
Verhalten – Verbal Agitiertes Verhalten – Aggressives Verhalten) zeigen
gewisse Ausprägungsunterschiede in den Demenzschweregraden. Während
Unruhiges und Unangemessenes Verhalten mit dem Grad der dementiellen
Beeinträchtigung
kontinuierlich
zunahm,
waren
die
beiden
anderen
Dimensionen bei leicht und schwer dementen Personen am stärksten
ausgeprägt.
5. Die Untersuchung der tageszeitlichen Agitiertheitsschwerpunkte erfolgte
unter Berücksichtigung des Gesamt-CMAI und anschließend für die drei
Dimensionen.
Mit
zunehmendem
Grad
der
Demenz
ergab
sich
eine
vermehrte
Tagesrhythmik der Agitiertheit, wobei sich „Sundowner“ mit insgesamt 16%
in zunehmendem Maße bei den mittelschwer und schwer Dementen fanden.
Personen mit morgendlichem Agitiertheitsschwerpunkt zeigten sich in
ungefähr gleicher Anzahl (18%). Diese Personen wurden als „Sunriser“
bezeichnet. Die größte Gruppe, die „Constants“, hatte keine oder nur
geringfügige Unruheschwerpunkte.
98
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LEBENSLAUF
Persönliche Angaben
Norbert Pauly
Lessingstr. 12
44791 Bochum
Tel.: 02 34 / 51 09 80
Geb. am:
15.11.1962
Geburtsort:
Oberhausen
Familienstand:
verheiratet, 2 Kinder (11 und 7 Jahre)
Konfession:
katholisch
Schulische Ausbildung
1969 - 1973
Grundschule, Oberhausen
1973 - 1982
Novalis-Gymnasium, Oberhausen
Abitur mit der Note 1,8
Großes Latinum
Hochschulausbildung
1982 - 1990
Studium der Medizin an der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Wahlfach: Dermatologie
(Unterbrechung 1983/84 durch Zivildienst im
Krankenpflegebereich)
Ärztliche Prüfungen
1986
Ärztliche Vorprüfung, Note gut
1987
1. Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, Note gut
1989
2. Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, Note gut
1990
3. Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, Note gut
...
113
Beruflicher Werdegang
07/1990 - 12/1991
Arzt im Praktikum
Westfälisches Zentrum für
Psychiatrie und Psychotherapie Bochum
Universitätsklinik, Chearzt Prof. Dr. Dr. Payk
Tätigkeitsbereiche: Akutstation, Klinischer und
Sozialpsychiatrischer Bereich
01/1992 - 03/1997
Assistenzarzt
Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen
Neurologie, Chefarzt Dr. Laubenthal
(Unterbrechung 4/1994 – 3/1995 wg. Elternzeit)
04/1997 - 02/2000
Assistenzarzt
Westfälisches Zentrum für
Psychiatrie und Psychotherapie Herten,
Chefarzt Priv. Doz. Dr. Dziewas
Tätigkeitsbereiche: Sucht- und Depressionsbehandlung,
Allgemeinpsychiatrie,
Gerontopsychiatrische Tagesklinik
03/2000 - 11/2000
Oberarzt im Fachgebiet Psychiatrie
Westfälisches Zentrum für
Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und
Neurologie Gütersloh, Chefärztin Fr. Pof. Dr. Börner
Tätigkeitsbereich: Allgemeinpsychiatrie
11/2000 - heute
Oberarzt im Fachgebiet Psychiatrie
Martin-Luther-Krankenhaus Bochum-Wattenscheid,
Abteilung für Psychiatie und Psychotherapie,
Chefarzt Dr. Auerbach
Tätigkeitsbereiche:Sucht- und Depressionsbehandlung,
Gerontopsychiatrie, Tagesklinik, Institutsambulanz,
neurologisch/ psychiatrischer Konsiliardienst
114
Facharztausbildungen /fachliche Qualifikation
01/1992
07/1996
12/1996
Approbation als Arzt
Facharzt für Neurologie
Fachkunde im Strahlenschutz, Notfalldiagnostik
03/1997
EEG – Zertifikat, Mitglied der Deutschen
Gesellschaft für Neurologie
12/1998
Zusatzbezeichnung Psychotherapie
10/1999
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
02/2003
Fachkunde Suchtmedizinische Grundversorgung
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