I WAS IST EIN SYNDROM? Syndrom ist griechisch und heißt Zusammenlauf. In der Medizin bedeutet es ein Muster multipler Anomalien, die bekannter- oder vermutetermaßen verbunden sind. Der Begriff „Syndrom“ ist also – kurz gesagt – ein Kürzel für einen Symptomenkomplex. In der modernen Westlichen Medizin kann der Name des Syndroms etwas über die Krankheit aussagen oder auch nicht: Sick-Sinus-Syndrom bedeutet, dass das Reizleitungssystem des Herzens – der Sinusknoten – krank ist. Es gibt aber auch Namen für Syndrome, die an sich über die Krankheit gar nichts aussagen, z. B. Rett-Syndrom oder Down-Syndrom. Nur wenn man weiß, welcher Symptomenkomplex hinter solch einem Eigennamen steht, kann man etwas damit anfangen. 证 zheng – zhèng nennt man in der TCM ein Syndrom, besser ein Muster. Umgangssprachlich bedeutet dieses Zeichen nachweisen, Nachweis, Bescheinigung. Zheng kann in der Medizin auch etwas anderes bedeuten. Es wird dann mit anderen Zeichen geschrieben; gesprochen ist aus dem Zusammenhang erkennbar, um welches zheng es sich handelt: 症 zheng – zhèng, im 4. Ton ausgesprochen, bedeutet ganz allgemein ein Symptom 症 zheng – zhëng, das gleiche Zeichen, aber mit anderer Betonung ( im 1. Ton) ausgesprochen, bedeutet Zusammenballung, Konglomerat, damit sind Tumore gemeint 征 zheng – zhëng, ebenfalls im 1. Ton, bedeutet ein konkretes Symptom, z. B. den Zustand des Zungenbelages als Indikator für das Stadium einer fieberhaften Erkrankung und den Zustand des Patienten. Der Unterschied zwischen dem westlichen und dem TCM-Begriff „Syndrom“ wird am besten in der Vergleichstabelle sichtbar: Was ist ein Syndrom? Westliche Definition TCM-Definition Ein Syndrom ist ein Kürzel zur Beschreibung eines Symptomenkomplexes, das mehr oder weniger über die Krankheit, in der Regel aber nichts über den Zustand des Patienten aussagt Ein chinesisches Syndrom/Muster beinhaltet die Beschreibung des Gesamtzustandes des Patienten aufgrund der wahrnehmbaren und explorierbaren Symptome Beinhaltet die Ursache: Pathogene Faktoren im Sinne der TCM, Lokalisation der Erkrankung, Zustand des Patienten, Stadium, Schwere und Trend der Krankheit, Symptome sowie funktionelle Zustände – Hyper- bzw. Hypofunktion Gibt Hinweise auf Widerstandskraft und Reaktion des Körpers auf Pathogene Faktoren und Balancestörungen Beispiele: Sick-Sinus-Syndrom weist auf Erkrankung des Reizleitungssystems des Herzens hin Down-Syndrom ist nur für Eingeweihte als Mongolismus erkennbar Beispiele: Ein Ulcus ventriculi kann unter ganz verschiedenen Chinesischen Diagnosen laufen (siehe unten) Diagnose leitet nur den Wissenden zur gängigen Therapie der Erkrankung nach „State of the Art“ – ohne Berücksichtigung der individuellen Unterschiede Diagnose leitet zur individuellen Therapie, z. B. Pathogene Faktoren müssen entfernt, Mängel müssen wieder aufgefüllt, Disharmonien harmonisiert werden usw. Wir im Westen arbeiten analytisch. Wir wollen alles ganz genau wissen, wir zerlegen die Welt in Atome, die Atome in Neutronen, Positronen, Elektronen – die Analyse kann uns nicht genug ins Detail gehen. Was den Patienten betrifft, können wir nicht genug Befunde erheben, die es dann zu sanieren gilt. Letztlich belegen wir die Krankheit mit einem Namen, der oft nichts anderes ist als ein Eigenname wie Maier oder Müller. Ulcus ventriculi sagt uns beispielsweise, dass ein Magengeschwür vorliegt, sagt aber nichts darüber aus, wie es dem Patienten damit geht. Wir isolieren sozusagen die Krankheit vom Patienten und können aus der Diagnose daher auch nur die Behandlung der Krankheit ableiten, nicht aber die Behandlung des Individuums Mensch mit dieser Krankheit. Die TCM hingegen arbeitet empirisch, sie hat – aus ihrer Entstehungszeit heraus zu verstehen – gar nicht die Möglichkeit, die Letztursache (oder was wir im Westen heute dafür halten) zu diagnostizieren. Daher ist sie auf Beobachtung angewiesen und lehrt uns so, den kranken Menschen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, auf aktuelle Symptome zu achten. Die TCM beschreibt eine Krankheit und wie es dem Menschen damit geht – das individuelle Bild des Menschen mit seiner Krankheit. Sowohl Westliche Medizin (WM) als auch Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) haben fixe Regeln für Diagnostik und Therapie. Der große Unterschied besteht darin, dass sich die WM an Befunden orientiert und die Krankheit mehr oder minder isoliert vom Patienten betrachtet. Die TCM hingegen orientiert sich am aktuellen individuellen Befinden. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel beschreibt Kaptchuk: Bei 6 Patienten wird röntgenologisch und endoskopisch ein Magengeschwür festgestellt. Die nachstehende Tabelle zeigt, was die TCM dazu sagt: Westliche Diagnose 1. Ulcus ventriculi TCM-Diagnose 1. Feuchte Hitze befällt die Milz Therapieprinzip 1. Hitze klären, Feuchtigkeit drainieren 2. Magen-Yin nähren 2. Ulcus ventriculi 2. Mangelndes Yin beeinträchtigt den Magen 3. Ulcus ventriculi 3. Yang-Mangel beeinträchtigt den Magen 3. Yang des mittleren Erwärmers wärmen und stärken 4. Ulcus ventriculi 4. Kalte Feuchtigkeit greift den Magen an 4. Kälte wärmen, Feuchtigkeit ausleiten/transformieren 5. Ulcus ventriculi 5. Disharmonie der Milz stört die Leber 5. Leber und Milz harmonisieren 6. Ulcus ventriculi 6. Gestautes Blut im Magen 6. Blut-Stase auflösen, Blutung stillen Diagnose und Therapie 6-mal gleich Diagnose 6-mal individuell Therapie: 6-mal individuell Nach westlicher Betrachtungsweise haben wir hier 6-mal den gleichen Befund: Ulcus ventriculi – völlig isoliert vom Menschen. Also wird 6-mal die gleiche Therapie verschrieben. Nach traditionell chinesischer Diagnostik haben wir es mit sechs verschiedenen individuellen Krankheitsbildern zu tun, und jedes erfordert – je nach der Symptomatik – eine andere Therapie. Die TCM schert sich nicht darum, was – im westlichen Sinn – „eigentlich" dahinter ist. Die Beobachtung der Phänomene genügt ihr – musste ihr genügen: vor 2500 Jahren gab es ja weder Röntgen noch Endoskopie und schon gar keine Mikrobiologie! Das darf aber TCM-Praktizierende nicht daran hindern, neue Erkenntnisse in ihre Überlegungen einzubeziehen: Z. B. Crataegi Fructus wurde ursprünglich als Digestivum für fette und proteinreiche Nahrung verwendet. Heute findet man Crataegus auch in modernen Rezepten für entsprechende Herzerkrankungen. In der TCM-Diagnose wird bereits im Namen des Syndroms auf den Punkt gebracht, worum es bei der gegenständlichen Krankheit eigentlich geht und wo daher die Therapie ansetzen muss. Und genau darum geht es bei der chinesischen Syndromdiagnostik. Die Polarisierung in „rein symptomatische Westliche Medizin“ und „ganzheitliche Chinesische Medizin“ ist schlicht und einfach falsch. Es muss vielmehr heißen: Die TCM ist eine primär symptomorientierte Medizin und schließt – im Gegensatz zur modernen Westlichen Medizin – stets möglichst viele Parameter ein. Dazu gehören objektiv mit den Sinnesorganen des Untersuchers wahrnehmbare Symptome wie Gesichtsfarbe, Hauttemperatur, Pulsgeschwindigkeit etc., aber auch das subjektive Empfinden und das aktuelle Befinden des Untersuchten sowie konstitutionelle, psychische und Umwelteinflüsse. Im Sinne der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie ist sie daher als ganzheitlich zu verstehen. 1 Diagnosemethoden – Krankheits- und Syndrom-/Muster-Differenzierung In der modernen Westlichen Medizin gibt es für jede bekannte Krankheit einen State of the art –eine genormte Behandlungsrichtlinie. Individualität ist dabei weitgehend ausgeschlossen. In China gibt es Ärzte für Moderne Westliche Medizin und Ärzte für Traditionelle Chinesische Medizin. Der TCM-Arzt kann zwischen zwei verschiedenen Diagnoseverfahren auswählen: 1. Bian bing – biàn bìng 辨 病 ist die einfache westliche Krankheits-Diagnose, z. B. Bronchitis. Diese Methode ist zulässig, wenn die Diagnose ganz eindeutig ist wenn eine effektive Behandlung bekannt ist; wenn nicht, dann gilt sie als unethisch. 2. Bian zheng – biàn zhèng 辩 证: chinesische Syndrom- oder besser Musterdiagnostik. Diese Methode kommt zum Einsatz wenn die Diagnose nicht ganz klar ist bei Multimorbidität wenn der Patient bei vorliegender westlicher Diagnose mehr wissen will, z. B. „Was ist mit meinem Qi, Yin und Yang? wenn keine effektive Behandlung möglich ist (fortgeschrittenes Malignom). Individualität und Einbeziehung möglichst vieler Parameter ist in der chinesischen Syndromdiagnostik nicht nur erlaubt, sondern sogar verpflichtend! Die chinesische Syndromdiagnose führt direkt zur Therapie, besser gesagt zum Therapieprinzip (→ Kapitel „Die Acht Therapiemethoden und die unzähligen Therapieprinzipien“, Seite 21–22) Zwei kryptische Sätze sind in allen chinesischen TCM-Lehrbüchern zu finden. „Verschiedene Methoden für die gleiche Krankheit“ – tong bing yi zhi – tóng bìng yì zhì 同病异治 bedeutet, dass bei ein und derselben modernen westlichen Diagnose aufgrund der individuellen Symptomatik unterschiedlich behandelt werden muss (siehe „Kaptchuks Erlebnis“). „Gleiche Methode für verschiedene Krankheiten“ – yi bing tong zhi – yì bìng tóng zhì 异病同治 bedeutet, dass sich beispielsweise ein Milz-Qi-Mangel als Diarrhoe, Darmträgheit, Prolaps, Inkontinenz oder als funktionelle Uterusblutung manifestieren kann und dass das Behandlungsprinzip immer das gleiche ist: Qi und Milz stärken. Methoden der Muster-Differenzierung Es gibt zahlreiche Methoden der Musterdifferenzierung. Hier eine kleine Auswahl davon: TCM-Differenzierungsschemata nach Flaws/Finney/Ramakers Diagnostik-Methode Acht Prinzipien Wofür gut Vordifferenzierung, Bestimmung der Strategie, Hinweis auf die 8 therapeutischen Methoden Spezielles 1. Frage immer: Außen oder Innen? Fünf Elemente/ Wandlungsphasen Vordifferenzierung, wenn alles auf ein Element hinweist; Disharmonie-Muster Wasser – Holz – Feuer – Erde – Metall Zang fu – Innere Organe Immer Kombination mit Mustern nach den Acht Prinzipien, Qi, Blut, Körperflüssigkeit oder Disharmonien nach den Fünf Elementen Akupunktur über die Hauptmeridiane, primär meist Arzneitherapie Qi und Blut Mangel, Stagnation, Gegenfluss Akupunktur kann keine Substanzen ergänzen, bewegt nur Yang-Qi, hingegen Blut etc. nur sekundär Arzneitherapie kann Substanzen ergänzen und spezifisch bewegen Körperflüssigkeit Mangel, Stagnation, Überfließen Primär Arzneitherapie Pathogene Faktoren Verursachen Störung in Meridian, Schicht oder Organ 1. Akupunktur, 2. Arzneitherapie Meridiane und Kollateralen Bewegungsapparat Die Akupunktur-Muster! Shang Han Lun – Sechs Meridane Tai Yang Yang Ming Shao Yang ------------------------Tai Yin Shao Yin Jue Yin Gewöhnliche Erkältung. Beschrieben wird das Fortschreiten von Wind-Kälte über die 6 großen Meridiane von außen nach innen 1. Akupunktur, 2. Arzneitherapie Wen bing – Vier Schichten Foudroyant verlaufende hoch fieberhafte Erkrankungen wie Influenza, Pest etc. Arzneitherapie nach Wen Bing – Wärmekrankheiten wèi 卫 – Abwehr qì 气 – Energie yíng 营 – Nährebene xuè 血 – Blutebene Das Pathogen ist primär Wind-Hitze Moderne Westliche Medizin 3Erwärmungen sãn jião 三 焦 Feuchte Hitze Arzneitherapie/Akupunktur Je nach den Beschwerden der PatientInnen und je nach Schule wird die passende Syndromdifferenzierung ausgewählt. Ein und dasselbe Krankheitsbild lassen sich oft nach unterschiedlichen Methoden einordnen. Beispiel: Ein grippaler Infekt ist am Beginn nach den Acht Prinzipien ein äußeres Muster, nach Pathogenen Faktoren eine Wind-Kälte-Attacke, nach Shang Han Lun Wind-Kälte im Tai Yang; später, wenn „die vier Großen“ auftreten (Puls, Fieber, Durst und Schwitzen), ist es ein Yang-Ming-Syndrom; bei Fieber, Husten und heftigen Halsschmerzen spricht man von Hitze in der Lunge usw. Bob Flaws wurde einmal gefragt, wie er denn die richtige Syndromdiagnostik auswähle. Seine Antwort: „Wie Schuhe: Zu einer Hochzeit geht man nicht in Jogging-Schuhen und zum Jogging nicht in Lackstiefelchen!“