Einige gegenwärtige Theorien der Sozialen Arbeit im

Werbung
Einige gegenwärtige Theorien der Sozialen Arbeit im
deutschsprachigen Raum
Juliane Sagebiel/Ngan Nguyen-Meyer
1 Was ist professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit?
Um diese Frage zu beantworten, bedarf es einer Erklärung des Begriffs Profession in
Unterscheidung zu den Begriffen Arbeit und Beruf. Arbeit meint die wenig
systematische, individuelle oder kollektive Tätigkeit, die nicht auf einer Ausbildung
beruht. Arbeit kann jeder verrichten, z. B. das Haus putzen, eine Mahlzeit kochen,
Lasten tragen oder einfache Gebrauchsgegenstände herstellen. Ein Beruf hingegen
ist eine arbeitsteilige, spezialisierte Tätigkeit, die gelernt werden muss und Methoden
und Techniken erfordert. Zu nennen sind hier klassische Handwerksberufe wie der
des Bäckers, des Maurers oder des Automechanikers. Darüber hinaus gibt es
Tätigkeiten, die sich im Verlauf der Geschichte herausgebildet haben – quasi
gehobene Berufe – die eine hochspezialisierte, theoretische Ausbildung wie ein
Studium verlangen (Galuske 2001, 118). Das sind Professionen wie die des Arztes,
des Juristen, des Ingenieurs und des Sozialarbeiters. Professionen zeichnen sich
durch folgende Merkmale aus:
1. Eine theoretisch fundierte, über längere Zeit dauernde Universitätsausbildung;
2. Ihre Mitglieder sind in einer Institution organisiert (Verbände, Kammern), sie
verwalten sich selbst, indem sie Regeln für den Zugang zur Ausbildung und
zur praktischen Tätigkeit aufstellen und prüfen. Für die Ausbildungsstandards
in der Sozialen Arbeit gelten die von der International Federation of Social
Work Schools (IFSWS) empfohlenen Kriterien;
3. Sie sind an einen Code of Ehtics gebunden, dem sich alle
Professionsangehörige verpflichten. Sie sind relativ autonom, d.h. vor einer
Kontrolle durch andere, die nicht der Profession angehören, geschützt. Für die
Soziale Arbeit gelten die in der International Definition of Social Work (IFSW)
festgelegten Werte.
4. Sie genießen soziale Anerkennung in der Gesellschaft und haben einen relativ
hohen Status in der Berufshierarchie einer Gesellschaft.
5. Eine professionelle Tätigkeit verfolgt altruistische Motive, sie dient der
Allgemeinheit, indem sie sich am Wohl und der Stabilität der Gesellschaft
orientiert. Soziale Arbeit verfolgt die Ziele, Menschen bei ihren
Problemlösungen zu unterstützen, sie zu ermächtigen ihre Bedürfnisse zu
befriedigen und ihr Wohlbefinden zu verbessern und zum sozialen Wandel
beizutragen;
6. Professionen beanspruchen eine exklusive Zuständigkeit für bestimmte
Probleme in der Gesellschaft. Der historische Prozess der Durchsetzung
1
solcher Allein-Zuständigkeiten in der Hierarchie der Profession ist die
Professionalisierung. Der Prozess der Verberuflichung in der Sozialen Arbeit
von freiwilliger, ehrenamtlicher und ungelernter Tätigkeit (Arbeit) über bezahlte
Berufsarbeit bis hin zur Hochschulausbildung beschreibt die
Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Sie beansprucht die Zuständigkeit für
die Bearbeitung von sozialen Problemen.
All diese soziologischen Kriterien zur Definition von Professionen treffen auf die
Soziale Arbeit nicht im vollen Umfang in allen Ländern gleichermaßen zu. So befindet
sich z. B. der Prozess der Professionalisierung in manchen Staaten Asiens noch in
den Anfängen, während er in den USA weitgehend entwickelt ist. In Deutschland
ringt die Profession Soziale Arbeit immer noch um die soziale Anerkennung und die
Ausbildung hat noch nicht universitäres Niveau erreicht.
Doch die oben aufgeführten Kriterien lassen Rückschlüsse auf professionelles
Handeln zu. Ganz allgemein formuliert ist professionelles, sozialarbeiterisches
Handeln theoriebegründet und werteorientiert. Es ist ein auf Veränderung des
Individuums und seiner Umwelt gerichtetes Handeln.

Es ist absichtsvoll und reflektiert;

Geplant, systematisch auf die Lösung eines praktischen, sozialen Problems
gerichtet;

Es basiert auf wissenschaftlich fundierten Arbeitsweisen und Methoden;

Es beruht auf einem allgemeinen Professionswissen, das unabhängig von
bestimmten Organisationen, von bestimmten Zielgruppen, von bestimmten
Problemlagen für die Soziale Arbeit Gültigkeit hat;

Es ist durch Werte legitimiert;

Und es ist effektiv, es zeigt Wirkungen und es ist effizient, d.h. der Aufwand
steht in Relation zu den beabsichtigten Wirkungen.
Professionelles Handeln und Wissen – Praxis und Theorie – bilden eine Einheit.
Wissenschaftliches Wissen zur Beschreibung und Erklärung des sozialen Problems
und zur Begründung, warum es sich um ein Problem handelt, für das die Soziale
Arbeit zuständig ist, erzeugt und ermöglicht eine begründete Situationsdiagnose,
eine Problem- und Ressourcenbestimmung, eine wertebasierte Zielformulierung und
die Wahl geeigneter Methoden und Mittel zur Realisierung der angestrebten
Veränderung. Schließlich kann über theoretisches Wissen die Auswertung, die
Evaluation des Hilfeprozesses erfolgen.
Bevor wir auf den professionellen Hilfeprozess im Detail eingehen, bedarf es vorab
der Klärung folgender Fragen:
1) Welches wissenschaftliche Wissen ist für die Soziale Arbeit relevant?
2) Womit befasst sich Soziale Arbeit – was ist ihr Auftrag?
3) Und auf welchen Ebenen agiert die Soziale Arbeit?
2
Zur ersten Frage: Das Wissen der Sozialen Arbeit ist transdisziplinär konzipiert.
„Denn es gibt kein Problem, das nur unter Bezug auf eine Disziplin beschreiben und
erklärt werden könnte“ (Sagebiel 2010, 52). Um soziale Probleme diagnostizieren
und bearbeiten zu können, benötigen die Praktiker und Praktikerinnen
Wissensbestände aus der Soziologie, z.B. über die Gesellschaft, über soziale
Systeme, Machtverhältnisse und Geschlechterrollen. Um menschliches Verhalten,
Erleben und Motivation zu erklären, bezieht sich die Soziale Arbeit auf das Wissen
der Psychologie. Die Biologie stellt Wissen bereit, um neurologische Prozesse,
gesundheitliche Zustände und Bedürfnisse zu erkennen. Aus der Philosophie (bzw.
Kulturwissenschaft) gewinnt die Profession Erklärungen über historisch gewachsene
kulturelle und religiöse Traditionen und Lebensweisen. Zur Analyse der gegebenen
sozialpolitischen Bedingungen, unter denen Soziale Arbeit agiert, sind juristische
Kenntnisse und politisches Wissen unabdingbare Voraussetzungen. Diese
Wissensausschnitte stehen nicht unvermittelt nebeneinander, sie bedingen sich
gegenseitig. Folgendes Beispiel soll diese transdisziplinäre Verknüpfung
verdeutlichen:
Eine vietnamesische Familie, die seit 15 Jahren in Deutschland lebt, hat Probleme
mit ihrem Sohn, der in der Schule durch aggressives Verhalten auffällt. Die Eltern
sprechen nur wenig Deutsch, der Vater ist arbeitslos. Die Familie lebt von
Sozialunterstützung. Um der Familie helfen zu können, muss die deutsche
Sozialarbeiterin Kenntnisse über Migration (Soziologie) und die vietnamesische
Kultur (Kulturwissenschaften, Politik) heranziehen, sie muss wissen, welchen
Aufenthaltsstatus die Familie hat (Recht) und welche Hilfemöglichkeiten es für
Migranten gibt (Sozialpolitik). Um das Verhalten des Sohnes zu erklären und um zu
verstehen, warum er sich in welchen Situationen aggressiv verhält, bezieht sie sich
auf psychologisches Wissen.
Alles Wissen aus den genannten Disziplinen, die sich auf die Soziale Arbeit beziehen
(Bezugswissenschaften), ist handlungs-, anwendungs- und veränderungsorientiertes
Wissen. Soziale Arbeit ist eine Handlungswissenschaft, die nicht „von einem
Gegensatz zwischen Theorie und Praxis ausgeht, sondern beidem ein Verhältnis
zum Wissen unterstellt“ (Staub-Bernasconi 2007, 245). Mit anderen Worten: Theorie
braucht Wissen aus der Praxis, denn sie bezieht ihre Aussagen auf praktische
Probleme und zeigt ethisch begründete Wege auf, diese zu verändern. Und Praxis
braucht Theorie, um zu erkennen, was das Problem ist, warum es entstanden ist,
woraufhin die Situation hin verändert werden soll (Ziele) und wie und womit das
erreicht werden kann.
Zur zweiten Frage: Was ist der Auftrag der Sozialen Arbeit, für was ist sie in der
Gesellschaft zuständig? Ganz allgemein formuliert könnte man sagen: für die
Bearbeitung und Lösung von sozialen Problemen. Soziale Arbeit befasst sich also
mit solchen Problemen, die in Beziehungen entstehen, die Menschen miteinander
3
und mit ihrer Umwelt haben. Was sind nun soziale Probleme? Soziologisch kann
diese Frage beantwortet werden als vom Durchschnitt abweichende Zustände, die
von bestimmten Gruppen in der Gesellschaft, wie z.B. Politikern, Institutionen oder
Wissenschaftlern, als problematisch beurteilt werden. Ihre Beseitigung liegt im
Interesse der Betroffenen und der Gesellschaft. Solche Zustände können Armut,
Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt, Drogenmissbrauch, Kriminalität, Slumbildung oder
Korruption sein (Endruweit 2002, 416). Soziale Probleme sind normative soziale
Konstruktionen, die je nach Kultur, Lebensraum und Wertvorstellungen verschieden
definiert werden. So kann Alkoholkonsum in islamisch geprägten Ländern als
soziales Problem bewertet werden, während maßvoller Konsum in westlichen
Ländern kein soziales Problem darstellt. Hinzu kommt, dass die Definition von
sozialen Problemen einhergeht mit dem sozialen Wandel in einer Gesellschaft. Diese
– hier sehr kurz gefasste sozialkonstruktivistische Definition – basiert auf der
Annahme, dass soziale Probleme nur solche Zustände abbilden, die von den
Inhabern der Definitionsmacht (z.B. von Wissenschaftlern, Akteuren in den Medien
oder der Politik) öffentlich gemacht werden. Für die Soziale Arbeit jedoch ist diese
Definition nicht ausreichend, denn sie befasst sich neben den öffentlich anerkannten
sozialen Problemen mit dem ganz alltäglichen Leiden von Menschen. Und das sind
oft Notlagen, die keine Resonanz in den Medien finden, wie z.B. Konflikte in der
Familie, gewalttätige Erziehungsmaßnahmen, Ängste, Isolation usw. Demnach
bedarf die Definition sozialer Probleme als Gegenstand der Sozialen Arbeit (Engelke
et al 2009) einer Erweiterung. Nach Geiser (2007, 60) sind soziale Probleme
praktische Probleme eines Individuums in Bezug auf seine soziale Einbindung und
seine Position in der Gesellschaft. Das sind zum einen Probleme, die sich auf die
Interaktion mit anderen Menschen, Gruppen und Institutionen beziehen, z.B. in der
Familie, in der Nachbarschaft, mit der Schule, den Behörden. Zum anderen sind es
Probleme, die sich auf die gesellschaftliche Position beziehen. Menschen mit
bestimmten Merkmalen wie ethnische Minderheiten, Frauen, alleinstehende alte
Menschen, Arbeitslose, Behinderte genießen nur einen geringen Status in der
Gesellschaft. Diese soziale Randstellung ist ein Zustand, der weitere Probleme
verursachen kann: z. B. psychische Probleme wie Einsamkeit, Ängste,
Desintegration und biologische Probleme wie psychische Krankheiten. Auch die
physikalische und chemische Umwelt kann soziale Probleme generieren, wenn z.B.
die Wohnung oder das Haus nicht wettergeschützt ist, wenn keine ausreichenden
sanitären Anlagen zur Verfügung stehen, wenn das Dorf keinen Strom hat, die
Umwelt verschmutzt ist etc. All die genannten Probleme können sich gegenseitig
bedingen und in mehrfacher Form auftreten. Professionell sprechen wir von einer
Akkumulation der Problemlagen.
4
Soziale Probleme als Gegenstand der Sozialen Arbeit lassen sich nach StaubBernasconi (1994, 14) in vier Problemkategorien gliedern:
1. Ausstattungsprobleme: das sind Probleme, die sich auf die körperliche
(Gesundheit, Alter, Geschlecht), psychische (Erkennen Empfinden, Erleben),
ökonomische (Bildung, Arbeit, Einkommen, Position), symbolische (Werte,
Überzeugungen), Ausstattung, auf soziale Beziehungen (Familie, Freunde,
Nachbarschaft, Vereine) und die Handlungskompetenzen beziehen.
2. Austauschprobleme: das sind Probleme, die sich auf die sozialen
Beziehungen eines Individuums zu seiner Umwelt beziehen. Ist das
Tauschverhältnis ausgewogen – solidarisch, vertrauensvoll, kooperativ und
friedlich – besteht ein symmetrisches Verhältnis. Ist es hingegen
unausgewogen, besteht eine Schieflage zwischen Geben und Nehmen, dann
ist es asymmetrisch und für einen Partner nicht befriedigend.
3. Machtprobleme: das sind Probleme, die aus der sozialen Position und der
Verfügung bzw. Nichtverfügung über Ressourcen resultieren. Sie hängen mit
Ausstattungs- und Austauschproblemen ebenso wie mit den fördernden oder
behindernden Zugangsregeln zu Ressourcen in einer Gesellschaft zusammen.
4. Wertprobleme: das sind Probleme, die im Zusammenhang mit Werten,
Normen, Rechten und Pflichten, Gesetzen und Vorstellungen stehen, mit dem,
was gut und was nicht gut ist. Schlägt ein Mann Frau und Kinder, besteht ein
Wertproblem, denn er handelt gegen das Gesetz; fehlen hingegen Gesetze,
die häusliche Gewalt unter Strafe stellen, besteht auch ein Wertproblem, denn
das Grundbedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit wird nicht geschützt.
Der Auftrag der Sozialen Arbeit lässt sich in Anlehnung an die internationale
Definition der Sozialen Arbeit, wie sie von der IFSW 2000 verabschiedet wurde, wie
folgt formulieren:

Sichern der physischen, ökologischen und ökonomischen Existenz

Sichern und Verbessern der sozialen Position (Frauen und Kinder,
Benachteiligte und Kranke)

Orientierungs- und Entscheidungshilfen zu geben

Menschen zu befähigen in sozialen Beziehungen zu leben (privaten,
beruflichen und öffentlichen), die ihr Wohlbefinden fördern.

Bestehende soziale Beziehungen zu stützen und Ressourcen dafür zu
mobilisieren und, wenn diese fehlen, soziale Beziehungen zu vermitteln

In Konflikten zu vermitteln, Regeln zu vereinbaren

Soziale Probleme öffentlich zu machen (in der Kommune, in den Medien, in
der Politik)
5

Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit als ethische Werte zu verfolgen
und Solidarität mit Benachteiligten, verletzbaren und unterdrückten Gruppen
zu praktizieren.
Zur dritten Frage: Auf welchen Niveaus agiert die soziale Arbeit? Die Aktivitäten und
Interventionen der Sozialen Arbeit beziehen sich auf alle gesellschaftlichen Ebenen,
weil soziale Probleme aus den Beziehungen der Menschen untereinander
erwachsen.
Tabelle 1:
Subjektebene
Emotion und Kognition: wie Menschen denken, wie sie
empfinden, was sie motiviert, was sie wissen, welche Ideen sie
über ihre Zukunft haben, welche Werte ihnen wichtig sind, was sie
sich zutrauen… was und wie sie lernen
Interaktionsebene
Kommunikation, Konflikte und Kooperation: wie Menschen sich
in Beziehung setzen, wie sie miteinander reden, über was sie
sprechen, über was sie nicht sprechen, wie sie ihre Konflikte lösen
Organisationsebene
Gesellschaftsebene
Verhandlungen um den Zugang zu Ressourcen, um die soziale
Position zu verbessern - in der Familie, mit den Nachbarn oder in
Institutionen wie Schule, Krankenhaus und zum Vermieter
Öffentlichkeitsarbeit und Verhandlungen mit politischen
Vertretern, der Justiz, den Medien, NGO´s etc.
Was kann professionelle Soziale Arbeit auf den jeweiligen Ebenen mit welchen
Mitteln tun? Im Folgenden werden einige problembezogene Arbeitsweisen
vorgestellt.
Tabelle 2:
Ebene
Subjektebene
Probleme
Ausstattung:
biologische,
psychische,
sozioökonomische
und sozioökologische
Probleme
Professionelles Handeln
Ressourcenerschließung:
Medizinische Hilfe,
Wirtschaftliche Hilfe zur Sicherung der
Existenz,
Hilfe bei der Suche von Wohnraum,
Informationen über Rechte
Bewusstseinsbildung:
Aufklärung, neue Perspektiven
aufzeigen, neue Deutungen für einen
problematischen Sachverhalt finden,
eine Sprache für erlittenes Leid finden,
Lernchancen ermöglichen, Bilder
entwickeln, wie die Zukunft besser,
befriedigender sein könnte.
Handlungstraining:
6
Neues Verhalten einüben für die
Alltagsbewältigung, für das
Erziehungsverhalten, Arbeitstraining,
Konfliktverhalten, soziale Kompetenzen
einüben
Interaktionsebene
Austausch:
Kommunikations- und
Beziehungsprobleme
Vernetzungsarbeit (Networking):
Aufbau von sozialen Netzwerken,
Vermittlung von sozialen Kontakten
(Freizeit, Arbeit, Nachbarschaft…).
Vermittlung von Wissen über faire,
gleichwertige, befriedigende soziale
Beziehungen in der Familie, zwischen
den Geschlechtern, in
Arbeitsverhältnissen
Handlungstraining:
Gewaltfreie Kommunikation,
Soziale Kompetenzen,
Konfliktbewältigung
Institutionsebene
Machtprobleme:
Umgang mit Machtquellen und
Machtstrukturen:
Erkennen und Benennen von
Machtstrukturen, die Menschen an der
aktiven Teilhabe an der Gesellschaft
hindern (Marktmechanismen, politische
Entscheidungen, fehlende Regeln,
unfaire Arbeitsteilung, Ideen, die
Menschen mit bestimmten Merkmalen
in eine niedrige Position verweisen,
Korruption und Begünstigung etc.).
Aufspüren von Machtquellen (z.B.
soziale oder berufliche Netzwerke,
Einklagen von Rechten und legitimen
Ansprüchen). Bewusstmachen von
Machtquellen (z.B. der Körpermacht der
Frau, sich häuslicher Gewalt zu
entziehen). Wissen über gerechte und
ungerechte Machtstrukturen, über
Prozesse der Machtbildung.
soziale Position
Zugang und Verfügung
über Ressourcen
Machtstrategien
(Ermächtigungsstrategien):
Machtquellenanalyse (Körpermacht,
7
Organisationsmacht, Definitions- und
Artikulationsmacht und
Ressourcenmacht) und Machtstrukturanalyse, um den Zugang zu
Machtquellen zu ermöglichen. Bildung
von Allianzen und
Unterstützungsnetzen.
Öffentlichkeitsarbeit:
Verletzte (Menschen-)Rechte und
legitime Ansprüche öffentlich machen
und einfordern, Personen, die Rechte
vorenthalten mit Namen benennen….1
Kontakte erschließen mit Menschen, die
Macht ausüben und sie für eine Idee
gewinnen.
Gesellschaftsebene
Werteprobleme:
Verletzte Werte, fehlende
Werte
Kriterien und Öffentlichkeitsarbeit:
Anregen von öffentlichen Diskursen
über soziale Probleme, verletzbare,
marginalisierte Gruppen in der
Gesellschaft. Zusammenarbeit mit
Medien, Politik, NGO´s. Mitarbeit in und
Verhandlung mit Gremien, Parteien und
Vereinen.
Informationen, Stellungnahmen,
Veröffentlichung von Analysen und
Erfahrungsberichten
Die skizzierten Arbeitsweisen sind nicht isoliert zu betrachten, da es sich in der Regel
um Mehrfachproblematiken handelt. Vielmehr ergänzen sie sich in einem Fall oder
können parallel angewandt werden.
2 Theorien Sozialer Arbeit im Zusammenhang mit relevanten
Aspekten
Wie in dem letzten Abschnitt vorgestellt entwickelt sich das wissenschaftliche
Wissen, das in Theorien der Sozialen Arbeit festgehalten wird, unter den
1
Saul Alinsky beschreibt wirkungsvolle Machtstrategien, die auch in der Sozialen Arbeit
eingesetzt werden können, in seinem Buch Rules for Radicals. A practical Primer for
realistic Radicals. Reprint. Vintage Books, New York NY 1989 (Erstausgabe 1971).
Anleitung zum Mächtigsein. Ausgewählte Schriften. (Deutsche Übersetzung von Reveille
for Radicals). 2. Auflage. Lamuv Verlag, Göttingen 1999
8
gesellschaftlichen Bedingungen, die eine Gesellschaft in ihren historischen,
gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen beeinflussen. Gesellschaftliche
Bedingungen beziehen sich in der Regel auf die Entwicklungen in der Politik,
Wirtschaft, im Bildungs- und Gesundheitssystem, auf Entwicklungen des rechtlichen
Rahmens, aber auch auf kulturelle Ausbildungen im Sinne von Denkstrukturen,
Wertvorstellungen, Menschenbildern, Gesellschaftsbildern. So gesehen sind
Theorien der Sozialen Arbeit Produkte der gesellschaftlichen Entwicklungen.
Darüber hinaus folgt aus unseren Ausführungen, dass Theorien der Sozialen Arbeit
Produkte eines Reflexionsprozesses in der Ausbildung und in der Praxis der Sozialen
Arbeit sind. In diesem Prozess stehen die Ausbildung und die Praxis in einem
wechselseitigen Verhältnis zueinander, oder anders gesagt, Theorie als
professionelles Wissen und Praxis als professionelles Handeln bilden eine Einheit.
Die Ausbildung liefert der Praxis professionelle Fachkenntnisse. D.h. die Fachkräfte
profitieren davon, dass sie in der Ausbildung mit einer guten Theoriengrundlage für
ihre Arbeit in der Praxis ausgestattet werden. Die Praxis liefert der Ausbildung
beispielsweise Feedbacks, ob und inwiefern die Theorien in der Praxis umgesetzt
werden können. Theoretiker/innen nutzen Feedbacks und Daten aus der Praxis für
ihre Forschungen und entwickeln die Theorien für die Praxis im Zusammenhang mit
den fachlichen Diskursen weiter. Nicht zuletzt spielt die wissenschaftliche
Sozialisation (quá trình nghiên cứu khoa học) der einzelnen Theoretiker/innen eine
wichtige Rolle in der Entwicklung einer Theorie oder eines Theorieansatzes.
Die folgende Graphik soll die Zusammenhänge zwischen Theorien der Sozialen
Arbeit und den beschriebenen relevanten Aspekten visuell zum Ausdruck bringen.
9
Graphik 1: Theorien der Sozialen Arbeit und relevante Bereiche
Wie vielfältig die gesellschaftlichen Entwicklungen und die Entwicklungen Sozialer
Arbeit sind, so vielfältig ist die Landkarte der Theorien der Sozialen Arbeit. Engelke,
Borrmann und Spatscheck liefern uns einen guten Überblick über die Theorien und
Theorienentwürfe der Sozialen Arbeit seit dem 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Damit führen sie uns vor Augen, wie umfangreich die Theorienlandkarte ist. Die
Darstellungen von Peter Erath und Michael May über Theorien der Sozialen Arbeit in
der Gegenwart sind dazu gelungene Ergänzungen. Als ein konkretes Beispiel für
diese Vielfalt stellen wir in der folgenden Tabelle die gegenwärtigen Theorien der
Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum auf Basis von Publikationen der
erwähnten Autoren zusammen:
Tabelle 3:
Michael
May 2008
1. Alltags-, lebenswelt-, lebenslagen- und
lebensbewältigungsorientierter Ansätze: Hans Thiersch/Lothar
Böhnisch/Jürgen Habermas
2. Professionalisierungstheoretische Ansätze: Timm Kunstreich/Maja Heiner
3. Systemtheoretische und system(ist)ische Ansätze: Niklas Luhmann,
Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit
4. Diskursanalytische Ansätze: Habermas (Helmut Richter/Dieter Lenzen),
Michel Foucault (Fabian Kessl/Nancy Fraser/Michael Winkler)
5. Psychoanalytische Sozialarbeit
10
Peter Erath
2006
1.
2.
3.
4.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
1.
Engelke,
Borrmann,
Spatscheck 2.
2009
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
I.
Theorien der Sozialarbeitswissenschaft
Alltags- bzw. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit (Hans Thiersch)
Sozialarbeit als „Soziale Hilfe“ (Baecker)
Systemisch-prozessuale Soziale Arbeit (Silvia Staub-Bernasconi)
Ökosoziale Sozialarbeit (Rainer Wendt)
II.
Professionstheorien der Sozialarbeitswissenschaft
Der Sozialarbeiter als stellvertretender Lebenslagen- und
Lebenswelthermeneut (Wilfried Ferchhoff)
Sozialarbeit als stellvertretende Deutung und typologisches Fallverstehen
(Bernhard Haupert/Klaus Kraimer)
Sozialarbeit als dienstleistungsorientiertes Professionshandeln (Bernd
Dewe/Hans-Uwe Otto)
Sozialarbeiter als „agents of change“ (Paulo Freire)
Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession (Silke Müller)
Soziale Arbeit als „postmoderne“ Profession (Heiko Kleve)
Das handlungstheoretisch ausgerichtete Professionsverständnis (Maja
Heiner)
Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession (Silvia Staub-Bernasconi)
Menschen in ihrer sozialen Umwelt entdecken und unterstützen – Carel
Bailey Germain/Alex Gitterman
Anleiten, erwachsen zu werden – Klaus Mollenhauer
Engagierter Dialog – Marianne Hege
Technologisch normalisieren – Lutz Rössner
Ausbeutung und Verelendung überwinden – Karam Khella
Einen gelingenderen Alltag ermöglichen – Hans Thiersch
Menschengerecht handeln – Silvia Staub-Bernasconi
Persönliche und gesellschaftliche Krisen bewältigen – Lothar Böhnisch
Wissen und Können relationieren – Bernd Dewe/Hans-Uwe Otto
Ziel dieses Kapitels ist es nicht, weitere Theorien nach Vietnam zu exportieren,
vielmehr möchten wir für den Austausch mit den Kolleg/innen in Vietnam zwei
Theorien auswählen, die einerseits im deutschsprachigen Raum die
Professionalisierung der Sozialen Arbeit maßgeblich beeinflusst haben und
andererseits viel Potenzial für einen Transfer in der Sozialen Arbeit in Vietnam
versprechen:
1. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit (Hans Thiersch),
2. Ontologische Systemtheorie (Silvia Staub-Bernasconi, Werner Obrecht,
Kaspar Geiser).
Der Grund für diese Auswahl ist folgender:
Engelke (2004, 51ff) formuliert 12 Thesen zum Fundament und Werdegang der
internationalen Wissenschaft Soziale Arbeit. Aus den Thesen 1-5 geht hervor, dass
die Entwicklung der Theorien immer mit der gesellschaftlichen Entwicklung
zusammenhängt. So gesehen müsste man davon ausgehen, dass Theorien aus
Deutschland anders als die in Vietnam sind. Es liegt daher nahe zu fragen, ob sich
Theorien aus Deutschland überhaupt in Vietnam umsetzen lassen. Das ist eine
berechtigte Frage für viele Theorien, die sehr eng mit der gesellschaftlichen
11
Entwicklung in Deutschland oder im deutschsprachigen Raum zusammenhängen.
Doch beide beanspruchen für sich eine universale Gültigkeit, weil sie sich an der
Definition der Sozialen Arbeit, wie sie von der IFSW vorgelegt wurde, orientieren.
Aufgrund dessen hoffen wir darauf, dass diese Theorien auch in Vietnam auf
Interesse stoßen und den Professionalisierungsprozess positiv beeinflussen. Auf ihr
konkretes Potenzial und ihre Grenzen in der Anwendung in Vietnam gehen wir später
jeweils ein.
Um eine Theorie ausführlich zu verstehen, kann man sie anhand vieler Aspekte
analysieren. (Wir beziehen uns hier auf die Reflektionen von Engelke, Borrmann und
Spatscheck sowie auf unsere Konzepte und Erfahrungen in der Lehre im Fach
Theorien der Sozialen Arbeit):
1. biographischer Kontext der Theoretikerin/des Theoretikers;
2. historischer Kontext, in dem die Theoretikerin/der Theoretiker gelebt hat und
er/sie die Theorie entwickelt hat;
3. Anhänger und Gegner der Theorie; Motivation: Was bringt die
Theoretikerin/den Theoretiker dazu, sich mit ihrer/seiner Theorie zu
beschäftigen?
4. Theoriehintergrund (Denktraditionen; Erkenntnis- bzw. Forschungsmethoden,
die zu einem bestimmten Menschenbild und Gesellschaftsbild und einer
bestimmten Definition sozialer Probleme führen; Menschenbild,
Gesellschaftsbild, Definition sozialer Probleme) (hierzu den Beitrag von
Borrmann/Spatscheck in diesem Band);
5. Zugang: Wodurch gelangt er/sie zu seiner Theorie?
6. Forschungsgegenstand und Forschungsinteresse;
7. Forschungsmethode;
8. Wissenschaftsverständnis;
9. Kernbegriffe;
10. Kernaussagen;
11. Gegenstand Sozialer Arbeit;
12. Definition sozialer Probleme;
13. Funktion oder Auftrag Sozialer Arbeit;
14. Praxisrelevanz und Praxisbezug (Methoden professionelles Handelns, Beitrag
zur Praxis, handlungsleitende Qualität);
15. Brücke zwischen Theorie und Praxis;
16. Gesellschaftsrelevanz;
17. Ebenen: Auf welchen Ebenen agiert Soziale Arbeit?
18. Machtquellen der Theorie für seinen Status in der Wissenschafts- und
Praxiscommunity (Legitimationsstrategien der Theoretikerin/des Theoretikers,
um seine Theorie in dem Wissenschafts- und Praxiscommunity
durchzusetzen);
12
19. Bezug auf die Lehre;
20. Bewertung (Nutzen und Grenzen der Theorie);
21. weiterführende (Forschungs-)fragen.
Eine solch detaillierte Darstellung der zwei Theorien würde den Rahmen dieses
Buches sprengen. Zudem stellt der Wissensaustausch zwischen
Wissenschaftler/innen aus zwei unterschiedlichen Kulturkreisen (deutsch und
vietnamesische) für uns eine große Herausforderung dar. Konkret verlangt dieser
gemeinsame Lernprozess von uns sowohl den Fokus auf das Wesentliche als auch
eine transparente Wissensbeschreibung unter anderem mithilfe von
Visualisierungen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, konzentrieren wir uns auf
die folgenden Aspekte in den zwei ausgewählten Theorien:
1. Theoriehintergrund (Denktraditionen; Erkenntnis- bzw. Forschungsmethoden,
die zu einem bestimmten Menschenbild und Gesellschaftsbild und einer
bestimmten Definition sozialer Probleme führen; Menschenbild,
Gesellschaftsbild, Definition sozialer Probleme)
2. Kern der Theorie (Kernbegriffe, Kernaussagen)
3. Gegenstand Sozialer Arbeit
4. Funktion oder Auftrag Sozialer Arbeit
5. Praxisrelevanz (Methoden professionelles Handelns; Beitrag zur Praxis;
handlungsleitend)
6. Auf welchen Ebenen agiert die Soziale Arbeit?
7. Bewertung (Nutzen und Grenzen der Theorie)
8. Vorteile und Nachteile bei der Umsetzung in Vietnam
3 Vorstellung von zwei ausgewählten Theorien- bzw.
Theorienansätzen
3.1 Lebenswelt- und Alltagsorientierte Soziale Arbeit („Tübinger
Schule“)
3.1.1 Theoriehintergrund (Denktraditionen; Erkenntnis- bzw.
Forschungsmethoden, die zu einem bestimmten Menschenbild und
Gesellschaftsbild und einer bestimmten Definition sozialer Probleme führen;
Menschenbild, Gesellschaftsbild, Definition sozialer Probleme):
Denktraditionen:
Der theoretische Ansatz der Lebenswelt- und Alltagsorientierten Sozialen Arbeit führt
auf die Arbeit von Hans Thiersch2 seit Ende 1970er Jahren zurück. Thiersch war
2
http://www.hans-thiersch.de/
13
Professor für Sozialarbeit und Sozialpädagogik an der Universität Tübingen (Engelke
et al 2009, 427). Daher ist das lebensweltorientierte Konzept auch bekannt als die
„Tübinger Schule“.
Thierschs Argumentationen und theoretischen Grundlagen basieren auf folgenden
Denktraditionen, die aus sozialwissenschaftlichen Theorien stammen (Thiersch 2002,
167ff):
 Hermeneutisch-pragmatische Pädagogik (Erfassung und Interpretation):
Vertreter dieser Denktradition sind Wilhelm Dilthey, Hermann Nohl, Erich Weniger,
Heinrich Roth und Klaus Mollenhauer. In dieser Denktradition handelt es sich
darum, in welchem Alltag die Adressat/innen leben, wie sie individuell ihren Alltag
verstehen und was sie anhand ihrer Interpretationen tun. D.h. es geht um die
„Selbstdeutungen und Eigensinnigkeiten der Adressat/innen“
(Füssenhäuser/Thiersch 2001, 1893). Oder anders formuliert: es geht hier um
„das respektvolle Verstehen der subjektiven Sicht“ (Mengedoth 2005). Zum
Beispiel besucht eine Sozialarbeiterin ihre Adressatin bei ihr zu Hause. Sie setzt
sich mit ihrer Adressatin zusammen und hört sich an, was ihre Adressatin aus
ihrem Alltag erzählt, ohne das Alltagsleben der Adressatin mit ihren Problemen
abzuwerten, vor allem durch eine vorschnelle Meinung oder Bewertung (Thiersch
2002, 167).
 Phänomenologisch-interaktionistische Tradition (Rekonstruktion): Vertreter
dieser Denktradition sind Alfred Schütz, Peter Berger, Thomas Luckmann, und
Erving Goffman. In ihrer Arbeit stehen die phänomenologischen und
interaktionistischen Analysen im Vordergrund. Es führt auf die Linie der ChicagoSchool zurück. Im Zusammenhang damit schlägt Thiersch drei Dimensionen vor,
um die Lebenswirklichkeit und Handlungsmuster von Adressat/innen zu
analysieren: erfahrene Zeit, erfahrener Raum und erfahrende soziale
Beziehungen. Denn Thiersch geht davon aus, dass man durch die „Rekonstruktion
der alltäglichen Lebenswelt“ einen Zugang gewinnen kann, in dem Menschen
nicht ausschließlich als „Repräsentanten gesellschaftlicher Strukturen gesehen
werden, sondern auch in ihrem Alltag mit ihren Bedürfnissen, Problemen und
Ressourcen“ (Thiersch 2002, 168).
 Kritische Alltagstheorie (Doppeldeutigkeit des Alltags und Aufdecken von
Ressourcen): Vertreter dieser Denktradition sind Agnes Heller, Karel Kosik, Henri
Lefèbvre und Pierre Bourdieu. Hier geht es darum, dass der Alltag zwei Seiten
hat. Auf einer Seite ist der Alltag gekennzeichnet durch Handlungsroutinen bzw.
Handlungsgewohnheiten, die einen in seinem Alltag entlasten und ihm Sicherheit
und Produktivität ermöglichen. Auf der anderen Seite schränken diese
Handlungsgewohnheiten einen ein, anders zu denken und zu handeln. Thiersch
nutzt diesen kritischen Blick auf den Alltag der Adressat/innen und fordert die
14
Soziale Arbeit dazu auf, noch mal hin zu schauen, um gemeinsam mit den
Adressat/innen ihre „unentdeckte[n] und verborgene[n] Möglichkeiten im Alltag“
(Thiersch 2002, 168, hinzugefügt N-M) im Hinblick auf die Alltagsbewältigung
aufzudecken.
 Lebensweltorientierung im Kontext neuerer gesellschaftlicher Entwicklung
(Lebenswelt im Zuge der Individualisierung und Pluralisierung): In dieser
Denktradition bezieht sich Thiersch vor allem auf die Begrifflichkeiten von Ulrich
Beck z.B. „reflexive Moderne“ oder „Risikogesellschaft“ sowie auf seine
Gesellschaftsbeschreibung. Beck vertritt die These, dass die Gesellschaft sich von
der Tradition zur (Post)Moderne entwickelt, dass sie immer differenzierter und
komplexer wird und die Menschen in dieser gesellschaftlichen Entwicklung ihr
Leben immer individueller und vielfältiger führen. Der Vorteil davon scheint zu
sein, dass Menschen dadurch immer mehr „Freiheit“ in ihrem Alltag und in ihrer
Lebenswelt gewinnen. Der Nachteil scheint aber zu sein, „dass sie in ihren
traditionellen Deutungs- und Handlungsmustern verunsichert sind“ (Thiersch 2002,
169). In dieser Denkschule sieht man die Ursache sozialer Probleme, also auch
Alltagsprobleme der einzelnen Menschen, nicht nur in sozialen Ungleichheiten, die
schon immer vorhanden sind, wie z.B. ungleich verteilte materielle Ressourcen,
Probleme aufgrund von Zugehörigkeit (Nation, Generation, Geschlecht), sondern
auch in den gesellschaftlichen Veränderungen (Thiersch 2002, 169).
Erkenntnis- bzw. Forschungsmethode:
Die hermeneutische Vorgehensweise ist die Grundlage des Ansatzes
lebensweltorientierter Sozialer Arbeit (Engelke et al 2009, 431). Es wird davon
ausgegangen, dass der Zugang zur Lebenswirklichkeit von Adressat/innen nur über
das Beschreiben und vor allem das Verstehen ihrer Alltagserfahrung erfolgen kann.
Dieses Forschungsverständnis führt zu dem folgenden Menschenbild und
Gesellschaftsbild.
Menschenbild:
Aus Sicht der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit muss der Mensch in seiner
subjektiven Erfahrung seiner Lebenswirklichkeit gesehen werden. Zudem hat er
seine eigenen materiellen und immateriellen Ressourcen, mit denen er seine
Alltagsprobleme bewältigt (Thiersch 2002, 169). Thiersch behandelt zwar das Thema
menschlicher Bedürfnisse nicht in seinem lebensweltorientierten Konzept. Dennoch
berücksichtig er Bedürfnisse und Interesse als einen wichtigen Bestandteil des
Menschen (Thiersch 2002, 166).
15
Gesellschaftsbild:
Wie bereits oben thematisiert bezieht sich das Gesellschaftsbild im Konzept
lebensweltorientierter Sozialer Arbeit auf die soziologische
Gesellschaftsbeschreibung von Beck. Demnach entwickelt sich die Gesellschaft von
einer traditionalen Gesellschaft, in der Menschen noch in übersichtlichen und
festgefügten Strukturen, wie in ihren großen Familien, ihrer engen Nachbarschaft und
ihrem stabilen Freundeskreis, zu einer Gesellschaft, die den Individuen viel mehr
Freiheit und Auswahlmöglichkeiten anbietet. Die vielfältigen Auswahlmöglichkeiten
für menschliches Handeln im Alltag bedingen aber zugleich eine Unübersichtlichkeit,
die von dem Einzelnen viele und neue Kompetenzen z.B. zur Sicherung seiner
Selbstständigkeit verlangt. Zudem lebt man in dieser „freieren“ Gesellschaft in viel
kleineren Familienstrukturen, sogar oft allein, d.h. man ist viel mehr auf sich selbst
angewiesen und für sich selbst verantwortlich. All das kennzeichnet eine
individualisierte Gesellschaft (Thiersch 2002, 165, 168f). Die gesellschaftlichen
Entwicklungen in Vietnam vor allem seit 1986 im Zuge der Wirtschaftsreform und
damit auch der Urbanisierung und Globalisierung spiegeln weitgehend dieses
Gesellschaftsbild wider. Das bestätigen zahlreiche Studien, in denen es um den
sozialen Wandel in Vietnam geht (Le Bach Duong/ Nguyen Thanh Liem 2011,
Opletal 1999, Norlund et al 1995, Schütte 2010).
Die gesellschaftlichen Strukturen und ihre Veränderungen werden in diesem
Theorieansatz nicht abstrakt dargestellt, sondern konkret als beobachtbare
Lebensverhältnisse in der alltäglichen Lebenswelt der einzelnen Menschen (Thiersch
2002, 170). Genau diese Vorstellung ist die Brücke zwischen der Lebenswelt der
Adressat/innen und einer modernen (Sozial)Politik, deren Akteure sich für soziale
Gerechtigkeit für leidende Menschen einsetzen. Daher ist für Thiersch
„lebensweltorientierte Soziale Arbeit … ein Moment der modernen Sozialpolitik“
(Thiersch 2002, 166).
Definition sozialer Probleme:
Aufgrund des eben beschriebenen Gesellschaftsbilds definiert Thiersch soziale
Probleme als Probleme, die durch vorhandene soziale Ungleichheiten entstanden
sind „in Bezug auf materielle Ressourcen oder auf Zugehörigkeit zu Nation,
Generation und/oder Geschlecht“. Menschen aus ärmeren Ländern haben
beispielsweise einen tendenziell schlechteren Status in einigen wohlhabenden
Ländern, Frauen bekommen tendenziell ein schlechteres Einkommen als Männer in
vielen Industrieländern. Neue und durch den Sozialwandel entstandene soziale
Probleme sind für Thiersch z.B. die Verunsicherung in den „traditionellen Deutungsund Handlungsmustern“ der Menschen (Thiersch 2002, 168f; Engelke et al 2009, S.
436). So war es z.B. in traditionalen Gesellschaften selbstverständlich, dass die
Frauen zu Hause blieben, sich um die Kinder und den Haushalt kümmerten, während
16
die Männer einer Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Familieneinkommens
nachgingen. Im Zuge des sozialen Wandels sind nun auch Frauen erwerbstätig.
Viele von ihnen sind sogar erfolgreiche Geschäftsfrauen geworden, während ihre
Ehemänner eventuell beruflich weniger erfolgreich sind. Menschen mit traditionalen
Vorstellungen über ihre Geschlechterrollen leiden tendenziell unter Unsicherheit im
Alltagshandeln, wenn sich ihre Rollen durch neue gesellschaftliche
Herausforderungen wie beschrieben verändert haben.
3.1.2
Kern der Theorie (Kernbegriffe, Kernaussagen)
Kernbegriffe:
Lebenswelt, Alltag und Alltäglichkeit sind die zentralen Termini des
lebensweltorientierten Theorieansatzes. Bei dem Begriff Lebenswelt geht es um das
reale alltägliche Leben einzelner Menschen. Im Fokus steht die Frage, wie der Alltag
aus Sicht des Einzelnen aussieht, es gilt zu erkunden, wie die Menschen ihren Alltag
zu Hause, bei der Arbeit, in ihrer Freizeit usw. selbst wahrnehmen. Lebenswelt ist
daher „ein beschreibendes, phänomenologisch-ethnomethodologisch orientiertes
Konzept“ (Thiersch 2002, S. 169). Wie oben bereits erwähnt, führt der Begriff
Lebenswelt auf das Konzept von Alfred Schütz zurück (Thiersch 2005, 43). Mit Alltag
meint Thiersch all das, was die einzelnen Menschen erfahren, beschreiben und
verstehen, also keine objektive Wirklichkeit, sondern immer eine subjektive
Wirklichkeit. Eine Sozialarbeiterin, die sich nach dem Alltag ihrer Adressatin
erkundigt, hört sich in Ruhe an, was ihre Adressatin von ihrem selbst erfahrenen
Alltag erzählt. Der Alltag besteht aus Sicht von Thiersch aus drei Dimensionen, auf
die wir später noch eingehen werden: die durch Adressat/innen erfahrene Zeit, der
erfahrene Raum und die erfahrenen sozialen Beziehungen (Thiersch 2005, 52;
Engelke et al 2009, 435).
Alltäglichkeit definiert Thiersch als Interpretations- und Handlungsmuster, die man im
Laufe der eigenen Entwicklung durch gesellschaftliche Normen erworben hat und die
im Alltag praktiziert werden (Thiersch 2005, 47ff). Engelke, Bormann und Spatscheck
verstehen Thiersch so, dass Alltäglichkeit „das Verhältnis eines jeden zu seiner
konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit“ ist (Engelke et al 2009, 436). Alltagswelten
sind konkrete alltägliche Lebensbereiche, die sich je nach Funktion und Inhalten
voneinander unterscheiden, z.B. Familie, Freundeskreis, Arbeit, Schule, Tanzclub,
Frauengruppe, Männergruppe und andere. Thiersch nennt sie Lebensfelder
(Thiersch 2002, 170; Engelke et al 2009, 436).
Kernaussagen:
Der zentrale Gedanke der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit besteht darin,
professionelle Hilfen anzubieten, die Adressat/innen befähigen, ihre Probleme in
ihrer alltäglichen Lebenswelt zu bewältigen. Damit das Konzept der
17
Lebensweltorientierung Fragen und Interessen der Praxis der Sozialen Arbeit
beantworten kann, sind Diskurse zur Gesellschaftstheorie als wissenschaftliche
Grundlagen notwendig(Füssenhäuser/Thiersch 2001, 1894).
3.1.3
Gegenstand Sozialer Arbeit
Anhand der Kernaussagen lässt sich erkennen, dass der Gegenstand der Sozialen
Arbeit in diesem Konzept der Alltag der Adressat/innen ist, genauer: die zu
bewältigenden Alltagsaufgaben, Alltagsprobleme wie auch ihre Lösungswege
(Füssenhäuser/Thiersch 2001, 1894).
3.1.4
Funktion oder Auftrag Sozialer Arbeit
Im Rahmen des lebensweltorientierten Ansatzes besteht die Funktion der Sozialen
Arbeit folgerichtig darin, sowohl den Alltag der Adressat/innen ernst zu nehmen, d.h.
ihre alltäglichen subjektiven Lebenswelten zu erfassen und zu rekonstruieren, als
auch die Adressat/innen in ihrer Bewältigung ihrer Alltagsprobleme zu begleiten. Ziel
der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist es, einen gelingenderen Alltag der
Adressat/innen zu ermöglichen (Thiersch 2002, 164; Engelke et al 2009, 437).
3.1.5
Praxisrelevanz (Methoden professionelles Handelns; Beitrag zur Praxis;
handlungsleitende Qualität)
Thierschs Ziel besteht vor allem darin, eine professionelle Praxis zu gestalten. Die
Alltags- oder Lebensweltorientierung bedeutet hier, dass Sozialarbeiter/innen das
Lebensumfeld ihrer Adressat/innen (Wohnung, Wohnviertel, Schule, Kindergarten
u.ä.) durch Hausbesuche und persönliche Kontakte kennenlernen (Thiersch 2002,
162ff). Anhand von folgenden Dimensionen und Prinzipien des professionellen
Handelns stellen wir Thierschs Handlungskonzept dar, wie Fachkräfte professionell
helfen können und worauf sie achten sollen.
Für Thiersch gibt es drei zentralen Dimensionen, die sowohl im Alltag als auch in
den Ressourcen von Menschen sichtbar werden: die erfahrene Zeit, der erfahrene
Raum und die erfahrenen sozialen Beziehungen (Thiersch 2002, 171ff). Dabei betont
Thiersch, dass diese Dimensionen auf den Erfahrungen der Adressat/innen basieren.
Wenn also eine Sozialarbeiterin den Alltag ihrer Adressatin verstehen will,
rekonstruiert sie gemeinsam mit ihrer Adressatin ihren selbst erlebten und erfahrenen
Alltag anhand dieser drei Dimensionen.
Die erfahrene Zeit umfasst nach Thiersch alle zeitlichen Aspekte: die
Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Der Aspekt der Vergangenheit
bezieht sich konkret auf die Lebensphasen im Lebenslauf. So sind mit der Adressatin
18
gelungene und problematische Stationen in ihrer Biographie zu besprechen, um sie
und ihre Probleme zu verstehen. Obwohl Thiersch zum Aspekt der Gegenwart nichts
Konkretes ausführt, gewinnt man aus der praktischen Arbeit mit Adressat/innen die
Erkenntnis, dass die Tagesstruktur sehr wichtig für die Zusammenarbeit mit ihnen ist.
Das bedeutet, sich schon darüber informieren zu müssen, wann die Adressatin
arbeitet und wann sie dementsprechend Zeit für einen Hausbesuch oder für ein
Gespräch hätte. Der Aspekt der Zukunft ist häufig sichtbar in den Gedanken der
Adressat/innen, z.B. darüber, wie das Leben organisiert werden kann, wenn ich jetzt
schwanger werde und mich von meinem Mann trennen möchte oder was ich jetzt
ohne Job machen soll. Die Zukunftsperspektive ist demnach aus Thierschs Sicht
häufig mit Ängsten und Verunsicherungen verbunden. Um die Zukunft zu gestalten,
brauchen Menschen seiner Meinung nach vor allem Mut und Kompetenzen bzw.
Ressourcen, um die Probleme auf dem Weg in die Zukunft zu bewältigen (Thiersch
2002, 171).
Der erfahrene Raum besteht aus verschiedenen Lebensfeldern, die sich je nach
Zielgruppen unterscheiden, wie z.B. Heranwachsende, Frauen, Frauen mit kleinen
Kindern, alte Menschen u.a. Hier meint Thiersch auch die Umwelt, den Wohnraum
und den sozialen Raum etc. Thiersch beschreibt nicht nur den Lebensraum der
Adressat/innen der Sozialen Arbeit. Vielmehr liefert er den Vorschlag mit, dass
Sozialarbeiter/innen ihre Adressat/innen anhand ihrer Analyse der Alltagsstruktur der
Adressat/innen dabei begleiten, Alternativen zum beengten und problematischen
Lebensraum zu suchen und idealerweise dabei die gegebenen Ressourcen der
Adressat/innen für eine Problembewältigung zugänglich zu machen (Thiersch 2002,
171f). Beispielsweise ermöglicht die Sozialarbeiterin der zu betreuenden Familie
Freizeitaktivitäten im Park oder in anderen Freizeitstätten, so dass die Familie nicht
den ganzen Tag in ihrer engen Wohnung verbringen muss. Wenn sich in der Folge
die Familienmitglieder entspannen, können sie Ideen entwickeln, also ihre
Denkkompetenzen mobilisieren und kommen auf kreative Lösungen für ihre
Alltagsprobleme.
Mit dem Begriff „erfahrener Raum“ meint Thiersch auch die soziale Infrastruktur, die
durch Soziale Arbeit gefördert werden soll (Thiersch 2002, 172). Der Aufbau
(weiterer) Beratungsstellen für verschiedene Zielgruppen wie Familien, Kinder und
Jugendliche, Drogenabhängige usw. in verschiedenen Wohnvierteln beispielsweise
bewirkt, dass keine weiten Wege mehr bis zur nächsten Beratungsstelle überwinden
werden müssen und dient damit dem Ziel, Soziale Arbeit alltagsnah zu gestalten.(s.
Alltagsnähe und Dezentralisierung).
19
Die erfahrenen sozialen Beziehungen: Dieser dritte Aspekt bezieht sich auf das
soziale Netzwerk der Adressat/innen, z.B. Familien und Freundeskreise (Thiersch
2002, 172).
In der Zusammenarbeit mit den Adressat/innen sollen folgende Prinzipien beachtet
werden:
Alltägliche Bewältigungsaufgaben (Handeln)
In dem Trubel des vielschichtigen Alltags ist es häufig schwer, die wesentlichen
Bewältigungsaufgaben bzw. die wesentlichen Probleme, die gelöst werden sollten,
zu erkennen. Daher ist die zentrale Aufgabe der Sozialarbeiter/innen, mit ihren
Adressat/innen problematische Alltagstrukturen und die damit verbundenen
Bewältigungsaufgaben herauszufinden (Thiersch 2002, 172).
Vertrauen als Basis der Hilfe
Thiersch legt sehr viel Wert darauf, Vertrauen zu den Adressat/innen aufzubauen.
Denn nur über Vertrauen lassen sich Menschen auf externe Hilfe ein und können
dabei ihre Ressourcen mobilisieren und für die eigenen Lösungen einsetzen. Zum
Vertrauensaufbau könnte man das „Nebenher“ in den Interaktionen mit den
Adressat/innen nutzen (Thiersch 2002, 164). Mit „Nebenher“ meint Thiersch „die
kleinen Aufgaben“, z.B. baut man für eine alleinerziehende Mutter die Tischlampe,
die sie nicht selbst zusammensetzen kann, oder man hilft ihr in der Küche kurz mit
und entlastet sie somit bei der Küchenarbeit, die sie parallel zur Beaufsichtigung ihrer
zwei kleinen Kindern erledigen muss. Mit diesen „kleinen Aufgaben“ wurde eine
Sozialarbeiterin vielleicht nicht beauftragt. Aber gerade die Erledigung solcher
Aufgaben ermöglicht den Zugang zu den Adressat/innen, da diese spüren können,
dass es der Sozialarbeiterin um echte Unterstützung der Adressat/innen geht.
Außerdem wirken positive Interaktionen in der Regel als Türöffner für die
Sozialarbeiter/innen in einen Hilfeprozess (Thiersch 2002, 172).
Hilfe zur Selbsthilfe und Partizipation:
Hilfe zur Selbsthilfe als Hilfekonzept ist allgemein bekannt und anerkannt in der
heutigen Sozialen Arbeit sowohl in Vietnam als auch in Deutschland und anderen
Ländern. Es ist auch bekannt, dass diesem Hilfekonzept das Ziel der Aktivierung der
Ressourcen der Adressat/innen zugrunde liegt. Bei der Ressourcenanalyse orientiert
man sich an den drei Dimensionen: Zeit, Raum und soziale Beziehungen (Thiersch
2002, 172). Thiersch folgt dabei der Annahme, dass Menschen ihre Ressourcen und
Stärken aufgrund dessen aktivieren können, dass sie immer anstreben, ihre
Probleme zu bewältigen (Thiersch 2002, 172).
Wenn Adressat/innen bei der Problemlösung ihre eigenen Ressourcen mobilisieren,
und ihre Bedürfnisse in der Zusammenarbeit mit den Sozialarbeiter/innen artikulieren
20
können, dann entsteht ein Verhandlungsprozess, in dem Adressat/innen die
Hauptakteure und Sozialarbeiter/innen ihre Begleiter/innen sind. In diesem idealen
Fall spricht Thiersch von Partizipation. Damit die Partizipation gelingt, müssen die
Sozialarbeiter/innen in der Tat in der Lage sein, ihre Adressat/innen auf Augenhöhe
zu betrachten, d.h. Adressat/innen sind keineswegs Menschen, die weniger
kompetent sind als die Sozialarbeiter/innen und ebenso wenig auf ein Hilfepaket
angewiesen. Thiersch spricht hier von „elementarer Gleichheit“ (Thiersch 2002,
173f).
Integration:
Auch die elementare Gleichheit im Sinne Thierschs spielt im Integrationskonzept eine
zentrale Rolle. Mit Integration meint Thiersch, dass Unterschiede zwischen
Adressat/innen und Sozialarbeiter/innen bzgl. ihrer Ressourcen, Lösungsansätze
u.a. positiv anerkannt werden sollen, um Ausgrenzung und Abwertung seitens der
Sozialarbeiter/innen zu vermeiden. Denn nur so erhalten die Adressat/innen die
Chance, im Lösungsprozess tatsächlich mitzubestimmen (Thiersch 2002, 173f).
Prävention besteht hier aus zwei Aspekten: allgemeine Prävention und spezielle
Prävention. Allgemeine Prävention heißt, dass die Infrastrukturen, also
Beratungsstellen, Hilfeeinrichtungen stabil existieren, so dass die Hilfsbedürftigen
eine zuverlässige Anlaufstelle haben. Das heißt aber auch, die Sozialarbeiter/innen
sollen die Adressat/innen vordringlich dabei unterstützen, allgemeine Kompetenzen
zur Lebensbewältigung zu erlernen und weiter zu entwickeln. Spezielle Prävention
meint, dass Probleme im Alltag vorhergesehen werden und nicht erst dann reagiert
wird, wenn sie eintreten (Thiersch 2002, 173). Salopp gesagt, Sozialarbeiter/innen
sind keine Feuerwehrkräfte für ihre Adressat/innen.
Gesellschaftliche strukturelle Bedingungen
Das lebensweltorientierte Konzept bezieht sich nicht nur auf die Mikroebene, d.h. die
Ebene der Interaktionen mit den Adressat/innen. Wichtig ist es hier zu sehen, dass
Probleme, die einzelne Menschen in ihrem Alltag haben, keine individuellen
Probleme sind. Vielmehr sind sie Ergebnisse gesellschaftlicher und struktureller
Bedingungen. Um Adressat/innen zu unterstützen, ihre Probleme zu bewältigen,
braucht man nicht nur Hilfen auf der Mikroebene, sondern Veränderungen auf der
(sozial)politischen Ebene.
Alltagsnähe und Dezentralisierung:
Das Prinzip der Alltagsnähe heißt konkret, dass die Hilfsmöglichkeiten für
Adressat/innen schnell erreichbar sind (Thiersch 2002, 173). Das heißt, die Hilfen
21
bzw. die Beratungsstellen sollen in dem nahen Lebensumfeld der Adressat/innen zur
Verfügung stehen. Thiersch spricht hier von Dezentralisierung (Thiersch 2002, 174).
Zum Prinzip der Alltagsnähe gehören auch Niedrigschwelligkeit von
Hilfsmöglichkeiten, offene Zugänge, allgemeine Beratung neben spezieller Beratung
und Begleitung im Alltag auch in Form von Hausbesuchen (Thiersch 2002, 173).
3.1.6
Auf welchen Ebenen agiert Soziale Arbeit?
Diese Frage lässt sich auf Basis der bisherigen Ausführungen wie folgt beantworten:
1. Soziale Arbeit agiert auf der Mikroebene, d.h. in den Interaktionen mit
Adressat/innen.
2. Soziale Arbeit agiert auf der Mesoebene, also der Organisationsebene in der
Form, dass die Hilfsmöglichkeiten dezentralisiert werden, d.h. im nahen
Lebensumfeld der Adressat/innen angeboten werden sollen (siehe
Alltagsnähe und Dezentralisierung).
3. Soziale Arbeit agiert auf der Makroebene, also auf der gesellschaftlichen
Ebene, denn sie fordert (sozial-)politische Veränderungen, die zu besseren
Lebensverhältnissen von Adressat/innen führen sollen. Das impliziert nach
Thiersch auch, dass Soziale Arbeit rechtliche Unzulänglichkeiten erkennen
und an den Staat zurückmelden muss.
3.1.7
Bewertung (Nutzen und Grenzen der Theorie)
Nutzen:
Die meisten unserer Studierenden geben uns am Ende der Theorieseminare die
Rückmeldung, dass das lebensweltorientierte Konzept gut zu verstehen ist. Denn
das Konzept bezieht sich konkret auf die Praxis der Sozialen Arbeit und liefert ein
klar erkennbares methodisches Grundmuster. Es orientiert sich an Ressourcen von
Adressat/innen anstatt an Defiziten, wie das gerade bei Studienanfänger/innen
häufig der Fall ist. Damit können Adressat/innen in einer positiven,
lösungsorientierten Atmosphäre mit den Sozialarbeiter/innen zusammenarbeiten.
Daher eignet sich das Konzept auch hervorragend für den Beziehungsaufbau.
Grenzen:
Indem Thiersch den Praktiker/innen einen großen Interpretationsspielraum liefert, ist
das Handlungskonzept nicht konkret genug formuliert. Daher zeigt sich in der Praxis,
dass es eher schwierig ist, dieses Konzept umzusetzen oder dass die Praktiker/innen
methodisch ergänzen müssen (Mengedoth 2005).
22
3.1.8
Vorteile und Nachteile bei der Umsetzung in Vietnam
Vorteile:
Da das lebensweltorientierte Konzept kein Theorie-Riese ist, sind wir zuversichtlich,
dass dieses Konzept in der Lehre in Vietnam gut zugänglich ist. Denn eine große
Theorie gibt höchstwahrscheinlich einige Anlässe zu Missverständnissen, allein
schon im Prozess der Übersetzung.
Die Ressourcenorientierung und die damit verbundene positive Atmosphäre in
diesem Konzept könnten die Sozialarbeiter/innen in Vietnam darin bestärken, sich in
dieser Richtung weiterzuentwickeln und weg von der alten Denktradition der
Defizitorientierung zu kommen.
Es ist allgemein bekannt, dass Beziehungen bzw. Vertrauensbeziehungen in
Vietnam wie in anderen ostasiatischen Ländern zentral für menschliche Interaktionen
sind. Daher wird das lebensweltorientierte Konzept höchstwahrscheinlich auf
Zustimmung sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene in
Vietnam stoßen.
Nachteile:
Das Prinzip der Alltagsnähe besteht auch darin, dass Sozialarbeiter/innen ihre
Adressat/innen in ihrem alltäglichen Lebensumfeld begleiten. D.h. die
Sozialarbeiter/innen müssen ihre Adressat/innen zu Hause besuchen und kommen
bewusst oder unbewusst mit ihrer Nachbarschaft in Kontakt. Man legt in Vietnam in
der Regel viel Wert auf das eigene Ansehen und hat daher große Angst vor
Stigmatisierung vor allem im nahen Lebensumfeld wie in der Nachbarschaft. Die
Frage ist hier, ob es möglich wäre, diesen Konflikt zu lösen und wenn ja wie. Eine
Antwort darauf findet man sicher noch in der praktischen Umsetzung in Vietnam.
In der folgenden Graphik möchten wir das lebensweltorientierte Konzept
zusammenfassend veranschaulichen:
Graphik 2: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit
23
3.2 Ontologische Systemtheorie (Züricher Schule)
3.2.1
Theoriehintergrund (Denktraditionen; Erkenntnis- bzw. Forschungsmethoden, die zu
einem bestimmten Menschenbild und Gesellschaftsbild und einer bestimmten
Definition sozialer Probleme führen; Menschenbild, Gesellschaftsbild, Definition
sozialer Probleme)
Die ontologische Systemtheorie entstand etwa um die gleiche Zeit wie das
lebensweltorientierte Konzept von Hans Thiersch. Diese Theorie führt auf die Arbeit
von Silvia Staub-Bernasconi und Werner Obrecht seit den 1980er Jahren zurück.
Kaspar Geiser entwickelte vor allem die Arbeit von Staub-Bernasconi auf der
handlungsrelevanten Ebene weiter. Er konzentriert sich auf die Problem- und
Ressourcenanalyse, während Obrecht eher die philosophische und soziologische
Grundlage bearbeitet. Staub-Bernasconi arbeitet sowohl an der soziologischen
Grundlage der Theorie als auch an handlungstheoretischen und (sozial)politischen
Konzepten innerhalb der ontologischen Systemtheorie. Staub-Bernasconi und
Obrecht studierten zusammen Soziologie. Alle drei waren langjährige Kolleg/innen an
der Hochschule für Soziale Arbeit in Zürich. Das Theoriegebäude, das sie aufgebaut
haben, kennzeichnen sie als das systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit
(SPSA). Da der Name sehr lang ist, kürzen wir ihn in unserer Lehre an der
Hochschule München auf „Züricher Schule“ in Abgrenzung zur „Tübinger Schule“ und
anderen Denkschulen.
24
Denktraditionen:
Mario Bunge ist ein Philosoph, Mathematiker und Physiker aus Argentinien. Seine
Philosophie über die Wirklichkeit ist die Grundlage der ontologischen Systemtheorie.
Seine Wirklichkeitsphilosophie, die die Züricher Schule als die Metatheorie
kennzeichnet, besagt: Die Welt ist real, sie besteht aus konkreten Dingen und
Systemen und jedes Ding ist entweder System oder eine Komponente eines
Systems. All das existiert und entwickelt sich unabhängig davon, ob es in unserer
Erfahrung existiert und unabhängig davon, ob es von menschlichen Bewusstsein
wahrgenommen wird. Die Welt ist in Teilen erkennbar und das gewonnene Wissen
wird über Sprache kommuniziert. Die menschliche Wahrnehmung der Realität ist
unvollständig, abhängig von der komplexen Gehirnstruktur des Menschen, fehlerhaft,
weil Wahrnehmung immer selektiv ist und Teile ausblendet und sie ist aus
interessegeleiteten Gründen verzerrt. Modelle, Theorien und Deutungssysteme
interpretieren und konstruieren die Realität, sie bilden die Realität nur annähernd ab
(Staub-Bernasconi 2007, 160f & 164f; Geiser 2007, 43ff).
Die Wirklichkeit – die existierende Welt - wird von bestimmten Gesetzmäßigkeiten
determiniert, die sich erforschen lassen. Diese Annahme unterscheidet sich von
mentalen Systemvorstellungen, beispielsweise des radikalen Konstruktivismus, der
besagt, dass Bilder über die Wirklichkeit Erzeugnisse des Gehirns sind und es keine
„objektive“ Wirklichkeit gibt, und folglich die Existenz der Realität nicht empirisch
überprüft werden kann.
In der Architektur der Züricher Schule erkennt man darüber hinaus die
soziologischen Theorien von Peter Heintz bezüglich sozialer Ungleichheit, von Max
Weber, Heinrich Popitz und Hannah Arendt bezüglich der Macht und Prozessen der
Machtbildung sowie von Karl O. Hondrich und Ilse von Arlt bezüglich der
Bedürfnistheorie (Staub-Bernasconi 2007, Obrecht 1999, Obrecht 2005a).
Erkenntnis- bzw. Forschungsmethoden:
Die Züricher Schule geht von einer komplexen und widersprüchlichen, aber realen
Wirklichkeit aus, die durch einen einzigen theoretischen und methodologischen
Zugang nicht ausreichend beschrieben und erfasst werden kann. „Deshalb plädiert
Staub-Bernasconi für eine wissenschaftliche Metatheorie, die mehrere
Zugangsmöglichkeiten miteinander verbinden kann (Engelke et al 2009, 448f).
Engelke spricht hier von einer komplexen Figuration der menschlichen Gesellschaft,
da der Mensch nicht nur aus einem biologischen System besteht, sondern auch aus
chemischen, physikalischen, psychischen, sozialen und kulturellen Systemen, wie
unten zum „Menschbild“ ausgeführt wird (Engelke 2005). Diese Erkenntnismethode
wird besonders greifbar in dem Konzept der „W-Fragen“, denn hier werden
Informationen über Adressat/innen erfasst und systematisiert anhand verschiedener
Fragen, die einen multidimensionalen Zugang erlauben: W-Fragen sind Fragen nach:
25
Was? Woher? Warum? Woraufhin? Was ist gut und was ist nicht gut? Wohin? Wie?
Womit? Was wurde erreicht? Diese Fragen können und sollen von verschiedenen
Personen: Adressat/innen, ihre Familienangehörigen, Sozialarbeiter/innen, andere
Helfer/innen wie Psycholog/innen u.a. beantwortet werden. Geiser spricht hier von
„vervielfachten W-Fragen“. Die Vervielfachung der W-Fragen verstärkt die
Zugangsmöglichkeiten zur Erhebung der Probleme und Ressourcen von
Adressat/innen. Mit der Frage „Warum?“ geht man den Ursachen der Probleme
nach. Diese Ursachen lassen sich aus Sicht diverser Bezugswissenschaften
erklären: der Biologie, Chemie, Physik, Psychologie, Pädagogik,
Rechtswissenschaft, Soziologie und anderer „Menschenwissenschaften“ im Sinne
Engelkes, so viele, wie es eben derzeit gibt, um Menschen und ihre Gesellschaft zu
erklären (s. 3.2.5. Praxisrelevanz, W-Fragen) .
Menschenbild:
Menschen sind lebendige Wesen, die aus verschiedenen Systemen bestehen, also
biologischen, chemischen, psychischen, sozialen und kulturellen Systemen (Bunge
2004). Menschen haben Bedürfnisse und sind dadurch zu Strategien und
Handlungen motiviert, die auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse ausgerichtet sind.
Menschen sind aufgrund ihrer Bedürfnisbefriedigung aufeinander angewiesen. Auf
menschliche Bedürfnisse gehen wir später noch ausführlicher ein (Obrecht 1999,
Staub-Bernasconi 2007, 170f).
Menschen sind sprach- und lernfähige Biosysteme, die mit verschiedenen
Fähigkeiten ausgestattet sind. Sie halten ihre innere Struktur fortlaufend über einen
materiellen, energetischen und informellen Austausch mit ihrer physikalischbiologischen, sozialen und kulturellen Umwelt aufrecht (Obrecht 2002, 8). Menschen,
als Mitglieder von sozialen Systemen, können wie eben erwähnt nur in sozialen
Organisationsformen existieren. Sie stehen in Beziehung mit anderen Menschen und
bilden soziale Systeme, die sich selbst organisieren und von der Umwelt gegenüber
anderen Systemen abgrenzen.
Gesellschaftsbild:
Das Gesellschaftsbild der Züricher Schule basiert auf ihrem Systembegriff, der auch
ein Kernbegriff dieser Theorie ist. Deshalb behandeln wir zuerst diesen Begriff.
Ein System ist „Etwas“, das aus konkreten Komponenten zusammengesetzt ist.
Komponenten sind physikalischer, chemischer, biologischer, psychischer, sozialer
und begrifflicher Art. Sie unterhalten diverse Beziehungen zueinander und sind daher
miteinander vernetzt (innere Struktur). Sie haben aufgrund dessen engere
Bindungen zueinander als zur Umwelt. Die Beziehung der Systemkomponenten zur
Umwelt nennt man hier externe Struktur (Staub-Bernasconi 1995, 127; Geiser 2007,
44).
26
Die Anzahl der existierenden Systeme in der Welt sind das Ergebnis eines
prozessualen, räumlichen und zeitlich ausgedehnten Differenzierungsprozesses.
Im Verlauf der Evolution haben sich aus einfachen Systemen durch
Zusammenschlüsse komplexe Systeme herausgebildet, indem die einzelnen
Systeme zu Komponenten von komplexen Systemen wurden. All diese Systeme
unterscheiden sich voneinander durch ihre spezifischen „emergenten“ Eigenschaften
und Gesetzmäßigkeiten. Das Resultat dieses Prozesses sind emergente
Eigenschaften der Systeme, die auf ihrer Fähigkeit zur Selbstvereinigung und zur
Selbstorganisation beruhen.
Ein Beispiel soll diesen Prozess veranschaulichen: Aus der Struktur der Großfamilie
vorindustrieller Gesellschaften mit ihrer Funktion zur Reproduktion und
Existenzsicherung entwickelten sich im Zuge der Arbeitsteilung schließlich die
Kernfamilie, ein differenzierter, mittlerweile instabiler Arbeitsmarkt, hoch differenzierte
Bildungssysteme und ein soziales Sicherungssystem zur Abfederung von
Daseinsrisiken. Alle Systemarten – es gibt physikalische, chemische, biologische,
psychische, soziale und kulturelle Systeme – sind genetisch-historisch auseinander
hervorgegangen, sie stehen als Subsysteme miteinander in Beziehung und
verändern und wandeln sich. Das heißt, jedes System ist ein evolutionäres Glied in
einer Kette von Systemen, einschließlich menschlicher Individuen, die als
selbstwissensfähige und lernfähige Biosysteme gedacht werden (Staub-Bernasconi
1995, 128).
Das Gesellschaftsbild liegt der Definition sozialer Systeme zugrunde. Die Struktur
menschlicher sozialer Systeme weist zwei zentrale Eigenschaften auf, die
miteinander in dynamischer Beziehung stehen (Obrecht 2002, 8; 2005b, 4):

Die Interaktionsstruktur zwischen den Mitgliedern der sozialen Systeme

Die vielfältig differenzierte Positionsstruktur: der funktionalen Differenzierung
von Rollen- und Arbeitsteilung und Hierarchie, der niveaunalen Schichtung der
Güter- und Ressourcenverteilung und den daraus erwachsenden sozialen
Positionen mit ihren jeweiligen Interaktions- und Karrierechancen in sozialen
Systemen. Weitere Differenzierungskriterien sind: Alter, Geschlecht,
Religionszugehörigkeit, Hautfarbe, Ethnie
Soziale Systeme entstehen durch Prozesse von sozialen Interaktionen zwischen
Individuen, sie beruhen auf Bindungen, die durch menschliche Bedürfnisse in
Verbindung mit Selbstbewusstsein und Wissen über andere motiviert sind. Das
Gesamte an sozialen Interaktionen wird als Interaktionsstruktur beschrieben. Die
Positionsstruktur manifestiert das Ergebnis der Interaktionsstruktur in Form von
Rollen, Rechten und Pflichten (Geiser 2007, 49f).
Welche sozialen Probleme und Problemkonstellationen sich aus den
Struktureigenschaften sozialer Systeme ergeben, für die Soziale Arbeit den
27
gesellschaftlichen Auftrag zur Lösung hat, wird im unteren Abschnitt ausführlich
beschrieben.
Ein soziales System gewinnt Stabilität, indem es Wertvorstellungen mit
entsprechenden Regeln und Normen ausbildet. Seine Werte und Ziele drücken sich
in den kulturellen Eigenschaften des sozialen Systems aus. Die Akzeptanz der
kulturellen Eigenschaften durch ihre Mitglieder ist dann gegeben, wenn sie der
Befriedigung ihrer Bedürfnisse dienen, wie auch den Zielen des sozialen Systems,
dessen Mitglieder sie sind. Denn je eher die Individuen die an sie gerichteten
Rollenerwartungen aus den jeweiligen sozialen Positionen heraus erfüllen, desto
dichter wird der Zusammenhang zwischen Interaktions- und Positionsstruktur. In
einer administrativen Verwaltung sind die Regeln, wer mit wem über was
kommunizieren darf, wer welche Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten besitzt qua
seiner Position, klar und unmissverständlich geregelt. Veränderungen in sozialen
Systemen treten dann auf, wenn sich Rollenfixierungen auflösen und sich darüber
die Interaktions- und Positionsstruktur verändert. Wenn z.B. Kinder erwachsen
werden, wenn ein Familienmitglied arbeitslos oder krank wird, wenn Eltern alt
werden, dann muss die Familie ihre Beziehungen untereinander neu strukturieren
(Sagebiel 2012, 44f).
Definition sozialer Probleme:
Soziale Probleme sind praktische Probleme, die Menschen mit der Einbindung in
soziale Systeme haben. Wird ein Kind in der Familie vernachlässigt, ist es in seiner
biologischen, psychischen und sozialen Entwicklung behindert. Findet jemand
aufgrund seiner mangelhaften Schulbildung und/oder aufgrund seiner ethnischen
Zugehörigkeit keine Arbeit, dann leidet er unter dem sozialen Problem, dass er seine
Existenz ökonomisch nicht absichern kann. Betrifft dies eine große Gruppe von
Menschen mit ähnlichen individuellen Ausstattungen, wird das persönliche Problem
zu einem gesellschaftlichen sozialen Problem: Arbeitslosigkeit. Die Betroffenen sind
aus dem sozialen System Arbeitsmarkt ausgrenzt. Leiden bezeichnen die
Theoretiker/innen der Züricher Schule als einen Zustand, in dem ein Individuum
(oder eine Gruppe von Individuen) unzufrieden ist, weil es seine Bedürfnisse nicht
angemessen befriedigen kann – sei es, weil es keine Problemlösungen kennt oder
keinen Zugang zu Ressourcen hat, die sein Problem lösen können.
Soziale Probleme als Ungleichheiten zwischen Menschen, die über behindernde
Systembeziehungen und Systemstrukturen erzeugt werden, bilden den
Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit. „Soziale Arbeit ...ist eine gesellschaftliche
Antwort auf soziale Probleme in der Gesellschaft“ (Engelke 1998, 371). StaubBernasconi unterscheidet vier Dimensionen sozialer Probleme, die sich systemisch
gegenseitig bedingen und in kumulativen Problemlagen münden:
28
1. Ausstattungsprobleme:
Ausstattungsprobleme sind die Folge behinderter Bedürfnisbefriedigung und
Wunscherfüllung (Staub-Bernasconi 1994, S.17ff). Denn Menschen sind für ihre
Existenzsicherung und ihr Wohlbefinden auf eine natur- und menschengerechte
ökologische Umwelt sowie auf eine menschengerechte Gesellschaft angewiesen
(Engelke, 1998, 372). Ausstattungsprobleme treten dann auf, wenn Menschen an
den medizinischen, psychischen, sozialen und kulturellen Ressourcen einer
Gesellschaft nicht ausreichend teilhaben können. Den Defiziten in der Ausstattung
stehen Überschüsse in der Ausstattung gegenüber. Oder anders formuliert: die
Schere zwischen Armut und Reichtum, Mangel und Luxus. Beide Ausprägungen
dürfen als sozial problematische beschrieben werden, denn sie sind jeweils Ergebnis
von ungerechten Tauschbeziehungen (Austauschprobleme) und unfairer
Arbeitsteilung (Machtprobleme). Ausstattungsdefizite zeigen sich in sechs
Dimensionen, die ausführlicher im Abschnitt „Kern der Theorie“ behandelt werden.
2. Austauschprobleme:
Menschen sind Komponenten von sozialen Systemen und sie sind auf den
Austausch und die Kommunikation mit andern Menschen und ihrer Umwelt
angewiesen. Der Austausch findet über Güter, Wissen und Fähigkeiten statt. Die
Ausstattung bietet also die Grundlage für die Kommunikation. Diese kann
gleichberechtigt, symmetrisch sein, das heißt, beide Partner/innen profitieren zu
gleichen Teilen, er kann aber auch asymmetrisch sein, nicht gerecht, was bedeutet,
dass eine/r auf Kosten der/s anderen profitiert. Soziale Probleme entstehen dann für
eine(n) der Kommunikationspartnerinnen, wenn im Austausch eine/r benachteiligt
bzw. abhängig ist (Staub-Bernasconi 1994, 20ff). Ein Beispiel: NGO-Projekte sind
abhängig von Geldzuwendungen staatlicher (Sozialadministration) oder
internationaler Institutionen (EU). Sie verfügen über weniger Ressourcen als
etablierte Organisationen. Kommunen sind in ihrer Umsetzung des politischen
Willens abhängig von den Richtlinien, die von der Landespolitik gesetzt werden. Ein
weiteres Beispiel: Die Beziehung zwischen Mann und Frau kann zum Nachteil der
Frau strukturiert sein, wenn der Mann über mehr ökonomische Mittel als die Frau
verfügt, wenn er mit Gewalt die Frau zu Verhaltensweisen zwingt, die ihre
Bedürfnisse nicht befriedigt. Ungerechter Austausch ist bestimmt durch
Machtstrukturen und in Machtbeziehungen manifestieren sich Formen sozialer
Ungleichheit. Und aufgrund ihrer mangelnden Ausstattung in den verschiedenen
Dimensionen hat sie wenige Ressourcen, die sie in der Beziehung als mögliche
Austauschobjekte einbringen kann. Sie hat aufgrund ihrer Ausstattungsprobleme
Austauschprobleme.
29
3 Machtprobleme:
Machtbeziehungen sind das Ergebnis und die Voraussetzung für soziale Chancen
und soziale Integration. Welche soziale Position ein Mensch in der Gesellschaft
einnimmt, sagt etwas aus über seine Position innerhalb von Machtkonstellationen.
Der Zugang zu ökonomischen und sozialen Ressourcen und zu Teilsystemen in
einer Gesellschaft (Schulsystem, Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem etc.) ist nicht nur
von individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen abhängig, sondern auch von der
Verfügung über Machtquellen (Staub-Bernasconi, 1994, 24). Machtquellen sind
begehrte Ressourcen, die von Menschen eingesetzt werden, um soziale
Beziehungen behindernd oder machtbegrenzend zu gestalten. Wichtige
Machtquellen sind: physische Macht (Körpermacht), Kapital und Besitz (Gütermacht),
geistige Stärke (Modell-, Definitions- und Artikulationsmacht), Handlungskompetenz
verbunden mit Status und Prestige (Organisationsmacht).
Ob Macht problematisch ist, hängt von den Regeln der Machtverteilung in sozialen
Beziehungen ab. Sie können nach Staub-Bernasconi (1994, 26ff; 1995, 245-249)
begrenzend oder behindernd sein.
Begrenzungsmacht: Begrenzende Steuerung von Machtbildungsprozessen
ermöglicht den legitimen Zugang zu allen verfügbaren Ressourcen
(Lebensbereichen), die Mitglieder einer Gesellschaft für ihre Existenzsicherung und
Teilhabe an der Gesellschaft brauchen. Sie ist an Voraussetzungen geknüpft, wie
und unter welchen Voraussetzungen die Ressourcen in Anspruch genommen
werden können, z.B. Soziale Sicherungssysteme, Bildungsvoraussetzungen,
Qualifikationen etc. Machtbegrenzende Strukturen schaffen soziale Gerechtigkeit als
legitime Macht. Sie begrenzt Gruppen in der Gesellschaft auf Kosten anderer zu
ihrem Vorteil, Macht zu erlangen und zu erweitern (Staub-Bernasconi 1994, 29ff).
Behinderungsmacht: Behindernde Steuerung von Prozessen der Machtbildung
schließt einzelne Gruppen der Gesellschaft (ethnische Gruppen, politische
Gruppierungen, Frauen, Kinder...) von der Teilhabe an den verfügbaren
gesellschaftlichen Ressourcen aus, indem vorhandene Güter künstlich verknappt
werden, z. B. wenn Menschen aufgrund ihrer Nationalität, ihres Alters, ihrer
Hautfarbe, ihres geringen Einkommens, ihres Geschlechtes, ihrer sexuellen
Orientierung nicht an politischen Meinungsbildungsprozessen partizipieren können,
wenn sie sozial diskriminiert werden, wenn ihnen der gleichberechtigte Zugang zum
Erziehungs- und Bildungs-, Gesundheits- und sozialen Sicherungssystem
vorenthalten wird. Machtbehindernde Strukturen schaffen soziale Ungleichheit und
Armut. Sie ist illegitime Macht (Staub-Bernasconi 1994, 32ff).
30
Bezogen auf Machtprobleme in Form behindernder Machtstrukturen ergeben sich für
die Soziale Arbeit folgende Fragen (Staub-Bernasconi 1994, 28):

Wie sollten, wie könnten welche Ressourcen wem zugänglich gemacht
werden? Wie können sie zur Bedürfnisbefriedigung der Klientel gerechter
verteilt werden?

Wie sollten soziale Positionen funktional und menschen- und bedürfnisgerecht
angeordnet sein? Ist die Arbeits- und Entscheidungsverteilung (Hierarchie)
von Menschen so geregelt, dass optimale Produktivität bei gleichzeitiger
Bedürfnisbefriedigung gewährleistet ist?

Nach welchen Werten, als kollektiv in einer Kultur geteilten Kriterien, sollten,
müssten Verteilungs- und Anordnungsvorschriften begründet und legitimiert
sein?

Mit welchen Mitteln, Sanktionen und Belohnungen sollten, könnten Werte,
Vorschriften durchgesetzt werden?
4 Kriterien- und Werteprobleme:
Vergesellschaftete Werte sind Vorstellungen darüber, was wünschbar ist bei der
Beurteilung von Sachverhalten, die als „nicht gut“ im Sinne von nicht gerecht beurteilt
werden (Staub-Bernasconi 1994, 41ff). Nicht gut ist, wenn ein Kind in der Familie
vernachlässigt und geschlagen wird, nicht gut ist, wenn jemand aufgrund seines
Geschlechts oder seiner ethnischen Zugehörigkeit keine Arbeit findet, nicht gut ist,
wenn alte pflegebedürftige Menschen nicht versorgt werden.
Kriterienprobleme treten dann auf, wenn biologische, psychische und soziale
Bedürfnisse nach ausreichender Nahrung, nach körperlicher Unversehrtheit, nach
Liebe und sozialer Anerkennung, nach Kontakt und sinnhafter Orientierung für
Menschen nicht ausreichend befriedigt werden und wenn anerkannte
gesellschaftliche Werte, Normen und Standards verletzt werden. Solche Standards
sind beispielsweise: Kranke Menschen benötigen medizinische Versorgung, Kinder
brauchen die Fürsorge der Eltern, Kinder haben ein Recht auf Erziehung und
Bildung, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, Gewalt gegen Frauen und Kinder
ist unrecht etc.
Die Theorie von Staub-Bernasconi ist systemisch prozessual konzipiert. Das heißt,
alle Dinge in der Welt sind Systeme, die sich im Verlauf der Evolution verändert
haben und weiter verändern werden, alles ist in Bewegung und miteinander
verbunden über Zeit und Raum. Übertragen auf die oben beschriebenen vier
Problemkategorien darf angenommen werden, dass sie im Falle der Sozialen Arbeit
einzeln, jedoch meist in vernetzter Form auftreten: Ausstattungsprobleme generieren
Austausch- und Machtprobleme und Austauschprobleme stehen in engem Bezug zu
31
Ausstattungsproblemen. Treten Probleme als Mehrfachproblematik und gleichzeitig
auf, handelt es sich um soziale Probleme, für die die Soziale Arbeit zuständig ist.
Soziale Probleme
„Soziale Probleme bezeichnen ... Unterschiede, die zwischen Menschen nicht sein
müssen.“ (Engelke 1998, 375). Es sind solche Probleme, die im Zusammenhang mit
den elementaren Bedürfnissen von Individuen nach Integration in die soziale Umwelt
stehen (Obrecht 2002,15ff). Elementare Bedürfnisse und die Zusammenhänge mit
den sozialen Problemen werden wir im Abschnitt „Kern der Theorie“ ausführlicher
behandeln. Folgende Abbildung mag zuerst den systemischen Zusammenhang
dahingehend verdeutlichen, dass alle Arten von Problemen miteinander zu tun
haben:
Graphik 3: Soziale Probleme
Interaktionsprobleme
- Soziale Isolation, Ausschluss
- Fehlende Mitgliedschaften
- Diskriminierung, Ausgrenzung
- Tauschprobleme – Ungleichheit?
Soziale
Probleme
Biologische
Probleme
Positions- bzw. strukturbezogene
Probleme
- Machtlosigkeit, i.S. fehlender Ressourcen
- Niedriger Status, versagte soziale
Anerkennung
- Fremdbestimmung, mangelnder Einfluss
- Soziale Deklassierung
Psychische
Probleme
Physikalischchemische
(ökologische)
Probleme
- Baulich schlechter Wohnungszustand
Schimmelpilz u.ä., keine Heizung
- Schadstoffausstoß
- Schlechte Infrastruktur
Hier geht es insgesamt um mindestens zwei Ebenen sozialer Probleme:
1. Auf der Mikroebene geht es um konkrete Probleme, mit denen die konkreten
Adressat/innen konfrontiert sind (chemisch-physikalisch, biologisch, psychisch und
32
sozial). „Soziale Probleme“ meint hier Probleme einzelner Menschen in der
interaktions- und positionsbezogenen Beziehung zu anderen Menschen.
2. Auf der Makroebene zeigen sich soziale Probleme im üblichen Sinne, also als
Probleme, die Massen von Menschen betreffen, wie Arbeitslosigkeit,
Umweltverschmutzung usw. und damit positive Entwicklungen der Gesellschaft
verhindern.
In Abgrenzung zu soziologischen Definitionen, die soziale Probleme als Ergebnis
eines gesellschaftlich, politischen Konstruktionsprozesses deuten, sind soziale
Probleme aus Sicht der Bedürfnistheorie praktische Lebensbewältigungsprobleme,
die aus dem Ungleichgewicht resultieren zwischen anfallenden Problemen eines
Menschen einerseits und den verfügbaren Ressourcen zu ihrer Lösung andererseits.
3.2.2
Kern der Theorie (Kernbegriffe, Kernaussagen)
Kernbegriffe:
In den letzten Abschnitten wurden die Begriffe System und soziale Systeme, Problem
und soziale Probleme sowie Macht bereits ausführlich behandelt. Im Folgenden
gehen wir auf zwei weitere Kernbegriffe ein, die das Menschbild der Züricher Schule
prägen: menschliche Bedürfnisse und Ausstattung.
Bedürfnisse:
Die Theorie menschlicher Bedürfnisse ist ein Baustein der ontologischen
Systemtheorie, den Werner Obrecht und Staub-Bernasconi anhand von diversen
soziologischen und psychologischen Studien über menschliche Bedürfnisse gelegt
haben.
Die zentrale Kernhypothese ist, Menschen sind bedürfnisdeterminierte Wesen, die
für ihr Wohlbefinden und ihr Glücklichsein auf die Befriedigung ihrer physikalischen,
mentalen und sozialen Bedürfnisse angewiesen sind (Obrecht 2002, 50, Geiser
2004, 52ff):

Biologische Bedürfnisse sind Bedürfnisse nach allem, was ein Individuum zum
Überleben benötigt, saubere Luft, sauberes Wasser, Nahrung, Schutz vor
Hitze und Kälte, physische Unversehrtheit, Regeneration, sexuelle Aktivität
und Fortpflanzung.

Psychische Bedürfnisse sind Bedürfnisse nach Stimulation (durch die
Schwerkraft, Licht, Geräusche oder Klang also z.B. Musik, Sinneseindrücke),
Abwechslung, Ästhetik, lernbare orientierungs- und handlungsrelevante
Informationen, nach effektiven Fertigkeiten, Regeln und (sozialen) Normen,
Sinn und Spiritualität.

Soziale Bedürfnisse sind Bedürfnisse nach Lieben und Geliebtwerden,
anderen zu helfen, sozialer und kultureller Zugehörigkeit, wie z.B.
33
Mitgliedschaft, Einzigartigkeit, Autonomie, Kooperation, soziale Anerkennung,
Gerechtigkeit.
In dem Abschnitt „Definition Soziale Probleme“ erwähnten wir bereits, dass
es lebensnotwendig für alle Menschen auf dieser Welt ist, die eben aufgelisteten
Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn ein Bedürfnis nicht ausreichend oder gar nicht
befriedigt wird, hat man ein Problem. Je nach Kategorie hat man biologische,
chemische, physikalische, psychische oder soziale Probleme.
Aspekte menschlicher Bedürfnisse:
Über die eben aufgezählten Bedürfniskategorien hinaus bezieht sich die Theorie
menschlicher Bedürfnisse auf folgende Aspekte:
 All diese Bedürfnisse sind aufgrund der Struktur des Organismus allen Menschen
gleich, unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Religion und Geographie
(Obrecht 1999, 28).
 Bedürfnisse sind von Wünschen zu unterscheiden (Obrecht 1999, 46 & 55):
o Wie schon mehrfach erwähnt sind Bedürfnisse notwendig zum Überleben.
Dauerhafte mangelnde Bedürfnisbefriedigung kann zu schwerwiegenden
Folgen für Menschen führen (Obrecht 1999, 47f); mangelnde soziale
Anerkennung kann beispielsweise zur Depression führen oder dauerhafter
Hunger kann Untergewicht bis hin zum Tod zur Folge haben. Aufgrund dessen
sind diese Bedürfnisse auch in den Menschenrechten verankert (Borrmann
2006, 195ff, siehe auch Anhang). Anhand dieser Argumentation vertritt die
Züricher Schule die Auffassung, dass Soziale Arbeit eine
Menschenrechtsprofession ist (Staub-Bernasconi 1998). In Vietnam spricht
man in diesem Zusammenhang häufig von lebensnotwendigen Bedürfnissen.
o Wünsche im Sinne von Obrecht bezeichnet man in Vietnam eher als höhere
Bedürfnisse. Sie entstehen im Lernprozess der Menschheit und betreffen die
unterschiedlichen Arten und Weisen, wie die lebensnotwendigen Bedürfnisse
befriedigt werden können (Obrecht 1999, 46). Ein Beispiel: Alle Menschen
brauchen Nahrung, um satt zu werden. Das ist das lebensnotwendige
Bedürfnis. Menschen haben dabei aber gelernt, dass man nicht nur durch eine
einzige Sorte von Nahrung satt werden kann, sondern durch sehr
verschiedene: Menschen in Europa z.B. durch Brot mit verschiedenen
Beilagen wie Käse oder Wurst und Menschen in Asien eher durch Reis mit
Curry-Gemüsepfanne oder Scampi-Spieße. Daher sind Wünsche als
strukturell und kulturell abhängige Begehrlichkeiten in einer Kultur zu
verstehen – bedingt durch Vorhandensein und Verfügbarkeit von
(unterschiedlichen) Ressourcen.
34
o Wünsche können legitim sein, wenn ihre Erfüllung andere nicht an deren
Bedürfniserfüllung hindert. Wünsche sind dagegen illegitim, wenn sie andere
behindern, indem sie ihnen die Ressourcen zur Bedürfnisbefriedigung
vorenthalten (Obrecht 1999, 52). Aus Sicht dieser systemischen Erkenntnisund Bedürfnistheorie besteht menschliches Leben darin, Probleme der
Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung einander gegenüber zu stellen
und zu lernen, diese innerhalb von sozialen Systemen mit anderen Menschen
auszuhandeln (Staub-Bernasconi 1995, 131).
o Wünsche können einen Bedürfnisstatus annehmen, wenn bestimmte Mitteln
zur Bedürfnisbefriedigung so selbstverständlich sind, dass man sich ohne sie
das Leben nicht mehr vorstellen kann, z.B. der Besitz eines Fernsehers hat
mittlerweile Bedürfnisstatus angenommen.
 Um die aufgezählten Bedürfnisse erkennen zu können, darf man sie nicht mit den
Mitteln zur Befriedigung verwechseln. Es gibt im Sinne von Obrecht kein Bedürfnis
nach Geld. Die Frage ist vielmehr, welche (lebensnotwendigen) Bedürfnisse
können mit Geld befriedigt werden? Mit Geld kann man z.B. ein teures Auto oder
ein großes Haus kaufen. Diese Gegenstände können einen hohen Status bringen.
Durch einen hohen Status erfährt man oft eine hohe soziale Anerkennung. Die
Kompetenz, Bedürfnisse zu differenzieren und das eigentliche Bedürfnis erkennen
zu können, braucht eine Sozialarbeiterin aus Sicht der Züricher Schule, um die
Probleme ihrer Adressat/innen zu identifizieren. Dieser Aspekt ging aus unserer
Lehre hervor.
 In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu verstehen, dass
Bedürfnisbefriedigung der zentrale Motor menschlichen Handelns ist. Man tut
etwas, weil man ein bestimmtes Bedürfnis oder mehrere Bedürfnisse auf einmal
befriedigen möchte (Obrecht 1999, 44). Darüber hinaus kann
Bedürfnisbefriedigung aber auch als starker Katalysator für zwischenmenschliche
Konflikte wirken, weil die Art, wie jemand seine Bedürfnisse befriedigt oder
Wünsche erfüllt, die Grenze des anderen verletzen kann.
 Neue Studien liefern den Nachweis, dass sich mehrere Bedürfnisse in unserem
Gehirn gleichzeitig melden. Man spürt, dass man Hunger und Durst hast und kann
gleichzeitig mangelnde Liebeszuwendung durch den Partner empfinden. Dies
widerspricht der These Maslows, dass die biologischen Bedürfnisse gegenüber
den sozialen und kulturellen Bedürfnissen bevorzugt werden (Obrecht 1999, 11f).
Obrecht spricht in diesem Zusammenhang eher von einer Elastizität (Obrecht
1999, 51ff), d.h. verschiedene Bedürfnisse haben unterschiedliche Wartezeiten,
Durst oder Verzicht auf Flüssigkeit lässt sich z.B. einige Tage aushalten, danach
entstehen langfristige Folgen wie Nierenschaden oder Tod; Hunger lässt sich
einige Wochen ertragen. Bei mangelnder sozialer Anerkennung dauert es
35
wahrscheinlich deutlich länger, bis sich negative Folgen, z.B. Depressionen,
zeigen.
 Ob und wie Bedürfnisse befriedigt werden können, hängt zum einem von den
Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten und Ressourcen des Individuums ab, wie
Gesundheit, Arbeit, Familie, Aufbau von Nachbarschaftsbeziehungen,
Freundschaften und sozial verträglichen Konfliktlösungsmöglichkeiten. Zum
anderen hängt es von der Leistungsfähigkeit und den Verteilungsregeln der
sozialen Systeme (auf allen Ebenen) ab. Hier stellen sich z.B. folgende Fragen:
Kann eine Familie ihren Erziehungs- und Fürsorgeauftrag für die Kinder erfüllen,
kann die Schule das Kind angemessen fördern, kann der Social Service der
Familie die notwendige und ausreichende Hilfe anbieten, ist die Versorgung alter
und kranker Menschen durch ein Rentensystem gesichert?
Ausstattung
Menschliche Ausstattung ist einer der Kernbegriffe der ontologischen Systemtheorie.
Einblicke in diesen Kernbegriff ist eine Voraussetzung, um das handlungsrelevante
Konzept der systemischen Denkfigur zu verstehen, das im Abschnitt „Praxisrelevanz“
näher erläutert wird. Anhand einer Analyse menschlicher Ausstattung kann dann
festgestellt werden, welche Ressourcen oder welche Probleme ein Mensch auf der
Ausstattungsebene hat (siehe Definition sozialer Probleme). Die menschliche
Ausstattung besteht aus folgenden Dimensionen (Staub-Bernasconi 1994, 15f; und,
Geiser 2007, 95ff):
1. körperliche Ausstattung: Gesundheit, Geschlecht, Körpergröße, Gewicht,
Alter, Hautfarbe, physische Attraktivität, Gehirnstrukturen vor allem
Nervensystem als Grundlage für die Informationsverarbeitung.
2. Ausstattung für die Informationsaufnahme: Sinnesorgane, durch die man
Reize von außen aufnehmen kann. Das Gehirn erhält diese Reize und
verarbeitet die entsprechenden Informationen. Wenn diese Ausstattung gut
funktioniert, gibt es vorerst keine Hindernisse seitens der Sinnesorgane für die
nächste Informationsaufnahme.
3. Ausstattung mit Erkenntnis- und Erlebniskompetenzen:
Informationsverarbeitung (wahrnehmen, denken, bewerten, empfinden, sich
fühlen, lernen), Wissen (Sachkenntnisse, Kenntnisse über Werte und Normen,
Bilder über sich selbst und andere, Bilder über die Wirklichkeit, Erfahrungen,
Erklärungen, Prognosen, Motivationen, Ziele und Pläne als Grundlage für
Handlungen, Sprache. Die Qualität dieser Ausstattung hängt davon ab, wie
das Gehirn funktioniert und genutzt wird.
4. Ausstattung mit Handlungskompetenzen: Diese Ausstattung hängt mit der
Ausstattung mit Erkenntnis- und Erlebniskompetenzen zusammen. Es sind
Handlungen bzw. sichtbare Aktivitäten, die folgende Eigenschaften haben:
36

Wertorientiert

Zielgerichtete

Automatisiert bzw. routiniert (z.B. Gewohnheiten)

Rollenbezogen
 Kreativ
5. Soziale Ausstattung:
5.1. sozioökonomische Ausstattung: Bildungsgrad, Arbeit, Einkommen,
Vermögen
5.2. sozioökologische Ausstattung: Wohnsituation (Wohnung, Wohnort,
Infrastruktur des Wohnorts z.B. mit Beratungsstellen,
Erholungsmöglichkeiten wie Park, See, Bäume, usw.), in welcher
biologischen, chemischen und sozialen Umwelt man lebt.
5.3. soziokulturelle Ausstattung: Herkunft, ethnische Zugehörigkeit,
Sprachgemeinschaft, Religionsgemeinschaft Schicht oder Milieu, in dem
man aufgewachsen ist,
5.4. Mitgliedschaften in Gruppen, Vereinen, soziale Netzwerke (Kontakte zu
anderen Menschen: Verwandten, Freunden, Nachbaren usw.)
Graphik 4: Individuumanalyse:
3. Ausstattung mit Erkenntnis- und
Erlebniskompetenzen
Wissen (Codes und Bilder),
Werte (Bedürfnisse)
 Motivation
Psychische Eigenschaften
2. Ausstattung für die
Informationsaufnahme (Rezeptoren)
4. Ausstattung mit
Handlungskompetenzen
1. Biologische Eigenschaften
1. Körperliche Ausstattung
5. Soziale Ausstattung
Sozioökonomische Eigenschaften (u.a. soziale Position)
Sozioökologische Eigenschaften der natürlichen und
künstlichen Umwelt (physikalisch-chemische, nicht humanbiologische)
Soziokulturelle Eigenschaften
Mitgliedschaften (= soziale Rollen)
(In Anlehnung: Sagebiel/ Vlecken 2005, 236)
37
All diese Dimensionen beruhen auf menschlichen Bedürfnissen (biologischen,
psychischen, sozialen), wobei das Ausmaß der Ausstattung - Defizit oder
Überschuss - darüber entscheidet, welchen Tauschwert ein Individuum in einer
Gesellschaft hat. Wie hoch oder wie niedrig seine Chancen für die Mitgliedschaft in
den sozialen Systemen ist, zu denen es freiwillig gehören will.
Um es kurz anhand eines Beispiels zu zeigen: Eine alleinerziehende, junge Mutter,
die vielleicht aufgrund von Gewalterfahrungen in der Familie und Partnerschaft unter
gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, ihre physische Attraktivität vielleicht
eingeschränkt (Narben) ist, keine abgeschlossene Schulausbildung und kein
Einkommen verfügt, lebt mit ihrem Kind oder Kindern in einem Frauenhaus,
entwickelt kaum Zukunftspläne oder unangemessene aufgrund ihrer
Sozialisationserfahrungen, hat ein geringes Selbstbewusstsein und keine Kontakte
außerhalb des Frauenhauses und den Sozialarbeiterinnen. Dann kann man mit aller
Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ihre Möglichkeiten einen Schulabschluss
nachzuholen, Arbeit zu finden, medizinische oder therapeutische Hilfe in Anspruch zu
nehmen sind gering.
Kernaussagen:
Menschen sind zentrale Elemente Sozialer Systeme. Sie haben sowohl Bedürfnisse
als auch Ressourcen, mit denen sie ihre Bedürfnisse befriedigen könnten. Da sie
nicht alle Bedürfnisse allein befriedigen können, sind sie auf anderen Menschen
angewiesen. Ihre Probleme entstehen durch mangelnde Ressourcen, die zu
dauerhaft mangelnder Bedürfnisbefriedigung führen können und deshalb gleichzeitig
durch dauerhaft mangelnde Bedürfnisbefriedigung. Die Züricher Schule sieht
Menschen nicht nur als Einzelnen, sondern auch in ihren Verhältnissen mit ihrem
sozialen Umfeld und im allgemein gesellschaftlichen Kontext. Um Adressat/innen
Sozialer Arbeit zu helfen, müssen sich Sozialarbeiter/innen verschiedene
Kompetenzen aneignen: 1. Reflexion über ihre Grundpositionen bzgl. ihrer
Menschenbilder, ihrer Gesellschaftsbilder, 2. Reflexionen über menschliche
Ausstattung und Bedürfnisse, über ihre Probleme, über soziale Interaktionen und die
damit verbundene Machtthematik, 3. Umsetzung der handlungsrelevanten Konzepte
bzgl. der W-Fragen im Zusammenhang mit verschiedenen Wissensformen und der
Systemischen Denkfigur, 4. Hilfeplanung anhand all der eben erwähnen Reflexionen,
Wissen und Praxiskompetenzen. In diesem Rahmen arbeiten die
Sozialarbeiter/innen interdisziplinär, d.h. zusammen mit anderen Disziplinen, die den
Sozialarbeiter/innen bei der Zielerreichung unterstützen. Die eben beschriebenen
Ansprüche an die Soziale Arbeit setzt die Züricher Schule als eins der Ziele für die
Professionalisierung der Sozialen Arbeit (Staub-Bernasconi 2002, 253).
38
3.2.3
Gegenstand Sozialer Arbeit
Basiert auf das oben beschriebene Menschenbild, Gesellschaftsbild und auf ihre
Kernaussagen geht die Züricher Schule aus, dass „Individuen als Komponenten
sozialer Systeme bzw. soziale Systeme mit Individuen als Komponenten“ und ihre
Probleme in allen Formen zum Gegenstand Sozialer Arbeit gehören (StaubBernasconi 2007, 134, Geiser 2007, ff & 310, Obrecht 2001, 94ff)
3.2.4
Funktion oder Auftrag Sozialer Arbeit
Aus Sicht der Züricher Schule besteht die Funktion der Sozialen Arbeit zum einen
darin, den einzelnen Menschen zu unterstützen, seine Bedürfnisse auf Basis von
Gerechtigkeitskriterien zu befriedigen und seine Ressourcen zur selbsttätigen
Bedürfnisbefriedigung soweit wie möglich zu mobilisieren. Zum andern soll die
Soziale Arbeit auf der (sozial)politischen Ebene mitwirken, um menschgerechte
Lebensbedingungen und entsprechende gesellschaftliche Veränderungen
durchzusetzen (Staub-Bernasconi 2002, 254). Das bedeutet, dass die Soziale Arbeit
sowohl einen individuums- wie auch einen gesellschaftsbezogenen Auftrag zu
erfüllen hat – hier wird eine große Nähe zur Sichtweise des lebensweltorientierten
Konzepts deutlich.
3.2.5
Praxisrelevanz (Methoden professionelles Handelns; Beitrag zur Praxis;
handlungsleitend)
Obrecht, Staub-Bernasconi und Geiser arbeiten seit vielen Jahrzehnten an der
ontologischen Systemtheorie nicht nur für eine Gesellschaftsbeschreibung. Vielmehr
möchten sie das Ziel erreichen, eine wissenschaftsbasierte und an Ethik orientierte
Handlungstheorie für eine professionelle Soziale Arbeit zu formulieren.
Die Handlungstheorie basiert auf der oben erläuterten Grundposition, die aus ihrem
Gesellschaftsbild und Menschenbild besteht sowie auf den genannten Bausteinen
der Theorie menschlicher Ausstattung und menschlicher Bedürfnisse, der Theorie
Sozialer Systeme, dem Verständnis von Macht und sozialen Problemen.
Die Handlungstheorie bietet den Sozialarbeiter/innen einen Handlungsrahmen, mit
dem sie Informationen von Adressat/innen systematisch erfassen können, anhand
dessen sie Probleme und Ressourcen von Adressat/innen analysieren und den
Hilfeprozess planen können.
„Innerhalb des systemischen Paradigmas muss aufgrund einer partizipativen, d.
h. von den Problembetroffenen ausgehenden Situations-, Problem- und
Ressourcenerfassung zuerst entschieden werden, im Rahmen und Auftrag
welcher Individuen und sozialen Systeme gearbeitet werden soll. Ein
Spezifikum Sozialer Arbeit ist ihr ,mehrniveaunales‘ und ,mehrsystemisches‘
39
Interventionsspektrum. Die Wahl der Arbeitsziele und Methoden richtet sich
nach den identifizierten sozialen Problemen von Individuen oder/und sozialen
Systemen unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale und Ressourcen
der gewählten Interventionsebene(n) und Systeme.“ (Staub-Bernasconi 2002,
255)
In diesem Kontext sind das Konzept der „systemischen Denkfigur“ und das Konzept
der „W-Fragen“ zu erläutern. Denn diese sind die zentralen Instrumente zur Analyse
von Ressourcen und Problemen der Adressat/innen.
Systemische Denkfigur:
Die Systemische Denkfigur wurde unter dem Namen „prozessuale systemische
Denkfigur“ zuerst von Staub-Bernasconi in ihrer Dissertation im Jahr 1980 entwickelt.
Geiser hat dieses Konzept als „Systemische Denkfigur (SDF)“ weiterentwickelt. Es
handelt sich um eine systematische Darstellung aller Schritte - von der theoretischen
Grundlage bis zur konkreten Umsetzung von Maßnahmen, die die Fachkräfte im
gesamten Interventionsprozess begleitet.
Um die beiden Konzepte praxisnah darstellen zu können, werden wir sie anhand des
folgenden Beispiels erläutern.
Fall:
Minh ist 10 Jahre alt und besucht die 5. Klasse. Er spricht sehr gut Deutsch, aber
kaum Vietnamesisch. Er ist in Deutschland geboren. Seine Eltern leben seit 15
Jahren in Deutschland. Minh spricht und versteht viel weniger Vietnamesisch als
Deutsch und umgekehrt sprechen und verstehen seine Eltern viel weniger Deutsch
als Vietnamesisch. Aus diesem Grund verstehen Minh und seine Eltern einander
sehr schlecht. Minh wohnt mit seinen Eltern in einer engen Wohnung in einem armen
Wohnviertel der Stadt München. Minh wird sehr schnell wütend in Konfliktsituationen
in der Schule. Seine Lehrer/innen wissen nicht mehr, was sie machen sollen, damit
Minh sich verbessert. Eine deutsche Sozialarbeiterin wurde beauftragt, Minh und
seine Eltern zu unterstützen, damit sie ihre eigenen Lösungen finden können.
Im Kern besteht die Systemische Denkfigur aus den drei folgenden Bausteinen:
a. Analyse der Individuen (anhand der Ausstattungskategorien)
b. Analyse der sozialen Beziehungen zwischen den Individuen (b.1.
Austauschbeziehung – horizontal strukturierte Beziehung und b.2.
Machtbeziehung – vertikal strukturierte Beziehung)
c. Werte und Wertprobleme (Problem- und Ressourcenbestimmung in Bezug auf
a. und b.)
40
a. Analyse der Individuen (anhand der Ausstattungskategorien)
Hier nutzt man die Ausstattungskategorien, die im Abschnitt „Kernbegriffe“ behandelt
wurden, um zu beschreiben, über welche Ausstattung die Adressat/innen verfügen,
bzw. welche Ressourcen und welche Ausstattungsdefizite vorhanden sind, die zu
Ausstattungsproblemen führen. Sinnvoll ist es auch, die Ausstattung von Helfer/innen
zu analysieren, denn auch sie gehören zum problemrelevanten System. In der Phase
der Ausstattungsanalyse ist so vorzugehen, dass alle Informationen aufzuschreiben
sind, die man als Fakten von Adressat/innen oder ihren Nahestehenden erhalten hat.
Was nicht in Erfahrung gebracht werden konnte, aber relevant für die
Lösungsfindung ist, könnte man als offene Fragen notieren.
Wenn man z.B. Minhs Ausstattung analysiert, dann gewinnt man folgende
systematisierte Informationen über Minh:
1. Körperliche Ausstattung: Minh ist eine Junge im Alter von 10 Jahren. Er sieht
gut aus.
2. Ausstattung für die Informationsaufnahme: Es liegt keine Diagnose über
Behinderungen vor. Daher kann man zuerst einmal davon ausgehen, dass Minh
Informationen durch seine Sinnesorgane aufnehmen kann.
3. Ausstattung mit Erkenntnis- und Erlebniskompetenzen:
Minh spricht sehr gut Deutsch, aber kaum Vietnamesisch (Sprache,
Artikulationsfähigkeit).
Er besucht zur Zeit die 5. Klasse. Da Minh 10 Jahre alt ist und die 5. Klasse besucht,
kann von einer normalen Geistesentwicklung ausgegangen werden, solange sich
nicht gegenteilige Erkenntnisse ergeben - Informationsverarbeitung (wahrnehmen,
denken, lernen) und Wissen.
Da Minh in Konfliktsituationen sehr schnell wütend wird, stellt sich die Frage, wie gut
er seine stresserregenden Erlebnisse und die damit verbundenen negativen Gefühle
verarbeiten kann.
Das Fallbeispiel lässt weiterhin vermuten, dass Minh und seine Eltern einander auf
der sprachlichen Ebene sehr schlecht verstehen.
4. Ausstattung mit Handlungskompetenzen: Da Minh sehr schnell wütend in
Konfliktsituationen wird, ist in dieser Kategorie die Frage, wie Minh mit Konflikten
umgeht.
Da Minh und seine Eltern einander sehr schlecht verstehen, könnte es sein, dass
Minh deshalb zu Hause nicht viel mit seinen Eltern über Schulprobleme spricht.
Weiterhin stellt sich die Frage, wie er damit umgeht, wenn er seine Eltern nicht
41
versteht. Weitere relevante Fragen sind: Was macht Minh zu Hause nach der
Schule? Liest er oder spielt er mit dem Computer?
5. Soziale Ausstattung:
sozioökonomische Ausstattung: Minh ist in der 5. Klasse. Bekommt er genug
Taschengeld?
sozioökologische Ausstattung: Minh wohnt mit seinen Eltern in einer engen
Wohnung, in einem armen Wohnviertel.
soziokulturelle Ausstattung: Minhs Eltern sind in Vietnam geboren und Minh ist in
Deutschland geboren. Er spricht mehr Deutsch als Vietnamesisch.
Mitgliedschaften: Minh ist in der Schule, d.h. er hat Kontakte zu anderen
gleichaltrigen Kindern und zu seinen Lehrer/innen. Hat er viele Freunde (deutsche
und vietnamesische Freunde), mit denen er außerhalb der Schule Freizeit verbringt?
Hat er seine Großeltern in seiner Nähe?
Er hat eine Sozialarbeiterin, die sich um ihn kümmert.
b. Analyse von sozialen Beziehungen zwischen den Individuen:
Ressourcen und Probleme sind keine unveränderbaren, für immer gültigen Fakten im
Leben eines einzelnen Menschen. Sie verändern sich vielmehr in Beziehung zu
anderen Menschen. Daher wäre eine Ressourcen- und Problemanalyse einseitig und
im Ergebnis verzerrt ohne eine Beziehungsanalyse (Geiser 2007, 151ff).
Dabei geht es um zwei Aspekte: sowohl um die Austauschbeziehung, die
idealtypisch horizontal strukturiert ist, als auch um die Machtbeziehung, die
idealtypisch vertikal strukturiert ist. Wir sprechen von „idealtypisch“ sprechen, liegt
daran, dass da es um Muster geht, die extrem unrealistisch sind, wie z.B. eine völlig
symmetrische Beziehung oder ein Machtverhältnis, in dem eine Person der anderen
vollkommen überlegen ist. Im Rahmen einer Beziehungsanalyse findet aber eine
Orientierung an diesen idealtypischen Mustern statt (Geiser 2007, 184ff).
b.1. Austauschbeziehung – horizontal strukturierte Beziehung
Die Austauschbeziehung richtet sich an einer Interaktionsstruktur, die wir bereits im
Abschnitt „Definition sozialer Probleme“ behandelt haben. Wie oben erwähnt geht es
hier eher um symmetrische Interaktionen, also um ein Geben-und-Nehmen. Anhand
von vier Ausstattungskategorien (abgesehen von der Ausstattung zur
Informationsaufnahme) in der Individuumsanalyse kann man die
Austauschbeziehung zwischen zwei Personen wie in der unteren Graphik
analysieren. So ergeben sich vier Bereiche des Austausches:
42
1. Ko-reflexion, Kommunikation: Wenn zwei Personen miteinander
kommunizieren und gemeinsam anhand eines Themas denken oder lernen,
dann entsteht eine Austauschbeziehung zwischen ihnen. Das passiert auf der
Ebene der Ausstattung mit Erkenntnis- und Erlebniskompetenzen. In dem Fall
der vietnamesischen Familie verstehen sich Minh und seine Eltern aus
sprachlichen Gründen sehr schlecht. Das heißt, sie haben
Austauschprobleme.
2. Ko-operation, Ko-produktion: Hier arbeiten zwei Personen gemeinsam an
einem Ergebnis (eine Mahlzeit, Wohnungsaufräumen, ein gemeinsames
Projekt oder Produkt usw.). Das findet auf der Handlungsebene statt.
3. Körperlicher Austausch: Der körperliche Austausch findet zwischen
Liebenden als sexuelle Aktivität statt, zwischen Freunden oder zwischen
Eltern und Kindern als liebevolle Berührung wie Umarmung, Streicheln usw.
4. Gütertausch: Der Gütertausch findet auf der Ebene sozialer Ausstattung
statt. In der Regel wird materielle Ausstattung ausgetauscht, z.B. Geld,
Gegenstände, Wohnungen, Autos, aber auch Zeit.
(Geiser 2007, 193ff)
Graphik 5: Soziale Systeme bzw. soziale Beziehungen,
Austauschbeziehungen (formal horizontale Systeme)
(in Anlehnung an der Graphik: Geiser 2007, 192)
Kommunikation, Koreflexion
Kooperation
Person A
Koproduktion
Person B
Kontakt i.e.S.
Berührungen, Sexualität
Güteraustausch
b.2. Machtbeziehung – vertikal strukturierte Beziehung
Der Machtbegriff wird im Allgemeinen eher im negativen Sinne gebraucht, d.h. die
Wirkung von Macht wird in der Regel als negativ eingeordnet, z.B. die Macht des
Chefs, wenn sie sich darin äußert, dass er seine Ideen gegenüber seinen
Mitarbeiter/innen zu seinen Gunsten durchsetzt. Das gilt ebenso für die Macht des
Ehemannes, wenn sie darin zum Ausdruck kommt, dass er seine Frau und seine
Kinder schlägt und in der Familie das Sagen hat.
43
Die Theoretiker/innen der Züricher Schule vertreten aber einen neutralen
Machtbegriff, d.h. Macht kann nach ihrem Verständnis sowohl negativ als auch
positiv sein. Es kommt darauf an, ob Macht legitim oder illegitim ist, wie wir es bereits
im Abschnitt „Definition sozialer Probleme“ ausgeführt haben.
Ähnlich wie bei der Analyse der Austauschbeziehung wird die Beziehung von zwei
Personen unter die Lupe genommen. Die Analyse der Machtbeziehung fragt diesmal
aber nach der Ausstattung der beiden Personen unter dem Aspekt ihrer
Machtquellen, sie prüft die Ausstattung daraufhin, ob eine bestimmte Ausstattung
Vorteile bringt oder ob eine fehlende Ausstattung Nachteile mit sich bringt.
In der folgenden Tabelle werden die Macht- und Austauschformen in sozialen
Beziehungen zwischen Individuen einander gegenübergestellt.:
Tabelle 4:
Ausstattung als
Machtquellen
Körperliche
Ausstattung
Ausstattung mit
Erlebnis- und
Erkenntniskompetenzen
Ausstattung mit
Handlungskompetenzen
Machtformen
Machtbeziehung
Austauschformen in der
Austauschbeziehung
Asymmetrische soziale Beziehungen im
Sinne einer behindernden, ungerechten
Machtbeziehung
Symmetrisch soziale
Beziehungen im Sinne eines
gerechten Austausches
Körpermacht
Wer verfügt in der Beziehung über so
viel physische Kraft, dass er andere
damit bedrohen und durch
Gewaltanwendung verletzten kann?
Die Körpermacht kann auch durch
den Körperentzug zum Ausdruck
kommen, z.B. wenn Massen von
Arbeiter/innen demonstrativ nicht zur
Arbeit gehen, um zu streiken.
Modellmacht und Definitionsmacht:
Die Möglichkeit, andere mit Wissen
und eigenen Ideen zu überzeugen
und sie auch gegen Widerstand
durchzusetzen und andere von sich
abhängig zu machen. Wer unterliegt
mit seinem Wissen und seinen Ideen?
Artikulationsmacht (bezogen auf
Sprach- und Ausdrucksfähigkeit)
Körperkontakte,
Zärtlichkeiten, Sexualität
Haben die Akteure
Körperkontakte miteinander,
wenn ja, welcher Art sind sie?
Organisations- und
Positionsmacht:
Die Chance, über Menschen zu
entscheiden, Beziehungen zu knüpfen
und sie für die eigenen Interessen und
Bedürfnisse zu nutzen. Wer hat die
Möglichkeit andere an Handlungen zu
Kooperation: sich
miteinander verständigen
(Kommunikation), etwas, was
Menschen miteinander
gemeinsam tun und teilen.
Welche Aktivitäten teilen
Familienmitglieder
Kommunikation, Austausch
von Informationen, Wissen,
Gefühlen und Erkenntnissen:
Worüber und wie tauschen
sich die Akteure aus, wie
beurteilen die Akteure ihre
Beziehung zueinander?
44
Soziale
Ausstattung
hindern oder zu Handlungen zu
zwingen und Bewegungsfreiheit
gewähren oder zu verweigern? Wer
muss sich Anweisungen unterordnen?
Ressourcen- oder Gütermacht:
Wer verfügt über Güter und
Ressourcen, um sie künstlich zu
verknappen, sie anderen
vorzuenthalten und Abhängigkeiten zu
schaffen? Und wem fehlen die
existenznotwendigen Güter?
miteinander? Was ist es, was
sie gemeinsam produzieren,
wie ist die Arbeitsteilung
geregelt?
Güteraustausch, Austausch
von Kapital und Besitz: Wer
gibt wem was, wer erhält was
von wem?
(In Anlehnung an Sagebiel 2009, 122f)
In dem Beispiel der vietnamesischen Familie geht aus der Perspektive der
Artikulationsmacht hervor, dass Minh seinem Vater im Alltagsleben in Deutschland
überlegen ist, weil die Familie für das Leben in Deutschland deutsche
Sprachkenntnisse braucht. Wenn die Familie in Vietnam zum
Verwandtschaftsbesuch ist, dann ist Minh in der vietnamesischen Sprache seinem
Vater unterlegen. Es geht hier nicht um die Frage, wer besser oder schlechter ist,
sondern um eine Beziehungsbeschreibung, die zu einer wissenschaftsbasierten
Bestimmung von Ressourcen und Problemen der Adressat/innen beiträgt.
Graphik 6: Machtbeziehungen (formal vertikale Systeme), in Anlehnung an der
Graphik Geiser 2007, 215
45
Positions- bzw. Organisationsmacht
Artikulationsmacht
Modellmacht
Körpermacht
Gütertmacht
c. Problem- und Ressourcenbestimmung
In diesem Schritt geht es darum, anhand der Analyse von Individuen, ihren sozialen
Beziehungen und ihren Bedürfnissen, zu bestimmen, mit welchen Problemen die
Adressat/innen gerade konfrontiert sind. Sozialarbeiter/innen müssen begründen,
warum ihre Adressat/innen bestimmte Probleme haben. Mit folgenden Schritten kann
man aus Sicht der Züricher Schule zu einer fundierten Begründung kommen (Geiser
2007, 251):

Nach den Werturteilen der Adressat/innen (was ist ihnen wichtig?) fragen.
Dies ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Adressat/innen an
dem Lösungsprozess selbst teilnehmen bzw. partizipieren können und ihre
Probleme selbst lösen können. In dem Fall, dass die Adressat/innen kein
Problem sehen, die Sozialarbeiter/innen und Fachkräfte anderer Disziplinen
jedoch gefährdende Diagnosen stellen, sind die Sozialarbeiter/innen trotzdem
beauftragt, zugunsten der Adressat/innen ihre Arbeit weiter zu führen.

Wissen über Normen und Standards mithilfe folgender Fragen: Welche Werte
sind nicht realisiert? Was ist gut? Was ist nicht gut? Was sollte sein?
46

Feststellung von Differenzen zwischen Ist- und Sollwerten: Welche
Bedürfnisse der Adressat/innen sind (bisher) nicht gewährleistet worden?

Fachliche fundierte Einschätzung der Situation
Die vier Schritte zur Problem- und Ressourcenbestimmung
Bei diesem Schritt geht es um eine Diskussion um Werte und Wertprobleme, was
bereits im Abschnitt „Kriterien- und Werteprobleme“ behandelt wurde. Es wirkt eine
einfache Diskussion zu sein, denn es sollte eigentlich für alle Menschen klar sein,
wann anerkannte gesellschaftliche Werte, Normen und Standards verletzt werden.
Allerdings ist es im Alltagsleben nicht immer so einfach, klar zu erkennen, was ein
Bedürfnis oder ein legitimer Wunsch ist, vor allem wenn Bedürfnis selbst zu erkennen
und zu formulieren nicht selbstverständlich zur Kindererziehung gehört. Es ist auch
nicht einfach zu erkennen, wo die Grenze bei der Bedürfnisbefriedigung und bei der
Wunscherfüllung ist, d.h. wie man auf einer gerechten Basis, also ohne die anderen
dabei zu beeinträchtigen, seine Bedürfnisse zu befriedigen oder seine Wünsche zu
erfüllen. Gerade dieses Problem löst hauptsächlich zwischenmenschliche Konflikte
aus, wie bereits im Abschnitt über Bedürfnisse erwähnt. Werte und Wertprobleme
innerhalb eines Kulturkreises und zwischen verschiedenen Kulturkreisen ist
bekanntlich immer und überall ein heiß diskutiertes Thema.
Diese Schritte zur Problem- und Ressourcenbestimmung können aus Sicht von
Geiser in der folgenden Tabelle zusammengefasst werden. Manche Formulierungen
wurden im Hinblick auf die Übersetzung ins Vietnamesisch modifiziert:
Tabelle 5:
Handlungsregel
1.Wertabweichung
feststellen
Feststellung von
Differenz zwischen
Ist- und Sollzustand
(Ist = faktischer
Zustand, Soll = der
Zustand, in dem
Bedürfnisse
befriedigt sind – im
Zusammenhang mit
der
Bedürfnistheorie)
Handlungstheoretischer Beschreibung der
Vorgang
Differenz zwischen
Soll- und Ist-Zustand
2.Werturteil
formulieren
Formulierung von
Werturteil, d.h. ob
und welche
Bedürfnisse der
Adressat/innen bei
den formulierten IstSoll-Differenzen
nicht befriedigt
werden (Was ist
gut, was ist nicht
gut? Welche
Bedürfnisse bleiben
dauerhaft nicht
befriedigt?)
Erhebung der
Beschreibungen
durch
Adressat/innen und
3.Problem
bestimmen
Bestimmung von
Problemen
(biologisch,
chemischphysikalisch,
psychisch oder
sozial?)
Problemformulierung,
fachliche fundierte
Einschätzung der
47
Theoretische
Grundlagen für das
professionelle Handeln
Kenntnisse von
Werten
andere
Bedürfnistheorie
Professionelle
Werte und
Berufskodex
Gesellschaftlich
legitimierte Werte
(Menschenrechte,
Gesetze,
Verfassung)
Situation
Theorie sozialer
Probleme
(In Anlehnung an Geiser 2007, 265)
W-Fragen:
Wie können nun Sozialarbeiter/innen die Systemische Denkfigur in einem
Hilfeprozess konkret anwenden? Die Antwort der Züricher Schule auf diese Frage ist,
dass man die Systemische Denkfigur in die W-Fragen integriert. Weil man mit den
W-Fragen einen systematischen Ablauf eines Hilfeprozesses gestalten kann, indem
die Sozialarbeiter/innen mit der „Systemischen Denkfigur“ und mit den „W-Fragen“
Informationen seitens der Adressat/innen, Drittpersonen (Familienangehörigen,
Freunde, Nachbaren), Expert/innen (Psycholog/innen, Ärzt/innen usw.) und ihre
eigenen Beobachtungen der Sozialarbeiter/innen systematisieren können (vgl.
Sagebiel 2012, 103ff). Dass die W-Fragen von verschiedenen Personen beantwortet
werden können, kennzeichnet Geiser als die Vervielfachung der W-Fragen (Geiser
2007, 304). Last but not least: die W-Fragen wurden von der Züricher Schule nicht
willkürlich gewählt und sortiert. Vielmehr steht dahinter die Idee einer systematischen
und wissenschaftlich begründeten Reihenfolge der W-Fragen, die eng mit den
verschiedenen Wissensformen zusammenhängen (Staub-Bernasconi 2007, 204f,
Geiser et al 2009, 274 , Obrecht 2001, 71).
In der folgenden Tabelle werden die W-Fragen in einen Zusammenhang mit den
Wissensformen und mit einem strukturierten Ablauf für eine Hilfeplanung gebracht.
Sie wurde von uns in Anlehnung an Geiser (2007, 292ff; 304ff; 349) erstellt:
Tabelle 6:
Phase 1: Situationsanalyse
Beschreibungs- 1. Was ist los? Wer ist daran beteiligt oder wer gehört zum
wissen
Sozialnetzwerk der Zentralperson? Wo ist passiert? Wann ist passiert?
Mithilfe der Systemischen Denkfigur, vor allem anhand der Analyse des
Individuums und seiner sozialen Beziehungen, wird die gegenwärtige
Situation der Adressat/innen beschrieben. Ziel ist, dass die
Sozialarbeiter/innen möglichst ein vollständiges Bild von den
Adressat/innen als Grundlage für weitere Schritte bekommen.
48
Beschreibungs- 2. Woher? (Vorgeschichte)
wissen
Es geht hier um die Ereignisse in der Vergangenheit, um die
Entstehungsprozesse der Probleme von Adressat/innen zu verstehen.
D.h. man kann hier einen Ausschnitt der Vergangenheit, der unmittelbar
mit der Gegenwart zu tun hat, beschreiben, oder man kann auch mit den
Adressat/innen ihre relevanten biographischen Daten besprechen.
Erklärungs3. Warum ist das so?
wissen
Mit der Warum-Frage versucht man zu Erklärungen zu kommen, warum
die Adressat/innen sich in einem problematischen Zustand befinden. Die
Erklärungen können interdisziplinär sein, d.h. zusammengestellt durch
Fachkräfte aus verschiedenen Disziplinen (Ärzt/innen (physisch,
biologisch, chemisch), Psycholog/innen (psychologisch), Soziolog/innen
(sozial, kulturell), Juristen (rechtlich) usw. Daher spricht die Züricher
Schule von der Bedeutung der Bezugswissenschaften in der Sozialen
Arbeit und in der Sozialarbeitswissenschaft.
Phase 2: Bewertung und Problemdefinition
Wertwissen
4. Was ist gut?
Diese Frage fragt danach, was der Sollwert ist. Die Antwort darauf basiert
auf der Grundlage der Theorie menschlicher Bedürfnisse. (s. Problemund Ressourcenbestimmung)
Zukunftsbilder 5. Wohin im Fall ohne Intervention?
(Prognose)
Formulierung von Zukunftsbildern: Was passiert in der näheren Zukunft,
wenn Herr A, Frau B oder das Kind X nicht in Richtung auf positive
Veränderungen unterstützt wird?
Die Wohin-Frage dient dazu, die Dringlichkeit der gegenwärtigen
problematischen Situation zu verdeutlichen bzw. die zukünftigen Risiken
einzuschätzen.
Problemwissen 6. Was ist nicht gut? Was ist das Problem?
Diese Frage richtet sich danach, welcher Wert nicht erfüllt wird. Die
Antwort darauf basiert auch auf der Grundlage der Theorie menschlicher
Bedürfnisse. (s. Problem- und Ressourcenbestimmung)
Zwischenschritt: Zusammenfassung der Problem- und Ressourcenbeschreibung (keine WFragen)
 Beschreibung der aktuellen Situation (Hauptdaten)
 Probleme
 Ressourcen im Hinblick auf die Problemlösung
 Priorisierung der Probleme
Phase 3: Zielsetzung und Planung
Zielwissen
7. Woraufhin?
Mit dieser Frage werden die Ziele gemeinsam mit den Adressat/innen
formuliert. Um angemessene Ziele zu finden und zu formulieren, richtet
man sich nach der Antwort auf die Frage, was gut ist.
Interventions8. Wie kann das Problem gelöst werden?
wissen
Mit dieser Frage sucht man angemessene Methoden, um die
(Interventionsformulierten Ziele umzusetzen.
theorie, Pläne,
49
Fertigkeiten
Wissen über
Ressourcen
Wissen über
Handelnde
9. Womit kann das Problem gelöst werden?
Bei dieser Frage geht es um die Mittel, mit denen die Ziele umgesetzt
werden können, dafür wird nach den vorhandenen Ressourcen der
Adressat/innen und der Hilfestruktur (Einrichtungen, Krankenhäuser,
Expert/innen) gesucht, was häufig bereits über die Was-Frage geklärt
wurde.
10. Wer könnte bei der Problemlösung mitwirken?
Diese Frage richtet sich besonders auf das Sozialnetzwerk der
Adressat/innen, dazu zählen sowohl Menschen in ihrem nahen
Lebensumfeld wie Familienangehörige, Freunde, Nachbarn als auch
Akteure professioneller Hilfen.
Phase 4: Entscheidung und Implementierung des Planes
Wissen über
11. Welche Entscheidung?
Entscheidungen Eine Entscheidung über die Umsetzung des Hilfeplans muss getroffen
werden.
Phase 5: Realisierung: keine W-Fragen
Phase 6: Evaluation
Evaluations12. Was wurde vom Ziel erreicht? Was wurde nicht erreicht?
wissen
Es soll in regelmäßigen Zeitabständen geprüft werden, ob und inwiefern
die Ziele umgesetzt wurden, anhand der folgenden drei Aspekte:
 Wirksamkeit konkreter Interventionen
 Wirtschaftlichkeit konkreter Interventionen
 Wünschbarkeit konkreter Interventionen
Die Ergebniskontrolle dient nur dazu, die Ergebnisse der Interventionen
zu kontrollieren. Das bedeutet aber nicht, dass der Hilfeprozess bei
dieser Frage endet. Er läuft so lange weiter, bis neue Ziele formuliert
werden und die Sozialarbeiter/innen beauftragt werden, weiter am
Lösungsprozess mitzuwirken.
Mit der Systemischen Denkfigur und den W-Fragen wird die ontologische
Systemtheorie eine der gegenwärtigen Sozialarbeitstheorien im deutschsprachigen
Raum, die die meisten konkreten und handlungsrelevanten Konzepte an die Praxis
liefert.
3.2.6
Auf welchen Ebenen agiert Soziale Arbeit?
Deutlicher als im lebensweltorientierten Konzept wird in der ontologischen
Systemtheorie formuliert, dass Soziale Arbeit auf allen Ebenen agiert: der
Mikroebene (Individuen, Team, Familie), der Mesoebene (Organisation,
Einrichtungen) und der Makroebene (gesellschaftliche Struktur). Denn all diese
Ebenen hängen miteinander zusammen:
50
„Aus systemischer Perspektive sind und bleiben alle individuellen und kollektiven
Akteure, die in irgendeiner Weise mit dem Problem zu tun haben, also Teil des
Problems und/oder seiner Lösung sind, angesprochen und soweit möglich
einzubeziehen also die Problembetroffenen, Problemverursacher, soziale
Bewegungen, Selbsthilfe und Aktionsgruppen, Parteien und Gewerkschaften, Justiz,
sozialverantwortliche Wirtschaftsunternehmen, private wie öffentliche Träger des
Sozialwesens, Nichtregierungsorganisationen usw.“ (Staub-Bernasconi 2002, 253).
3.2.7
Bewertung (Nutzen und Grenzen der Theorie)
Nutzen:
Die ontologische Systemtheorie bietet der Praxis Sozialer Arbeit eine fundierte
Theoriegrundlage und eine Arbeitsweise, mit der Sozialarbeiter/innen ihre Aussagen
wissenschaftlich begründen können. Sie bietet den Sozialarbeiter/innen auch
strukturierte und konkrete Handlungskonzepte, mit denen sie die Theorie in die
Praxis umsetzen können. Das Jugendamt der Stadt München mit dem staatlichen
Auftrag des Kinderschutzes wendet diese Handlungskonzepte seit 2004 im
Hilfeplanverfahren an (Sagebiel/ Vlecken 2005).
Grenzen:
Die ontologische Systemtheorie ist ein großes Theoriegebäude. Es kostet
Student/innen und Fachkräfte große Mühen, sie zu verstehen und in die Praxis
umzusetzen. Das bedeutet auch für Dozent/innen eine große Herausforderung bei
der Vermittlung dieser Theorie. Unter anderem verlangt es von ihnen eine
ausgereifte Didaktik. In der Lehre machen wir meistens dann positive Erfahrungen,
wenn wir unseren Studierenden erst die konkreten Handlungskonzepte, die
entsprechenden Grundbegriffe und die Kernaussagen der Theorie vermitteln und erst
danach die philosophischen Grundlagen (Denktraditionen, Metatheorien,
Menschenbild, Gesellschaftsbild, Ethik u.a.) mit ihnen diskutieren.
Während das Lebensweltkonzept von Thiersch den Aufbau von
Vertrauensbeziehungen zum Adressaten als zentrale Voraussetzung für
professionelle Soziale Arbeit setzt, liegt der Fokus der ontologischen Systemtheorie
in der systematischen Analyse des Individuums und der beteiligten Akteure. Beide
Perspektiven sind wichtig und ergänzen einander, daher regen wir unsere
Studierenden an, beide Theorien und ihre Handlungskonzepte in der Fallbearbeitung
zu kombinieren.
3.2.8 Vorteile und Nachteile bei der Umsetzung in Vietnam
Vorteile:
Mit ihren strukturierten und konkreten Handlungskonzepten bietet die ontologische
Systemtheorie den Theorienutzer/innen auch einen pragmatischen Zugang, der in
51
konkreten Workshops mit Lehrkräften und Studierenden in Vietnam sehr interessiert
aufgenommen wurde. Diese Erfahrungen lassen hoffen, dass diese Theorie auf
positive Resonanz in der Ausbildung und der Praxis der Sozialen Arbeit in Vietnam
stößt.
Im Wissenschaftsdiskurs wie auch im professionspolitischen Diskurs in Vietnam
herrscht Konsens darüber, die Disziplin entlang internationaler Standards
weiterzuentwickeln, wie sie von der IFSW und der IASSW vorgelegt wurden:
„Soziale Arbeit als Beruf fördert den sozialen Wandel und die Lösung von Problemen in
zwischenmenschlichen Beziehungen, und sie befähigt die Menschen, in freier
Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten. Gestützt auf wissenschaftliche
Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift soziale Arbeit
dort ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der Sozialen
Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.“
(http://www.ifsw.org/p38000409.html, page last updated on 17.10.2005)
Hier findet man die Gemeinsamkeit zwischen der ontologischen Systemtheorie, der
Definition Sozialer Arbeit der IFSW und der Orientierung der gegenwärtigen Sozialen
Arbeit in Vietnam: Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession. Wie oben
ausführlich behandelt, sieht die Züricher Schule die Umsetzung der Menschenrechte
in der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und legitimer Wünsche. In Bezug auf
menschliche Bedürfnisse könnten Fachkräfte in Vietnam ihren Adressat/innen helfen,
in einer ihnen angemessenen Weise ihr Menschenbild, ihr Verständnis menschlicher
Bedürfnisse zu ändern: weg von dem von Konfuzianismus geprägten Blick, der
Menschen eher in ihrer Funktionsfähigkeit sieht hin zu einem Blick auf Menschen mit
lebensnotwendigen Bedürfnissen.
Aus der Definition Sozialer Arbeit von Vietnam:
„Công tác xã hội là một hoạt động có tính phát triển cao dựa trên những phương pháp và
nguyên lý đặc biệt với mục đích hỗ trợ các cá nhân, nhóm người, cộng đồng giải quyết các vấn
đề xã hội – vì thế công tác xã hội có nhiệm vụ là vì hạnh phúc của người dân và bình an của xã
hội. (Unicef Vietnam 2008, S. 7)“
kann man die Maxime „Hilfe zur Selbsthilfe“ herauslesen: „Individuen, Gruppen und
Communities bei der Lösung ‚sozialer Probleme‘ zu unterstützen.“ Dieses Prinzip
setzt voraus, dass die Fachkräfte in der Lage sind, mit ihren Adressat/innen relevante
Ressourcen für den Lösungsprozess zu analysieren. Dafür liefert die ontologische
Systemtheorie konkrete Handlungskonzepte, die „Systemische Denkfigur“ und die
„W-Fragen“.
Nachteile oder Herausforderungen:
Obwohl wir gute Erfahrung in der Theorievermittlung mit vietnamesischen
Student/innen und Lehrkräften in Vietnam machen konnten, kann der „Vorwurf“,
diese Theorie sei sehr kompliziert und schwer zu verstehen, nicht ganz von der Hand
gewiesen werden. Diese Kritik hören wir auch von unseren Studierenden. Doch dem
52
kann entgegen gehalten werden: Komplexe Multiproblemlagen – und die sind unser
Alltagsgeschäft – verlangen eine theoretische Abbildung, die genau dieser
Komplexität Rechnung trägt. Eine Verkürzung auf Problemausschnitte wie Krankheit,
Gender, Arbeitslosigkeit, Jugendkriminalität würde dem Gegenstand der Sozialen
Arbeit in keiner Weise gerecht. Nur eine Theorie, die diese Komplexität abbildet,
kann den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Sozialen Arbeit
genügen. Die stringente Systematik dieser Systemtheorie ermöglicht die Reduktion
auf handlungsrelevante Ausschnitte und macht sie attraktiv für Studierende und
Praktiker/innen, die einen Pfad durch den Theorie-Praxis-Dschungel suchen.
Eine weitere Hürde stellt auch die Übersetzungsmöglichkeit bzw.
Übersetzungsunmöglichkeit von wissenschaftstheoretischen Begriffen dar, für die es
keine direkte Übertragung in die vietnamesische Sprache gibt.
Weitere Herausforderungen für einen Transfer nach Vietnam sind die kulturellen und
historischen Differenzen, die der Diskurs über Bedürfnisse, Wünsche und
Menschenrechte auslöst. In der philosophischen Tradition der europäischen
Aufklärung bilden Menschenrechte und Individualität eine zentrale Kategorie,
während die philosophische Tradition Asiens das Kollektiv (die Funktion des
Einzelnen für das Kollektiv) und die Harmonie in der Gemeinschaft in den Mittelpunkt
stellen.
3.3 Zusammenfassung
Wir haben versucht, Soziale Arbeit als eine allgemeine, normative
Handlungswissenschaft am Beispiel von zwei Theorien der Sozialen Arbeit
vorzustellen. „Allgemein, da das Wissen für alle Bereiche der Sozialen Arbeit
qualifiziert, und normativ, weil es wertebegründend und handlungsorientiert ist, und
wissenschaftlich, weil Wissen der Lösung von sozialen Problemen dient“ (Sagebiel
2010, 53). Und soziale Probleme sind das Ergebnis der systemischen
Wechselwirkung von menschlichem Leiden und gesellschaftlichen Bedingungen und
Machtstrukturen. Angesichts dieser Komplexität und der Abhängigkeit der Profession
von den ökonomischen Verhältnissen, der Sozialpolitik und den soziokulturellen
Strukturen und der Abhängigkeit vom Willen und Wollen der Adressaten sollten wir
uns der Begrenztheit der Wirkung unseres Handelns immer bewusst sein. „Niemand
kann einen anderen dadurch stark machen, dass er für diesen anderen arbeitet.
Niemand kann ihn dadurch zum Denken veranlassen, dass er für den anderen denkt“
(Salomon 1926).
53
4 Literaturverzeichnis:
Alinsky, Saul (1999): Anleitung zum Mächtigsein. Ausgewählte Schriften. (Deutsche
Übersetzung von Reveille for Radicals), Göttingen, Lamuv Verlag, 2. Auflage (Rules
for Radicals. A practical Primer for realistic Radicals. Reprint. Vintage Books, New
York NY 1989, Erstausgabe 1971)).
Borrmann, Stefan (2006): Soziale Arbeit mit rechten Jugendcliquen. Grundlagen zur
Konzeptentwicklung, Wiesbaden, VS Verlag
Bunge, Mario/ Mahner, Martin (2004): Über die Natur der Dinge. Stuttgart, Leipzig,
Hirzel Verlag
Erath, Peter (2006): Sozialarbeitswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart,
Kohlhammer
Endruweit, Günter/ Trommsdorf, Gisela (Hrsg.) (2002): Soziale Probleme. In:
Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart, S. 418-419
Engelke, Ernst (1998): Soziale Arbeit als Wissenschaft. Eine Orientierung, Freiburg
i. Br., Lambertus Verlag
Engelke, Ernst (2004): Die Wissenschaft Soziale Arbeit. Werdegang und
Grundlagen, Freiburg i.Br., Lambertus Verlag
Engelke, Ernst (2005): Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die
Menschenwissenschaften. Historische, wissenschaftstheoretische und
bildungspolitische Aspekte, Universität Würzburg, http://sw.fhmuenchen.de/publikationen/lehrmaterialien/sagebiel.de.html, Zugriff: 1.8.12
Engelke, Ernst/ Borrmann, Stefan/ Spatscheck, Christian (2009): Theorien der
Sozialen Arbeit. Eine Einführung, Freiburg i. Br., Lambertus, 5. Auflage
Füssenhäuser, Cornelia/ Thiersch, Hans (2001): Theorien der Sozialen Arbeit. In:
Otto, Hans-Uwe/ Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik,
Neuwied/ Kriftel, S. 1876-1900
Galuske, Michael (2001): Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim
und München
Geiser, Kaspar (2007): Problem- und Ressourcenanalyse in der Sozialen Arbeit.
Eine Einführung in die Systemische Denkfigur und ihre Anwendung, Luzern, Freiburg
i.Br., interact hsa/ Lambertus, 3. Auflage
Geiser, Kaspar/ Vlecken, Silke/ Sagebiel, Juliane (2009): Problem- und
Ressourcenanalyse – Voraussetzung für das Erstellen eines sozialarbeitswissenschaftlich begründeten Befundes (Diagnose), in: Pantucek, Peter/ Dieter Röh
(Hg.): Perspektiven Sozialer Diagnostik. Über den Stand der Entwicklung von
Verfahren und Standards, Berlin, LIT, Reihe Soziale Arbeit – Social Issues, Bd. 5,
Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung, Hochschule für Angewandte
Wissenschaften Hamburg, S. 267-301
International Federation of Social Workers: Definition Soziale Arbeit,
http://www.ifsw.org/p38000409.html, page last updated on 17.10.2005, Zugriff: 1.8.12
54
Lê Bạch Dương/ Nguyễn Thanh Liêm (Hrsg.) (2011): Từ nông thôn ra thành phố.
Tác động kinh tế - xã hội của di cư ở Việt Nam, Hà Nội, Nhà xuất bản lao động
(From countryside to cities. Socioeconomic impacts of migration in Vietnam, Hanoi,
Arbeitsverlag)
May, Michael (2008): Aktuelle Theoriediskurse Sozialer Arbeit. Eine Einführung,
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften
Mengedoth, Ralf (2005): Das Konzept der Lebensweltorientierung, http://www.ejhschweicheln.de/uploads/Ambulant/KonzeptLWO.pdf, Zugriff: 1.8.12
Norlund, Irene/ Gates, Carolyn L./ Vu Cao Dam (Hrsg.) (1995): Vietnam in a
changing world, Richmond, Curzon Press
Obrecht, Werner (1999): Umrisse einer biopsychosozialen Theorie menschlicher
Bedürfnisse. Geschichte, Probleme, Struktur, Funktion, Skript zur gleichnamigen
Lehrveranstaltung am «Interdisziplinären Universitätslehrgang für Sozialwirtschaft,
Management und Organisation sozialer Dienste (ISMOS)», Wien,
Wirtschaftsuniversität Wien, Druck: 13.4.1999
Obrecht Werner (2001): Das systemtheoretische Paradigma der Disziplin und der
Profession der Sozialen Arbeit. Eine transdisziplinäre Antwort auf das Problem der
Fragmentierung des professionellen Wissens und die unvollständige
Professionalisierung der Sozialen Arbeit, Züricher Beiträge zur Theorie und Praxis
Sozialer Arbeit, Hochschule für Soziale Arbeit Zürich, Bd. 4 September
Obrecht Werner (2002): Umrisse einer biopsychosozialen Theorie sozialer
Probleme. Ein Beispiel einer transdisziplinär intergrativen Theorie, Fachtagung
„Themen der Sozialarbeitswissenschaft und ihre transdisziplinäre Verknüpfung“
5.März, 2002 an der Hochschule für Soziale Arbeit Zürich
Obrecht, Werner (2005a): Ontologischer, sozialwissenschaftlicher und
sozialarbeitswissenschaftlicher Systemismus. Ein integratives Paradigma der
Sozialen Arbeit, in H. Hollstein-Brinkmann & S. Staub-Bernasconi (Hrsg.):
Systemtheorien im Vergleich - Versuch eines Dialogs, Wiesbaden, Verlag für
Sozialwissenschaften, S. 93-172
Obrecht, Werner (2005b): Das Systemtheoretische Paradigma der professionellen
Sozialen Arbeit. Ein Kurzportrait, Hochschule für Soziale Arbeit Zürich
Opletal, Helmut (Hrsg.) (1999): Doi moi: Aufbruch in Vietnam, Frankfurt a.M.,
Brandes & Apsel/ Südwind
Sagebiel, Juliane/ Vlecken, Silke (2005): Soziale Arbeit m(M)acht Diagnose –
Allgemeines methodisches Professionswissen als Quelle professioneller Identität, in:
Engelfried, Constance (Hrsg.): Soziale Organisationen im Wandel, Frankfurt/New
York, Campus Verlag, S. 219-248
Sagebiel, Juliane (2009): Der professionelle Umgang mit Armut, in: Maier, Konrad
(Hg.): Armut als Thema der Sozialen Arbeit, Freiburg i.Br., FEL, in der Reihe
„Unterrichtsmaterialien/ Lehrbücher, S. 111-130
55
Sagebiel, Juliane (2010): Alice Salomon – Pionierin der Sozialen Arbeit in Disziplin,
Profession und Ausbildung. In: Engelfried, Constanze; Voigt-Kehlenbeck, Corinna
(Hrsg.): Gendered Profession Soziale Arabeit vor neuen Herausforderungen in der
zweiten Moderne. Wiesbaden, S. 43-60
Sagebiel, Juliane (2012): Teamberatung in Unternehmen, Verbänden und Vereinen.
Niklas Luhmann und Mario Bunge: Systemtheorien für die Praxis, Reihe:
Systemische Impulse für die Soziale Arbeit, Band 2, Stuttgart, ibidem Verlag, unter
Mitarbeit von Edda Vanhoefer
Salomon, Alice (1926): Frauenemanzipation und soziale Verantwortung.
Ausgewählte Schriften, Band 3: Soziale Diagnose, Zweiter Teil. Zur Theorie des
Helfens, S. 300-314. Wolters Kluwer Deutschland GmbH 2004
Schütte, Heinz (2010): Hanoi, eine nachsozialistische Moderne. Beobachtungen,
Impressionen, Reflexionen, Berlin, regiospectra Verlag
Staub-Bernasconi, Silvia (1994 ): Soziale Probleme – Soziale Berufe – Soziale
Praxis, in: Heiner, Maja/ Meinhold, Marianne/ von Spiegel, Hiltrud/ Staub-Bernasconi,
Silvia: Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit, Freiburg i.Br., Lambertus, S. 11101
Staub-Bernasconi, Silvia (1995): Systemtheorie, soziale Probleme und Soziale
Arbeit: Lokal, national, international. Oder: Vom Ende der Bescheidenheit, Bern/
Stuttgart/ Wien, Haupt
Staub-Bernasconi, Silvia (1998): Soziale Arbeit als ‚Menschenrechtsprofession, in:
Wöhrle, Armin (Hrsg.). Profession und Wissenschaft Sozialer Arbeit. Positionen in
einer Phase der generellen Neuverortung, Pfaffenweiler, Centaurus, S. 305-332
Staub-Bernasconi, Silvia (2002): Soziale Arbeit und soziale Probleme. Eine
disziplin- und professionsgezogene Bestimmung, in: Thole, Werner (Hrsg.):
Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, Opladen, Leske + Budrich, S.
245-258
Staub-Bernasconi, Silvia (2007): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft.
Bern.Stuttgart.Wien
Thiersch, Hans/ Grundwald, Klaus/ Köngeter, Stefan (2002):
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, in: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale
Arbeit. Ein einführendes Handbuch, Opladen, S. 161-178
Thiersch, Hans (2005): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis
im sozialen Wandel, Weinheim/ München, Juventa Verlag, 6. Auflage
Unicef Vietnam (2008): Khung chiến lược về chuyên nghiệp hóa công tác xã hội tại
Việt Nam (Allgemeine Strategien zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit in
Vietnam), in: Nguyễn Hải Hữu (Hrsg.) (2008): Khung kỹ thuật phát triển công tác xã
hội, Hà Nội, Nhà xuất bản thống kê (Rahmenprogramm zur Entwicklung der Sozialen
Arbeit, Hanoi, Statistikverlag), S. 5-26
56
Anhang Abb. 73: Übersicht über den Zusammenhang zwischen Bedürfnissen,
Werten, Menschenrechten und –pflichten (Borrmann 2006, 195ff)
Tabelle 7:
Bedürfnisse
Theorie menschlicher
Bedürfnisse nach
Obrecht (1998)
Bedürfnis nach
physischer Integrität
Werte
UN-Manual
(Centre for
Human Rights
1994)
- Leben
- Abwesenheit
von Gewalt
- Freiheit
- Mensch-NaturVerhälnis
Menschenrechte
Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte und Bund
(1989: 396)
Menschenpflicht
Bunge (1989: 396)
- Recht auf Leben und
Sicherheit (3)
- Verbot von Sklaverei (4)
- Verbot von Folter (5)
- Asylrecht (14)
- Recht auf Erholung, Freizeit
und Urlaub (24)
- Recht auf Gesundheit und
Wohlbefinden einschließlich
Nahrung, Wohnung,
ärztliche Betreuung und
soziale Fürsorge (25)
- Anspruch auf Gesundheit
und Wohlbefinden
einschließlich Nahrung,
Wohnung, ärztliche
Betreuung und soziale
Fürsorge (25)
- Schutz der Privatsphäre
- Recht auf Arbeit (23)
- Recht auf Erholung, Freizeit
und Urlaub (24)
- Freiheit der Eheschließung,
Schutz der Familie (16)
- Pflicht, anderen
bei der
Verwirklung ihrer
Grundbedürfnisse
zu helfen
- Pflicht, das
Gesundheitssyste
m zu stützen
- Pflicht, andere zu
beschützen
- Leben
- Freiheit
- Verbot von Folter (5)
-
- Freiheit
- MenschenNatur-Verhältnis
- Recht auf Teilnahme am
Kulturleben (27)
- Pflicht, die kreative
Leistung anderer
zu respektieren
- Freiheit
- Recht auf Bildung,
Entfaltung der
Persönlichkeit (26)
- Recht auf Teilnahme am
kulturellen Leben (27)
- Meinungs- und
Informationsfreiheit (19)
- Recht auf Bildung,
Entfaltung der
Persönlichkeit (26)
- Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit (18)
- Recht auf Bildung (26)
- Pflicht zur
intellektuellen
Ehrlichkeit
- Pflicht zu lernen
Bedürfnis nach den für
die Autopoesie
erforderlichen
Austauschsstoffen
- Leben
Bedürfnis nach
Regenierung
- Leben
Bedürfnis nach sexueller
Aktivität und
Fortpflanzung
Bedürfnis nach
wahrnehmungsgerechter
Stimulation
Bedürfnis nach schönen
Formen in speziellen
Bereichen des Erlebens
(ästhetische
Bedürfnisse)
Bedürfnis nach
Abwechselung/
Stimulation
- Leben
Bedürfnis nach
assimilierbarer
orientierungs- und
handlungsrelevanter
Information
Bedürfnis nach subjektiv
relevanten Zielen und
Hoffnung auf Erfüllung
- Freiheit
-
- Pflicht, die Umwelt
zu schützen
- Pflicht der Freizeit
und Ruhe der
anderen zu
respektieren
-
- Pflicht, das Wissen
anderer zu teilen
- Pflicht, tolerant
gegenüber
religiösen
57
(Bedürfnis nach Sinn)
- Recht auf Meinungs- und
Informationsfreiheit (19)
-
Überzeugungen zu
sein
- Pflicht, zu lernen
und sich
weiterzubilden
- Leben
-
- Solidarität
- Soziale
Verantwortung
- Recht auf soziale
Sicherheit, Anspruch auf
wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte (22)
- Anspruch auf Gesundheit &
Wohlbefinden inkl.
Nahrung, Wohnung,
ärztliche & soziale
Betreuung, Fürsorge (25)
- Verbot von Sklaverei (4)
- Anerkennung als
Rechtsperson (6)
- Recht auf
Staatsangehörigkeit (15)
- Freiheit der Eheschließung,
Schutz der Familie (16)
- Versammlungs- und
Vereinsrecht (20)
- Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit (18)
- Wahlrecht (21)
- Verbot der Diskriminierung
nach Rasse, Geschlecht,
Religion, politische
Überzeugung (2)
- Anerkennung als
Rechtsperson (6)
- Recht auf Leben, Freiheit
und Sicherheit (3)
- Verbot von Sklaverei (4)
- Auswanderungsfreiheit (13)
- Recht auf individuelles und
gemeinschaftliches
Eigentum (17)
- Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit (18)
- Verbot der Diskriminierung
nach Rasse, Geschlecht,
Religion, politische
Überzeugung (2)
- Anerkennung als
Rechtsperson (6)
- Recht auf
Staatsangehörigkeit (15)
- Wahlrecht (21)
- Recht auf Arbeit (23)
- Pflicht, andere zu
unterstützen
- Pflicht, anderen zu
helfen
Bedürfnis nach
effektiven Fertigkeiten,
Regeln und (sozialen)
Normen zur Bewältigung
von (wiederkehrenden)
Situationen
Bedürfnis nach
emotionaler Zuwendung
Bedürfnis nach
spontaner Hilfe
- Gerechtigkeit
- Solidarität
- Soziale
Verantwortung
Bedürfnis nach
sozialkultureller
Zugehörigkeit durch
Teilnahme
(Mitgliedschaft in
Familie, Gruppe,
Gesellschaft (Sippe,
Stamm, „Ethnie“,
Region, Nationalstaat)
- Solidarität
- Soziale
Verantwortung
Bedürfnis nach
Unverwechselbarkeit,
nach biopsychosozialer
Identität
- Freiheit
- Gleichheit
Bedürfnis nach relativer
Autonomie
- Freiheit
- Gleichheit
Bedürfnis nach sozialer
Anerkennung
- Freiheit
- Gerechtigkeit
- Soziale
Verantwortung
- Pflicht, sich einer
destruktiven
Vereinigung zu
entziehen
- Pflicht, zu
partizipieren
- Pflicht, den
Lebensstil und die
Privatsphäre
anderer zu
respektieren
- Pflicht die
Privatsphäre
anderer zu
respektieren
- Pflicht, den
Lebensstil zu
respektieren
- Pflicht, Freunden
gegenüber loyal zu
sein
- Pflicht, Menschen
zu helfen, ihre
eigenen
Lebenspläne zu
verwirklichen
58
Bedürfnis nach
(Austausch)Gerechtigkeit
- Gerechtigkeit
- Solidarität
- Recht auf Teilnahme am
Kulturleben (27)
- Gleichheit vor dem Gesetz
(7)
- Anspruch auf Rechtsschutz
(8)
- Schutz vor willkürlicher
Verhaftung und
Ausweisung (9)
- Anspruch auf unparteiliches
Gerichtsverfahren (10)
- Unschuldsvermutung,
Verbot der Rückwirkung
von Strafgesetzen (11)
- Recht auf soziale
Sicherheit, Anspruch auf
wirtschaftliche soziale und
kulturelle Rechte (22)
- Recht auf eine soziale und
internationale
Menschenrechte
verwirklichende Ordnung
(28)
- Pflicht, anderen zu
erlauben, ihre
Chancen zu
ergreifen
- Pflicht, gerechte
Gesetze
einzuhalten
- Pflicht, zu helfen
59
Herunterladen