Einige gegenwärtige Theorien der Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum Juliane Sagebiel/Ngan Nguyen-Meyer 1 Was ist professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es einer Erklärung des Begriffs Profession in Unterscheidung zu den Begriffen Arbeit und Beruf. Arbeit meint die wenig systematische, individuelle oder kollektive Tätigkeit, die nicht auf einer Ausbildung beruht. Arbeit kann jeder verrichten, z. B. das Haus putzen, eine Mahlzeit kochen, Lasten tragen oder einfache Gebrauchsgegenstände herstellen. Ein Beruf hingegen ist eine arbeitsteilige, spezialisierte Tätigkeit, die gelernt werden muss und Methoden und Techniken erfordert. Zu nennen sind hier klassische Handwerksberufe wie der des Bäckers, des Maurers oder des Automechanikers. Darüber hinaus gibt es Tätigkeiten, die sich im Verlauf der Geschichte herausgebildet haben – quasi gehobene Berufe – die eine hochspezialisierte, theoretische Ausbildung wie ein Studium verlangen (Galuske 2001, 118). Das sind Professionen wie die des Arztes, des Juristen, des Ingenieurs und des Sozialarbeiters. Professionen zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: 1. Eine theoretisch fundierte, über längere Zeit dauernde Universitätsausbildung; 2. Ihre Mitglieder sind in einer Institution organisiert (Verbände, Kammern), sie verwalten sich selbst, indem sie Regeln für den Zugang zur Ausbildung und zur praktischen Tätigkeit aufstellen und prüfen. Für die Ausbildungsstandards in der Sozialen Arbeit gelten die von der International Federation of Social Work Schools (IFSWS) empfohlenen Kriterien; 3. Sie sind an einen Code of Ehtics gebunden, dem sich alle Professionsangehörige verpflichten. Sie sind relativ autonom, d.h. vor einer Kontrolle durch andere, die nicht der Profession angehören, geschützt. Für die Soziale Arbeit gelten die in der International Definition of Social Work (IFSW) festgelegten Werte. 4. Sie genießen soziale Anerkennung in der Gesellschaft und haben einen relativ hohen Status in der Berufshierarchie einer Gesellschaft. 5. Eine professionelle Tätigkeit verfolgt altruistische Motive, sie dient der Allgemeinheit, indem sie sich am Wohl und der Stabilität der Gesellschaft orientiert. Soziale Arbeit verfolgt die Ziele, Menschen bei ihren Problemlösungen zu unterstützen, sie zu ermächtigen ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihr Wohlbefinden zu verbessern und zum sozialen Wandel beizutragen; 6. Professionen beanspruchen eine exklusive Zuständigkeit für bestimmte Probleme in der Gesellschaft. Der historische Prozess der Durchsetzung 1 solcher Allein-Zuständigkeiten in der Hierarchie der Profession ist die Professionalisierung. Der Prozess der Verberuflichung in der Sozialen Arbeit von freiwilliger, ehrenamtlicher und ungelernter Tätigkeit (Arbeit) über bezahlte Berufsarbeit bis hin zur Hochschulausbildung beschreibt die Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Sie beansprucht die Zuständigkeit für die Bearbeitung von sozialen Problemen. All diese soziologischen Kriterien zur Definition von Professionen treffen auf die Soziale Arbeit nicht im vollen Umfang in allen Ländern gleichermaßen zu. So befindet sich z. B. der Prozess der Professionalisierung in manchen Staaten Asiens noch in den Anfängen, während er in den USA weitgehend entwickelt ist. In Deutschland ringt die Profession Soziale Arbeit immer noch um die soziale Anerkennung und die Ausbildung hat noch nicht universitäres Niveau erreicht. Doch die oben aufgeführten Kriterien lassen Rückschlüsse auf professionelles Handeln zu. Ganz allgemein formuliert ist professionelles, sozialarbeiterisches Handeln theoriebegründet und werteorientiert. Es ist ein auf Veränderung des Individuums und seiner Umwelt gerichtetes Handeln. Es ist absichtsvoll und reflektiert; Geplant, systematisch auf die Lösung eines praktischen, sozialen Problems gerichtet; Es basiert auf wissenschaftlich fundierten Arbeitsweisen und Methoden; Es beruht auf einem allgemeinen Professionswissen, das unabhängig von bestimmten Organisationen, von bestimmten Zielgruppen, von bestimmten Problemlagen für die Soziale Arbeit Gültigkeit hat; Es ist durch Werte legitimiert; Und es ist effektiv, es zeigt Wirkungen und es ist effizient, d.h. der Aufwand steht in Relation zu den beabsichtigten Wirkungen. Professionelles Handeln und Wissen – Praxis und Theorie – bilden eine Einheit. Wissenschaftliches Wissen zur Beschreibung und Erklärung des sozialen Problems und zur Begründung, warum es sich um ein Problem handelt, für das die Soziale Arbeit zuständig ist, erzeugt und ermöglicht eine begründete Situationsdiagnose, eine Problem- und Ressourcenbestimmung, eine wertebasierte Zielformulierung und die Wahl geeigneter Methoden und Mittel zur Realisierung der angestrebten Veränderung. Schließlich kann über theoretisches Wissen die Auswertung, die Evaluation des Hilfeprozesses erfolgen. Bevor wir auf den professionellen Hilfeprozess im Detail eingehen, bedarf es vorab der Klärung folgender Fragen: 1) Welches wissenschaftliche Wissen ist für die Soziale Arbeit relevant? 2) Womit befasst sich Soziale Arbeit – was ist ihr Auftrag? 3) Und auf welchen Ebenen agiert die Soziale Arbeit? 2 Zur ersten Frage: Das Wissen der Sozialen Arbeit ist transdisziplinär konzipiert. „Denn es gibt kein Problem, das nur unter Bezug auf eine Disziplin beschreiben und erklärt werden könnte“ (Sagebiel 2010, 52). Um soziale Probleme diagnostizieren und bearbeiten zu können, benötigen die Praktiker und Praktikerinnen Wissensbestände aus der Soziologie, z.B. über die Gesellschaft, über soziale Systeme, Machtverhältnisse und Geschlechterrollen. Um menschliches Verhalten, Erleben und Motivation zu erklären, bezieht sich die Soziale Arbeit auf das Wissen der Psychologie. Die Biologie stellt Wissen bereit, um neurologische Prozesse, gesundheitliche Zustände und Bedürfnisse zu erkennen. Aus der Philosophie (bzw. Kulturwissenschaft) gewinnt die Profession Erklärungen über historisch gewachsene kulturelle und religiöse Traditionen und Lebensweisen. Zur Analyse der gegebenen sozialpolitischen Bedingungen, unter denen Soziale Arbeit agiert, sind juristische Kenntnisse und politisches Wissen unabdingbare Voraussetzungen. Diese Wissensausschnitte stehen nicht unvermittelt nebeneinander, sie bedingen sich gegenseitig. Folgendes Beispiel soll diese transdisziplinäre Verknüpfung verdeutlichen: Eine vietnamesische Familie, die seit 15 Jahren in Deutschland lebt, hat Probleme mit ihrem Sohn, der in der Schule durch aggressives Verhalten auffällt. Die Eltern sprechen nur wenig Deutsch, der Vater ist arbeitslos. Die Familie lebt von Sozialunterstützung. Um der Familie helfen zu können, muss die deutsche Sozialarbeiterin Kenntnisse über Migration (Soziologie) und die vietnamesische Kultur (Kulturwissenschaften, Politik) heranziehen, sie muss wissen, welchen Aufenthaltsstatus die Familie hat (Recht) und welche Hilfemöglichkeiten es für Migranten gibt (Sozialpolitik). Um das Verhalten des Sohnes zu erklären und um zu verstehen, warum er sich in welchen Situationen aggressiv verhält, bezieht sie sich auf psychologisches Wissen. Alles Wissen aus den genannten Disziplinen, die sich auf die Soziale Arbeit beziehen (Bezugswissenschaften), ist handlungs-, anwendungs- und veränderungsorientiertes Wissen. Soziale Arbeit ist eine Handlungswissenschaft, die nicht „von einem Gegensatz zwischen Theorie und Praxis ausgeht, sondern beidem ein Verhältnis zum Wissen unterstellt“ (Staub-Bernasconi 2007, 245). Mit anderen Worten: Theorie braucht Wissen aus der Praxis, denn sie bezieht ihre Aussagen auf praktische Probleme und zeigt ethisch begründete Wege auf, diese zu verändern. Und Praxis braucht Theorie, um zu erkennen, was das Problem ist, warum es entstanden ist, woraufhin die Situation hin verändert werden soll (Ziele) und wie und womit das erreicht werden kann. Zur zweiten Frage: Was ist der Auftrag der Sozialen Arbeit, für was ist sie in der Gesellschaft zuständig? Ganz allgemein formuliert könnte man sagen: für die Bearbeitung und Lösung von sozialen Problemen. Soziale Arbeit befasst sich also mit solchen Problemen, die in Beziehungen entstehen, die Menschen miteinander 3 und mit ihrer Umwelt haben. Was sind nun soziale Probleme? Soziologisch kann diese Frage beantwortet werden als vom Durchschnitt abweichende Zustände, die von bestimmten Gruppen in der Gesellschaft, wie z.B. Politikern, Institutionen oder Wissenschaftlern, als problematisch beurteilt werden. Ihre Beseitigung liegt im Interesse der Betroffenen und der Gesellschaft. Solche Zustände können Armut, Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt, Drogenmissbrauch, Kriminalität, Slumbildung oder Korruption sein (Endruweit 2002, 416). Soziale Probleme sind normative soziale Konstruktionen, die je nach Kultur, Lebensraum und Wertvorstellungen verschieden definiert werden. So kann Alkoholkonsum in islamisch geprägten Ländern als soziales Problem bewertet werden, während maßvoller Konsum in westlichen Ländern kein soziales Problem darstellt. Hinzu kommt, dass die Definition von sozialen Problemen einhergeht mit dem sozialen Wandel in einer Gesellschaft. Diese – hier sehr kurz gefasste sozialkonstruktivistische Definition – basiert auf der Annahme, dass soziale Probleme nur solche Zustände abbilden, die von den Inhabern der Definitionsmacht (z.B. von Wissenschaftlern, Akteuren in den Medien oder der Politik) öffentlich gemacht werden. Für die Soziale Arbeit jedoch ist diese Definition nicht ausreichend, denn sie befasst sich neben den öffentlich anerkannten sozialen Problemen mit dem ganz alltäglichen Leiden von Menschen. Und das sind oft Notlagen, die keine Resonanz in den Medien finden, wie z.B. Konflikte in der Familie, gewalttätige Erziehungsmaßnahmen, Ängste, Isolation usw. Demnach bedarf die Definition sozialer Probleme als Gegenstand der Sozialen Arbeit (Engelke et al 2009) einer Erweiterung. Nach Geiser (2007, 60) sind soziale Probleme praktische Probleme eines Individuums in Bezug auf seine soziale Einbindung und seine Position in der Gesellschaft. Das sind zum einen Probleme, die sich auf die Interaktion mit anderen Menschen, Gruppen und Institutionen beziehen, z.B. in der Familie, in der Nachbarschaft, mit der Schule, den Behörden. Zum anderen sind es Probleme, die sich auf die gesellschaftliche Position beziehen. Menschen mit bestimmten Merkmalen wie ethnische Minderheiten, Frauen, alleinstehende alte Menschen, Arbeitslose, Behinderte genießen nur einen geringen Status in der Gesellschaft. Diese soziale Randstellung ist ein Zustand, der weitere Probleme verursachen kann: z. B. psychische Probleme wie Einsamkeit, Ängste, Desintegration und biologische Probleme wie psychische Krankheiten. Auch die physikalische und chemische Umwelt kann soziale Probleme generieren, wenn z.B. die Wohnung oder das Haus nicht wettergeschützt ist, wenn keine ausreichenden sanitären Anlagen zur Verfügung stehen, wenn das Dorf keinen Strom hat, die Umwelt verschmutzt ist etc. All die genannten Probleme können sich gegenseitig bedingen und in mehrfacher Form auftreten. Professionell sprechen wir von einer Akkumulation der Problemlagen. 4 Soziale Probleme als Gegenstand der Sozialen Arbeit lassen sich nach StaubBernasconi (1994, 14) in vier Problemkategorien gliedern: 1. Ausstattungsprobleme: das sind Probleme, die sich auf die körperliche (Gesundheit, Alter, Geschlecht), psychische (Erkennen Empfinden, Erleben), ökonomische (Bildung, Arbeit, Einkommen, Position), symbolische (Werte, Überzeugungen), Ausstattung, auf soziale Beziehungen (Familie, Freunde, Nachbarschaft, Vereine) und die Handlungskompetenzen beziehen. 2. Austauschprobleme: das sind Probleme, die sich auf die sozialen Beziehungen eines Individuums zu seiner Umwelt beziehen. Ist das Tauschverhältnis ausgewogen – solidarisch, vertrauensvoll, kooperativ und friedlich – besteht ein symmetrisches Verhältnis. Ist es hingegen unausgewogen, besteht eine Schieflage zwischen Geben und Nehmen, dann ist es asymmetrisch und für einen Partner nicht befriedigend. 3. Machtprobleme: das sind Probleme, die aus der sozialen Position und der Verfügung bzw. Nichtverfügung über Ressourcen resultieren. Sie hängen mit Ausstattungs- und Austauschproblemen ebenso wie mit den fördernden oder behindernden Zugangsregeln zu Ressourcen in einer Gesellschaft zusammen. 4. Wertprobleme: das sind Probleme, die im Zusammenhang mit Werten, Normen, Rechten und Pflichten, Gesetzen und Vorstellungen stehen, mit dem, was gut und was nicht gut ist. Schlägt ein Mann Frau und Kinder, besteht ein Wertproblem, denn er handelt gegen das Gesetz; fehlen hingegen Gesetze, die häusliche Gewalt unter Strafe stellen, besteht auch ein Wertproblem, denn das Grundbedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit wird nicht geschützt. Der Auftrag der Sozialen Arbeit lässt sich in Anlehnung an die internationale Definition der Sozialen Arbeit, wie sie von der IFSW 2000 verabschiedet wurde, wie folgt formulieren: Sichern der physischen, ökologischen und ökonomischen Existenz Sichern und Verbessern der sozialen Position (Frauen und Kinder, Benachteiligte und Kranke) Orientierungs- und Entscheidungshilfen zu geben Menschen zu befähigen in sozialen Beziehungen zu leben (privaten, beruflichen und öffentlichen), die ihr Wohlbefinden fördern. Bestehende soziale Beziehungen zu stützen und Ressourcen dafür zu mobilisieren und, wenn diese fehlen, soziale Beziehungen zu vermitteln In Konflikten zu vermitteln, Regeln zu vereinbaren Soziale Probleme öffentlich zu machen (in der Kommune, in den Medien, in der Politik) 5 Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit als ethische Werte zu verfolgen und Solidarität mit Benachteiligten, verletzbaren und unterdrückten Gruppen zu praktizieren. Zur dritten Frage: Auf welchen Niveaus agiert die soziale Arbeit? Die Aktivitäten und Interventionen der Sozialen Arbeit beziehen sich auf alle gesellschaftlichen Ebenen, weil soziale Probleme aus den Beziehungen der Menschen untereinander erwachsen. Tabelle 1: Subjektebene Emotion und Kognition: wie Menschen denken, wie sie empfinden, was sie motiviert, was sie wissen, welche Ideen sie über ihre Zukunft haben, welche Werte ihnen wichtig sind, was sie sich zutrauen… was und wie sie lernen Interaktionsebene Kommunikation, Konflikte und Kooperation: wie Menschen sich in Beziehung setzen, wie sie miteinander reden, über was sie sprechen, über was sie nicht sprechen, wie sie ihre Konflikte lösen Organisationsebene Gesellschaftsebene Verhandlungen um den Zugang zu Ressourcen, um die soziale Position zu verbessern - in der Familie, mit den Nachbarn oder in Institutionen wie Schule, Krankenhaus und zum Vermieter Öffentlichkeitsarbeit und Verhandlungen mit politischen Vertretern, der Justiz, den Medien, NGO´s etc. Was kann professionelle Soziale Arbeit auf den jeweiligen Ebenen mit welchen Mitteln tun? Im Folgenden werden einige problembezogene Arbeitsweisen vorgestellt. Tabelle 2: Ebene Subjektebene Probleme Ausstattung: biologische, psychische, sozioökonomische und sozioökologische Probleme Professionelles Handeln Ressourcenerschließung: Medizinische Hilfe, Wirtschaftliche Hilfe zur Sicherung der Existenz, Hilfe bei der Suche von Wohnraum, Informationen über Rechte Bewusstseinsbildung: Aufklärung, neue Perspektiven aufzeigen, neue Deutungen für einen problematischen Sachverhalt finden, eine Sprache für erlittenes Leid finden, Lernchancen ermöglichen, Bilder entwickeln, wie die Zukunft besser, befriedigender sein könnte. Handlungstraining: 6 Neues Verhalten einüben für die Alltagsbewältigung, für das Erziehungsverhalten, Arbeitstraining, Konfliktverhalten, soziale Kompetenzen einüben Interaktionsebene Austausch: Kommunikations- und Beziehungsprobleme Vernetzungsarbeit (Networking): Aufbau von sozialen Netzwerken, Vermittlung von sozialen Kontakten (Freizeit, Arbeit, Nachbarschaft…). Vermittlung von Wissen über faire, gleichwertige, befriedigende soziale Beziehungen in der Familie, zwischen den Geschlechtern, in Arbeitsverhältnissen Handlungstraining: Gewaltfreie Kommunikation, Soziale Kompetenzen, Konfliktbewältigung Institutionsebene Machtprobleme: Umgang mit Machtquellen und Machtstrukturen: Erkennen und Benennen von Machtstrukturen, die Menschen an der aktiven Teilhabe an der Gesellschaft hindern (Marktmechanismen, politische Entscheidungen, fehlende Regeln, unfaire Arbeitsteilung, Ideen, die Menschen mit bestimmten Merkmalen in eine niedrige Position verweisen, Korruption und Begünstigung etc.). Aufspüren von Machtquellen (z.B. soziale oder berufliche Netzwerke, Einklagen von Rechten und legitimen Ansprüchen). Bewusstmachen von Machtquellen (z.B. der Körpermacht der Frau, sich häuslicher Gewalt zu entziehen). Wissen über gerechte und ungerechte Machtstrukturen, über Prozesse der Machtbildung. soziale Position Zugang und Verfügung über Ressourcen Machtstrategien (Ermächtigungsstrategien): Machtquellenanalyse (Körpermacht, 7 Organisationsmacht, Definitions- und Artikulationsmacht und Ressourcenmacht) und Machtstrukturanalyse, um den Zugang zu Machtquellen zu ermöglichen. Bildung von Allianzen und Unterstützungsnetzen. Öffentlichkeitsarbeit: Verletzte (Menschen-)Rechte und legitime Ansprüche öffentlich machen und einfordern, Personen, die Rechte vorenthalten mit Namen benennen….1 Kontakte erschließen mit Menschen, die Macht ausüben und sie für eine Idee gewinnen. Gesellschaftsebene Werteprobleme: Verletzte Werte, fehlende Werte Kriterien und Öffentlichkeitsarbeit: Anregen von öffentlichen Diskursen über soziale Probleme, verletzbare, marginalisierte Gruppen in der Gesellschaft. Zusammenarbeit mit Medien, Politik, NGO´s. Mitarbeit in und Verhandlung mit Gremien, Parteien und Vereinen. Informationen, Stellungnahmen, Veröffentlichung von Analysen und Erfahrungsberichten Die skizzierten Arbeitsweisen sind nicht isoliert zu betrachten, da es sich in der Regel um Mehrfachproblematiken handelt. Vielmehr ergänzen sie sich in einem Fall oder können parallel angewandt werden. 2 Theorien Sozialer Arbeit im Zusammenhang mit relevanten Aspekten Wie in dem letzten Abschnitt vorgestellt entwickelt sich das wissenschaftliche Wissen, das in Theorien der Sozialen Arbeit festgehalten wird, unter den 1 Saul Alinsky beschreibt wirkungsvolle Machtstrategien, die auch in der Sozialen Arbeit eingesetzt werden können, in seinem Buch Rules for Radicals. A practical Primer for realistic Radicals. Reprint. Vintage Books, New York NY 1989 (Erstausgabe 1971). Anleitung zum Mächtigsein. Ausgewählte Schriften. (Deutsche Übersetzung von Reveille for Radicals). 2. Auflage. Lamuv Verlag, Göttingen 1999 8 gesellschaftlichen Bedingungen, die eine Gesellschaft in ihren historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen beeinflussen. Gesellschaftliche Bedingungen beziehen sich in der Regel auf die Entwicklungen in der Politik, Wirtschaft, im Bildungs- und Gesundheitssystem, auf Entwicklungen des rechtlichen Rahmens, aber auch auf kulturelle Ausbildungen im Sinne von Denkstrukturen, Wertvorstellungen, Menschenbildern, Gesellschaftsbildern. So gesehen sind Theorien der Sozialen Arbeit Produkte der gesellschaftlichen Entwicklungen. Darüber hinaus folgt aus unseren Ausführungen, dass Theorien der Sozialen Arbeit Produkte eines Reflexionsprozesses in der Ausbildung und in der Praxis der Sozialen Arbeit sind. In diesem Prozess stehen die Ausbildung und die Praxis in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander, oder anders gesagt, Theorie als professionelles Wissen und Praxis als professionelles Handeln bilden eine Einheit. Die Ausbildung liefert der Praxis professionelle Fachkenntnisse. D.h. die Fachkräfte profitieren davon, dass sie in der Ausbildung mit einer guten Theoriengrundlage für ihre Arbeit in der Praxis ausgestattet werden. Die Praxis liefert der Ausbildung beispielsweise Feedbacks, ob und inwiefern die Theorien in der Praxis umgesetzt werden können. Theoretiker/innen nutzen Feedbacks und Daten aus der Praxis für ihre Forschungen und entwickeln die Theorien für die Praxis im Zusammenhang mit den fachlichen Diskursen weiter. Nicht zuletzt spielt die wissenschaftliche Sozialisation (quá trình nghiên cứu khoa học) der einzelnen Theoretiker/innen eine wichtige Rolle in der Entwicklung einer Theorie oder eines Theorieansatzes. Die folgende Graphik soll die Zusammenhänge zwischen Theorien der Sozialen Arbeit und den beschriebenen relevanten Aspekten visuell zum Ausdruck bringen. 9 Graphik 1: Theorien der Sozialen Arbeit und relevante Bereiche Wie vielfältig die gesellschaftlichen Entwicklungen und die Entwicklungen Sozialer Arbeit sind, so vielfältig ist die Landkarte der Theorien der Sozialen Arbeit. Engelke, Borrmann und Spatscheck liefern uns einen guten Überblick über die Theorien und Theorienentwürfe der Sozialen Arbeit seit dem 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Damit führen sie uns vor Augen, wie umfangreich die Theorienlandkarte ist. Die Darstellungen von Peter Erath und Michael May über Theorien der Sozialen Arbeit in der Gegenwart sind dazu gelungene Ergänzungen. Als ein konkretes Beispiel für diese Vielfalt stellen wir in der folgenden Tabelle die gegenwärtigen Theorien der Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum auf Basis von Publikationen der erwähnten Autoren zusammen: Tabelle 3: Michael May 2008 1. Alltags-, lebenswelt-, lebenslagen- und lebensbewältigungsorientierter Ansätze: Hans Thiersch/Lothar Böhnisch/Jürgen Habermas 2. Professionalisierungstheoretische Ansätze: Timm Kunstreich/Maja Heiner 3. Systemtheoretische und system(ist)ische Ansätze: Niklas Luhmann, Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 4. Diskursanalytische Ansätze: Habermas (Helmut Richter/Dieter Lenzen), Michel Foucault (Fabian Kessl/Nancy Fraser/Michael Winkler) 5. Psychoanalytische Sozialarbeit 10 Peter Erath 2006 1. 2. 3. 4. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 1. Engelke, Borrmann, Spatscheck 2. 2009 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. I. Theorien der Sozialarbeitswissenschaft Alltags- bzw. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit (Hans Thiersch) Sozialarbeit als „Soziale Hilfe“ (Baecker) Systemisch-prozessuale Soziale Arbeit (Silvia Staub-Bernasconi) Ökosoziale Sozialarbeit (Rainer Wendt) II. Professionstheorien der Sozialarbeitswissenschaft Der Sozialarbeiter als stellvertretender Lebenslagen- und Lebenswelthermeneut (Wilfried Ferchhoff) Sozialarbeit als stellvertretende Deutung und typologisches Fallverstehen (Bernhard Haupert/Klaus Kraimer) Sozialarbeit als dienstleistungsorientiertes Professionshandeln (Bernd Dewe/Hans-Uwe Otto) Sozialarbeiter als „agents of change“ (Paulo Freire) Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession (Silke Müller) Soziale Arbeit als „postmoderne“ Profession (Heiko Kleve) Das handlungstheoretisch ausgerichtete Professionsverständnis (Maja Heiner) Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession (Silvia Staub-Bernasconi) Menschen in ihrer sozialen Umwelt entdecken und unterstützen – Carel Bailey Germain/Alex Gitterman Anleiten, erwachsen zu werden – Klaus Mollenhauer Engagierter Dialog – Marianne Hege Technologisch normalisieren – Lutz Rössner Ausbeutung und Verelendung überwinden – Karam Khella Einen gelingenderen Alltag ermöglichen – Hans Thiersch Menschengerecht handeln – Silvia Staub-Bernasconi Persönliche und gesellschaftliche Krisen bewältigen – Lothar Böhnisch Wissen und Können relationieren – Bernd Dewe/Hans-Uwe Otto Ziel dieses Kapitels ist es nicht, weitere Theorien nach Vietnam zu exportieren, vielmehr möchten wir für den Austausch mit den Kolleg/innen in Vietnam zwei Theorien auswählen, die einerseits im deutschsprachigen Raum die Professionalisierung der Sozialen Arbeit maßgeblich beeinflusst haben und andererseits viel Potenzial für einen Transfer in der Sozialen Arbeit in Vietnam versprechen: 1. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit (Hans Thiersch), 2. Ontologische Systemtheorie (Silvia Staub-Bernasconi, Werner Obrecht, Kaspar Geiser). Der Grund für diese Auswahl ist folgender: Engelke (2004, 51ff) formuliert 12 Thesen zum Fundament und Werdegang der internationalen Wissenschaft Soziale Arbeit. Aus den Thesen 1-5 geht hervor, dass die Entwicklung der Theorien immer mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenhängt. So gesehen müsste man davon ausgehen, dass Theorien aus Deutschland anders als die in Vietnam sind. Es liegt daher nahe zu fragen, ob sich Theorien aus Deutschland überhaupt in Vietnam umsetzen lassen. Das ist eine berechtigte Frage für viele Theorien, die sehr eng mit der gesellschaftlichen 11 Entwicklung in Deutschland oder im deutschsprachigen Raum zusammenhängen. Doch beide beanspruchen für sich eine universale Gültigkeit, weil sie sich an der Definition der Sozialen Arbeit, wie sie von der IFSW vorgelegt wurde, orientieren. Aufgrund dessen hoffen wir darauf, dass diese Theorien auch in Vietnam auf Interesse stoßen und den Professionalisierungsprozess positiv beeinflussen. Auf ihr konkretes Potenzial und ihre Grenzen in der Anwendung in Vietnam gehen wir später jeweils ein. Um eine Theorie ausführlich zu verstehen, kann man sie anhand vieler Aspekte analysieren. (Wir beziehen uns hier auf die Reflektionen von Engelke, Borrmann und Spatscheck sowie auf unsere Konzepte und Erfahrungen in der Lehre im Fach Theorien der Sozialen Arbeit): 1. biographischer Kontext der Theoretikerin/des Theoretikers; 2. historischer Kontext, in dem die Theoretikerin/der Theoretiker gelebt hat und er/sie die Theorie entwickelt hat; 3. Anhänger und Gegner der Theorie; Motivation: Was bringt die Theoretikerin/den Theoretiker dazu, sich mit ihrer/seiner Theorie zu beschäftigen? 4. Theoriehintergrund (Denktraditionen; Erkenntnis- bzw. Forschungsmethoden, die zu einem bestimmten Menschenbild und Gesellschaftsbild und einer bestimmten Definition sozialer Probleme führen; Menschenbild, Gesellschaftsbild, Definition sozialer Probleme) (hierzu den Beitrag von Borrmann/Spatscheck in diesem Band); 5. Zugang: Wodurch gelangt er/sie zu seiner Theorie? 6. Forschungsgegenstand und Forschungsinteresse; 7. Forschungsmethode; 8. Wissenschaftsverständnis; 9. Kernbegriffe; 10. Kernaussagen; 11. Gegenstand Sozialer Arbeit; 12. Definition sozialer Probleme; 13. Funktion oder Auftrag Sozialer Arbeit; 14. Praxisrelevanz und Praxisbezug (Methoden professionelles Handelns, Beitrag zur Praxis, handlungsleitende Qualität); 15. Brücke zwischen Theorie und Praxis; 16. Gesellschaftsrelevanz; 17. Ebenen: Auf welchen Ebenen agiert Soziale Arbeit? 18. Machtquellen der Theorie für seinen Status in der Wissenschafts- und Praxiscommunity (Legitimationsstrategien der Theoretikerin/des Theoretikers, um seine Theorie in dem Wissenschafts- und Praxiscommunity durchzusetzen); 12 19. Bezug auf die Lehre; 20. Bewertung (Nutzen und Grenzen der Theorie); 21. weiterführende (Forschungs-)fragen. Eine solch detaillierte Darstellung der zwei Theorien würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Zudem stellt der Wissensaustausch zwischen Wissenschaftler/innen aus zwei unterschiedlichen Kulturkreisen (deutsch und vietnamesische) für uns eine große Herausforderung dar. Konkret verlangt dieser gemeinsame Lernprozess von uns sowohl den Fokus auf das Wesentliche als auch eine transparente Wissensbeschreibung unter anderem mithilfe von Visualisierungen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, konzentrieren wir uns auf die folgenden Aspekte in den zwei ausgewählten Theorien: 1. Theoriehintergrund (Denktraditionen; Erkenntnis- bzw. Forschungsmethoden, die zu einem bestimmten Menschenbild und Gesellschaftsbild und einer bestimmten Definition sozialer Probleme führen; Menschenbild, Gesellschaftsbild, Definition sozialer Probleme) 2. Kern der Theorie (Kernbegriffe, Kernaussagen) 3. Gegenstand Sozialer Arbeit 4. Funktion oder Auftrag Sozialer Arbeit 5. Praxisrelevanz (Methoden professionelles Handelns; Beitrag zur Praxis; handlungsleitend) 6. Auf welchen Ebenen agiert die Soziale Arbeit? 7. Bewertung (Nutzen und Grenzen der Theorie) 8. Vorteile und Nachteile bei der Umsetzung in Vietnam 3 Vorstellung von zwei ausgewählten Theorien- bzw. Theorienansätzen 3.1 Lebenswelt- und Alltagsorientierte Soziale Arbeit („Tübinger Schule“) 3.1.1 Theoriehintergrund (Denktraditionen; Erkenntnis- bzw. Forschungsmethoden, die zu einem bestimmten Menschenbild und Gesellschaftsbild und einer bestimmten Definition sozialer Probleme führen; Menschenbild, Gesellschaftsbild, Definition sozialer Probleme): Denktraditionen: Der theoretische Ansatz der Lebenswelt- und Alltagsorientierten Sozialen Arbeit führt auf die Arbeit von Hans Thiersch2 seit Ende 1970er Jahren zurück. Thiersch war 2 http://www.hans-thiersch.de/ 13 Professor für Sozialarbeit und Sozialpädagogik an der Universität Tübingen (Engelke et al 2009, 427). Daher ist das lebensweltorientierte Konzept auch bekannt als die „Tübinger Schule“. Thierschs Argumentationen und theoretischen Grundlagen basieren auf folgenden Denktraditionen, die aus sozialwissenschaftlichen Theorien stammen (Thiersch 2002, 167ff): Hermeneutisch-pragmatische Pädagogik (Erfassung und Interpretation): Vertreter dieser Denktradition sind Wilhelm Dilthey, Hermann Nohl, Erich Weniger, Heinrich Roth und Klaus Mollenhauer. In dieser Denktradition handelt es sich darum, in welchem Alltag die Adressat/innen leben, wie sie individuell ihren Alltag verstehen und was sie anhand ihrer Interpretationen tun. D.h. es geht um die „Selbstdeutungen und Eigensinnigkeiten der Adressat/innen“ (Füssenhäuser/Thiersch 2001, 1893). Oder anders formuliert: es geht hier um „das respektvolle Verstehen der subjektiven Sicht“ (Mengedoth 2005). Zum Beispiel besucht eine Sozialarbeiterin ihre Adressatin bei ihr zu Hause. Sie setzt sich mit ihrer Adressatin zusammen und hört sich an, was ihre Adressatin aus ihrem Alltag erzählt, ohne das Alltagsleben der Adressatin mit ihren Problemen abzuwerten, vor allem durch eine vorschnelle Meinung oder Bewertung (Thiersch 2002, 167). Phänomenologisch-interaktionistische Tradition (Rekonstruktion): Vertreter dieser Denktradition sind Alfred Schütz, Peter Berger, Thomas Luckmann, und Erving Goffman. In ihrer Arbeit stehen die phänomenologischen und interaktionistischen Analysen im Vordergrund. Es führt auf die Linie der ChicagoSchool zurück. Im Zusammenhang damit schlägt Thiersch drei Dimensionen vor, um die Lebenswirklichkeit und Handlungsmuster von Adressat/innen zu analysieren: erfahrene Zeit, erfahrener Raum und erfahrende soziale Beziehungen. Denn Thiersch geht davon aus, dass man durch die „Rekonstruktion der alltäglichen Lebenswelt“ einen Zugang gewinnen kann, in dem Menschen nicht ausschließlich als „Repräsentanten gesellschaftlicher Strukturen gesehen werden, sondern auch in ihrem Alltag mit ihren Bedürfnissen, Problemen und Ressourcen“ (Thiersch 2002, 168). Kritische Alltagstheorie (Doppeldeutigkeit des Alltags und Aufdecken von Ressourcen): Vertreter dieser Denktradition sind Agnes Heller, Karel Kosik, Henri Lefèbvre und Pierre Bourdieu. Hier geht es darum, dass der Alltag zwei Seiten hat. Auf einer Seite ist der Alltag gekennzeichnet durch Handlungsroutinen bzw. Handlungsgewohnheiten, die einen in seinem Alltag entlasten und ihm Sicherheit und Produktivität ermöglichen. Auf der anderen Seite schränken diese Handlungsgewohnheiten einen ein, anders zu denken und zu handeln. Thiersch nutzt diesen kritischen Blick auf den Alltag der Adressat/innen und fordert die 14 Soziale Arbeit dazu auf, noch mal hin zu schauen, um gemeinsam mit den Adressat/innen ihre „unentdeckte[n] und verborgene[n] Möglichkeiten im Alltag“ (Thiersch 2002, 168, hinzugefügt N-M) im Hinblick auf die Alltagsbewältigung aufzudecken. Lebensweltorientierung im Kontext neuerer gesellschaftlicher Entwicklung (Lebenswelt im Zuge der Individualisierung und Pluralisierung): In dieser Denktradition bezieht sich Thiersch vor allem auf die Begrifflichkeiten von Ulrich Beck z.B. „reflexive Moderne“ oder „Risikogesellschaft“ sowie auf seine Gesellschaftsbeschreibung. Beck vertritt die These, dass die Gesellschaft sich von der Tradition zur (Post)Moderne entwickelt, dass sie immer differenzierter und komplexer wird und die Menschen in dieser gesellschaftlichen Entwicklung ihr Leben immer individueller und vielfältiger führen. Der Vorteil davon scheint zu sein, dass Menschen dadurch immer mehr „Freiheit“ in ihrem Alltag und in ihrer Lebenswelt gewinnen. Der Nachteil scheint aber zu sein, „dass sie in ihren traditionellen Deutungs- und Handlungsmustern verunsichert sind“ (Thiersch 2002, 169). In dieser Denkschule sieht man die Ursache sozialer Probleme, also auch Alltagsprobleme der einzelnen Menschen, nicht nur in sozialen Ungleichheiten, die schon immer vorhanden sind, wie z.B. ungleich verteilte materielle Ressourcen, Probleme aufgrund von Zugehörigkeit (Nation, Generation, Geschlecht), sondern auch in den gesellschaftlichen Veränderungen (Thiersch 2002, 169). Erkenntnis- bzw. Forschungsmethode: Die hermeneutische Vorgehensweise ist die Grundlage des Ansatzes lebensweltorientierter Sozialer Arbeit (Engelke et al 2009, 431). Es wird davon ausgegangen, dass der Zugang zur Lebenswirklichkeit von Adressat/innen nur über das Beschreiben und vor allem das Verstehen ihrer Alltagserfahrung erfolgen kann. Dieses Forschungsverständnis führt zu dem folgenden Menschenbild und Gesellschaftsbild. Menschenbild: Aus Sicht der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit muss der Mensch in seiner subjektiven Erfahrung seiner Lebenswirklichkeit gesehen werden. Zudem hat er seine eigenen materiellen und immateriellen Ressourcen, mit denen er seine Alltagsprobleme bewältigt (Thiersch 2002, 169). Thiersch behandelt zwar das Thema menschlicher Bedürfnisse nicht in seinem lebensweltorientierten Konzept. Dennoch berücksichtig er Bedürfnisse und Interesse als einen wichtigen Bestandteil des Menschen (Thiersch 2002, 166). 15 Gesellschaftsbild: Wie bereits oben thematisiert bezieht sich das Gesellschaftsbild im Konzept lebensweltorientierter Sozialer Arbeit auf die soziologische Gesellschaftsbeschreibung von Beck. Demnach entwickelt sich die Gesellschaft von einer traditionalen Gesellschaft, in der Menschen noch in übersichtlichen und festgefügten Strukturen, wie in ihren großen Familien, ihrer engen Nachbarschaft und ihrem stabilen Freundeskreis, zu einer Gesellschaft, die den Individuen viel mehr Freiheit und Auswahlmöglichkeiten anbietet. Die vielfältigen Auswahlmöglichkeiten für menschliches Handeln im Alltag bedingen aber zugleich eine Unübersichtlichkeit, die von dem Einzelnen viele und neue Kompetenzen z.B. zur Sicherung seiner Selbstständigkeit verlangt. Zudem lebt man in dieser „freieren“ Gesellschaft in viel kleineren Familienstrukturen, sogar oft allein, d.h. man ist viel mehr auf sich selbst angewiesen und für sich selbst verantwortlich. All das kennzeichnet eine individualisierte Gesellschaft (Thiersch 2002, 165, 168f). Die gesellschaftlichen Entwicklungen in Vietnam vor allem seit 1986 im Zuge der Wirtschaftsreform und damit auch der Urbanisierung und Globalisierung spiegeln weitgehend dieses Gesellschaftsbild wider. Das bestätigen zahlreiche Studien, in denen es um den sozialen Wandel in Vietnam geht (Le Bach Duong/ Nguyen Thanh Liem 2011, Opletal 1999, Norlund et al 1995, Schütte 2010). Die gesellschaftlichen Strukturen und ihre Veränderungen werden in diesem Theorieansatz nicht abstrakt dargestellt, sondern konkret als beobachtbare Lebensverhältnisse in der alltäglichen Lebenswelt der einzelnen Menschen (Thiersch 2002, 170). Genau diese Vorstellung ist die Brücke zwischen der Lebenswelt der Adressat/innen und einer modernen (Sozial)Politik, deren Akteure sich für soziale Gerechtigkeit für leidende Menschen einsetzen. Daher ist für Thiersch „lebensweltorientierte Soziale Arbeit … ein Moment der modernen Sozialpolitik“ (Thiersch 2002, 166). Definition sozialer Probleme: Aufgrund des eben beschriebenen Gesellschaftsbilds definiert Thiersch soziale Probleme als Probleme, die durch vorhandene soziale Ungleichheiten entstanden sind „in Bezug auf materielle Ressourcen oder auf Zugehörigkeit zu Nation, Generation und/oder Geschlecht“. Menschen aus ärmeren Ländern haben beispielsweise einen tendenziell schlechteren Status in einigen wohlhabenden Ländern, Frauen bekommen tendenziell ein schlechteres Einkommen als Männer in vielen Industrieländern. Neue und durch den Sozialwandel entstandene soziale Probleme sind für Thiersch z.B. die Verunsicherung in den „traditionellen Deutungsund Handlungsmustern“ der Menschen (Thiersch 2002, 168f; Engelke et al 2009, S. 436). So war es z.B. in traditionalen Gesellschaften selbstverständlich, dass die Frauen zu Hause blieben, sich um die Kinder und den Haushalt kümmerten, während 16 die Männer einer Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Familieneinkommens nachgingen. Im Zuge des sozialen Wandels sind nun auch Frauen erwerbstätig. Viele von ihnen sind sogar erfolgreiche Geschäftsfrauen geworden, während ihre Ehemänner eventuell beruflich weniger erfolgreich sind. Menschen mit traditionalen Vorstellungen über ihre Geschlechterrollen leiden tendenziell unter Unsicherheit im Alltagshandeln, wenn sich ihre Rollen durch neue gesellschaftliche Herausforderungen wie beschrieben verändert haben. 3.1.2 Kern der Theorie (Kernbegriffe, Kernaussagen) Kernbegriffe: Lebenswelt, Alltag und Alltäglichkeit sind die zentralen Termini des lebensweltorientierten Theorieansatzes. Bei dem Begriff Lebenswelt geht es um das reale alltägliche Leben einzelner Menschen. Im Fokus steht die Frage, wie der Alltag aus Sicht des Einzelnen aussieht, es gilt zu erkunden, wie die Menschen ihren Alltag zu Hause, bei der Arbeit, in ihrer Freizeit usw. selbst wahrnehmen. Lebenswelt ist daher „ein beschreibendes, phänomenologisch-ethnomethodologisch orientiertes Konzept“ (Thiersch 2002, S. 169). Wie oben bereits erwähnt, führt der Begriff Lebenswelt auf das Konzept von Alfred Schütz zurück (Thiersch 2005, 43). Mit Alltag meint Thiersch all das, was die einzelnen Menschen erfahren, beschreiben und verstehen, also keine objektive Wirklichkeit, sondern immer eine subjektive Wirklichkeit. Eine Sozialarbeiterin, die sich nach dem Alltag ihrer Adressatin erkundigt, hört sich in Ruhe an, was ihre Adressatin von ihrem selbst erfahrenen Alltag erzählt. Der Alltag besteht aus Sicht von Thiersch aus drei Dimensionen, auf die wir später noch eingehen werden: die durch Adressat/innen erfahrene Zeit, der erfahrene Raum und die erfahrenen sozialen Beziehungen (Thiersch 2005, 52; Engelke et al 2009, 435). Alltäglichkeit definiert Thiersch als Interpretations- und Handlungsmuster, die man im Laufe der eigenen Entwicklung durch gesellschaftliche Normen erworben hat und die im Alltag praktiziert werden (Thiersch 2005, 47ff). Engelke, Bormann und Spatscheck verstehen Thiersch so, dass Alltäglichkeit „das Verhältnis eines jeden zu seiner konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit“ ist (Engelke et al 2009, 436). Alltagswelten sind konkrete alltägliche Lebensbereiche, die sich je nach Funktion und Inhalten voneinander unterscheiden, z.B. Familie, Freundeskreis, Arbeit, Schule, Tanzclub, Frauengruppe, Männergruppe und andere. Thiersch nennt sie Lebensfelder (Thiersch 2002, 170; Engelke et al 2009, 436). Kernaussagen: Der zentrale Gedanke der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit besteht darin, professionelle Hilfen anzubieten, die Adressat/innen befähigen, ihre Probleme in ihrer alltäglichen Lebenswelt zu bewältigen. Damit das Konzept der 17 Lebensweltorientierung Fragen und Interessen der Praxis der Sozialen Arbeit beantworten kann, sind Diskurse zur Gesellschaftstheorie als wissenschaftliche Grundlagen notwendig(Füssenhäuser/Thiersch 2001, 1894). 3.1.3 Gegenstand Sozialer Arbeit Anhand der Kernaussagen lässt sich erkennen, dass der Gegenstand der Sozialen Arbeit in diesem Konzept der Alltag der Adressat/innen ist, genauer: die zu bewältigenden Alltagsaufgaben, Alltagsprobleme wie auch ihre Lösungswege (Füssenhäuser/Thiersch 2001, 1894). 3.1.4 Funktion oder Auftrag Sozialer Arbeit Im Rahmen des lebensweltorientierten Ansatzes besteht die Funktion der Sozialen Arbeit folgerichtig darin, sowohl den Alltag der Adressat/innen ernst zu nehmen, d.h. ihre alltäglichen subjektiven Lebenswelten zu erfassen und zu rekonstruieren, als auch die Adressat/innen in ihrer Bewältigung ihrer Alltagsprobleme zu begleiten. Ziel der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist es, einen gelingenderen Alltag der Adressat/innen zu ermöglichen (Thiersch 2002, 164; Engelke et al 2009, 437). 3.1.5 Praxisrelevanz (Methoden professionelles Handelns; Beitrag zur Praxis; handlungsleitende Qualität) Thierschs Ziel besteht vor allem darin, eine professionelle Praxis zu gestalten. Die Alltags- oder Lebensweltorientierung bedeutet hier, dass Sozialarbeiter/innen das Lebensumfeld ihrer Adressat/innen (Wohnung, Wohnviertel, Schule, Kindergarten u.ä.) durch Hausbesuche und persönliche Kontakte kennenlernen (Thiersch 2002, 162ff). Anhand von folgenden Dimensionen und Prinzipien des professionellen Handelns stellen wir Thierschs Handlungskonzept dar, wie Fachkräfte professionell helfen können und worauf sie achten sollen. Für Thiersch gibt es drei zentralen Dimensionen, die sowohl im Alltag als auch in den Ressourcen von Menschen sichtbar werden: die erfahrene Zeit, der erfahrene Raum und die erfahrenen sozialen Beziehungen (Thiersch 2002, 171ff). Dabei betont Thiersch, dass diese Dimensionen auf den Erfahrungen der Adressat/innen basieren. Wenn also eine Sozialarbeiterin den Alltag ihrer Adressatin verstehen will, rekonstruiert sie gemeinsam mit ihrer Adressatin ihren selbst erlebten und erfahrenen Alltag anhand dieser drei Dimensionen. Die erfahrene Zeit umfasst nach Thiersch alle zeitlichen Aspekte: die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Der Aspekt der Vergangenheit bezieht sich konkret auf die Lebensphasen im Lebenslauf. So sind mit der Adressatin 18 gelungene und problematische Stationen in ihrer Biographie zu besprechen, um sie und ihre Probleme zu verstehen. Obwohl Thiersch zum Aspekt der Gegenwart nichts Konkretes ausführt, gewinnt man aus der praktischen Arbeit mit Adressat/innen die Erkenntnis, dass die Tagesstruktur sehr wichtig für die Zusammenarbeit mit ihnen ist. Das bedeutet, sich schon darüber informieren zu müssen, wann die Adressatin arbeitet und wann sie dementsprechend Zeit für einen Hausbesuch oder für ein Gespräch hätte. Der Aspekt der Zukunft ist häufig sichtbar in den Gedanken der Adressat/innen, z.B. darüber, wie das Leben organisiert werden kann, wenn ich jetzt schwanger werde und mich von meinem Mann trennen möchte oder was ich jetzt ohne Job machen soll. Die Zukunftsperspektive ist demnach aus Thierschs Sicht häufig mit Ängsten und Verunsicherungen verbunden. Um die Zukunft zu gestalten, brauchen Menschen seiner Meinung nach vor allem Mut und Kompetenzen bzw. Ressourcen, um die Probleme auf dem Weg in die Zukunft zu bewältigen (Thiersch 2002, 171). Der erfahrene Raum besteht aus verschiedenen Lebensfeldern, die sich je nach Zielgruppen unterscheiden, wie z.B. Heranwachsende, Frauen, Frauen mit kleinen Kindern, alte Menschen u.a. Hier meint Thiersch auch die Umwelt, den Wohnraum und den sozialen Raum etc. Thiersch beschreibt nicht nur den Lebensraum der Adressat/innen der Sozialen Arbeit. Vielmehr liefert er den Vorschlag mit, dass Sozialarbeiter/innen ihre Adressat/innen anhand ihrer Analyse der Alltagsstruktur der Adressat/innen dabei begleiten, Alternativen zum beengten und problematischen Lebensraum zu suchen und idealerweise dabei die gegebenen Ressourcen der Adressat/innen für eine Problembewältigung zugänglich zu machen (Thiersch 2002, 171f). Beispielsweise ermöglicht die Sozialarbeiterin der zu betreuenden Familie Freizeitaktivitäten im Park oder in anderen Freizeitstätten, so dass die Familie nicht den ganzen Tag in ihrer engen Wohnung verbringen muss. Wenn sich in der Folge die Familienmitglieder entspannen, können sie Ideen entwickeln, also ihre Denkkompetenzen mobilisieren und kommen auf kreative Lösungen für ihre Alltagsprobleme. Mit dem Begriff „erfahrener Raum“ meint Thiersch auch die soziale Infrastruktur, die durch Soziale Arbeit gefördert werden soll (Thiersch 2002, 172). Der Aufbau (weiterer) Beratungsstellen für verschiedene Zielgruppen wie Familien, Kinder und Jugendliche, Drogenabhängige usw. in verschiedenen Wohnvierteln beispielsweise bewirkt, dass keine weiten Wege mehr bis zur nächsten Beratungsstelle überwinden werden müssen und dient damit dem Ziel, Soziale Arbeit alltagsnah zu gestalten.(s. Alltagsnähe und Dezentralisierung). 19 Die erfahrenen sozialen Beziehungen: Dieser dritte Aspekt bezieht sich auf das soziale Netzwerk der Adressat/innen, z.B. Familien und Freundeskreise (Thiersch 2002, 172). In der Zusammenarbeit mit den Adressat/innen sollen folgende Prinzipien beachtet werden: Alltägliche Bewältigungsaufgaben (Handeln) In dem Trubel des vielschichtigen Alltags ist es häufig schwer, die wesentlichen Bewältigungsaufgaben bzw. die wesentlichen Probleme, die gelöst werden sollten, zu erkennen. Daher ist die zentrale Aufgabe der Sozialarbeiter/innen, mit ihren Adressat/innen problematische Alltagstrukturen und die damit verbundenen Bewältigungsaufgaben herauszufinden (Thiersch 2002, 172). Vertrauen als Basis der Hilfe Thiersch legt sehr viel Wert darauf, Vertrauen zu den Adressat/innen aufzubauen. Denn nur über Vertrauen lassen sich Menschen auf externe Hilfe ein und können dabei ihre Ressourcen mobilisieren und für die eigenen Lösungen einsetzen. Zum Vertrauensaufbau könnte man das „Nebenher“ in den Interaktionen mit den Adressat/innen nutzen (Thiersch 2002, 164). Mit „Nebenher“ meint Thiersch „die kleinen Aufgaben“, z.B. baut man für eine alleinerziehende Mutter die Tischlampe, die sie nicht selbst zusammensetzen kann, oder man hilft ihr in der Küche kurz mit und entlastet sie somit bei der Küchenarbeit, die sie parallel zur Beaufsichtigung ihrer zwei kleinen Kindern erledigen muss. Mit diesen „kleinen Aufgaben“ wurde eine Sozialarbeiterin vielleicht nicht beauftragt. Aber gerade die Erledigung solcher Aufgaben ermöglicht den Zugang zu den Adressat/innen, da diese spüren können, dass es der Sozialarbeiterin um echte Unterstützung der Adressat/innen geht. Außerdem wirken positive Interaktionen in der Regel als Türöffner für die Sozialarbeiter/innen in einen Hilfeprozess (Thiersch 2002, 172). Hilfe zur Selbsthilfe und Partizipation: Hilfe zur Selbsthilfe als Hilfekonzept ist allgemein bekannt und anerkannt in der heutigen Sozialen Arbeit sowohl in Vietnam als auch in Deutschland und anderen Ländern. Es ist auch bekannt, dass diesem Hilfekonzept das Ziel der Aktivierung der Ressourcen der Adressat/innen zugrunde liegt. Bei der Ressourcenanalyse orientiert man sich an den drei Dimensionen: Zeit, Raum und soziale Beziehungen (Thiersch 2002, 172). Thiersch folgt dabei der Annahme, dass Menschen ihre Ressourcen und Stärken aufgrund dessen aktivieren können, dass sie immer anstreben, ihre Probleme zu bewältigen (Thiersch 2002, 172). Wenn Adressat/innen bei der Problemlösung ihre eigenen Ressourcen mobilisieren, und ihre Bedürfnisse in der Zusammenarbeit mit den Sozialarbeiter/innen artikulieren 20 können, dann entsteht ein Verhandlungsprozess, in dem Adressat/innen die Hauptakteure und Sozialarbeiter/innen ihre Begleiter/innen sind. In diesem idealen Fall spricht Thiersch von Partizipation. Damit die Partizipation gelingt, müssen die Sozialarbeiter/innen in der Tat in der Lage sein, ihre Adressat/innen auf Augenhöhe zu betrachten, d.h. Adressat/innen sind keineswegs Menschen, die weniger kompetent sind als die Sozialarbeiter/innen und ebenso wenig auf ein Hilfepaket angewiesen. Thiersch spricht hier von „elementarer Gleichheit“ (Thiersch 2002, 173f). Integration: Auch die elementare Gleichheit im Sinne Thierschs spielt im Integrationskonzept eine zentrale Rolle. Mit Integration meint Thiersch, dass Unterschiede zwischen Adressat/innen und Sozialarbeiter/innen bzgl. ihrer Ressourcen, Lösungsansätze u.a. positiv anerkannt werden sollen, um Ausgrenzung und Abwertung seitens der Sozialarbeiter/innen zu vermeiden. Denn nur so erhalten die Adressat/innen die Chance, im Lösungsprozess tatsächlich mitzubestimmen (Thiersch 2002, 173f). Prävention besteht hier aus zwei Aspekten: allgemeine Prävention und spezielle Prävention. Allgemeine Prävention heißt, dass die Infrastrukturen, also Beratungsstellen, Hilfeeinrichtungen stabil existieren, so dass die Hilfsbedürftigen eine zuverlässige Anlaufstelle haben. Das heißt aber auch, die Sozialarbeiter/innen sollen die Adressat/innen vordringlich dabei unterstützen, allgemeine Kompetenzen zur Lebensbewältigung zu erlernen und weiter zu entwickeln. Spezielle Prävention meint, dass Probleme im Alltag vorhergesehen werden und nicht erst dann reagiert wird, wenn sie eintreten (Thiersch 2002, 173). Salopp gesagt, Sozialarbeiter/innen sind keine Feuerwehrkräfte für ihre Adressat/innen. Gesellschaftliche strukturelle Bedingungen Das lebensweltorientierte Konzept bezieht sich nicht nur auf die Mikroebene, d.h. die Ebene der Interaktionen mit den Adressat/innen. Wichtig ist es hier zu sehen, dass Probleme, die einzelne Menschen in ihrem Alltag haben, keine individuellen Probleme sind. Vielmehr sind sie Ergebnisse gesellschaftlicher und struktureller Bedingungen. Um Adressat/innen zu unterstützen, ihre Probleme zu bewältigen, braucht man nicht nur Hilfen auf der Mikroebene, sondern Veränderungen auf der (sozial)politischen Ebene. Alltagsnähe und Dezentralisierung: Das Prinzip der Alltagsnähe heißt konkret, dass die Hilfsmöglichkeiten für Adressat/innen schnell erreichbar sind (Thiersch 2002, 173). Das heißt, die Hilfen 21 bzw. die Beratungsstellen sollen in dem nahen Lebensumfeld der Adressat/innen zur Verfügung stehen. Thiersch spricht hier von Dezentralisierung (Thiersch 2002, 174). Zum Prinzip der Alltagsnähe gehören auch Niedrigschwelligkeit von Hilfsmöglichkeiten, offene Zugänge, allgemeine Beratung neben spezieller Beratung und Begleitung im Alltag auch in Form von Hausbesuchen (Thiersch 2002, 173). 3.1.6 Auf welchen Ebenen agiert Soziale Arbeit? Diese Frage lässt sich auf Basis der bisherigen Ausführungen wie folgt beantworten: 1. Soziale Arbeit agiert auf der Mikroebene, d.h. in den Interaktionen mit Adressat/innen. 2. Soziale Arbeit agiert auf der Mesoebene, also der Organisationsebene in der Form, dass die Hilfsmöglichkeiten dezentralisiert werden, d.h. im nahen Lebensumfeld der Adressat/innen angeboten werden sollen (siehe Alltagsnähe und Dezentralisierung). 3. Soziale Arbeit agiert auf der Makroebene, also auf der gesellschaftlichen Ebene, denn sie fordert (sozial-)politische Veränderungen, die zu besseren Lebensverhältnissen von Adressat/innen führen sollen. Das impliziert nach Thiersch auch, dass Soziale Arbeit rechtliche Unzulänglichkeiten erkennen und an den Staat zurückmelden muss. 3.1.7 Bewertung (Nutzen und Grenzen der Theorie) Nutzen: Die meisten unserer Studierenden geben uns am Ende der Theorieseminare die Rückmeldung, dass das lebensweltorientierte Konzept gut zu verstehen ist. Denn das Konzept bezieht sich konkret auf die Praxis der Sozialen Arbeit und liefert ein klar erkennbares methodisches Grundmuster. Es orientiert sich an Ressourcen von Adressat/innen anstatt an Defiziten, wie das gerade bei Studienanfänger/innen häufig der Fall ist. Damit können Adressat/innen in einer positiven, lösungsorientierten Atmosphäre mit den Sozialarbeiter/innen zusammenarbeiten. Daher eignet sich das Konzept auch hervorragend für den Beziehungsaufbau. Grenzen: Indem Thiersch den Praktiker/innen einen großen Interpretationsspielraum liefert, ist das Handlungskonzept nicht konkret genug formuliert. Daher zeigt sich in der Praxis, dass es eher schwierig ist, dieses Konzept umzusetzen oder dass die Praktiker/innen methodisch ergänzen müssen (Mengedoth 2005). 22 3.1.8 Vorteile und Nachteile bei der Umsetzung in Vietnam Vorteile: Da das lebensweltorientierte Konzept kein Theorie-Riese ist, sind wir zuversichtlich, dass dieses Konzept in der Lehre in Vietnam gut zugänglich ist. Denn eine große Theorie gibt höchstwahrscheinlich einige Anlässe zu Missverständnissen, allein schon im Prozess der Übersetzung. Die Ressourcenorientierung und die damit verbundene positive Atmosphäre in diesem Konzept könnten die Sozialarbeiter/innen in Vietnam darin bestärken, sich in dieser Richtung weiterzuentwickeln und weg von der alten Denktradition der Defizitorientierung zu kommen. Es ist allgemein bekannt, dass Beziehungen bzw. Vertrauensbeziehungen in Vietnam wie in anderen ostasiatischen Ländern zentral für menschliche Interaktionen sind. Daher wird das lebensweltorientierte Konzept höchstwahrscheinlich auf Zustimmung sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene in Vietnam stoßen. Nachteile: Das Prinzip der Alltagsnähe besteht auch darin, dass Sozialarbeiter/innen ihre Adressat/innen in ihrem alltäglichen Lebensumfeld begleiten. D.h. die Sozialarbeiter/innen müssen ihre Adressat/innen zu Hause besuchen und kommen bewusst oder unbewusst mit ihrer Nachbarschaft in Kontakt. Man legt in Vietnam in der Regel viel Wert auf das eigene Ansehen und hat daher große Angst vor Stigmatisierung vor allem im nahen Lebensumfeld wie in der Nachbarschaft. Die Frage ist hier, ob es möglich wäre, diesen Konflikt zu lösen und wenn ja wie. Eine Antwort darauf findet man sicher noch in der praktischen Umsetzung in Vietnam. In der folgenden Graphik möchten wir das lebensweltorientierte Konzept zusammenfassend veranschaulichen: Graphik 2: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit 23 3.2 Ontologische Systemtheorie (Züricher Schule) 3.2.1 Theoriehintergrund (Denktraditionen; Erkenntnis- bzw. Forschungsmethoden, die zu einem bestimmten Menschenbild und Gesellschaftsbild und einer bestimmten Definition sozialer Probleme führen; Menschenbild, Gesellschaftsbild, Definition sozialer Probleme) Die ontologische Systemtheorie entstand etwa um die gleiche Zeit wie das lebensweltorientierte Konzept von Hans Thiersch. Diese Theorie führt auf die Arbeit von Silvia Staub-Bernasconi und Werner Obrecht seit den 1980er Jahren zurück. Kaspar Geiser entwickelte vor allem die Arbeit von Staub-Bernasconi auf der handlungsrelevanten Ebene weiter. Er konzentriert sich auf die Problem- und Ressourcenanalyse, während Obrecht eher die philosophische und soziologische Grundlage bearbeitet. Staub-Bernasconi arbeitet sowohl an der soziologischen Grundlage der Theorie als auch an handlungstheoretischen und (sozial)politischen Konzepten innerhalb der ontologischen Systemtheorie. Staub-Bernasconi und Obrecht studierten zusammen Soziologie. Alle drei waren langjährige Kolleg/innen an der Hochschule für Soziale Arbeit in Zürich. Das Theoriegebäude, das sie aufgebaut haben, kennzeichnen sie als das systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit (SPSA). Da der Name sehr lang ist, kürzen wir ihn in unserer Lehre an der Hochschule München auf „Züricher Schule“ in Abgrenzung zur „Tübinger Schule“ und anderen Denkschulen. 24 Denktraditionen: Mario Bunge ist ein Philosoph, Mathematiker und Physiker aus Argentinien. Seine Philosophie über die Wirklichkeit ist die Grundlage der ontologischen Systemtheorie. Seine Wirklichkeitsphilosophie, die die Züricher Schule als die Metatheorie kennzeichnet, besagt: Die Welt ist real, sie besteht aus konkreten Dingen und Systemen und jedes Ding ist entweder System oder eine Komponente eines Systems. All das existiert und entwickelt sich unabhängig davon, ob es in unserer Erfahrung existiert und unabhängig davon, ob es von menschlichen Bewusstsein wahrgenommen wird. Die Welt ist in Teilen erkennbar und das gewonnene Wissen wird über Sprache kommuniziert. Die menschliche Wahrnehmung der Realität ist unvollständig, abhängig von der komplexen Gehirnstruktur des Menschen, fehlerhaft, weil Wahrnehmung immer selektiv ist und Teile ausblendet und sie ist aus interessegeleiteten Gründen verzerrt. Modelle, Theorien und Deutungssysteme interpretieren und konstruieren die Realität, sie bilden die Realität nur annähernd ab (Staub-Bernasconi 2007, 160f & 164f; Geiser 2007, 43ff). Die Wirklichkeit – die existierende Welt - wird von bestimmten Gesetzmäßigkeiten determiniert, die sich erforschen lassen. Diese Annahme unterscheidet sich von mentalen Systemvorstellungen, beispielsweise des radikalen Konstruktivismus, der besagt, dass Bilder über die Wirklichkeit Erzeugnisse des Gehirns sind und es keine „objektive“ Wirklichkeit gibt, und folglich die Existenz der Realität nicht empirisch überprüft werden kann. In der Architektur der Züricher Schule erkennt man darüber hinaus die soziologischen Theorien von Peter Heintz bezüglich sozialer Ungleichheit, von Max Weber, Heinrich Popitz und Hannah Arendt bezüglich der Macht und Prozessen der Machtbildung sowie von Karl O. Hondrich und Ilse von Arlt bezüglich der Bedürfnistheorie (Staub-Bernasconi 2007, Obrecht 1999, Obrecht 2005a). Erkenntnis- bzw. Forschungsmethoden: Die Züricher Schule geht von einer komplexen und widersprüchlichen, aber realen Wirklichkeit aus, die durch einen einzigen theoretischen und methodologischen Zugang nicht ausreichend beschrieben und erfasst werden kann. „Deshalb plädiert Staub-Bernasconi für eine wissenschaftliche Metatheorie, die mehrere Zugangsmöglichkeiten miteinander verbinden kann (Engelke et al 2009, 448f). Engelke spricht hier von einer komplexen Figuration der menschlichen Gesellschaft, da der Mensch nicht nur aus einem biologischen System besteht, sondern auch aus chemischen, physikalischen, psychischen, sozialen und kulturellen Systemen, wie unten zum „Menschbild“ ausgeführt wird (Engelke 2005). Diese Erkenntnismethode wird besonders greifbar in dem Konzept der „W-Fragen“, denn hier werden Informationen über Adressat/innen erfasst und systematisiert anhand verschiedener Fragen, die einen multidimensionalen Zugang erlauben: W-Fragen sind Fragen nach: 25 Was? Woher? Warum? Woraufhin? Was ist gut und was ist nicht gut? Wohin? Wie? Womit? Was wurde erreicht? Diese Fragen können und sollen von verschiedenen Personen: Adressat/innen, ihre Familienangehörigen, Sozialarbeiter/innen, andere Helfer/innen wie Psycholog/innen u.a. beantwortet werden. Geiser spricht hier von „vervielfachten W-Fragen“. Die Vervielfachung der W-Fragen verstärkt die Zugangsmöglichkeiten zur Erhebung der Probleme und Ressourcen von Adressat/innen. Mit der Frage „Warum?“ geht man den Ursachen der Probleme nach. Diese Ursachen lassen sich aus Sicht diverser Bezugswissenschaften erklären: der Biologie, Chemie, Physik, Psychologie, Pädagogik, Rechtswissenschaft, Soziologie und anderer „Menschenwissenschaften“ im Sinne Engelkes, so viele, wie es eben derzeit gibt, um Menschen und ihre Gesellschaft zu erklären (s. 3.2.5. Praxisrelevanz, W-Fragen) . Menschenbild: Menschen sind lebendige Wesen, die aus verschiedenen Systemen bestehen, also biologischen, chemischen, psychischen, sozialen und kulturellen Systemen (Bunge 2004). Menschen haben Bedürfnisse und sind dadurch zu Strategien und Handlungen motiviert, die auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse ausgerichtet sind. Menschen sind aufgrund ihrer Bedürfnisbefriedigung aufeinander angewiesen. Auf menschliche Bedürfnisse gehen wir später noch ausführlicher ein (Obrecht 1999, Staub-Bernasconi 2007, 170f). Menschen sind sprach- und lernfähige Biosysteme, die mit verschiedenen Fähigkeiten ausgestattet sind. Sie halten ihre innere Struktur fortlaufend über einen materiellen, energetischen und informellen Austausch mit ihrer physikalischbiologischen, sozialen und kulturellen Umwelt aufrecht (Obrecht 2002, 8). Menschen, als Mitglieder von sozialen Systemen, können wie eben erwähnt nur in sozialen Organisationsformen existieren. Sie stehen in Beziehung mit anderen Menschen und bilden soziale Systeme, die sich selbst organisieren und von der Umwelt gegenüber anderen Systemen abgrenzen. Gesellschaftsbild: Das Gesellschaftsbild der Züricher Schule basiert auf ihrem Systembegriff, der auch ein Kernbegriff dieser Theorie ist. Deshalb behandeln wir zuerst diesen Begriff. Ein System ist „Etwas“, das aus konkreten Komponenten zusammengesetzt ist. Komponenten sind physikalischer, chemischer, biologischer, psychischer, sozialer und begrifflicher Art. Sie unterhalten diverse Beziehungen zueinander und sind daher miteinander vernetzt (innere Struktur). Sie haben aufgrund dessen engere Bindungen zueinander als zur Umwelt. Die Beziehung der Systemkomponenten zur Umwelt nennt man hier externe Struktur (Staub-Bernasconi 1995, 127; Geiser 2007, 44). 26 Die Anzahl der existierenden Systeme in der Welt sind das Ergebnis eines prozessualen, räumlichen und zeitlich ausgedehnten Differenzierungsprozesses. Im Verlauf der Evolution haben sich aus einfachen Systemen durch Zusammenschlüsse komplexe Systeme herausgebildet, indem die einzelnen Systeme zu Komponenten von komplexen Systemen wurden. All diese Systeme unterscheiden sich voneinander durch ihre spezifischen „emergenten“ Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten. Das Resultat dieses Prozesses sind emergente Eigenschaften der Systeme, die auf ihrer Fähigkeit zur Selbstvereinigung und zur Selbstorganisation beruhen. Ein Beispiel soll diesen Prozess veranschaulichen: Aus der Struktur der Großfamilie vorindustrieller Gesellschaften mit ihrer Funktion zur Reproduktion und Existenzsicherung entwickelten sich im Zuge der Arbeitsteilung schließlich die Kernfamilie, ein differenzierter, mittlerweile instabiler Arbeitsmarkt, hoch differenzierte Bildungssysteme und ein soziales Sicherungssystem zur Abfederung von Daseinsrisiken. Alle Systemarten – es gibt physikalische, chemische, biologische, psychische, soziale und kulturelle Systeme – sind genetisch-historisch auseinander hervorgegangen, sie stehen als Subsysteme miteinander in Beziehung und verändern und wandeln sich. Das heißt, jedes System ist ein evolutionäres Glied in einer Kette von Systemen, einschließlich menschlicher Individuen, die als selbstwissensfähige und lernfähige Biosysteme gedacht werden (Staub-Bernasconi 1995, 128). Das Gesellschaftsbild liegt der Definition sozialer Systeme zugrunde. Die Struktur menschlicher sozialer Systeme weist zwei zentrale Eigenschaften auf, die miteinander in dynamischer Beziehung stehen (Obrecht 2002, 8; 2005b, 4): Die Interaktionsstruktur zwischen den Mitgliedern der sozialen Systeme Die vielfältig differenzierte Positionsstruktur: der funktionalen Differenzierung von Rollen- und Arbeitsteilung und Hierarchie, der niveaunalen Schichtung der Güter- und Ressourcenverteilung und den daraus erwachsenden sozialen Positionen mit ihren jeweiligen Interaktions- und Karrierechancen in sozialen Systemen. Weitere Differenzierungskriterien sind: Alter, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe, Ethnie Soziale Systeme entstehen durch Prozesse von sozialen Interaktionen zwischen Individuen, sie beruhen auf Bindungen, die durch menschliche Bedürfnisse in Verbindung mit Selbstbewusstsein und Wissen über andere motiviert sind. Das Gesamte an sozialen Interaktionen wird als Interaktionsstruktur beschrieben. Die Positionsstruktur manifestiert das Ergebnis der Interaktionsstruktur in Form von Rollen, Rechten und Pflichten (Geiser 2007, 49f). Welche sozialen Probleme und Problemkonstellationen sich aus den Struktureigenschaften sozialer Systeme ergeben, für die Soziale Arbeit den 27 gesellschaftlichen Auftrag zur Lösung hat, wird im unteren Abschnitt ausführlich beschrieben. Ein soziales System gewinnt Stabilität, indem es Wertvorstellungen mit entsprechenden Regeln und Normen ausbildet. Seine Werte und Ziele drücken sich in den kulturellen Eigenschaften des sozialen Systems aus. Die Akzeptanz der kulturellen Eigenschaften durch ihre Mitglieder ist dann gegeben, wenn sie der Befriedigung ihrer Bedürfnisse dienen, wie auch den Zielen des sozialen Systems, dessen Mitglieder sie sind. Denn je eher die Individuen die an sie gerichteten Rollenerwartungen aus den jeweiligen sozialen Positionen heraus erfüllen, desto dichter wird der Zusammenhang zwischen Interaktions- und Positionsstruktur. In einer administrativen Verwaltung sind die Regeln, wer mit wem über was kommunizieren darf, wer welche Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten besitzt qua seiner Position, klar und unmissverständlich geregelt. Veränderungen in sozialen Systemen treten dann auf, wenn sich Rollenfixierungen auflösen und sich darüber die Interaktions- und Positionsstruktur verändert. Wenn z.B. Kinder erwachsen werden, wenn ein Familienmitglied arbeitslos oder krank wird, wenn Eltern alt werden, dann muss die Familie ihre Beziehungen untereinander neu strukturieren (Sagebiel 2012, 44f). Definition sozialer Probleme: Soziale Probleme sind praktische Probleme, die Menschen mit der Einbindung in soziale Systeme haben. Wird ein Kind in der Familie vernachlässigt, ist es in seiner biologischen, psychischen und sozialen Entwicklung behindert. Findet jemand aufgrund seiner mangelhaften Schulbildung und/oder aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit keine Arbeit, dann leidet er unter dem sozialen Problem, dass er seine Existenz ökonomisch nicht absichern kann. Betrifft dies eine große Gruppe von Menschen mit ähnlichen individuellen Ausstattungen, wird das persönliche Problem zu einem gesellschaftlichen sozialen Problem: Arbeitslosigkeit. Die Betroffenen sind aus dem sozialen System Arbeitsmarkt ausgrenzt. Leiden bezeichnen die Theoretiker/innen der Züricher Schule als einen Zustand, in dem ein Individuum (oder eine Gruppe von Individuen) unzufrieden ist, weil es seine Bedürfnisse nicht angemessen befriedigen kann – sei es, weil es keine Problemlösungen kennt oder keinen Zugang zu Ressourcen hat, die sein Problem lösen können. Soziale Probleme als Ungleichheiten zwischen Menschen, die über behindernde Systembeziehungen und Systemstrukturen erzeugt werden, bilden den Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit. „Soziale Arbeit ...ist eine gesellschaftliche Antwort auf soziale Probleme in der Gesellschaft“ (Engelke 1998, 371). StaubBernasconi unterscheidet vier Dimensionen sozialer Probleme, die sich systemisch gegenseitig bedingen und in kumulativen Problemlagen münden: 28 1. Ausstattungsprobleme: Ausstattungsprobleme sind die Folge behinderter Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung (Staub-Bernasconi 1994, S.17ff). Denn Menschen sind für ihre Existenzsicherung und ihr Wohlbefinden auf eine natur- und menschengerechte ökologische Umwelt sowie auf eine menschengerechte Gesellschaft angewiesen (Engelke, 1998, 372). Ausstattungsprobleme treten dann auf, wenn Menschen an den medizinischen, psychischen, sozialen und kulturellen Ressourcen einer Gesellschaft nicht ausreichend teilhaben können. Den Defiziten in der Ausstattung stehen Überschüsse in der Ausstattung gegenüber. Oder anders formuliert: die Schere zwischen Armut und Reichtum, Mangel und Luxus. Beide Ausprägungen dürfen als sozial problematische beschrieben werden, denn sie sind jeweils Ergebnis von ungerechten Tauschbeziehungen (Austauschprobleme) und unfairer Arbeitsteilung (Machtprobleme). Ausstattungsdefizite zeigen sich in sechs Dimensionen, die ausführlicher im Abschnitt „Kern der Theorie“ behandelt werden. 2. Austauschprobleme: Menschen sind Komponenten von sozialen Systemen und sie sind auf den Austausch und die Kommunikation mit andern Menschen und ihrer Umwelt angewiesen. Der Austausch findet über Güter, Wissen und Fähigkeiten statt. Die Ausstattung bietet also die Grundlage für die Kommunikation. Diese kann gleichberechtigt, symmetrisch sein, das heißt, beide Partner/innen profitieren zu gleichen Teilen, er kann aber auch asymmetrisch sein, nicht gerecht, was bedeutet, dass eine/r auf Kosten der/s anderen profitiert. Soziale Probleme entstehen dann für eine(n) der Kommunikationspartnerinnen, wenn im Austausch eine/r benachteiligt bzw. abhängig ist (Staub-Bernasconi 1994, 20ff). Ein Beispiel: NGO-Projekte sind abhängig von Geldzuwendungen staatlicher (Sozialadministration) oder internationaler Institutionen (EU). Sie verfügen über weniger Ressourcen als etablierte Organisationen. Kommunen sind in ihrer Umsetzung des politischen Willens abhängig von den Richtlinien, die von der Landespolitik gesetzt werden. Ein weiteres Beispiel: Die Beziehung zwischen Mann und Frau kann zum Nachteil der Frau strukturiert sein, wenn der Mann über mehr ökonomische Mittel als die Frau verfügt, wenn er mit Gewalt die Frau zu Verhaltensweisen zwingt, die ihre Bedürfnisse nicht befriedigt. Ungerechter Austausch ist bestimmt durch Machtstrukturen und in Machtbeziehungen manifestieren sich Formen sozialer Ungleichheit. Und aufgrund ihrer mangelnden Ausstattung in den verschiedenen Dimensionen hat sie wenige Ressourcen, die sie in der Beziehung als mögliche Austauschobjekte einbringen kann. Sie hat aufgrund ihrer Ausstattungsprobleme Austauschprobleme. 29 3 Machtprobleme: Machtbeziehungen sind das Ergebnis und die Voraussetzung für soziale Chancen und soziale Integration. Welche soziale Position ein Mensch in der Gesellschaft einnimmt, sagt etwas aus über seine Position innerhalb von Machtkonstellationen. Der Zugang zu ökonomischen und sozialen Ressourcen und zu Teilsystemen in einer Gesellschaft (Schulsystem, Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem etc.) ist nicht nur von individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen abhängig, sondern auch von der Verfügung über Machtquellen (Staub-Bernasconi, 1994, 24). Machtquellen sind begehrte Ressourcen, die von Menschen eingesetzt werden, um soziale Beziehungen behindernd oder machtbegrenzend zu gestalten. Wichtige Machtquellen sind: physische Macht (Körpermacht), Kapital und Besitz (Gütermacht), geistige Stärke (Modell-, Definitions- und Artikulationsmacht), Handlungskompetenz verbunden mit Status und Prestige (Organisationsmacht). Ob Macht problematisch ist, hängt von den Regeln der Machtverteilung in sozialen Beziehungen ab. Sie können nach Staub-Bernasconi (1994, 26ff; 1995, 245-249) begrenzend oder behindernd sein. Begrenzungsmacht: Begrenzende Steuerung von Machtbildungsprozessen ermöglicht den legitimen Zugang zu allen verfügbaren Ressourcen (Lebensbereichen), die Mitglieder einer Gesellschaft für ihre Existenzsicherung und Teilhabe an der Gesellschaft brauchen. Sie ist an Voraussetzungen geknüpft, wie und unter welchen Voraussetzungen die Ressourcen in Anspruch genommen werden können, z.B. Soziale Sicherungssysteme, Bildungsvoraussetzungen, Qualifikationen etc. Machtbegrenzende Strukturen schaffen soziale Gerechtigkeit als legitime Macht. Sie begrenzt Gruppen in der Gesellschaft auf Kosten anderer zu ihrem Vorteil, Macht zu erlangen und zu erweitern (Staub-Bernasconi 1994, 29ff). Behinderungsmacht: Behindernde Steuerung von Prozessen der Machtbildung schließt einzelne Gruppen der Gesellschaft (ethnische Gruppen, politische Gruppierungen, Frauen, Kinder...) von der Teilhabe an den verfügbaren gesellschaftlichen Ressourcen aus, indem vorhandene Güter künstlich verknappt werden, z. B. wenn Menschen aufgrund ihrer Nationalität, ihres Alters, ihrer Hautfarbe, ihres geringen Einkommens, ihres Geschlechtes, ihrer sexuellen Orientierung nicht an politischen Meinungsbildungsprozessen partizipieren können, wenn sie sozial diskriminiert werden, wenn ihnen der gleichberechtigte Zugang zum Erziehungs- und Bildungs-, Gesundheits- und sozialen Sicherungssystem vorenthalten wird. Machtbehindernde Strukturen schaffen soziale Ungleichheit und Armut. Sie ist illegitime Macht (Staub-Bernasconi 1994, 32ff). 30 Bezogen auf Machtprobleme in Form behindernder Machtstrukturen ergeben sich für die Soziale Arbeit folgende Fragen (Staub-Bernasconi 1994, 28): Wie sollten, wie könnten welche Ressourcen wem zugänglich gemacht werden? Wie können sie zur Bedürfnisbefriedigung der Klientel gerechter verteilt werden? Wie sollten soziale Positionen funktional und menschen- und bedürfnisgerecht angeordnet sein? Ist die Arbeits- und Entscheidungsverteilung (Hierarchie) von Menschen so geregelt, dass optimale Produktivität bei gleichzeitiger Bedürfnisbefriedigung gewährleistet ist? Nach welchen Werten, als kollektiv in einer Kultur geteilten Kriterien, sollten, müssten Verteilungs- und Anordnungsvorschriften begründet und legitimiert sein? Mit welchen Mitteln, Sanktionen und Belohnungen sollten, könnten Werte, Vorschriften durchgesetzt werden? 4 Kriterien- und Werteprobleme: Vergesellschaftete Werte sind Vorstellungen darüber, was wünschbar ist bei der Beurteilung von Sachverhalten, die als „nicht gut“ im Sinne von nicht gerecht beurteilt werden (Staub-Bernasconi 1994, 41ff). Nicht gut ist, wenn ein Kind in der Familie vernachlässigt und geschlagen wird, nicht gut ist, wenn jemand aufgrund seines Geschlechts oder seiner ethnischen Zugehörigkeit keine Arbeit findet, nicht gut ist, wenn alte pflegebedürftige Menschen nicht versorgt werden. Kriterienprobleme treten dann auf, wenn biologische, psychische und soziale Bedürfnisse nach ausreichender Nahrung, nach körperlicher Unversehrtheit, nach Liebe und sozialer Anerkennung, nach Kontakt und sinnhafter Orientierung für Menschen nicht ausreichend befriedigt werden und wenn anerkannte gesellschaftliche Werte, Normen und Standards verletzt werden. Solche Standards sind beispielsweise: Kranke Menschen benötigen medizinische Versorgung, Kinder brauchen die Fürsorge der Eltern, Kinder haben ein Recht auf Erziehung und Bildung, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, Gewalt gegen Frauen und Kinder ist unrecht etc. Die Theorie von Staub-Bernasconi ist systemisch prozessual konzipiert. Das heißt, alle Dinge in der Welt sind Systeme, die sich im Verlauf der Evolution verändert haben und weiter verändern werden, alles ist in Bewegung und miteinander verbunden über Zeit und Raum. Übertragen auf die oben beschriebenen vier Problemkategorien darf angenommen werden, dass sie im Falle der Sozialen Arbeit einzeln, jedoch meist in vernetzter Form auftreten: Ausstattungsprobleme generieren Austausch- und Machtprobleme und Austauschprobleme stehen in engem Bezug zu 31 Ausstattungsproblemen. Treten Probleme als Mehrfachproblematik und gleichzeitig auf, handelt es sich um soziale Probleme, für die die Soziale Arbeit zuständig ist. Soziale Probleme „Soziale Probleme bezeichnen ... Unterschiede, die zwischen Menschen nicht sein müssen.“ (Engelke 1998, 375). Es sind solche Probleme, die im Zusammenhang mit den elementaren Bedürfnissen von Individuen nach Integration in die soziale Umwelt stehen (Obrecht 2002,15ff). Elementare Bedürfnisse und die Zusammenhänge mit den sozialen Problemen werden wir im Abschnitt „Kern der Theorie“ ausführlicher behandeln. Folgende Abbildung mag zuerst den systemischen Zusammenhang dahingehend verdeutlichen, dass alle Arten von Problemen miteinander zu tun haben: Graphik 3: Soziale Probleme Interaktionsprobleme - Soziale Isolation, Ausschluss - Fehlende Mitgliedschaften - Diskriminierung, Ausgrenzung - Tauschprobleme – Ungleichheit? Soziale Probleme Biologische Probleme Positions- bzw. strukturbezogene Probleme - Machtlosigkeit, i.S. fehlender Ressourcen - Niedriger Status, versagte soziale Anerkennung - Fremdbestimmung, mangelnder Einfluss - Soziale Deklassierung Psychische Probleme Physikalischchemische (ökologische) Probleme - Baulich schlechter Wohnungszustand Schimmelpilz u.ä., keine Heizung - Schadstoffausstoß - Schlechte Infrastruktur Hier geht es insgesamt um mindestens zwei Ebenen sozialer Probleme: 1. Auf der Mikroebene geht es um konkrete Probleme, mit denen die konkreten Adressat/innen konfrontiert sind (chemisch-physikalisch, biologisch, psychisch und 32 sozial). „Soziale Probleme“ meint hier Probleme einzelner Menschen in der interaktions- und positionsbezogenen Beziehung zu anderen Menschen. 2. Auf der Makroebene zeigen sich soziale Probleme im üblichen Sinne, also als Probleme, die Massen von Menschen betreffen, wie Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung usw. und damit positive Entwicklungen der Gesellschaft verhindern. In Abgrenzung zu soziologischen Definitionen, die soziale Probleme als Ergebnis eines gesellschaftlich, politischen Konstruktionsprozesses deuten, sind soziale Probleme aus Sicht der Bedürfnistheorie praktische Lebensbewältigungsprobleme, die aus dem Ungleichgewicht resultieren zwischen anfallenden Problemen eines Menschen einerseits und den verfügbaren Ressourcen zu ihrer Lösung andererseits. 3.2.2 Kern der Theorie (Kernbegriffe, Kernaussagen) Kernbegriffe: In den letzten Abschnitten wurden die Begriffe System und soziale Systeme, Problem und soziale Probleme sowie Macht bereits ausführlich behandelt. Im Folgenden gehen wir auf zwei weitere Kernbegriffe ein, die das Menschbild der Züricher Schule prägen: menschliche Bedürfnisse und Ausstattung. Bedürfnisse: Die Theorie menschlicher Bedürfnisse ist ein Baustein der ontologischen Systemtheorie, den Werner Obrecht und Staub-Bernasconi anhand von diversen soziologischen und psychologischen Studien über menschliche Bedürfnisse gelegt haben. Die zentrale Kernhypothese ist, Menschen sind bedürfnisdeterminierte Wesen, die für ihr Wohlbefinden und ihr Glücklichsein auf die Befriedigung ihrer physikalischen, mentalen und sozialen Bedürfnisse angewiesen sind (Obrecht 2002, 50, Geiser 2004, 52ff): Biologische Bedürfnisse sind Bedürfnisse nach allem, was ein Individuum zum Überleben benötigt, saubere Luft, sauberes Wasser, Nahrung, Schutz vor Hitze und Kälte, physische Unversehrtheit, Regeneration, sexuelle Aktivität und Fortpflanzung. Psychische Bedürfnisse sind Bedürfnisse nach Stimulation (durch die Schwerkraft, Licht, Geräusche oder Klang also z.B. Musik, Sinneseindrücke), Abwechslung, Ästhetik, lernbare orientierungs- und handlungsrelevante Informationen, nach effektiven Fertigkeiten, Regeln und (sozialen) Normen, Sinn und Spiritualität. Soziale Bedürfnisse sind Bedürfnisse nach Lieben und Geliebtwerden, anderen zu helfen, sozialer und kultureller Zugehörigkeit, wie z.B. 33 Mitgliedschaft, Einzigartigkeit, Autonomie, Kooperation, soziale Anerkennung, Gerechtigkeit. In dem Abschnitt „Definition Soziale Probleme“ erwähnten wir bereits, dass es lebensnotwendig für alle Menschen auf dieser Welt ist, die eben aufgelisteten Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn ein Bedürfnis nicht ausreichend oder gar nicht befriedigt wird, hat man ein Problem. Je nach Kategorie hat man biologische, chemische, physikalische, psychische oder soziale Probleme. Aspekte menschlicher Bedürfnisse: Über die eben aufgezählten Bedürfniskategorien hinaus bezieht sich die Theorie menschlicher Bedürfnisse auf folgende Aspekte: All diese Bedürfnisse sind aufgrund der Struktur des Organismus allen Menschen gleich, unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Religion und Geographie (Obrecht 1999, 28). Bedürfnisse sind von Wünschen zu unterscheiden (Obrecht 1999, 46 & 55): o Wie schon mehrfach erwähnt sind Bedürfnisse notwendig zum Überleben. Dauerhafte mangelnde Bedürfnisbefriedigung kann zu schwerwiegenden Folgen für Menschen führen (Obrecht 1999, 47f); mangelnde soziale Anerkennung kann beispielsweise zur Depression führen oder dauerhafter Hunger kann Untergewicht bis hin zum Tod zur Folge haben. Aufgrund dessen sind diese Bedürfnisse auch in den Menschenrechten verankert (Borrmann 2006, 195ff, siehe auch Anhang). Anhand dieser Argumentation vertritt die Züricher Schule die Auffassung, dass Soziale Arbeit eine Menschenrechtsprofession ist (Staub-Bernasconi 1998). In Vietnam spricht man in diesem Zusammenhang häufig von lebensnotwendigen Bedürfnissen. o Wünsche im Sinne von Obrecht bezeichnet man in Vietnam eher als höhere Bedürfnisse. Sie entstehen im Lernprozess der Menschheit und betreffen die unterschiedlichen Arten und Weisen, wie die lebensnotwendigen Bedürfnisse befriedigt werden können (Obrecht 1999, 46). Ein Beispiel: Alle Menschen brauchen Nahrung, um satt zu werden. Das ist das lebensnotwendige Bedürfnis. Menschen haben dabei aber gelernt, dass man nicht nur durch eine einzige Sorte von Nahrung satt werden kann, sondern durch sehr verschiedene: Menschen in Europa z.B. durch Brot mit verschiedenen Beilagen wie Käse oder Wurst und Menschen in Asien eher durch Reis mit Curry-Gemüsepfanne oder Scampi-Spieße. Daher sind Wünsche als strukturell und kulturell abhängige Begehrlichkeiten in einer Kultur zu verstehen – bedingt durch Vorhandensein und Verfügbarkeit von (unterschiedlichen) Ressourcen. 34 o Wünsche können legitim sein, wenn ihre Erfüllung andere nicht an deren Bedürfniserfüllung hindert. Wünsche sind dagegen illegitim, wenn sie andere behindern, indem sie ihnen die Ressourcen zur Bedürfnisbefriedigung vorenthalten (Obrecht 1999, 52). Aus Sicht dieser systemischen Erkenntnisund Bedürfnistheorie besteht menschliches Leben darin, Probleme der Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung einander gegenüber zu stellen und zu lernen, diese innerhalb von sozialen Systemen mit anderen Menschen auszuhandeln (Staub-Bernasconi 1995, 131). o Wünsche können einen Bedürfnisstatus annehmen, wenn bestimmte Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung so selbstverständlich sind, dass man sich ohne sie das Leben nicht mehr vorstellen kann, z.B. der Besitz eines Fernsehers hat mittlerweile Bedürfnisstatus angenommen. Um die aufgezählten Bedürfnisse erkennen zu können, darf man sie nicht mit den Mitteln zur Befriedigung verwechseln. Es gibt im Sinne von Obrecht kein Bedürfnis nach Geld. Die Frage ist vielmehr, welche (lebensnotwendigen) Bedürfnisse können mit Geld befriedigt werden? Mit Geld kann man z.B. ein teures Auto oder ein großes Haus kaufen. Diese Gegenstände können einen hohen Status bringen. Durch einen hohen Status erfährt man oft eine hohe soziale Anerkennung. Die Kompetenz, Bedürfnisse zu differenzieren und das eigentliche Bedürfnis erkennen zu können, braucht eine Sozialarbeiterin aus Sicht der Züricher Schule, um die Probleme ihrer Adressat/innen zu identifizieren. Dieser Aspekt ging aus unserer Lehre hervor. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu verstehen, dass Bedürfnisbefriedigung der zentrale Motor menschlichen Handelns ist. Man tut etwas, weil man ein bestimmtes Bedürfnis oder mehrere Bedürfnisse auf einmal befriedigen möchte (Obrecht 1999, 44). Darüber hinaus kann Bedürfnisbefriedigung aber auch als starker Katalysator für zwischenmenschliche Konflikte wirken, weil die Art, wie jemand seine Bedürfnisse befriedigt oder Wünsche erfüllt, die Grenze des anderen verletzen kann. Neue Studien liefern den Nachweis, dass sich mehrere Bedürfnisse in unserem Gehirn gleichzeitig melden. Man spürt, dass man Hunger und Durst hast und kann gleichzeitig mangelnde Liebeszuwendung durch den Partner empfinden. Dies widerspricht der These Maslows, dass die biologischen Bedürfnisse gegenüber den sozialen und kulturellen Bedürfnissen bevorzugt werden (Obrecht 1999, 11f). Obrecht spricht in diesem Zusammenhang eher von einer Elastizität (Obrecht 1999, 51ff), d.h. verschiedene Bedürfnisse haben unterschiedliche Wartezeiten, Durst oder Verzicht auf Flüssigkeit lässt sich z.B. einige Tage aushalten, danach entstehen langfristige Folgen wie Nierenschaden oder Tod; Hunger lässt sich einige Wochen ertragen. Bei mangelnder sozialer Anerkennung dauert es 35 wahrscheinlich deutlich länger, bis sich negative Folgen, z.B. Depressionen, zeigen. Ob und wie Bedürfnisse befriedigt werden können, hängt zum einem von den Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten und Ressourcen des Individuums ab, wie Gesundheit, Arbeit, Familie, Aufbau von Nachbarschaftsbeziehungen, Freundschaften und sozial verträglichen Konfliktlösungsmöglichkeiten. Zum anderen hängt es von der Leistungsfähigkeit und den Verteilungsregeln der sozialen Systeme (auf allen Ebenen) ab. Hier stellen sich z.B. folgende Fragen: Kann eine Familie ihren Erziehungs- und Fürsorgeauftrag für die Kinder erfüllen, kann die Schule das Kind angemessen fördern, kann der Social Service der Familie die notwendige und ausreichende Hilfe anbieten, ist die Versorgung alter und kranker Menschen durch ein Rentensystem gesichert? Ausstattung Menschliche Ausstattung ist einer der Kernbegriffe der ontologischen Systemtheorie. Einblicke in diesen Kernbegriff ist eine Voraussetzung, um das handlungsrelevante Konzept der systemischen Denkfigur zu verstehen, das im Abschnitt „Praxisrelevanz“ näher erläutert wird. Anhand einer Analyse menschlicher Ausstattung kann dann festgestellt werden, welche Ressourcen oder welche Probleme ein Mensch auf der Ausstattungsebene hat (siehe Definition sozialer Probleme). Die menschliche Ausstattung besteht aus folgenden Dimensionen (Staub-Bernasconi 1994, 15f; und, Geiser 2007, 95ff): 1. körperliche Ausstattung: Gesundheit, Geschlecht, Körpergröße, Gewicht, Alter, Hautfarbe, physische Attraktivität, Gehirnstrukturen vor allem Nervensystem als Grundlage für die Informationsverarbeitung. 2. Ausstattung für die Informationsaufnahme: Sinnesorgane, durch die man Reize von außen aufnehmen kann. Das Gehirn erhält diese Reize und verarbeitet die entsprechenden Informationen. Wenn diese Ausstattung gut funktioniert, gibt es vorerst keine Hindernisse seitens der Sinnesorgane für die nächste Informationsaufnahme. 3. Ausstattung mit Erkenntnis- und Erlebniskompetenzen: Informationsverarbeitung (wahrnehmen, denken, bewerten, empfinden, sich fühlen, lernen), Wissen (Sachkenntnisse, Kenntnisse über Werte und Normen, Bilder über sich selbst und andere, Bilder über die Wirklichkeit, Erfahrungen, Erklärungen, Prognosen, Motivationen, Ziele und Pläne als Grundlage für Handlungen, Sprache. Die Qualität dieser Ausstattung hängt davon ab, wie das Gehirn funktioniert und genutzt wird. 4. Ausstattung mit Handlungskompetenzen: Diese Ausstattung hängt mit der Ausstattung mit Erkenntnis- und Erlebniskompetenzen zusammen. Es sind Handlungen bzw. sichtbare Aktivitäten, die folgende Eigenschaften haben: 36 Wertorientiert Zielgerichtete Automatisiert bzw. routiniert (z.B. Gewohnheiten) Rollenbezogen Kreativ 5. Soziale Ausstattung: 5.1. sozioökonomische Ausstattung: Bildungsgrad, Arbeit, Einkommen, Vermögen 5.2. sozioökologische Ausstattung: Wohnsituation (Wohnung, Wohnort, Infrastruktur des Wohnorts z.B. mit Beratungsstellen, Erholungsmöglichkeiten wie Park, See, Bäume, usw.), in welcher biologischen, chemischen und sozialen Umwelt man lebt. 5.3. soziokulturelle Ausstattung: Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, Sprachgemeinschaft, Religionsgemeinschaft Schicht oder Milieu, in dem man aufgewachsen ist, 5.4. Mitgliedschaften in Gruppen, Vereinen, soziale Netzwerke (Kontakte zu anderen Menschen: Verwandten, Freunden, Nachbaren usw.) Graphik 4: Individuumanalyse: 3. Ausstattung mit Erkenntnis- und Erlebniskompetenzen Wissen (Codes und Bilder), Werte (Bedürfnisse) Motivation Psychische Eigenschaften 2. Ausstattung für die Informationsaufnahme (Rezeptoren) 4. Ausstattung mit Handlungskompetenzen 1. Biologische Eigenschaften 1. Körperliche Ausstattung 5. Soziale Ausstattung Sozioökonomische Eigenschaften (u.a. soziale Position) Sozioökologische Eigenschaften der natürlichen und künstlichen Umwelt (physikalisch-chemische, nicht humanbiologische) Soziokulturelle Eigenschaften Mitgliedschaften (= soziale Rollen) (In Anlehnung: Sagebiel/ Vlecken 2005, 236) 37 All diese Dimensionen beruhen auf menschlichen Bedürfnissen (biologischen, psychischen, sozialen), wobei das Ausmaß der Ausstattung - Defizit oder Überschuss - darüber entscheidet, welchen Tauschwert ein Individuum in einer Gesellschaft hat. Wie hoch oder wie niedrig seine Chancen für die Mitgliedschaft in den sozialen Systemen ist, zu denen es freiwillig gehören will. Um es kurz anhand eines Beispiels zu zeigen: Eine alleinerziehende, junge Mutter, die vielleicht aufgrund von Gewalterfahrungen in der Familie und Partnerschaft unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, ihre physische Attraktivität vielleicht eingeschränkt (Narben) ist, keine abgeschlossene Schulausbildung und kein Einkommen verfügt, lebt mit ihrem Kind oder Kindern in einem Frauenhaus, entwickelt kaum Zukunftspläne oder unangemessene aufgrund ihrer Sozialisationserfahrungen, hat ein geringes Selbstbewusstsein und keine Kontakte außerhalb des Frauenhauses und den Sozialarbeiterinnen. Dann kann man mit aller Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ihre Möglichkeiten einen Schulabschluss nachzuholen, Arbeit zu finden, medizinische oder therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen sind gering. Kernaussagen: Menschen sind zentrale Elemente Sozialer Systeme. Sie haben sowohl Bedürfnisse als auch Ressourcen, mit denen sie ihre Bedürfnisse befriedigen könnten. Da sie nicht alle Bedürfnisse allein befriedigen können, sind sie auf anderen Menschen angewiesen. Ihre Probleme entstehen durch mangelnde Ressourcen, die zu dauerhaft mangelnder Bedürfnisbefriedigung führen können und deshalb gleichzeitig durch dauerhaft mangelnde Bedürfnisbefriedigung. Die Züricher Schule sieht Menschen nicht nur als Einzelnen, sondern auch in ihren Verhältnissen mit ihrem sozialen Umfeld und im allgemein gesellschaftlichen Kontext. Um Adressat/innen Sozialer Arbeit zu helfen, müssen sich Sozialarbeiter/innen verschiedene Kompetenzen aneignen: 1. Reflexion über ihre Grundpositionen bzgl. ihrer Menschenbilder, ihrer Gesellschaftsbilder, 2. Reflexionen über menschliche Ausstattung und Bedürfnisse, über ihre Probleme, über soziale Interaktionen und die damit verbundene Machtthematik, 3. Umsetzung der handlungsrelevanten Konzepte bzgl. der W-Fragen im Zusammenhang mit verschiedenen Wissensformen und der Systemischen Denkfigur, 4. Hilfeplanung anhand all der eben erwähnen Reflexionen, Wissen und Praxiskompetenzen. In diesem Rahmen arbeiten die Sozialarbeiter/innen interdisziplinär, d.h. zusammen mit anderen Disziplinen, die den Sozialarbeiter/innen bei der Zielerreichung unterstützen. Die eben beschriebenen Ansprüche an die Soziale Arbeit setzt die Züricher Schule als eins der Ziele für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit (Staub-Bernasconi 2002, 253). 38 3.2.3 Gegenstand Sozialer Arbeit Basiert auf das oben beschriebene Menschenbild, Gesellschaftsbild und auf ihre Kernaussagen geht die Züricher Schule aus, dass „Individuen als Komponenten sozialer Systeme bzw. soziale Systeme mit Individuen als Komponenten“ und ihre Probleme in allen Formen zum Gegenstand Sozialer Arbeit gehören (StaubBernasconi 2007, 134, Geiser 2007, ff & 310, Obrecht 2001, 94ff) 3.2.4 Funktion oder Auftrag Sozialer Arbeit Aus Sicht der Züricher Schule besteht die Funktion der Sozialen Arbeit zum einen darin, den einzelnen Menschen zu unterstützen, seine Bedürfnisse auf Basis von Gerechtigkeitskriterien zu befriedigen und seine Ressourcen zur selbsttätigen Bedürfnisbefriedigung soweit wie möglich zu mobilisieren. Zum andern soll die Soziale Arbeit auf der (sozial)politischen Ebene mitwirken, um menschgerechte Lebensbedingungen und entsprechende gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen (Staub-Bernasconi 2002, 254). Das bedeutet, dass die Soziale Arbeit sowohl einen individuums- wie auch einen gesellschaftsbezogenen Auftrag zu erfüllen hat – hier wird eine große Nähe zur Sichtweise des lebensweltorientierten Konzepts deutlich. 3.2.5 Praxisrelevanz (Methoden professionelles Handelns; Beitrag zur Praxis; handlungsleitend) Obrecht, Staub-Bernasconi und Geiser arbeiten seit vielen Jahrzehnten an der ontologischen Systemtheorie nicht nur für eine Gesellschaftsbeschreibung. Vielmehr möchten sie das Ziel erreichen, eine wissenschaftsbasierte und an Ethik orientierte Handlungstheorie für eine professionelle Soziale Arbeit zu formulieren. Die Handlungstheorie basiert auf der oben erläuterten Grundposition, die aus ihrem Gesellschaftsbild und Menschenbild besteht sowie auf den genannten Bausteinen der Theorie menschlicher Ausstattung und menschlicher Bedürfnisse, der Theorie Sozialer Systeme, dem Verständnis von Macht und sozialen Problemen. Die Handlungstheorie bietet den Sozialarbeiter/innen einen Handlungsrahmen, mit dem sie Informationen von Adressat/innen systematisch erfassen können, anhand dessen sie Probleme und Ressourcen von Adressat/innen analysieren und den Hilfeprozess planen können. „Innerhalb des systemischen Paradigmas muss aufgrund einer partizipativen, d. h. von den Problembetroffenen ausgehenden Situations-, Problem- und Ressourcenerfassung zuerst entschieden werden, im Rahmen und Auftrag welcher Individuen und sozialen Systeme gearbeitet werden soll. Ein Spezifikum Sozialer Arbeit ist ihr ,mehrniveaunales‘ und ,mehrsystemisches‘ 39 Interventionsspektrum. Die Wahl der Arbeitsziele und Methoden richtet sich nach den identifizierten sozialen Problemen von Individuen oder/und sozialen Systemen unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale und Ressourcen der gewählten Interventionsebene(n) und Systeme.“ (Staub-Bernasconi 2002, 255) In diesem Kontext sind das Konzept der „systemischen Denkfigur“ und das Konzept der „W-Fragen“ zu erläutern. Denn diese sind die zentralen Instrumente zur Analyse von Ressourcen und Problemen der Adressat/innen. Systemische Denkfigur: Die Systemische Denkfigur wurde unter dem Namen „prozessuale systemische Denkfigur“ zuerst von Staub-Bernasconi in ihrer Dissertation im Jahr 1980 entwickelt. Geiser hat dieses Konzept als „Systemische Denkfigur (SDF)“ weiterentwickelt. Es handelt sich um eine systematische Darstellung aller Schritte - von der theoretischen Grundlage bis zur konkreten Umsetzung von Maßnahmen, die die Fachkräfte im gesamten Interventionsprozess begleitet. Um die beiden Konzepte praxisnah darstellen zu können, werden wir sie anhand des folgenden Beispiels erläutern. Fall: Minh ist 10 Jahre alt und besucht die 5. Klasse. Er spricht sehr gut Deutsch, aber kaum Vietnamesisch. Er ist in Deutschland geboren. Seine Eltern leben seit 15 Jahren in Deutschland. Minh spricht und versteht viel weniger Vietnamesisch als Deutsch und umgekehrt sprechen und verstehen seine Eltern viel weniger Deutsch als Vietnamesisch. Aus diesem Grund verstehen Minh und seine Eltern einander sehr schlecht. Minh wohnt mit seinen Eltern in einer engen Wohnung in einem armen Wohnviertel der Stadt München. Minh wird sehr schnell wütend in Konfliktsituationen in der Schule. Seine Lehrer/innen wissen nicht mehr, was sie machen sollen, damit Minh sich verbessert. Eine deutsche Sozialarbeiterin wurde beauftragt, Minh und seine Eltern zu unterstützen, damit sie ihre eigenen Lösungen finden können. Im Kern besteht die Systemische Denkfigur aus den drei folgenden Bausteinen: a. Analyse der Individuen (anhand der Ausstattungskategorien) b. Analyse der sozialen Beziehungen zwischen den Individuen (b.1. Austauschbeziehung – horizontal strukturierte Beziehung und b.2. Machtbeziehung – vertikal strukturierte Beziehung) c. Werte und Wertprobleme (Problem- und Ressourcenbestimmung in Bezug auf a. und b.) 40 a. Analyse der Individuen (anhand der Ausstattungskategorien) Hier nutzt man die Ausstattungskategorien, die im Abschnitt „Kernbegriffe“ behandelt wurden, um zu beschreiben, über welche Ausstattung die Adressat/innen verfügen, bzw. welche Ressourcen und welche Ausstattungsdefizite vorhanden sind, die zu Ausstattungsproblemen führen. Sinnvoll ist es auch, die Ausstattung von Helfer/innen zu analysieren, denn auch sie gehören zum problemrelevanten System. In der Phase der Ausstattungsanalyse ist so vorzugehen, dass alle Informationen aufzuschreiben sind, die man als Fakten von Adressat/innen oder ihren Nahestehenden erhalten hat. Was nicht in Erfahrung gebracht werden konnte, aber relevant für die Lösungsfindung ist, könnte man als offene Fragen notieren. Wenn man z.B. Minhs Ausstattung analysiert, dann gewinnt man folgende systematisierte Informationen über Minh: 1. Körperliche Ausstattung: Minh ist eine Junge im Alter von 10 Jahren. Er sieht gut aus. 2. Ausstattung für die Informationsaufnahme: Es liegt keine Diagnose über Behinderungen vor. Daher kann man zuerst einmal davon ausgehen, dass Minh Informationen durch seine Sinnesorgane aufnehmen kann. 3. Ausstattung mit Erkenntnis- und Erlebniskompetenzen: Minh spricht sehr gut Deutsch, aber kaum Vietnamesisch (Sprache, Artikulationsfähigkeit). Er besucht zur Zeit die 5. Klasse. Da Minh 10 Jahre alt ist und die 5. Klasse besucht, kann von einer normalen Geistesentwicklung ausgegangen werden, solange sich nicht gegenteilige Erkenntnisse ergeben - Informationsverarbeitung (wahrnehmen, denken, lernen) und Wissen. Da Minh in Konfliktsituationen sehr schnell wütend wird, stellt sich die Frage, wie gut er seine stresserregenden Erlebnisse und die damit verbundenen negativen Gefühle verarbeiten kann. Das Fallbeispiel lässt weiterhin vermuten, dass Minh und seine Eltern einander auf der sprachlichen Ebene sehr schlecht verstehen. 4. Ausstattung mit Handlungskompetenzen: Da Minh sehr schnell wütend in Konfliktsituationen wird, ist in dieser Kategorie die Frage, wie Minh mit Konflikten umgeht. Da Minh und seine Eltern einander sehr schlecht verstehen, könnte es sein, dass Minh deshalb zu Hause nicht viel mit seinen Eltern über Schulprobleme spricht. Weiterhin stellt sich die Frage, wie er damit umgeht, wenn er seine Eltern nicht 41 versteht. Weitere relevante Fragen sind: Was macht Minh zu Hause nach der Schule? Liest er oder spielt er mit dem Computer? 5. Soziale Ausstattung: sozioökonomische Ausstattung: Minh ist in der 5. Klasse. Bekommt er genug Taschengeld? sozioökologische Ausstattung: Minh wohnt mit seinen Eltern in einer engen Wohnung, in einem armen Wohnviertel. soziokulturelle Ausstattung: Minhs Eltern sind in Vietnam geboren und Minh ist in Deutschland geboren. Er spricht mehr Deutsch als Vietnamesisch. Mitgliedschaften: Minh ist in der Schule, d.h. er hat Kontakte zu anderen gleichaltrigen Kindern und zu seinen Lehrer/innen. Hat er viele Freunde (deutsche und vietnamesische Freunde), mit denen er außerhalb der Schule Freizeit verbringt? Hat er seine Großeltern in seiner Nähe? Er hat eine Sozialarbeiterin, die sich um ihn kümmert. b. Analyse von sozialen Beziehungen zwischen den Individuen: Ressourcen und Probleme sind keine unveränderbaren, für immer gültigen Fakten im Leben eines einzelnen Menschen. Sie verändern sich vielmehr in Beziehung zu anderen Menschen. Daher wäre eine Ressourcen- und Problemanalyse einseitig und im Ergebnis verzerrt ohne eine Beziehungsanalyse (Geiser 2007, 151ff). Dabei geht es um zwei Aspekte: sowohl um die Austauschbeziehung, die idealtypisch horizontal strukturiert ist, als auch um die Machtbeziehung, die idealtypisch vertikal strukturiert ist. Wir sprechen von „idealtypisch“ sprechen, liegt daran, dass da es um Muster geht, die extrem unrealistisch sind, wie z.B. eine völlig symmetrische Beziehung oder ein Machtverhältnis, in dem eine Person der anderen vollkommen überlegen ist. Im Rahmen einer Beziehungsanalyse findet aber eine Orientierung an diesen idealtypischen Mustern statt (Geiser 2007, 184ff). b.1. Austauschbeziehung – horizontal strukturierte Beziehung Die Austauschbeziehung richtet sich an einer Interaktionsstruktur, die wir bereits im Abschnitt „Definition sozialer Probleme“ behandelt haben. Wie oben erwähnt geht es hier eher um symmetrische Interaktionen, also um ein Geben-und-Nehmen. Anhand von vier Ausstattungskategorien (abgesehen von der Ausstattung zur Informationsaufnahme) in der Individuumsanalyse kann man die Austauschbeziehung zwischen zwei Personen wie in der unteren Graphik analysieren. So ergeben sich vier Bereiche des Austausches: 42 1. Ko-reflexion, Kommunikation: Wenn zwei Personen miteinander kommunizieren und gemeinsam anhand eines Themas denken oder lernen, dann entsteht eine Austauschbeziehung zwischen ihnen. Das passiert auf der Ebene der Ausstattung mit Erkenntnis- und Erlebniskompetenzen. In dem Fall der vietnamesischen Familie verstehen sich Minh und seine Eltern aus sprachlichen Gründen sehr schlecht. Das heißt, sie haben Austauschprobleme. 2. Ko-operation, Ko-produktion: Hier arbeiten zwei Personen gemeinsam an einem Ergebnis (eine Mahlzeit, Wohnungsaufräumen, ein gemeinsames Projekt oder Produkt usw.). Das findet auf der Handlungsebene statt. 3. Körperlicher Austausch: Der körperliche Austausch findet zwischen Liebenden als sexuelle Aktivität statt, zwischen Freunden oder zwischen Eltern und Kindern als liebevolle Berührung wie Umarmung, Streicheln usw. 4. Gütertausch: Der Gütertausch findet auf der Ebene sozialer Ausstattung statt. In der Regel wird materielle Ausstattung ausgetauscht, z.B. Geld, Gegenstände, Wohnungen, Autos, aber auch Zeit. (Geiser 2007, 193ff) Graphik 5: Soziale Systeme bzw. soziale Beziehungen, Austauschbeziehungen (formal horizontale Systeme) (in Anlehnung an der Graphik: Geiser 2007, 192) Kommunikation, Koreflexion Kooperation Person A Koproduktion Person B Kontakt i.e.S. Berührungen, Sexualität Güteraustausch b.2. Machtbeziehung – vertikal strukturierte Beziehung Der Machtbegriff wird im Allgemeinen eher im negativen Sinne gebraucht, d.h. die Wirkung von Macht wird in der Regel als negativ eingeordnet, z.B. die Macht des Chefs, wenn sie sich darin äußert, dass er seine Ideen gegenüber seinen Mitarbeiter/innen zu seinen Gunsten durchsetzt. Das gilt ebenso für die Macht des Ehemannes, wenn sie darin zum Ausdruck kommt, dass er seine Frau und seine Kinder schlägt und in der Familie das Sagen hat. 43 Die Theoretiker/innen der Züricher Schule vertreten aber einen neutralen Machtbegriff, d.h. Macht kann nach ihrem Verständnis sowohl negativ als auch positiv sein. Es kommt darauf an, ob Macht legitim oder illegitim ist, wie wir es bereits im Abschnitt „Definition sozialer Probleme“ ausgeführt haben. Ähnlich wie bei der Analyse der Austauschbeziehung wird die Beziehung von zwei Personen unter die Lupe genommen. Die Analyse der Machtbeziehung fragt diesmal aber nach der Ausstattung der beiden Personen unter dem Aspekt ihrer Machtquellen, sie prüft die Ausstattung daraufhin, ob eine bestimmte Ausstattung Vorteile bringt oder ob eine fehlende Ausstattung Nachteile mit sich bringt. In der folgenden Tabelle werden die Macht- und Austauschformen in sozialen Beziehungen zwischen Individuen einander gegenübergestellt.: Tabelle 4: Ausstattung als Machtquellen Körperliche Ausstattung Ausstattung mit Erlebnis- und Erkenntniskompetenzen Ausstattung mit Handlungskompetenzen Machtformen Machtbeziehung Austauschformen in der Austauschbeziehung Asymmetrische soziale Beziehungen im Sinne einer behindernden, ungerechten Machtbeziehung Symmetrisch soziale Beziehungen im Sinne eines gerechten Austausches Körpermacht Wer verfügt in der Beziehung über so viel physische Kraft, dass er andere damit bedrohen und durch Gewaltanwendung verletzten kann? Die Körpermacht kann auch durch den Körperentzug zum Ausdruck kommen, z.B. wenn Massen von Arbeiter/innen demonstrativ nicht zur Arbeit gehen, um zu streiken. Modellmacht und Definitionsmacht: Die Möglichkeit, andere mit Wissen und eigenen Ideen zu überzeugen und sie auch gegen Widerstand durchzusetzen und andere von sich abhängig zu machen. Wer unterliegt mit seinem Wissen und seinen Ideen? Artikulationsmacht (bezogen auf Sprach- und Ausdrucksfähigkeit) Körperkontakte, Zärtlichkeiten, Sexualität Haben die Akteure Körperkontakte miteinander, wenn ja, welcher Art sind sie? Organisations- und Positionsmacht: Die Chance, über Menschen zu entscheiden, Beziehungen zu knüpfen und sie für die eigenen Interessen und Bedürfnisse zu nutzen. Wer hat die Möglichkeit andere an Handlungen zu Kooperation: sich miteinander verständigen (Kommunikation), etwas, was Menschen miteinander gemeinsam tun und teilen. Welche Aktivitäten teilen Familienmitglieder Kommunikation, Austausch von Informationen, Wissen, Gefühlen und Erkenntnissen: Worüber und wie tauschen sich die Akteure aus, wie beurteilen die Akteure ihre Beziehung zueinander? 44 Soziale Ausstattung hindern oder zu Handlungen zu zwingen und Bewegungsfreiheit gewähren oder zu verweigern? Wer muss sich Anweisungen unterordnen? Ressourcen- oder Gütermacht: Wer verfügt über Güter und Ressourcen, um sie künstlich zu verknappen, sie anderen vorzuenthalten und Abhängigkeiten zu schaffen? Und wem fehlen die existenznotwendigen Güter? miteinander? Was ist es, was sie gemeinsam produzieren, wie ist die Arbeitsteilung geregelt? Güteraustausch, Austausch von Kapital und Besitz: Wer gibt wem was, wer erhält was von wem? (In Anlehnung an Sagebiel 2009, 122f) In dem Beispiel der vietnamesischen Familie geht aus der Perspektive der Artikulationsmacht hervor, dass Minh seinem Vater im Alltagsleben in Deutschland überlegen ist, weil die Familie für das Leben in Deutschland deutsche Sprachkenntnisse braucht. Wenn die Familie in Vietnam zum Verwandtschaftsbesuch ist, dann ist Minh in der vietnamesischen Sprache seinem Vater unterlegen. Es geht hier nicht um die Frage, wer besser oder schlechter ist, sondern um eine Beziehungsbeschreibung, die zu einer wissenschaftsbasierten Bestimmung von Ressourcen und Problemen der Adressat/innen beiträgt. Graphik 6: Machtbeziehungen (formal vertikale Systeme), in Anlehnung an der Graphik Geiser 2007, 215 45 Positions- bzw. Organisationsmacht Artikulationsmacht Modellmacht Körpermacht Gütertmacht c. Problem- und Ressourcenbestimmung In diesem Schritt geht es darum, anhand der Analyse von Individuen, ihren sozialen Beziehungen und ihren Bedürfnissen, zu bestimmen, mit welchen Problemen die Adressat/innen gerade konfrontiert sind. Sozialarbeiter/innen müssen begründen, warum ihre Adressat/innen bestimmte Probleme haben. Mit folgenden Schritten kann man aus Sicht der Züricher Schule zu einer fundierten Begründung kommen (Geiser 2007, 251): Nach den Werturteilen der Adressat/innen (was ist ihnen wichtig?) fragen. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Adressat/innen an dem Lösungsprozess selbst teilnehmen bzw. partizipieren können und ihre Probleme selbst lösen können. In dem Fall, dass die Adressat/innen kein Problem sehen, die Sozialarbeiter/innen und Fachkräfte anderer Disziplinen jedoch gefährdende Diagnosen stellen, sind die Sozialarbeiter/innen trotzdem beauftragt, zugunsten der Adressat/innen ihre Arbeit weiter zu führen. Wissen über Normen und Standards mithilfe folgender Fragen: Welche Werte sind nicht realisiert? Was ist gut? Was ist nicht gut? Was sollte sein? 46 Feststellung von Differenzen zwischen Ist- und Sollwerten: Welche Bedürfnisse der Adressat/innen sind (bisher) nicht gewährleistet worden? Fachliche fundierte Einschätzung der Situation Die vier Schritte zur Problem- und Ressourcenbestimmung Bei diesem Schritt geht es um eine Diskussion um Werte und Wertprobleme, was bereits im Abschnitt „Kriterien- und Werteprobleme“ behandelt wurde. Es wirkt eine einfache Diskussion zu sein, denn es sollte eigentlich für alle Menschen klar sein, wann anerkannte gesellschaftliche Werte, Normen und Standards verletzt werden. Allerdings ist es im Alltagsleben nicht immer so einfach, klar zu erkennen, was ein Bedürfnis oder ein legitimer Wunsch ist, vor allem wenn Bedürfnis selbst zu erkennen und zu formulieren nicht selbstverständlich zur Kindererziehung gehört. Es ist auch nicht einfach zu erkennen, wo die Grenze bei der Bedürfnisbefriedigung und bei der Wunscherfüllung ist, d.h. wie man auf einer gerechten Basis, also ohne die anderen dabei zu beeinträchtigen, seine Bedürfnisse zu befriedigen oder seine Wünsche zu erfüllen. Gerade dieses Problem löst hauptsächlich zwischenmenschliche Konflikte aus, wie bereits im Abschnitt über Bedürfnisse erwähnt. Werte und Wertprobleme innerhalb eines Kulturkreises und zwischen verschiedenen Kulturkreisen ist bekanntlich immer und überall ein heiß diskutiertes Thema. Diese Schritte zur Problem- und Ressourcenbestimmung können aus Sicht von Geiser in der folgenden Tabelle zusammengefasst werden. Manche Formulierungen wurden im Hinblick auf die Übersetzung ins Vietnamesisch modifiziert: Tabelle 5: Handlungsregel 1.Wertabweichung feststellen Feststellung von Differenz zwischen Ist- und Sollzustand (Ist = faktischer Zustand, Soll = der Zustand, in dem Bedürfnisse befriedigt sind – im Zusammenhang mit der Bedürfnistheorie) Handlungstheoretischer Beschreibung der Vorgang Differenz zwischen Soll- und Ist-Zustand 2.Werturteil formulieren Formulierung von Werturteil, d.h. ob und welche Bedürfnisse der Adressat/innen bei den formulierten IstSoll-Differenzen nicht befriedigt werden (Was ist gut, was ist nicht gut? Welche Bedürfnisse bleiben dauerhaft nicht befriedigt?) Erhebung der Beschreibungen durch Adressat/innen und 3.Problem bestimmen Bestimmung von Problemen (biologisch, chemischphysikalisch, psychisch oder sozial?) Problemformulierung, fachliche fundierte Einschätzung der 47 Theoretische Grundlagen für das professionelle Handeln Kenntnisse von Werten andere Bedürfnistheorie Professionelle Werte und Berufskodex Gesellschaftlich legitimierte Werte (Menschenrechte, Gesetze, Verfassung) Situation Theorie sozialer Probleme (In Anlehnung an Geiser 2007, 265) W-Fragen: Wie können nun Sozialarbeiter/innen die Systemische Denkfigur in einem Hilfeprozess konkret anwenden? Die Antwort der Züricher Schule auf diese Frage ist, dass man die Systemische Denkfigur in die W-Fragen integriert. Weil man mit den W-Fragen einen systematischen Ablauf eines Hilfeprozesses gestalten kann, indem die Sozialarbeiter/innen mit der „Systemischen Denkfigur“ und mit den „W-Fragen“ Informationen seitens der Adressat/innen, Drittpersonen (Familienangehörigen, Freunde, Nachbaren), Expert/innen (Psycholog/innen, Ärzt/innen usw.) und ihre eigenen Beobachtungen der Sozialarbeiter/innen systematisieren können (vgl. Sagebiel 2012, 103ff). Dass die W-Fragen von verschiedenen Personen beantwortet werden können, kennzeichnet Geiser als die Vervielfachung der W-Fragen (Geiser 2007, 304). Last but not least: die W-Fragen wurden von der Züricher Schule nicht willkürlich gewählt und sortiert. Vielmehr steht dahinter die Idee einer systematischen und wissenschaftlich begründeten Reihenfolge der W-Fragen, die eng mit den verschiedenen Wissensformen zusammenhängen (Staub-Bernasconi 2007, 204f, Geiser et al 2009, 274 , Obrecht 2001, 71). In der folgenden Tabelle werden die W-Fragen in einen Zusammenhang mit den Wissensformen und mit einem strukturierten Ablauf für eine Hilfeplanung gebracht. Sie wurde von uns in Anlehnung an Geiser (2007, 292ff; 304ff; 349) erstellt: Tabelle 6: Phase 1: Situationsanalyse Beschreibungs- 1. Was ist los? Wer ist daran beteiligt oder wer gehört zum wissen Sozialnetzwerk der Zentralperson? Wo ist passiert? Wann ist passiert? Mithilfe der Systemischen Denkfigur, vor allem anhand der Analyse des Individuums und seiner sozialen Beziehungen, wird die gegenwärtige Situation der Adressat/innen beschrieben. Ziel ist, dass die Sozialarbeiter/innen möglichst ein vollständiges Bild von den Adressat/innen als Grundlage für weitere Schritte bekommen. 48 Beschreibungs- 2. Woher? (Vorgeschichte) wissen Es geht hier um die Ereignisse in der Vergangenheit, um die Entstehungsprozesse der Probleme von Adressat/innen zu verstehen. D.h. man kann hier einen Ausschnitt der Vergangenheit, der unmittelbar mit der Gegenwart zu tun hat, beschreiben, oder man kann auch mit den Adressat/innen ihre relevanten biographischen Daten besprechen. Erklärungs3. Warum ist das so? wissen Mit der Warum-Frage versucht man zu Erklärungen zu kommen, warum die Adressat/innen sich in einem problematischen Zustand befinden. Die Erklärungen können interdisziplinär sein, d.h. zusammengestellt durch Fachkräfte aus verschiedenen Disziplinen (Ärzt/innen (physisch, biologisch, chemisch), Psycholog/innen (psychologisch), Soziolog/innen (sozial, kulturell), Juristen (rechtlich) usw. Daher spricht die Züricher Schule von der Bedeutung der Bezugswissenschaften in der Sozialen Arbeit und in der Sozialarbeitswissenschaft. Phase 2: Bewertung und Problemdefinition Wertwissen 4. Was ist gut? Diese Frage fragt danach, was der Sollwert ist. Die Antwort darauf basiert auf der Grundlage der Theorie menschlicher Bedürfnisse. (s. Problemund Ressourcenbestimmung) Zukunftsbilder 5. Wohin im Fall ohne Intervention? (Prognose) Formulierung von Zukunftsbildern: Was passiert in der näheren Zukunft, wenn Herr A, Frau B oder das Kind X nicht in Richtung auf positive Veränderungen unterstützt wird? Die Wohin-Frage dient dazu, die Dringlichkeit der gegenwärtigen problematischen Situation zu verdeutlichen bzw. die zukünftigen Risiken einzuschätzen. Problemwissen 6. Was ist nicht gut? Was ist das Problem? Diese Frage richtet sich danach, welcher Wert nicht erfüllt wird. Die Antwort darauf basiert auch auf der Grundlage der Theorie menschlicher Bedürfnisse. (s. Problem- und Ressourcenbestimmung) Zwischenschritt: Zusammenfassung der Problem- und Ressourcenbeschreibung (keine WFragen) Beschreibung der aktuellen Situation (Hauptdaten) Probleme Ressourcen im Hinblick auf die Problemlösung Priorisierung der Probleme Phase 3: Zielsetzung und Planung Zielwissen 7. Woraufhin? Mit dieser Frage werden die Ziele gemeinsam mit den Adressat/innen formuliert. Um angemessene Ziele zu finden und zu formulieren, richtet man sich nach der Antwort auf die Frage, was gut ist. Interventions8. Wie kann das Problem gelöst werden? wissen Mit dieser Frage sucht man angemessene Methoden, um die (Interventionsformulierten Ziele umzusetzen. theorie, Pläne, 49 Fertigkeiten Wissen über Ressourcen Wissen über Handelnde 9. Womit kann das Problem gelöst werden? Bei dieser Frage geht es um die Mittel, mit denen die Ziele umgesetzt werden können, dafür wird nach den vorhandenen Ressourcen der Adressat/innen und der Hilfestruktur (Einrichtungen, Krankenhäuser, Expert/innen) gesucht, was häufig bereits über die Was-Frage geklärt wurde. 10. Wer könnte bei der Problemlösung mitwirken? Diese Frage richtet sich besonders auf das Sozialnetzwerk der Adressat/innen, dazu zählen sowohl Menschen in ihrem nahen Lebensumfeld wie Familienangehörige, Freunde, Nachbarn als auch Akteure professioneller Hilfen. Phase 4: Entscheidung und Implementierung des Planes Wissen über 11. Welche Entscheidung? Entscheidungen Eine Entscheidung über die Umsetzung des Hilfeplans muss getroffen werden. Phase 5: Realisierung: keine W-Fragen Phase 6: Evaluation Evaluations12. Was wurde vom Ziel erreicht? Was wurde nicht erreicht? wissen Es soll in regelmäßigen Zeitabständen geprüft werden, ob und inwiefern die Ziele umgesetzt wurden, anhand der folgenden drei Aspekte: Wirksamkeit konkreter Interventionen Wirtschaftlichkeit konkreter Interventionen Wünschbarkeit konkreter Interventionen Die Ergebniskontrolle dient nur dazu, die Ergebnisse der Interventionen zu kontrollieren. Das bedeutet aber nicht, dass der Hilfeprozess bei dieser Frage endet. Er läuft so lange weiter, bis neue Ziele formuliert werden und die Sozialarbeiter/innen beauftragt werden, weiter am Lösungsprozess mitzuwirken. Mit der Systemischen Denkfigur und den W-Fragen wird die ontologische Systemtheorie eine der gegenwärtigen Sozialarbeitstheorien im deutschsprachigen Raum, die die meisten konkreten und handlungsrelevanten Konzepte an die Praxis liefert. 3.2.6 Auf welchen Ebenen agiert Soziale Arbeit? Deutlicher als im lebensweltorientierten Konzept wird in der ontologischen Systemtheorie formuliert, dass Soziale Arbeit auf allen Ebenen agiert: der Mikroebene (Individuen, Team, Familie), der Mesoebene (Organisation, Einrichtungen) und der Makroebene (gesellschaftliche Struktur). Denn all diese Ebenen hängen miteinander zusammen: 50 „Aus systemischer Perspektive sind und bleiben alle individuellen und kollektiven Akteure, die in irgendeiner Weise mit dem Problem zu tun haben, also Teil des Problems und/oder seiner Lösung sind, angesprochen und soweit möglich einzubeziehen also die Problembetroffenen, Problemverursacher, soziale Bewegungen, Selbsthilfe und Aktionsgruppen, Parteien und Gewerkschaften, Justiz, sozialverantwortliche Wirtschaftsunternehmen, private wie öffentliche Träger des Sozialwesens, Nichtregierungsorganisationen usw.“ (Staub-Bernasconi 2002, 253). 3.2.7 Bewertung (Nutzen und Grenzen der Theorie) Nutzen: Die ontologische Systemtheorie bietet der Praxis Sozialer Arbeit eine fundierte Theoriegrundlage und eine Arbeitsweise, mit der Sozialarbeiter/innen ihre Aussagen wissenschaftlich begründen können. Sie bietet den Sozialarbeiter/innen auch strukturierte und konkrete Handlungskonzepte, mit denen sie die Theorie in die Praxis umsetzen können. Das Jugendamt der Stadt München mit dem staatlichen Auftrag des Kinderschutzes wendet diese Handlungskonzepte seit 2004 im Hilfeplanverfahren an (Sagebiel/ Vlecken 2005). Grenzen: Die ontologische Systemtheorie ist ein großes Theoriegebäude. Es kostet Student/innen und Fachkräfte große Mühen, sie zu verstehen und in die Praxis umzusetzen. Das bedeutet auch für Dozent/innen eine große Herausforderung bei der Vermittlung dieser Theorie. Unter anderem verlangt es von ihnen eine ausgereifte Didaktik. In der Lehre machen wir meistens dann positive Erfahrungen, wenn wir unseren Studierenden erst die konkreten Handlungskonzepte, die entsprechenden Grundbegriffe und die Kernaussagen der Theorie vermitteln und erst danach die philosophischen Grundlagen (Denktraditionen, Metatheorien, Menschenbild, Gesellschaftsbild, Ethik u.a.) mit ihnen diskutieren. Während das Lebensweltkonzept von Thiersch den Aufbau von Vertrauensbeziehungen zum Adressaten als zentrale Voraussetzung für professionelle Soziale Arbeit setzt, liegt der Fokus der ontologischen Systemtheorie in der systematischen Analyse des Individuums und der beteiligten Akteure. Beide Perspektiven sind wichtig und ergänzen einander, daher regen wir unsere Studierenden an, beide Theorien und ihre Handlungskonzepte in der Fallbearbeitung zu kombinieren. 3.2.8 Vorteile und Nachteile bei der Umsetzung in Vietnam Vorteile: Mit ihren strukturierten und konkreten Handlungskonzepten bietet die ontologische Systemtheorie den Theorienutzer/innen auch einen pragmatischen Zugang, der in 51 konkreten Workshops mit Lehrkräften und Studierenden in Vietnam sehr interessiert aufgenommen wurde. Diese Erfahrungen lassen hoffen, dass diese Theorie auf positive Resonanz in der Ausbildung und der Praxis der Sozialen Arbeit in Vietnam stößt. Im Wissenschaftsdiskurs wie auch im professionspolitischen Diskurs in Vietnam herrscht Konsens darüber, die Disziplin entlang internationaler Standards weiterzuentwickeln, wie sie von der IFSW und der IASSW vorgelegt wurden: „Soziale Arbeit als Beruf fördert den sozialen Wandel und die Lösung von Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen, und sie befähigt die Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift soziale Arbeit dort ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.“ (http://www.ifsw.org/p38000409.html, page last updated on 17.10.2005) Hier findet man die Gemeinsamkeit zwischen der ontologischen Systemtheorie, der Definition Sozialer Arbeit der IFSW und der Orientierung der gegenwärtigen Sozialen Arbeit in Vietnam: Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession. Wie oben ausführlich behandelt, sieht die Züricher Schule die Umsetzung der Menschenrechte in der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und legitimer Wünsche. In Bezug auf menschliche Bedürfnisse könnten Fachkräfte in Vietnam ihren Adressat/innen helfen, in einer ihnen angemessenen Weise ihr Menschenbild, ihr Verständnis menschlicher Bedürfnisse zu ändern: weg von dem von Konfuzianismus geprägten Blick, der Menschen eher in ihrer Funktionsfähigkeit sieht hin zu einem Blick auf Menschen mit lebensnotwendigen Bedürfnissen. Aus der Definition Sozialer Arbeit von Vietnam: „Công tác xã hội là một hoạt động có tính phát triển cao dựa trên những phương pháp và nguyên lý đặc biệt với mục đích hỗ trợ các cá nhân, nhóm người, cộng đồng giải quyết các vấn đề xã hội – vì thế công tác xã hội có nhiệm vụ là vì hạnh phúc của người dân và bình an của xã hội. (Unicef Vietnam 2008, S. 7)“ kann man die Maxime „Hilfe zur Selbsthilfe“ herauslesen: „Individuen, Gruppen und Communities bei der Lösung ‚sozialer Probleme‘ zu unterstützen.“ Dieses Prinzip setzt voraus, dass die Fachkräfte in der Lage sind, mit ihren Adressat/innen relevante Ressourcen für den Lösungsprozess zu analysieren. Dafür liefert die ontologische Systemtheorie konkrete Handlungskonzepte, die „Systemische Denkfigur“ und die „W-Fragen“. Nachteile oder Herausforderungen: Obwohl wir gute Erfahrung in der Theorievermittlung mit vietnamesischen Student/innen und Lehrkräften in Vietnam machen konnten, kann der „Vorwurf“, diese Theorie sei sehr kompliziert und schwer zu verstehen, nicht ganz von der Hand gewiesen werden. Diese Kritik hören wir auch von unseren Studierenden. Doch dem 52 kann entgegen gehalten werden: Komplexe Multiproblemlagen – und die sind unser Alltagsgeschäft – verlangen eine theoretische Abbildung, die genau dieser Komplexität Rechnung trägt. Eine Verkürzung auf Problemausschnitte wie Krankheit, Gender, Arbeitslosigkeit, Jugendkriminalität würde dem Gegenstand der Sozialen Arbeit in keiner Weise gerecht. Nur eine Theorie, die diese Komplexität abbildet, kann den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Sozialen Arbeit genügen. Die stringente Systematik dieser Systemtheorie ermöglicht die Reduktion auf handlungsrelevante Ausschnitte und macht sie attraktiv für Studierende und Praktiker/innen, die einen Pfad durch den Theorie-Praxis-Dschungel suchen. Eine weitere Hürde stellt auch die Übersetzungsmöglichkeit bzw. Übersetzungsunmöglichkeit von wissenschaftstheoretischen Begriffen dar, für die es keine direkte Übertragung in die vietnamesische Sprache gibt. Weitere Herausforderungen für einen Transfer nach Vietnam sind die kulturellen und historischen Differenzen, die der Diskurs über Bedürfnisse, Wünsche und Menschenrechte auslöst. In der philosophischen Tradition der europäischen Aufklärung bilden Menschenrechte und Individualität eine zentrale Kategorie, während die philosophische Tradition Asiens das Kollektiv (die Funktion des Einzelnen für das Kollektiv) und die Harmonie in der Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellen. 3.3 Zusammenfassung Wir haben versucht, Soziale Arbeit als eine allgemeine, normative Handlungswissenschaft am Beispiel von zwei Theorien der Sozialen Arbeit vorzustellen. „Allgemein, da das Wissen für alle Bereiche der Sozialen Arbeit qualifiziert, und normativ, weil es wertebegründend und handlungsorientiert ist, und wissenschaftlich, weil Wissen der Lösung von sozialen Problemen dient“ (Sagebiel 2010, 53). Und soziale Probleme sind das Ergebnis der systemischen Wechselwirkung von menschlichem Leiden und gesellschaftlichen Bedingungen und Machtstrukturen. Angesichts dieser Komplexität und der Abhängigkeit der Profession von den ökonomischen Verhältnissen, der Sozialpolitik und den soziokulturellen Strukturen und der Abhängigkeit vom Willen und Wollen der Adressaten sollten wir uns der Begrenztheit der Wirkung unseres Handelns immer bewusst sein. „Niemand kann einen anderen dadurch stark machen, dass er für diesen anderen arbeitet. Niemand kann ihn dadurch zum Denken veranlassen, dass er für den anderen denkt“ (Salomon 1926). 53 4 Literaturverzeichnis: Alinsky, Saul (1999): Anleitung zum Mächtigsein. Ausgewählte Schriften. (Deutsche Übersetzung von Reveille for Radicals), Göttingen, Lamuv Verlag, 2. Auflage (Rules for Radicals. A practical Primer for realistic Radicals. Reprint. Vintage Books, New York NY 1989, Erstausgabe 1971)). Borrmann, Stefan (2006): Soziale Arbeit mit rechten Jugendcliquen. Grundlagen zur Konzeptentwicklung, Wiesbaden, VS Verlag Bunge, Mario/ Mahner, Martin (2004): Über die Natur der Dinge. 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(2008): Khung kỹ thuật phát triển công tác xã hội, Hà Nội, Nhà xuất bản thống kê (Rahmenprogramm zur Entwicklung der Sozialen Arbeit, Hanoi, Statistikverlag), S. 5-26 56 Anhang Abb. 73: Übersicht über den Zusammenhang zwischen Bedürfnissen, Werten, Menschenrechten und –pflichten (Borrmann 2006, 195ff) Tabelle 7: Bedürfnisse Theorie menschlicher Bedürfnisse nach Obrecht (1998) Bedürfnis nach physischer Integrität Werte UN-Manual (Centre for Human Rights 1994) - Leben - Abwesenheit von Gewalt - Freiheit - Mensch-NaturVerhälnis Menschenrechte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und Bund (1989: 396) Menschenpflicht Bunge (1989: 396) - Recht auf Leben und Sicherheit (3) - Verbot von Sklaverei (4) - Verbot von Folter (5) - Asylrecht (14) - Recht auf Erholung, Freizeit und Urlaub (24) - Recht auf Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Wohnung, ärztliche Betreuung und soziale Fürsorge (25) - Anspruch auf Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Wohnung, ärztliche Betreuung und soziale Fürsorge (25) - Schutz der Privatsphäre - Recht auf Arbeit (23) - Recht auf Erholung, Freizeit und Urlaub (24) - Freiheit der Eheschließung, Schutz der Familie (16) - Pflicht, anderen bei der Verwirklung ihrer Grundbedürfnisse zu helfen - Pflicht, das Gesundheitssyste m zu stützen - Pflicht, andere zu beschützen - Leben - Freiheit - Verbot von Folter (5) - - Freiheit - MenschenNatur-Verhältnis - Recht auf Teilnahme am Kulturleben (27) - Pflicht, die kreative Leistung anderer zu respektieren - Freiheit - Recht auf Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit (26) - Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben (27) - Meinungs- und Informationsfreiheit (19) - Recht auf Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit (26) - Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit (18) - Recht auf Bildung (26) - Pflicht zur intellektuellen Ehrlichkeit - Pflicht zu lernen Bedürfnis nach den für die Autopoesie erforderlichen Austauschsstoffen - Leben Bedürfnis nach Regenierung - Leben Bedürfnis nach sexueller Aktivität und Fortpflanzung Bedürfnis nach wahrnehmungsgerechter Stimulation Bedürfnis nach schönen Formen in speziellen Bereichen des Erlebens (ästhetische Bedürfnisse) Bedürfnis nach Abwechselung/ Stimulation - Leben Bedürfnis nach assimilierbarer orientierungs- und handlungsrelevanter Information Bedürfnis nach subjektiv relevanten Zielen und Hoffnung auf Erfüllung - Freiheit - - Pflicht, die Umwelt zu schützen - Pflicht der Freizeit und Ruhe der anderen zu respektieren - - Pflicht, das Wissen anderer zu teilen - Pflicht, tolerant gegenüber religiösen 57 (Bedürfnis nach Sinn) - Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit (19) - Überzeugungen zu sein - Pflicht, zu lernen und sich weiterzubilden - Leben - - Solidarität - Soziale Verantwortung - Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (22) - Anspruch auf Gesundheit & Wohlbefinden inkl. Nahrung, Wohnung, ärztliche & soziale Betreuung, Fürsorge (25) - Verbot von Sklaverei (4) - Anerkennung als Rechtsperson (6) - Recht auf Staatsangehörigkeit (15) - Freiheit der Eheschließung, Schutz der Familie (16) - Versammlungs- und Vereinsrecht (20) - Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit (18) - Wahlrecht (21) - Verbot der Diskriminierung nach Rasse, Geschlecht, Religion, politische Überzeugung (2) - Anerkennung als Rechtsperson (6) - Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit (3) - Verbot von Sklaverei (4) - Auswanderungsfreiheit (13) - Recht auf individuelles und gemeinschaftliches Eigentum (17) - Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit (18) - Verbot der Diskriminierung nach Rasse, Geschlecht, Religion, politische Überzeugung (2) - Anerkennung als Rechtsperson (6) - Recht auf Staatsangehörigkeit (15) - Wahlrecht (21) - Recht auf Arbeit (23) - Pflicht, andere zu unterstützen - Pflicht, anderen zu helfen Bedürfnis nach effektiven Fertigkeiten, Regeln und (sozialen) Normen zur Bewältigung von (wiederkehrenden) Situationen Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung Bedürfnis nach spontaner Hilfe - Gerechtigkeit - Solidarität - Soziale Verantwortung Bedürfnis nach sozialkultureller Zugehörigkeit durch Teilnahme (Mitgliedschaft in Familie, Gruppe, Gesellschaft (Sippe, Stamm, „Ethnie“, Region, Nationalstaat) - Solidarität - Soziale Verantwortung Bedürfnis nach Unverwechselbarkeit, nach biopsychosozialer Identität - Freiheit - Gleichheit Bedürfnis nach relativer Autonomie - Freiheit - Gleichheit Bedürfnis nach sozialer Anerkennung - Freiheit - Gerechtigkeit - Soziale Verantwortung - Pflicht, sich einer destruktiven Vereinigung zu entziehen - Pflicht, zu partizipieren - Pflicht, den Lebensstil und die Privatsphäre anderer zu respektieren - Pflicht die Privatsphäre anderer zu respektieren - Pflicht, den Lebensstil zu respektieren - Pflicht, Freunden gegenüber loyal zu sein - Pflicht, Menschen zu helfen, ihre eigenen Lebenspläne zu verwirklichen 58 Bedürfnis nach (Austausch)Gerechtigkeit - Gerechtigkeit - Solidarität - Recht auf Teilnahme am Kulturleben (27) - Gleichheit vor dem Gesetz (7) - Anspruch auf Rechtsschutz (8) - Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Ausweisung (9) - Anspruch auf unparteiliches Gerichtsverfahren (10) - Unschuldsvermutung, Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen (11) - Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf wirtschaftliche soziale und kulturelle Rechte (22) - Recht auf eine soziale und internationale Menschenrechte verwirklichende Ordnung (28) - Pflicht, anderen zu erlauben, ihre Chancen zu ergreifen - Pflicht, gerechte Gesetze einzuhalten - Pflicht, zu helfen 59