Schleiermachers Religionsbegriff und die Philosophie des jungen

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Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik
Schleiermachers Religionsbegriff und
die Philosophie des jungen Heideggers
Inaugural-Dissertation
zur Erlangung des akademischen Grades
eines Doktors der Philosophie
vorgelegt von
Sang-Youn Han
aus Inchon, Korea
Dekan: Prof. Dr. W. Jaeschke
Referent: Prof. Dr. G. Scholtz
Korreferent: Prof. Dr. H.-U. Lessing
Tag der mündlichen Prüfung: 21. Juli 2005
Bochum, den Juli 2005
INHALT
EINLEITUNG: HEIDEGGERS REZEPTION DER
RELIGIONSPHILOSOPHIE VON SCHLEIERMACHER.........................................6
1. HERMENEUTIK UND PHÄNOMENOLOGIE ............................................................................................... 10
2. DER PRIMAT DER PRAXIS UND DIE ‚SORGE‘ DES DASEINS .................................................................... 15
3. RELIGION UND DIE GESCHICHTLICHKEIT DES FAKTISCHEN LEBENS ...................................................... 25
4. SPRACHE, WELT UND SEIN ................................................................................................................... 36
I. SCHLEIERMACHERS BEDEUTUNG FÜR DIE HERMENEUTIK DES
FAKTISCHEN LEBENS................................................................................................43
1. DIE QUELLEN VON HEIDEGGERS HERMENEUTIK .................................................................................. 53
1.1. Zum philosophischen Verhältnis von Phänomenologie, Hermeneutik und Theologie
beim frühen Heidegger........................................................................................................................ 54
1.1.1. Die Frage nach dem Sein im scholastischen Umfeld .............................................................................60
1.1.2. Heideggers Husserl-Rezeption...............................................................................................................62
1.2. Heideggers Abkehr von der Phänomenologie Husserls ............................................................... 66
1.2.1. Geschichte als Leitwort bei Heideggers Kritik an Husserl.....................................................................67
1.2.2. Heideggers Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Schleiermachers ...........................................69
1.2.3. Zur Frage nach der Motivation für Heideggers hermeneutische Wende................................................71
2. HERMENEUTIK UND GESCHICHTE ......................................................................................................... 75
2.1. Das apophantische Als und das hermeneutische Als ................................................................... 76
2.2. Die Bedeutsamkeit ....................................................................................................................... 79
2.2.1 Die Bedeutsamkeit als Zusammenhang der Bezüge des Daseins auf seine Welt....................................79
2.2.2. Bedeutsamkeit und Zuhandenheit..........................................................................................................81
2.3. Das Problem der Heideggerschen Umweltanalyse: Bedeutsamkeit, Wissen und Denken ........... 83
2.3.1. Die Welterschlossenheit im Alltagsleben und das Denken ....................................................................84
2.3.2. Das vortheoretische Etwas und die Unheimlichkeit des Lebens ............................................................87
2.4. Das faktische Leben und die Geschichte...................................................................................... 89
2.4.1. Die Selbstgenügsamkeit und Unruhe des faktischen Lebens .................................................................90
2.4.2. Die Selbstwelt und die Geschichte.........................................................................................................92
1
EXKURS: SCHLEIERMACHERS BEGRIFF DES REINEN DENKENS UND HEIDEGGERS BEGRIFF DES
BEDEUTENS ............................................................................................................................................... 95
3. DIE RELIGION UND DIE EXISTENZONTOLOGISCHE FUNDIERUNG DES NICHTS: R. OTTOS
BEDEUTUNG FÜR DIE SCHLEIERMACHER-REZEPTION HEIDEGGERS ........................................................ 101
3.1. R. Ottos Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls ..................................... 101
EXKURS: DAS GEFÜHL UND DAS URTEIL .................................................................................................. 104
A. Das Gefühl als allgemeines Lebenselement ................................................................................. 105
B. Das Gefühl als Urteil und das Abhängigkeitsgefühl .................................................................... 107
C. Das Kreaturgefühl und das Abhängigkeitsgefühl: Urteil und Urteilsenthaltung .......................... 115
3.2. Das Heilige von R. Otto und dessen Bedeutung für die Schleiermacher-Rezeption
Heideggers ........................................................................................................................................ 118
3.2.1. Heideggers Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls ...........................................120
3.2.2. Die religiöse Betrachtung und die Unheimlichkeit des Seins ..............................................................122
3.3. Die existenzontologische Fundierung des Nichts im theologischen Umfeld ............................. 124
3.3.1. Die vita religiosa..................................................................................................................................126
3.3.2. Die Angst.............................................................................................................................................127
3.4. Das religiöse Gefühl und die Angst als Stimmung der ursprünglichen Geworfenheit des
Daseins in die Welt ........................................................................................................................... 128
3.4.1. Die Geworfenheit und das Nichts ........................................................................................................129
3.4.2. Die Duplizität der selbstweltlichen Lebenserfahrung: Die Eigentlichkeit und die
Uneigentlichkeit.............................................................................................................................................131
3.5. Die Religion und die Entschlossenheit des Daseins zum Sein ................................................... 135
II. SCHLEIERMACHERS BEGRÜNDUNG DER RELIGION UND DIE
PHÄNOMENOLOGIE .................................................................................................137
1. SCHLEIERMACHERS BEGRIFF DER RELIGION....................................................................................... 141
1.1. Das Gefühl und die Epoché........................................................................................................ 141
1.2. Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher ...................................................... 143
1.2.1. Zur Frage der Psychologisierung der Religion bei Schleiermacher .....................................................144
1.2.2. Die Identifizierung der Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein in der
Glaubenslehre ................................................................................................................................................148
2. SELBSTBEWUßTSEIN UND RELIGION.................................................................................................... 151
2.1. Diltheys Interpretation des Begriffs Religionsgefühl bei Schleiermacher ................................. 152
2.1.1. Die Weltbezogenheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins und das Gottesbewußtsein......................154
2
2.1.2. Der Sinn der Ursprünglichkeit des religiösen Selbstbewußtseins bei Schleiermacher........................159
2.2. Die Selbstbewußtseinstheorie des jungen Schleiermachers ....................................................... 163
2.2.1. Das Verhältnis zwischen der Religion und dem unmittelbaren Selbstbewußtsein...............................165
2.2.2. Schleiermachers Jugendschriften über den Spinozismus und das Problem des
Selbstbewußtseins..........................................................................................................................................167
2.2.3. Die Unzulänglichkeit des Substanzbegriffs für die Erklärung der Einheit des
Selbstbewußtseins..........................................................................................................................................171
2.3. Die phänomenale Welt............................................................................................................... 176
3. DAS SELBSTBEWUßTSEIN, DIE WELT UND GOTT ................................................................................. 182
3.1. Die Welt als Offenbarung Gottes ............................................................................................... 182
3.2. Das Leben als Einheit von Spontaneität und Rezeptivität.......................................................... 185
3.2.1. Das Selbstbewußtsein als Gefühl unseres Seins in der Welt................................................................186
3.2.2. Das Gefühl unseres Seins in der Welt und das Freiheitsbewußtsein....................................................187
3.2.3. Das Gefühl unseres Seins in der Welt und das Gottesbewußtsein .......................................................189
3.2.4. Das relative und das absolute Abhängigkeitsgefühl.............................................................................191
3.3. Der Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt ..................................................... 193
3.3.1. Die ungeteilte Unendlichkeit als Existenzgrund des endlichen Seins ..................................................194
3.3.2. Das phänomenische Wesen des Weltbewußtseins als Ursache für den Glauben an die
ursprüngliche Vollkommenheit der Welt.......................................................................................................196
3.3.3. Die Bedeutung der Vollkommenheit der Welt.....................................................................................197
3.3.4. Die Bedeutung der Ursprünglichkeit der vollkommenen Welt ............................................................199
3.4. Die Allgegenwart Gottes im menschlichen Bewußtsein als Ursache des Glaubens an die
ursprüngliche Vollkommenheit der Welt.......................................................................................... 201
3.4.1. Zwei Mißverständnisse des Schleiermacherschen Begriffs der Gottesgegenwart in uns .....................201
3.4.2. Die Allmacht Gottes als Inbegriff der Einwirkung des Seins auf den Menschen.................................204
3.4.3. Das religiöse Gefühl und das Kantische Apriori..................................................................................206
3.4.4. Das Natürliche und das Sittliche im Leben..........................................................................................210
4. DIE PHILOSOPHISCHE KONTINUITÄT ZWISCHEN DEN JUGENDSCHRIFTEN SCHLEIERMACHERS
UND SEINER GLAUBENSLEHRE ................................................................................................................ 214
4.1. Die Auseinandersetzung des jungen Schleiermachers mit Kant ................................................ 216
4.1.1. Kants Kritik an dem Paralogismus der Seelenlehre der rationalen Psychologie ..................................216
4.1.2. Schleiermachers Kritik an dem Kantischen Begriff der noumenischen Person ...................................218
4.2. Die Religion als Ausrichtung des Menschen auf das Sein ......................................................... 223
4.2.1. Schleiermachers Ablehnung der Idee der Vielheit der noumenischen Substanzen ..............................226
4.2.2. Die Welt – ein substantielles Sein?......................................................................................................228
4.3. Gott und das Universum............................................................................................................. 231
4.3.1. Das Universum als ein phänomenologischer Grenzbegriff..................................................................231
4.3.2. Die Rolle des Gottesbegriffs für die Religionsphilosophie Schleiermachers.......................................233
3
III. SEIN UND EXISTENZ ..........................................................................................236
1. SCHLEIERMACHERS BEGRIFF DER RELIGION UND DIE PHÄNOMENOLOGISCHE REDUKTION ................ 250
1.1. Das Problem der realen Welt ..................................................................................................... 251
1.1.1. Die Wahrnehmung und das Urteil .......................................................................................................254
1.1.2. Schleiermachers Analyse der Wahrnehmungsstruktur.........................................................................256
1.1.3. Schleiermachers Analyse der Einheit von Bild und Begriff in der Wahrnehmung ..............................257
1.2. Die Welt und das Nichts ............................................................................................................ 259
1.3. Schleiermachers Frage nach der Beziehung des Denkens zum Gegenstand .............................. 264
1.3.1. Die Seinssetzung beim Empfinden ......................................................................................................265
1.3.2. Die Seinssetzung beim Denken............................................................................................................265
1.3.3. Die Welt als Auffassungssinn ..............................................................................................................267
1.3.4. Das Verhältnis zwischen dem Denken und dem Gedachten ................................................................269
1.4. Die Leiblichkeit des Bewußtseinslebens und die Vernunft........................................................ 273
2. DAS ICH UND DAS PROBLEM DES TRANSZENDENTEN SEINS ................................................................ 277
2.1. Die transzendental-idealistische Position Husserls .................................................................... 278
2.2. Die Unzulänglichkeit der Idee des reinen Ich ............................................................................ 281
2.2.1. Das Problem des fremdem Bewußtseins: Sartres Kritik an Husserl.....................................................281
2.2.2. Schleiermachers Begriff der Liebe als Ermöglichungsbedingung des Bewußtseins vom
Mitmenschen .................................................................................................................................................285
2.3. Praxis und Denken bei Schleiermacher und Heidegger ............................................................. 287
2.3.1. Praxis und Denken bei Heidegger........................................................................................................288
2.3.2. Praxis und Denken bei Schleiermacher................................................................................................292
3. DER ONTOLOGISCHE URSPRUNG DER FRAGE NACH DEM SEIN SELBST ................................................ 298
3.1. Die Frage nach dem Sein an sich ............................................................................................... 299
3.1.1. Das In-der-Welt-sein des Daseins und das transzendente Sein ............................................................301
3.1.2. Das Problem des Ansichseins ..............................................................................................................305
3.2. Die Schleiermacher-Kritik des frühen Heideggers und deren Bedeutung für den
Seinsbegriff Heideggers.................................................................................................................... 313
3.3. Heideggers Definition des Seins nach der Kehre und deren Ursprung ...................................... 317
3.3.1. Das Sein als das Einfache ....................................................................................................................318
3.3.2. Heideggers eigene Stellungsnahme zu seiner ‚Kehre‘ .........................................................................322
3.3.3. Das Sein und die Seinsfülle .................................................................................................................331
3.3.4. Das Phänomen des Ansichseins...........................................................................................................335
4. DAS SEIN UND DIE LEIBLICHKEIT DES DASEINS .................................................................................. 340
4.1. Das Seinsphänomen und das Sein des Phänomens .................................................................... 341
4.2. Die Mehrdeutigkeit der Zeitlichkeit bei Heidegger.................................................................... 343
4
4.3. Heideggers Aporie der Eigentlichkeit des existenzialen Daseins............................................... 345
4.3.1. Die Rede als Existenzial ......................................................................................................................345
4.3.2. Der konkrete Leib als Bedingung der Zeitlichkeit: Eine Kritik an Heideggers Zeitanalyse.................349
4.4. Schleiermachers Vorwegnahme des phänomenologischen Begriffs der Leiblichkeit und
Heideggers formal-ontologische Analyse der Existenzstruktur des Daseins .................................... 353
4.4.1. Die Leiblichkeit des Daseins als die Grundbedingung für die ontologische Frage nach dem
Sein selbst......................................................................................................................................................354
4.4.2. Heideggers Definition des Daseins als eines Seins zum Ende .............................................................359
4.4.3. Die Ausweglosigkeit des Heideggerschen Daseins aus der ruinanten Lebensbewegtheit zu
entfliehen .......................................................................................................................................................363
4.4.4. Die Leiblichkeit des Daseins, die Liebe und das Sein..........................................................................366
IV. DIE EXISTENZ UND DAS ABHÄNGIGKEITSGEFÜHL ...............................369
1. SCHLEIERMACHER-REZEPTION IM UMFELD DER PHÄNOMENOLOGIE HUSSERLS................................. 374
1.1. Die Ontologie als notwendige Konsequenz der phänomenologischen Analyse des Selbst........ 374
1.1.1. E. Steins Husserl-Kritik .......................................................................................................................376
1.1.2. Phänomenologie und Ontologie...........................................................................................................382
1.2. Reinachs Beschäftigung mit Schleiermacher und die Hermeneutik Heideggers ....................... 384
1.2.1. Reinachs Einfluß auf E. Stein ..............................................................................................................386
1.2.2. Reinachs Einfluß auf Heidegger ..........................................................................................................388
1.2.3. Reinachs Unterscheidung von expliziten und erlebnisimmanenten Erkenntnissen und deren
Bedeutung für die hermeneutische Wende Heideggers .................................................................................391
1.2.4. Gott und Erlebnis bei Reinach und Schleiermacher.............................................................................394
2. DAS ABHÄNGIGKEITSGEFÜHL ALS
UNMITTELBARES EXISTENTIALVERHÄLTNIS ................................ 399
2.1. Das unmittelbare Selbstbewußtsein als der Ermöglichungsgrund für die Entdeckung der
existenzialen Seinsstruktur des Daseins............................................................................................ 401
2.2. Die Intentionalität des Bewußtseins und das Frömmigkeitsgefühl ............................................ 405
2.2.1. Bretschneiders Kritik an Schleiermachers Begriff des frommen Abhängigkeitsgefühls......................405
2.2.2. Die Religion als Gesinnung .................................................................................................................407
V. RESÜMEE ................................................................................................................412
LITERATURVERZEICHNIS .....................................................................................428
5
Einleitung: Heideggers Rezeption der Religionsphilosophie von Schleiermacher
Auf viele Leser mag die These befremdend wirken, daß Schleiermacher für die
Begründung der Existenzontologie Heideggers in irgendeiner Form von Bedeutung ist. Besonders Gadamer, der in seinem 1960 erschienenen Hauptwerk Wahrheit und Methode die Hermeneutik Schleiermachers als eine Abart der romantischen Genieästhetik bezeichnet hat, hat viel dazu beigetragen, daß die Existenzontologie Heideggers in der Regel als radikaler Gegensatz zu der Hermeneutik
Schleiermachers aufgefaßt wird.
Im Verlauf dieser Arbeit wird aber deutlich werden, daß Heidegger durch seine
Auseinandersetzung mit Schleiermacher einen wichtigen Impuls für seine kritische Überwindung der Husserlschen Phänomenologie erhalten hat. Das wichtigste Ziel dieser Arbeit besteht darin, zu zeigen, inwieweit die Lektüre von Schleiermacher Heideggers Abkehr von der Phänomenologie Husserls beeinflußt hat
und welche Bedeutung die Ansatzpunkte, die Heidegger von Schleiermacher übernommen hat, für die weitere Entwicklung der Philosophie Heideggers haben.
Die Ausgangsthese, die in dieser Arbeit vertreten werden soll, steht also nicht in
Einklang mit Gadamers Gegenüberstellung von Schleiermacher und Heidegger.
Entgegen dieser Darstellung von Gadamer soll gezeigt werden, daß Heideggers
Auseinandersetzung mit Schleiermacher von entscheidender Bedeutung für seine
Konzeption einer ‚Hermeneutik der Faktizität ist‘, mit der sich Heidegger von der
Husserlschen Phänomenologie kritisch distanziert. Diese These setzt allerdings
voraus, daß Schleiermachers Philosophie einige wichtige Momente enthält, die
für das hermeneutische Denken Heideggers von zentraler Bedeutung sind. Eine
wichtige Nähe zwischen Schleiermachers Ansatz und dem Anliegen der Philosophie von Heidegger besteht m. E. darin, daß Schleiermachers Philosophie eine
phänomenologische Ontologie darstellt. Somit wird in dieser Arbeit noch eine
weitere These vertreten: Schleiermachers Philosophie behandelt die Frage nach
6
dem Sein, die durch die erkenntnistheoretische Orientierung an der Vorhandenheit (wie bei der Husserlschen Phänomenologie) nicht angemessen beantwortet
werden kann.
Beide Thesen stehen im Widerspruch mit Gadamers Interpretation der Philosophie von Schleiermacher. Allerdings darf man nicht übersehen, daß Gadamers
Schleiermacher-Kritik vor allem gegen die Hermeneutik von Schleiermachers
gerichtet ist, während sich Heidegger, wie wir gleich sehen werden, hauptsächlich
mit Schleiermachers Religionsphilosophie auseinandergesetzt hat. Man kann aber
dennoch der Meinung sein, daß Gadamers Schleiermacher-Kritik insgesamt von
einem Mißverständnis des Schleiermacherschen Ansatzes geleitet wird, das nicht
nur die Hermeneutik, sondern die ganze Philosophie Schleiermachers betrifft.
Ferner wird Gadamers Schleiermacher-Kritik von einer fragwürdigen Interpretation der Heideggerschen Philosophie begleitet, die m. E. zu sehr die praktische
Dimension des faktischen Lebens hervorhebt. Auch dies steht nicht in Einklang
mit der Ausgangsposition dieser Arbeit. Denn der entscheidende Ansatzpunkt,
den Heidegger bei seiner hermeneutischen Umgestaltung der Phänomenologie
von Schleiermacher übernommen hat, besteht m. E. darin, daß eine ontologische
Frage nach dem Sein selbst weder durch den Primat der theoretischen Betrachtung noch durch den Primat des praktischen Verhaltens des faktischen Daseins
angemessen beantwortet werden kann. Denn sowohl die theoretische Betrachtung
als auch das praktische Verhalten des faktischen Daseins setzen eine gewisse
Vorhandenheit voraus, die empirisch konstatierbar sein soll.
In der Einleitung dieser Arbeit werden folglich gelegentlich kritische Auseinandersetzungen mit Gadamer eine Rolle spielen. Dies soll gleichwohl keine grundsätzliche Kritik an der gesamten Philosophie von Gadamer sein. Es geht vielmehr
hauptsächlich darum, die unter dem Einfluß von Gadamer weit verbreitete Fehlinterpretation der Philosophie Schleiermachers zu korrigieren. Schleiermacher und
Heidegger sind m. E. in gewisser Hinsicht als zwei geistig verwandte Denker zu
betrachten, auch wenn zwischen den beiden natürlich gleichzeitig zahlreiche Unterschiede bestehen.
7
Diese kritische Auseinandersetzung mit Gadamers Schleiermacher-Rezeption
wird von einigen philologischen Belegen untermauert, die bezeugen, daß Schleiermacher von Heidegger ganz anders interpretiert wird, als man unter dem Einfluß der Schleiermacher-Kritik Gadamers erwarten würde.
Die Tatsache, daß Schleiermachers Philosophie von Heidegger und Gadamer
jeweils unterschiedlich rezipiert wird, hat nun allerdings, wie bereits angedeutet,
auch für die Interpretation von Heideggers ‚Hermeneutik des faktischen
Lebens‘ schwerwiegende Folgen. Es gibt unter den Heidegger-Forschern eine
erstaunliche Diskrepanz bei der Einschätzung der Bedeutung der Hermeneutik
des faktischen Lebens für die weitere Entwicklung der Heideggerschen Philosophie. Dies wird besonders deutlich, wenn man die verschiedenen Aufsätze im
vierten Band des Dilthey-Jahrbuchs, in denen das philosophische Verhältnis zwischen der Hermeneutik des faktischen Lebens und der Existenzontologie in Sein
und Zeit im Zentrum steht, vergleicht. Man kann hier insgesamt zwei verschiedene Positionen unterscheiden: Es gibt Philosophen, die unter dem Einfluß Gadamers das Verhältnis zwischen der Hermeneutik in der frühen Freiburger Zeit Heideggers und der Existenzontologie (zur Zeit von Sein und Zeit) als diskontinuierlich bezeichnen, und es gibt auch Philosophen, die gegen diese Position die Kontinuität zwischen diesen beiden Phasen der Philosophie Heideggers besonders
hervorheben. Vereinfacht gesagt kann man die erste Position als eine praxeologische Deutung bezeichnen, für die die primäre Bedeutung der Hermeneutik des
faktischen Lebens in der Rehabilitierung der praktischen Philosophie besteht. Die
zweite Position betont dagegen, daß für Heideggers Hermeneutik eine Dimension
des faktischen Lebens wichtig ist, die weder als das praktische Verhalten noch als
das theoretische Reflektieren bezeichnet werden kann. Der Bewußtseinsanalyse
Heideggers, für die das Dasein sich in einem Spannungsverhältnis zwischen dem
praktischen Alltagsbewußtsein und dem Bewußtsein der Nichtigkeit des alltäglichen Selbsts (Angst) befindet, wird hier eine viel wichtigere Bedeutung zugewiesen, als die praxeologische Heidegger-Interpretation annimmt.
Gadamer erkennt in der Analyse des Phänomens der Angst in Sein und Zeit einen
versteckten Einfluß der transzendental-idealistischen Phänomenologie Husserls.
8
Heideggers Kehre sei eine Rückkehr zu demjenigen ursprünglichen Denkweg,
den Heidegger bereits in seiner frühen Freiburger Zeit durch eine hermeneutische
Umgestaltung der Phänomenologie eingeschlagen habe. Für die praxeologische
Heidegger-Interpretation ist also Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit ein Werk,
das von dem eigentlichen Anliegen Heideggers wegführt. Dagegen betonen andere Heideggerinterpreten, daß die Existenzontologie zur Zeit von Sein und Zeit
eine Folge der systematischen Entwicklung der Hermeneutik des faktischen Lebens ist und daß daher die Beziehung zwischen der Hermeneutik des faktischen
Lebens und der Existenzontologie von Sein und Zeit viel kontinuierlicher ist. Diese Unterschiede in der Interpretation von Sein und Zeit werden besonders im dritten Teil dieser Arbeit detailliert erörtert.
In dieser Einleitung soll es vor allem darum gehen, die Grundzüge der Hermeneutik Heideggers darzustellen. Die Metakritik an Gadamers SchleiermacherKritik ist gerade deswegen für die Einleitung dieser Arbeit ein angemessener
Ausgangspunkt, weil dadurch zwei wichtige Probleme bei der Darstellung des
philosophischen Verhältnisses zwischen Schleiermacher und Heidegger gelöst
werden können: Erstens kann von vornherein deutlich gemacht werden, welcher
Position der Verfasser dieser Arbeit angesichts dieser widersprüchlichen Interpretationen des philosophischen Verhältnisses zwischen der Hermeneutik des faktischen Lebens und der Existenzontologie in Sein und Zeit den Vorzug gibt. Zweitens kann man durch eine kritische Überprüfung von Gadamers Schleiermacherinterpretation zugleich erkennen, worin das eigentliche Anliegen Heideggers bei
seiner hermeneutischen Neugestaltung der Phänomenologie besteht. Beide Probleme hängen m. E. miteinander zusammen. Gadamer betont bei seiner HeideggerInterpretation, wie schon erwähnt, zu sehr die praxeologische Dimension. Dies
zeigt sich sowohl bei seiner Interpretation der Hermeneutik Heideggers als auch
bei seiner Schleiermacher-Kritik. Und da es in dieser Arbeit vor allem um die
Erhellung des philosophischen Verhältnisses zwischen der Hermeneutik Heideggers und der Philosophie Schleiermachers geht, kann die kritische Auseinandersetzung mit der Praxeologie Gadamers von wichtiger Bedeutung für diese Arbeit
sein: Hält man die praxeologische Heidegger-Interpretation Gadamers für richtig,
9
so gibt es keinen Grund anzunehmen, daß Schleiermachers Philosophie für Heidegger eine wichtige Rolle spielen könnte.
1. Hermeneutik und Phänomenologie
Für Gadamer ist die Hermeneutik Schleiermachers durch einen Objektivismus
geprägt. Nach ihm habe Schleiermacher die Hermeneutik als Methodologie des
richtigen Verstehens auf die metaphysische Voraussetzung eines für alle Individuen gemeinsamen Lebenszusammenhanges gegründet: „Der genialen Produktion entspricht auf der Seite der Hermeneutik, daß es der Divination bedarf, des
unmittelbaren Erratens, das letzten Endes eine Art der Kongenialität voraussetzt.
[…] Das ist in der Tat Schleiermachers Voraussetzung, daß jede Individualität
eine Manifestation des Allebens ist und daher ‚jeder von jedem ein Minimum in
sich trägt und die Divination wird sonach aufgeregt durch Vergleichung mit sich
selbst‘.“ 1 Damit meint Gadamer, daß das divinatorische Verfahren Schleiermachers von einem naiven Objektivismus ausgehe, indem die dogmatische Annahme der Kongenialität aller Individuen eine metaphysische Grundlage für die Objektivität des hermeneutischen Bewußtseins bilde. Ich lasse hier zunächst offen,
ob diese Behauptungen auf einer richtigen Schleiermacher-Interpretation beruhen.
Statt dessen möchte ich mich darauf konzentrieren, die Bedeutung von Heideggers Schleiermacher-Rezeption für die hermeneutische Wende Heideggers in
seiner frühen Freiburger Zeit zu erhellen. Die Philosophie Schleiermachers, die
nach Gadamer auf dem Reflexionsniveau des naiven Objektivismus stehenbleibt,
ist m. E. in vielerlei Hinsicht bedeutsam für Heideggers Existenzontologie.
Einige Forscher haben inzwischen darauf aufmerksam gemacht, daß Heidegger
gerade durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher in seiner frühen Freiburger
Zeit eine wichtige Anregung für seine hermeneutische Umgestaltung der Phänomenologie erhalten hat. Zwei wichtige Heidegger-Forscher, H. Ott und O. Pögge1
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke: Bd.1: Hermeneutik I, Tübingen
1986, S. 193.
10
ler, heben besonders hervor, daß Heideggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher einen großen Einfluß auf dessen hermeneutische Neuorientierung hatte.2
Man kann von diesen Forschern lernen, daß es zwischen Schleiermacher und
Heidegger viele Gemeinsamkeiten gibt: Beide sind sich darin einig, daß die wirkliche Lebenserfahrung nicht in ein philosophisches System der Erkenntnisse umgewandelt werden kann. Heidegger ist nach H. Ott und O. Pöggeler durch Schleiermachers Gegenüberstellung der Religion und der am Wissensideal orientierten
Philosophie dazu angeregt worden, die sich als strenge Wissenschaft verstehende
Phänomenologie Husserls zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens umzubilden. Dieser direkte Einfluß von Schleiermacher auf den jungen Heidegger soll
daher im ersten Teil der Arbeit detailliert behandelt werden.
Man darf allerdings nicht annehmen, Heidegger habe seine Hermeneutik des
faktischen Lebens als eine philosophische Alternative zur Phänomenologie konzipiert. Der frühe Heidegger hat seine Hermeneutik des faktischen Lebens vielmehr als eine neue Form der Phänomenologie verstanden, die der ursprünglichen
Idee der Phänomenologie als einer philosophischen Bemühung um eine radikale
Vorurteilslosigkeit konsequenter treu bleibe als die Phänomenologie Husserls.
Heideggers Vorlesung, die unter dem Titel Grundprobleme der Phänomenologie
im Wintersemester 1919/20 in Freiburg gehalten wurde, zeigt besonders deutlich,
daß das eigentliche Anliegen des frühen Heideggers darin lag, gegen die „Verunstaltungen der Idee der Phänomenologie“ die Möglichkeit einer genuin phänomenologischen Philosophie zu bewahren. 3 Heidegger möchte eine Form der „Phänomenologie“ kritisieren, die mit der „Rede von Intuition, Schau, Wesensschau –
die willkommensten Schlagworte, die man sich denken kann“ – die absolute
Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, „um in der intuitions- und sensationshungrigen Zeit philosophischen und phänomenologischen Unfug zu treiben.“ 4 Diese
Aussage kann allerdings auch als eine Kritik an Husserl verstanden werden, da
Begriffe wie Intuition, Schau, Wesensschau, die Heidegger in diesem Zitat als
2
Vgl. H. Ott, Martin Heidegger, Frankfurt a. M. / New York 1988, 112 ff.; O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, München 1999, S. 100 ff.; ders. Heidegger und die hermeneutische Philosophie,
Freiburg / München 1983, S. 270 ff.
3
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1993, S. 18.
4
Ebd., S. 19.
11
unphilosophische Schlagworte abtut, zu Grundbegriffen der Husserlschen Phänomenologie gehören. Das bedeutet aber nicht, daß die Hermeneutik Heideggers
eine gegenphänomenologische Reaktion wäre. Heidegger will vielmehr die angeblich phänomenologische Rede von Intuition, Schau, Wesensschau „als übertriebene Verabsolutierungen von Lesefrüchten und Aperçus“ entlarven, welche
„die echten Tendenzen und die Methode der Phänomenologie diskreditieren.“ 5
Die Hermeneutik des faktischen Lebens soll nach der Intention Heideggers eine
phänomenologische Kritik sein, die gegen jede Form einer metaphysischen Reduktion des Seins auf die gegenständliche Vorhandenheit einen Seinssinn bewahren soll, der der faktischen Lebenserfahrung entspricht. J. Grondin weist darauf
hin, daß die langjährigen „Kontroversen der Philosophie“: „Hermeneutik versus
Ideologiekritik (Gadamer gegen Habermas), Hermeneutik versus Dekonstruktion
(Gadamer und Habermas gegen Derrida)“ „Gegensätze“ voraussetzen, die „zum
großen Teil künstlich sind.“ 6 Ihm zufolge kann man aus Heideggers früher Hermeneutik lernen, „daß die Hermeneutik der Faktizität eine ursprüngliche Form
der Ideologiekritik darstellt, indem sie sich im Namen eines autonom zu erobernden Wachseins gegen die objektivierende Selbstentfremdung des Menschen richtet.“ 7
In welchem Sinn kann aber die Hermeneutik der Faktizität als eine Kritik verstanden werden? Man muß zwei verschiedene Dimensionen der hermeneutischen
Kritik im Heideggerschen Sinn unterscheiden. Einerseits kann man die Hermeneutik der Faktizität als eine philosophische Position verstehen, die gegen das
theoretische Interesse der metaphysischen Seinsauslegung die Lebensorientierung
bei dem Verstehensvorgang des faktischen Daseins hervorhebt. Die primäre Bedeutung der hermeneutischen Kritik besteht aber für Heidegger darin, daß das
Dasein selbst die Möglichkeit hat, die Vergegenständlichung des Seins im natürlichen, am praktischen Interesse orientierten Alltagsbewußtsein in Frage zu stellen. Das „Man“ als das „alltägliche Selbstsein“ des Daseins, das Heidegger im 4.
5
Ebd., S. 19.
J. Grondin, ‚Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion‘, in: D. Papenfuß / O. Pöggeler (Hrsg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 175
7
Ebd.
6
12
Kapitel von Sein und Zeit – besonders im §27 – als eine Antwort der existenzialen Frage nach dem Wer des Daseins herausgearbeitet hat, war für Heidegger
bereits während der frühen Freiburger Zeit das zentrale Thema seiner philosophischen Arbeiten. 8 Während in Sein und Zeit der „Ruf des Gewissens“ dem alltäglichen Selbstsein des Daseins als Man gegenübergestellt wird, ist in einer frühen
Freiburger Vorlesung von der „Ruinanz“ und „der gegenruinanten Bewegtheit“ des Daseins die Rede. 9 Der primäre Sinn der hermeneutischen Kritik ist also
die Selbstkritik des Daseins, die gegen das alltägliche Selbstverständnis des Daseins gerichtet ist.
Heideggers Verhältnis zu Schleiermacher kann nur in bezug auf diese kritische
Dimension der Hermeneutik richtig verstanden werden. In seinen Ausarbeitungen
und Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19, die ursprünglich für
das Wintersemester 1919/20 angekündigt wurde, kann man deutlich erkennen,
daß Heidegger in Schleiermachers Religionsphilosophie eine Art der Lebensphänomenologie erkennt, die am faktischen Leben selbst orientiert ist.10 Heidegger
zufolge unterscheidet Schleiermacher die Religion dadurch von der Moral und
der Metaphysik, daß die Religion weder auf eine „Denkungsart“ noch auf eine
„Handlungsweise“, sondern primär auf das „Gefühl“ bezogen wird. 11 Wenn Gadamer Schleiermachers Begriff „Gefühl“ als „ein unmittelbares sympathetisches
und kongeniales Verstehen“ definiert,
12
vertritt er eine Schleiermacher-
Auslegung, die von Heideggers Schleiermacherinterpretation deutlich abweicht.
Für Gadamer ist das Gefühl im Schleiermacherschen Sinn deswegen als ein sympathetisches, kongeniales Verstehen auszulegen, weil er in Schleiermachers Hermeneutik eine am naiven, objektivistischen Methodenideal orientierte Genieästhetik der Romantik erkennt. Das Gefühl Schleiermachers wäre in diesem Sinn
lediglich ein methodologischer Notbehelf, mit dem die Objektivität des hermeneutischen Bewußtseins, welche angesichts der bei Schleiermacher zum Aus8
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 114 ff.; 126 ff.; ders., Phänomenologische
Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt a. M. 1985, S. 85 – 100.
9
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 274 ff.; ders., Phänomenologische Interpretationen
zu Aristoteles, a.a.o., S. 132 f.; 153 f.
10
Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1995, S. 319 ff.
11
Ebd., S. 319; 320.
12
H.-G. Gadamer, Hermeneutik I, a.a.O., S. 194.
13
druck gebrachten Irreduzibilität der Individualität auf das begriffliche Systemgebilde beinahe unmöglich geworden ist, dennoch gesichert werden soll. Dagegen
weist Heidegger darauf hin, daß Schleiermachers Religionsphilosophie gerade
durch den Begriff des Gefühls eine Dimension des Bewußtseinslebens erschließt,
welche mit der dualistischen Trennung von subjektiv und objektiv überhaupt
nicht erfaßt werden könne. Denn das Gefühl im Sinne Schleiermachers ist nach
Heidegger „ein ursprüngliches Lebens- und Leistungsgebiet des Bewußtseins“,
„in dem Religion allein als bestimmte Erlebnisform sich verwirklicht.“ 13 Und auf
die Frage, was nun die Religion im Schleiermacherschen Sinn ist, gibt Heidegger
eine eindeutige Antwort: Sie bedeutet eine phänomenologische „epoché“, die das
Bewußtsein in seiner ursprünglichen Seinsweise verstehen läßt. 14
Schleiermachers philosophische Bestimmung des „Gefühls“ hat Heidegger somit
zu der Einsicht gebracht, daß eine ontologische Frage nach dem Sein nur durch
die phänomenologische Analyse der Verhaltensweise des Daseins zu dem Sein
selbst beantwortet werden kann. Die Frage: Inwiefern konnte Schleiermachers
Philosophie für Heideggers Umgestaltung der Phänomenologie zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens bedeutsam sein, ist noch mit einer weiteren Frage
verbunden: Wie verhält sich für Heidegger und für Schleiermacher das Dasein
zum Sein selbst? Dadurch, daß er das religiöse Gefühl Schleiermachers als eine
phänomenologische Epoché interpretiert, weist Heidegger zugleich darauf hin,
daß das „Gefühl“ für Schleiermacher keineswegs nur eine Art Sonderphänomen
darstellt, das nur bei den religiös gesinnten Menschen zu beobachten wäre. Es ist
vielmehr ein konstitutives Moment jedes wirklichen Bewußtseins, mit dem sich
das Dasein zu dem Sein selbst verhält. Umgekehrt ist die Frage nach dem Sein
selbst, die über die Grenze einer Erkenntnistheorie hinausgeht, für Heidegger
keineswegs als eine spezifische Problematik der existenzontologischen Philosophie zu verstehen; sie ist vielmehr die ursprüngliche Verstehensweise des Daseins
selbst, die dem Dasein eine kritische Destruktion des überlieferten Bedeutsamkeitszusammenhanges ermöglicht. Wenn J. Grondin Heideggers „Hermeneutik
13
14
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 321.
Ebd., S. 320.
14
der Faktizität“ „als grundsätzliche philosophische Kritik der Kritiklosigkeit der
überlieferten Auffassung vom Menschen“ darlegt, weist er zugleich darauf hin,
daß Heideggers Hermeneutik auf die phänomenologische Fundierung der kritischen Destruktion als einer wirklichen Seinsweise des Daseins zielt; denn die
Hermeneutik der Faktizität hat die „Aufgabe“, „die Auffassung vom Menschen
als ein Objekt für eine indifferente Theorie zu destruieren und an ihre Stelle das
Sein des Menschen als ein eigens zu übernehmendes Seinskönnen einzusetzen.“ 15
2. Der Primat der Praxis und die ‚Sorge‘ des Daseins
Die Hermeneutik als Destruktion setzt in diesem Sinn nicht nur voraus, daß das
Dasein als ein In-der-Welt-sein notwendig zu einer bestimmten Traditionen gehört. Der Zugehörigkeit zu Traditionen entspricht auch die Möglichkeit des Daseins, den überlieferten Sinn des In-der-Welt-seins auf die eigene Seinsmöglichkeit hin zu überschreiten. Hierin liegt der Grund dafür, warum Heidegger in seinen Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles die Grundbewegtheit
des Daseins nicht nur als „Ruinanz“ bezeichnet, sondern zugleich als das Fragen,
in dem eine „gegenruinante Bewegtheit“ „in der angeeigneten Zugangsweise der
Fraglichkeit“ vollzogen wird. 16 In der ruinanten Befangenheit der Sorge zeigt
sich das Dasein als das alltägliche Selbstsein, das am Vollzug seines praktischen
Interesses orientiert ist und insofern gegenüber der öffentlichen Ausgelegtheit des
Seins in der Alltagswelt unkritisch bleibt. Das Sein des Daseins läßt sich aber nie
auf das alltägliche Selbstsein zurückführen, welches schlechthin einen von äußerer Wirksamkeit bestimmten Zustand bezeichnet. Gerade aus der ruinanten Form
der Sorge des Daseins entsteht notwendig die „Darbung“ des faktischen Lebens,
die sich auf das Bewußtsein des Daseins von der Irreduzibilität seines Seins auf
das alltägliche Selbstsein bezieht: „In der Ruinanz, als einer Grundbewegtheit des
Sorgens, macht sich geltend, daß im faktischen Leben ihm selbst ständig irgendwie etwas fehlt, und zwar so, daß zugleich mitfehlt die Bestimmung, was es ei15
16
J. Grondin, ‚Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion‘, a.a.O., S. 169.
M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.O., S. 153.
15
gentlich ist, das fehlt. Es macht sich in der Ruinanz eine Zuständlichkeit, um
nicht zu sagen: die Zuständlichkeit geltend, die wir bezeichnen als ‚Darbung‘ das faktisch darbende Leben.“ 17 Gemäß diesem Sinn der Darbung legt Heidegger
in Sein und Zeit das vom Gewissen angerufene Selbst als eine völlige Unbestimmtheit aus, die sich dem alltäglichen, als Zuständlichkeit zu verstehenden
Selbstsein des Daseins gegenüberstellt: „Das Gewissen ruft das Selbst des Daseins auf aus der Verlorenheit in das Man. Das angerufene Selbst bleibt in seinem
Was unbestimmt und leer.“ 18
Das Problem der Ruinanz und Gegenruinanz im faktischen Leben des Daseins ist
für Heidegger mit der existenzialen Frage nach dem Sinn des Seins verbunden.
Entscheidend ist dabei, daß Heidegger die (metaphysische) Frage nach dem realen Sein dadurch abzulösen versucht, daß er sie von dem ruinanten Charakter des
um sich selbst sorgenden Lebens abhängig macht. So entsteht die Frage nach der
Realität für Heidegger eigentlich nur daraus, daß sich das Dasein stets in einer
Welt bewegt, die in einem bestimmten Bedeutsamkeitszusammenhang ausgelegt
ist und die im Interesse des Lebens zu einer vorhandenen Gegenständlichkeit umgedeutet wird. Zwar unterscheidet sich die Welt dadurch von den bloß gegenständlichen Dingen, daß sie eine Dimension der Zukunft hat, in der die Welterfahrung des Daseins über die Grenze der Gegenstandserfahrung hinaus zu einem
Erwartungshorizont erweitert wird. Und gewiß verhält sich das Dasein im Erwartungshorizont in doppelter Hinsicht zum Sinn des Seins, der nicht auf die bloße
Vorhandenheit des gegenständlich Seienden zurückzuführen ist. Erstens zeigt
sich das Sein des Daseins im faktisch ruinanten Leben nur im Phänomen des
„Nichts“, da „faktisches Leben in seiner ruinanten Sorgensweise“ zugleich „für
das Nichtvorkommen seiner selbst für es selbst [sorgt]“; zweitens ist dieses
Nichtvorkommen „kein ordnungsgemäßiges Fehlen an einer Stelle“, sondern „ein
bewegungshafter Ausdruck des Wie des ‚noch Daseins‘ des umweltlichen Lebens“, wobei die Welt, die sich im Erwartungshorizont der Welterfahrung des
17
18
Ebd., S. 155.
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 274.
16
Daseins zeigt, „den Charakter des Undurchsichtigen“ hat. 19 Daß sich die Welt in
der ruinanten Sorgensweise des Lebens als etwas Undurchsichtiges zeigt, bedeutet aber nicht, daß die Welt damit dem Sinn der Gegenständlichkeit entgeht. Die
Pointe liegt vielmehr darin, daß die Welt allenfalls von der ruinanten Sorgensweise des Daseins abhängig ist; daß die Welt stets dadurch zu einer für das Interesse
des Lebens bedeutsamen Welt wird, daß sie sich im Erwartungshorizont des
Noch-Daseins des umweltlichen Lebens in die empirisch konstatierbare Vorhandenheit umwandelt. Mit anderen Worten: „Das besagte Nichtvorkommenkönnen
umweltlichen Lebens als Wie seines Noch- und zwar weltmäßigen Begegnens ist
konstitutiv für den spezifischen Widerständigkeitscharakter, der in der Gegenständlichkeit (Realität) der gelebten Welt erfahren wird; insbesondere ist der besagte, in die Weltbegegnisweise eingeschmolzene Charakter des Noch-Daseins
des umweltlichen Lebens konstitutiv für die spezifische Gegenständlichkeit dessen, was im Ausgang der Interpretation des Gegenstandssinnes von gelebter Welt
sich als Bedeutsamkeit zudrängt.“ 20
Heideggers Begriffe wie Ruinanz, Sorge oder Umwelt sind mit sehr komplexen
Analysen verbunden; daher kann ich sie in diesem einleitenden Teil der Arbeit
auch nicht im Einzelnen behandeln. Wichtig für uns ist aber hier, daß der faktisch
ruinante Charakter des Lebens im Spannungsverhältnis zur Heideggerschen Idee
der Hermeneutik als kritischer Destruktion steht. Vereinfacht gesagt besteht die
Ruinanz des faktischen Lebens darin, daß das Dasein im Interesse des Lebens
primär am Handeln orientiert ist. „Das ungehemmte, explosive Losgehen auf und
in die Welt in der Weise des Sorgens, das Sich-in-die-Sachen-stürzen, Zugreifen,
Handanlegen jeweils an die Dringlichkeiten, all das“ läßt „die Welt als nächstgegebene“ erscheinen, so daß die anscheinende „‚Unmittelbarkeit‘ des Gegebenseins der gelebten Welt“ durch die Handlungsmotive des lebendigen Da-seins
„vermittelt“ ist. 21 Denken wir nun daran, daß eine Handlung einerseits einen
Sinnzusammenhang der für das Interesse des Lebens bedeutsamen Seinsauslegungen voraussetzt, andererseits die empirisch konstatierbare Vorhandenheit der
19
M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.O., S. 148.
Ebd., S. 148-149.
21
Ebd., S. 149.
20
17
Welt, zu der sich das Dasein beim Handeln verhalten kann. D. h.: Der Primat des
Handelns in der ruinanten Form der Sorge sagt uns nur, daß das Dasein sich zu
einer als Gegenständlichkeit umgedeuteten Welt verhält, aber nicht zum Sein
selbst, das sich von der gegenständlichen Vorhandenheit der Welt gänzlich unterscheidet. Gerade wie der Primat des Erkennens bei der philosophischen
Seinsauslegung von der metaphysischen Reduktion des Seins auf die gegenständliche Vorhandenheit ausgeht, endet der Primat des Handelns vor dem Erkennen
ebenfalls mit der gegenständlichen Vorhandenheit des Seins, zu der sich das Dasein im praktischen Leben verhält.
Somit wird deutlich, daß die starke Tendenz der heutigen HeideggerInterpretation, die Existenzontologie Heideggers als eine praxeologische Wende
vom Primat des Denkens zum Primat der Praxis darzulegen, in vieler Hinsicht
noch revisionsbedürftig ist. So behauptet M. Riedel, daß die Philosophie Heideggers und Gadamers „die Idee einer neuen Weltphilosophie unter dem Primat der
hermeneutischen Vernunft“ 22 vorbereite. Nach Riedel besteht die Bedeutung der
frühen Freiburger Vorlesungen Heideggers darin, daß sie „die Anfänge des Programms einer ‚Hermeneutik der Faktizität‘“ sind, „womit, bei Lichte gesehen, die
Vorgeschichte der ‚Rehabilitierung der praktischen Philosophie‘ in unserem
Jahrhundert beginnt.“ 23 Mit der Rehabilitierung der praktischen Philosophie ist
allerdings „die Einholung der Phronesis als eigener Weise der Seinsbesinnung
‚zwischen‘ Techne und Wissenschaft in die Philosophie“24 gemeint, die Heidegger bekanntlich durch seine kritische Auseinandersetzung mit Aristoteles geleistet
habe. Unübersehbar ist dabei, daß der Primat des phronesischen Wissens, wie
Gadamer selbst nachdrücklich betont, notwendig die Legitimation des Vorurteils
bzw. der Tradition zur Folge hat, da ein phronesisches Wissen seinem Wesen
nach an der Anwendung von etwas orientiert ist, was in einem historisch entstandenen Lebenszusammenhang als bedeutsam für das Lebensinteresse gilt. O. Pöggeler beschreibt zutreffend, was Gadamer mit dem Primat des phronesischen
Wissens vor dem theoretischen bzw. kritischen meint: Die ihm zufolge objekti22
M. Riedel, Für eine zweite Philosophie, Frankfurt a. M. 1988, S. 174.
Ebd.
24
Ebd., S. 172.
23
18
vistisch bestimmte Hermeneutik seit Schleiermacher und Dilthey zurückweisend
„geht [Gadamer] auf die ältere Hermeneutik zurück, die nicht wissenschaftstheoretisch angelegt war, sondern auch dem praktischen Verhalten des Richters oder
Pfarrers diente und die applicatio […] als wesentliches Moment des Verstehens
herausstellte.“ 25 Vereinfacht gesagt kann man Gadamers Auslegung der Heideggerschen Hermeneutik des faktischen Lebens folgendermaßen zusammenfassen:
Im faktischen Leben orientiere sich das Dasein nicht eher am theoretischen, sondern am praktischen Interesse, und Heidegger wolle gegen die am Wissensideal
orientierte Metaphysiktradition die Phronesis als eigene Weise der Seinsbesinnung des Daseins ‚zwischen‘ Techne und Wissenschaft innerhalb der Philosophie
berücksichtigen.
Aber ob das eigentliche Anliegen Heideggers tatsächlich in dieser angeblichen
Rehabilitierung des praktischen Wissens liegt, kann man schon deswegen bezweifeln, weil man mit dem Primat der Praxis gar nicht erklären kann, wie sich
das Dasein zu dem Sein selbst verhält. Es ist sicher richtig: Heidegger stellt die
Ruinanz als faktische Sorgensweise des Daseins dar, und man kann daher wohl
davon ausgehen, daß das Dasein für Heidegger nicht primär ein denkendes, sondern eher ein handelndes Wesen ist. Wenn sich Gadamer aber auf den „sensus
communis“ von Vico beruft und die aristotelische Phronesis hauptsächlich zur
Sache der „applicatio“ macht, deren Ausgangspunkt die mit dem common sense
zum Ausdruck gebrachte Seinserschlossenheit im historischen Bedeutsamkeitszusammenhang ist, scheint er die Dimension des Seins selbst in der Heideggerschen
Daseinsanalyse verloren zu haben. 26 Daß das Dasein das In-der-Welt-sein ist,
kann man sicherlich dahingehend auslegen, daß das Dasein unvermeidlich zu
einer bestimmten Tradition seines Umfeldes gehört; das Dasein befindet sich in
einem historisch entstandenen Sinnzusammenhang, in dem das faktische Leben
eher an der praktischen Anwendung des phronesischen Wissens orientiert ist als
am theoretischen Interesse für Objektivität. Dabei darf man aber nicht ignorieren,
daß die Zugehörigkeit des Daseins zu einer bestimmten Tradition für Heidegger
25
26
O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 304.
Vgl. H.-G. Gadamer, Hermeneutik I, a.a.O., S. 26 ff.; 312 ff.
19
der eigentliche Grund für die Entstehung des metaphysischen Seinsverständnisses
ist. Es wurde bereits gezeigt, daß das Phänomen der Welt für den frühen Heidegger von der ruinanten Form der Sorge des Daseins abhängig ist, durch die sich
das Dasein zu einem als Gegenständlichkeit umgedeuteten Seinssinn verhält. In
§6 von Sein und Zeit, der mit dem Titel Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie versehen ist, betont Heidegger dann nachdrücklich, daß
ein metaphysisches Seinsverständnis gerade darin bestehe, das Sein aus der Welt
her zu verstehen: „Die griechische Ontologie und ihre Geschichte, die durch
mannigfache Filiationen und Verbiegungen hindurch noch heute die Begrifflichkeit der Philosophie bestimmt, ist der Beweis dafür, daß das Dasein sich selbst
und das Sein überhaupt aus der ‚Welt‘ her versteht und daß die so erwachsene
Ontologie der Tradition verfällt, die sie zur Selbstverständlichkeit und zum bloß
neu zu bearbeitenden Material (so für Hegel) herabsinken läßt.“ 27 Hier kann man
deutlich erkennen, daß darin, daß das Sein aus der Welt her verstanden wird, für
Heidegger der eigentliche Grund für ein metaphysisches Seinsverständnis liegt.
Warum soll es nun ein bloß metaphysisches Denken sein, wenn man das Sein aus
der Welt versteht? Der Grund liegt m. E. eindeutig darin, daß die Welt für Heidegger ein von der Vorhandenheit abhängiges Phänomen ist. Die Welt ist ja für
ihn das in der ruinanten Sorge in Gegenständlichkeit übergeschlagene Sein, zu
dem sich das Dasein in seinem praktischen Leben verhält.
Heideggers Unterscheidung von Sein und Welt ist sowohl in seinen frühen Freiburger Vorlesungen als auch in Sein und Zeit bemerkbar. Das Sorgen ist insofern
ruinant, als das Seinsverständnis des Daseins reluzent aus seiner eigenen Verfallenheit an seine Welt her stammt: „das Dasein hat nicht nur die Geneigtheit, an
seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auszulegen,
Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition.“ 28 Wichtig ist dabei, daß die Ruinanz zugleich die Reluzenz der
Seinsauslegung, das Seinsverstehen aus der Sorgewelt, bedeutet. Die „zur Herrschaft kommende Tradition [...] überantwortet das Überkommene der Selbstver-
27
28
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 21-22.
Ebd., S. 21.
20
ständlichkeit“, und die Metaphysik gehört gerade zu diesem Überkommenen der
Selbstverständlichkeit, das Sein selbst aus der Welt her zu verstehen, welche das
im praxeologisch fundierten Leben in Gegenständlichkeit übergeschlagene Sein
ist. 29
Der Irrtum der einseitig an der Phronesis orientierten Heidegger-Auslegung
besteht darin, aus dem, was Heidegger für die eigentliche Ursache des metaphysischen Seinsverständnisses hält, einen Beweis für die nichtmetaphysische Lebensweise des Daseins abzuleiten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß ein
praktisches Handeln zwei Voraussetzungen haben muß: Erstens muß sich das
Dasein in einer Welt befinden, in der das Sein als bedeutsam im Dienst des Lebens erschlossen ist; zweitens muß die Welt als vorhanden erscheinen, damit das
Dasein über ein Sein verfügt, zu dem es sich in seinem praktischen Leben verhalten kann. Daß das Dasein ein In-der-Welt-sein ist, bedeutet dann einerseits, daß
alles, was das Dasein in seinem Leben versteht, nicht zu einem objektiven, von
allem Lebensinteresse unabhängigen Seinssinn gehört, sondern zum Bedeutsamkeitszusammenhang einer Welt, in dem das Sein für das praktische Interesse des
Lebens erschlossen ist. Gadamer hat insofern bei seiner Heidegger-Auslegung
Recht, als er darauf hinweist, daß das Verstehen notwendig von einer Tradition,
einem historisch gebildeten Sinnzusammenhang oder einem Vorurteil ausgehen
muß, das daher nicht unbedingt ein falsches Urteil sein muß. Wenn man aber behauptet, daß das Dasein im faktischen Leben nicht über ein objektives Verstehen
verfügt, nimmt man die Rolle eines reinen Betrachters ein. Diese Behauptung
kann man, solange man dem Vorurteil eine konstitutive Rolle bei jedem Verstehen zuerkennt, für richtig halten und ich habe auch keine Absicht, die Richtigkeit
dieser Behauptung in Frage zu stellen. Heißt es dann aber, daß das Dasein, das
beim Verstehen faktisch vom Vorurteil ausgeht, keinen gegenständlichen Seinssinn hat? Kann man mit der Hilfe eines ontologischen Primats des praktischen
Handelns erklären, daß das Dasein die Möglichkeit hat, sich zu dem nicht gegenständlichen Sein zu verhalten? Eine solche Erklärung wird wohl kaum gelingen.
Denn gerade für das praktische Handeln ist für das Dasein die Annahme einer
29
Ebd.
21
gegenständlichen Vorhandenheit der Welt, die empirisch konstatierbar sein soll,
unerläßlich. Und das metaphysische Seinsverständnis besteht für Heidegger darin,
daß man diesen praxeologischen Ursprung des als real vorhanden erscheinenden
Weltphänomens vergißt; daß die Gegenständlichkeit des Seins, die nur ein vom
handelnden Leben abhängiges Phänomen ist, als das Sein selbst betrachtet wird.
Nun wird man zwar einwenden können, daß die Welt für Gadamer ein von der
Sprache abhängiges Phänomen ist und daher nicht im Sinn der Gegenständlichkeit bestimmt wird. M. Riedel faßt zusammen, wie Gadamer die Relation zwischen Welt und Sprache im Zuge seiner Hervorhebung des phronesischen Wissens erklärt: „Wir befragen, was Aristoteles und der von ihm geprägten Tradition
selbstverständlich erschienen ist: das ‚Faktum‘, daß der Logos im Bereich der
Praxis nicht einfach erscheint, in der bloß ‚theoretischen‘ Beziehung auf die Sache, so wie es sich mit ihr verhält, in der Sachlichkeit des Wissens im Abstand,
sondern daß er zweifach (δίττον) gefaltet ist. Er entfaltet sich in bezug auf den
ausgesagten Sachverhalt als solchen und auf das Hören des Gesagten, jenes eigentümlich verdeckte Sprachphänomen, das in ‚Aussagen‘ wie der Bitte, dem
Befehl, dem Wunsch immer schon mitgeht und so alles Sagen begleiten können
muß.“ 30 Die Betonung der Sprachlichkeit weist hier nachdrücklich darauf hin,
daß das Weltverstehen das Hören des Gesagten mitvoraussetzt, das unvermeidlich
mit dem praktischen Handeln bzw. mit der Aufforderung zu bestimmten Handelungen in der Form von Bitte, Befehl oder Wunsch usw. verbunden ist. In der Tat
weist Gadamer auf die „Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung“ hin und
stellt damit den „Gebrauch des Begriffs ‚Welt an sich‘“ in Frage. 31 „Der Maßstab
für die fortschreitende Erweiterung des eigenen Weltbildes wird“ ihm zufolge
„nicht durch die außer aller Sprachlichkeit gelegene ‚Welt an sich‘ gebildet.“32
Die Sprache verfügt über „die unendliche Perfektibilität der menschichen Welterfahrung“, die nicht zu einem objektiven Wissen der Ansichwelt führt, sondern
„zu einem immer mehr erweiterten Aspekt, einer ‚Ansicht‘ der Welt.“ 33
30
M. Riedel, Für eine zweite Philosophie, a.a.O., S. 195.
H.-G. Gadamer, Hermeneutik I, a.a.O., S. 450-451.
32
Ebd., S. 451.
33
Ebd.
31
22
Man kann aber auch hier denselben Einwand wiederholen: Wenn Gadamer von
der untrennbaren Verbundenheit von Sprache und Welt ausgeht und den Begriff
Welt an sich in Frage stellt, spielt er eigentlich die Rolle eines neutralen Betrachters. Erstens kann man mit diesem Zweifel am Begriff Welt an sich gar nicht die
Möglichkeit ausschließen, daß die an einem Gespräch Beteiligten gemeinsam das
Ansichsein der Welt voraussetzen, und zweitens darf man auch bei der Annahme
einer untrennbaren Verbindung von Welt und Sprache nicht leugnen, daß ein Gespräch, solange es auf das praktische Handeln bezogen ist, notwendig die
Vorhandenheit der gemeinsamen Welt fordert. Gadamer selbst weist darauf hin,
daß die Sprachbezogenheit der Welt gar nicht bedeutet, daß das Ansichsein der
Welt im wirklichen Gespräch nicht angenommen zu werden braucht. „In jeder
Weltansicht ist das Ansichsein der Welt gemeint“, und die Annahme der vom
einzelnen Dasein gänzlich unabhängig exstierenden Welt an sich ist die notwendige Voraussetzung für ein Gespräch, das zwischen den von verschiedenen Weltansichten ausgehenden Gesprächspartnern stattfindet. 34 Gadamer weist zwar mit
Recht darauf hin, daß man eine von der Weltansicht grundverschiedene Ansichwelt nicht annehmen darf, da die Welt nicht das Sein selbst ist, sondern ein vom
Lebensvollzug des Daseins abhängiges Phänomen darstellt: „Die Mannigfaltigkeit solcher Weltansichten bedeutet keine Relativierung der ‚Welt‘. Vielmehr ist,
was die Welt selbst ist, nichts von den Ansichten, in denen sie sich darbietet, Verschiedenes.“ 35 Erklärt Gadamer damit hinreichend die Möglichkeit, wie man mit
Hilfe der faktischen Welterfahrung zu dem Bewußtsein von der ontologischen
Differenz zwischen dem Sein und der Welt gelangen kann? Keineswegs. Er erklärt nur, daß das Ansichsein der Welt, das bei jedem Gespräch vorausgesetzt
sein muß, in Wirklichkeit kein selbstverständlicher Begriff ist. Phänomenologisch
gesehen ist es allerdings eine richtige Aussage, daß die Welt kein Ansichsein ist,
sondern ein Phänomen. Man kann aber deswegen nicht die Möglichkeit ausschließen, daß die Welt im praktischen Leben unkritisch als ein Ansichsein angenommen wird.
34
35
Ebd.
Ebd.
23
Kehren wir nun zu Heideggers frühen Freiburger Vorlesung über Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles zurück; Heidegger analysiert hier, wie die
Welt durch die ruinante Sorgensweise des Daseins in die gegenständliche
Vorhandenheit überschlägt. Dieses Thema wird auch in vielen Stellen von Sein
und Zeit, besonders in §43, ausführlich behandelt. Dieser Paragraph, der mit Dasein, Weltlichkeit und Realität betitelt ist, endet mit dem Ergebnis, daß die Seinsart des Daseins weder aus der „Realität“ noch aus der „Substanzialität“, sondern
nur aus der „Existenzialität als Sorge“ begriffen werden kann: „Daß Seiendes von
der Seinsart des Daseins nicht aus der Realität und Substanzialität begriffen werden kann, haben wir durch die These ausgedrückt: die Substanz des Menschen ist
die Existenz.“ 36 Nun weist Heidegger darauf hin, daß die „Interpretation der Existenzialität als Sorge und die Abgrenzung dieser gegen Realität jedoch nicht das
Ende der existenzialen Analytik [bedeuten].“ 37 Was meint Heidegger damit?
Damit meint er, daß die Interpretation der Existenzialität als Sorge und die Abgrenzung dieser gegen die Realität nicht nur darauf abzielen, die Existenzialität
selbst philosophisch als nichtobjektivistischen Seinssinn des um sich selbst sorgenden Lebens zu bestimmen. Dadurch, daß die „Substanz des Menschen“ aus
der Existenzialität begriffen wird, will er vielmehr „die Problemverschlingungen
in der Frage nach dem Sein und seinen möglichen Modi und nach dem Sinn solcher Modifikationen schärfer heraustreten [lassen]“. 38 Was soll dann durch die
Interpretation der Existenzialität als Sorge als das eigentliche Problem in der Frage nach dem Sein heraustreten? Auf diese Frage gibt Heidegger eine eindeutige
Antwort: Der Ursprung vom Seinssinn als Seiendem liegt in der Seinsart des um
sich selbst besorgten Daseins selbst; „nur wenn Seinsverständnis ist, wird Seiendes als Seiendes zugänglich; nur wenn Seiendes ist von der Seinsart des Daseins,
ist Seinsverständnis als Seiendes möglich.“ 39 Und da ein metaphysisches Seinsverständnis nach Heidegger gerade in der Reduktion des Seins selbst auf das Seiende liegt, ist die Seinsart des Daseins (Sorge), durch die das Sein als Seiendes
36
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 212.
Ebd.
38
Ebd.
39
Ebd.
37
24
verstanden wird, dafür verantwortlich, daß das Sein metaphysisch als Ansichsein
der Welt vorgestellt wird.
Es ist nun deutlich geworden, daß Heidegger gerade die sorgende Seinsweise des
Daseins, die primär am praktischen Interesse des Lebens orientiert ist, als Ursprung des metaphysischen Seinsverständnisses betrachtet. Zu zeigen, daß das,
was im natürlichen Bewußtsein des Daseins als Ansichsein gesetzt ist, eigentlich
nur ein von der sorgenden Seinsweise des Daseins abhängiges Phänomen ist, gehört in der Tat zu der philosophischen Leistung einer phänomenologischen Kritik.
Heidegger selbst versucht zu zeigen, daß die Begriffe wie Ansichsein, Realität
und Substanzialität gar nicht selbstverständlich anzunehmende Begriffe sind,
sondern zu den Phänomenen gehören, die von der sorgenden Seinsweise des Daseins getragen sind. Es ist damit aber zugleich klar geworden, daß man mit dem
Hinweis auf die praxeologische Dimension der sorgenden Seinsweise des Daseins
gar nicht erklären kann, wie sich das Dasein zu dem nicht gegenständlichen Sein
selbst verhält. Denn es ist gerade das praxeologische Wesen des Daseins, was das
Sein als Seiendes verstehen läßt.
3. Religion und die Geschichtlichkeit des faktischen Lebens
Kehren wir nun zu unserer ursprünglichen Frage zurück: Was hat Heidegger von
Schleiermacher in der Zeit seiner hermeneutischen Umbildung der Phänomenologie übernommen? Heideggers Ausarbeitungen und Entwürfe zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19 belegen deutlich: Schleiermachers Religionsphilosophie
hat Heidegger zu der Einsicht in die Unzulänglichkeit einer Philosophie gebracht,
welche die Frage nach dem Sein entweder erkenntnistheoretisch oder praxeologisch zu lösen versucht. Zu Schleiermachers zweiter Rede Über das Wesen der
Religion bemerkt Heidegger, daß Schleiermachers Religionsphilosophie die
„Notwendigkeit einer phänomenologischen Einstellung auf das religiöse Erlebnis“ belege. 40 Worin besteht nun das wesentliche Merkmal des religiösen Erleb40
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 319.
25
nisses, auf das eine Phänomenologie notwendig eingehen muß? Heidegger erkennt, wie schon erwähnt, daß die Religion für Schleiermacher weder als „eine
Denkungsart, ein theoretisches Gebilde“ noch als „ein praktisches Phänomen“ zu
betrachten ist. 41 Damit ist der eigentliche Grund genannt, in welchem Sinn für
Heidegger die Religionsphilosophie Schleiermachers auf die Notwendigkeit einer
phänomenologischen Bestimmung des religiösen Erlebnis hinweist. Gerade das
religiöse Erlebnis, auf das sich Schleiermacher beruft, stellt für Heidegger die
Weise dar, wie sich das Dasein zu dem nicht gegenständlichen Sein selbst verhält.
Weder der Primat der Erkenntnis noch der Primat des praktischen Lebens führen
zur ontologischen Frage nach dem Sein selbst; denn das Dasein ist sowohl bei
seiner theoretischen als auch bei seiner praxeologischen Einstellung auf die
Vorhandenheit einer Welt angewiesen, die empirisch konstatierbar sein soll. D. h.:
Schleiermachers Religionsphilosophie hat Heidegger in der Zeit seiner hermeneutischen Umbildung der Phänomenologie zu der Einsicht gebracht, daß die phänomenologische Destruktion der metaphysischen Seinsauslegung erst dann ermöglicht werden kann, wenn die phänomenologische Frage nach dem Sein weder
erkenntnistheoretisch noch praxeologisch gestellt wird. Gerade als das „Gefühl“,
„in dem Religion allein als bestimmte Erlebnisform sich verwirklicht“, erweckt
das religiöse Erlebnis im Dasein ein Bewußtsein von etwas, was von der äußeren
Wirksamkeit der seienden Dinge gänzlich unabhängig ist. 42 „Der Religion ist die
Betrachtung wesentlich“, die nicht im Sinn einer wissenschaftlichen Gegenstandsbetrachtung, sondern im Sinn einer religiösen Zurückgezogenheit vom äußerlichen Wirkungszusammenhang des Seienden zu verstehen ist: „Betrachtung –
darunter ist zu begreifen ‚alles von äußerer Wirksamkeit zurückgezogene Erregtsein des Geistes‘. Sinn und Geschmack für das Unendliche = ‚unmittelbares in
uns Leben des endlichen, wie es im unendlichen ist‘.“ 43 Und dieser Seinssinn des
Unendlichen, der im religiösen Erlebnis gegeben ist, kann weder durch den Primat der Handlung (Moral) noch durch den des Wissens (Metaphysik) erschlossen
werden: „So ist“ für Schleiermacher „zunächst zu zeigen der schneidende Gegen41
Ebd.
Ebd., S. 320.
43
Ebd.
42
26
satz des Glaubens zu Moral und Metaphysik, der Frömmigkeit gegen Sittlichkeit.“ 44
Die Frage, welche grundsätzlichen Einsichten Heidegger von Schleiermacher
übernommen hat, ist somit beantwortet: Gerade vor dem Hintergrund von Schleiermachers Religionsbegriff gelangt Heidegger zu der Einsicht, daß eine Phänomenologie über die Dyadik von Wissen und Handeln hinausgehen muß, um die
Frage nach dem Sein selbst im echten Sinn phänomenologisch stellen zu können.
Dieser Einfluß von Schleiermacher soll in dieser Arbeit genauer untersucht werden. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Heideggers philosophische Auseinandersetzung mit Schleiermacher schon von zwei wichtigen HeideggerForschern untersucht wurde: H. Ott und O. Pöggeler sind der Meinung, daß Heidegger gerade durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher die erste Anregung
zu einer hermeneutischen Umbildung der Phänomenologie erhalten hat. Aber in
welchem konkreten Sinnzusammenhang Heideggers Schleiermacher-Rezeption
zur philosophischen Entwicklung seiner Existenzontologie steht, bleibt bei beiden
Denkern noch unklar. H. Ott behauptet, daß Schleiermachers „Wendung des Religionsverständnisses ins Existentielle“ „für einige Zeit Heideggers Beschäftigung
mit Luther bis in die frühen Marburger Jahre [bestimmte].“45 Er will dann aber
seine eigenen „Deutungsversuche auf sich beruhen“ lassen, da er seine biographische Arbeit über Heidegger eher als ein geschichtswissenschaftliches Werk betrachtet: „Es [sic: diesen Fragen nachzugehen] ist nicht so sehr das Geschäft des
Historikers“. 46 O. Pöggeler erkennt zwar an, daß Heideggers Auseinandersetzung
mit Schleiermacher ein entscheidender Wendepunkt in Heideggers hermeneutischer Neuausrichtung der Phänomenologie gewesen ist: „Der Bezug zu Schleiermacher zeigt eine Wende; in den Nachkriegsjahren ist die Phänomenologie, der
Heidegger nunmehr folgt, zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens geworden.“ 47 Es scheint aber, daß er Schleiermachers Wirkung auf Heidegger als etwas
Vorläufiges betrachtet. Er weist darauf hin, daß Heideggers Vorlesung Einleitung
44
Ebd.
H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 113.
46
Ebd.
47
O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 100.
45
27
in die Phänomenologie der Religion vom Wintersemester 1920/21 schon eine
Kritik an Schleiermacher impliziere. 48 Dabei folgt er einem linearen Entwicklungsmodell des Heideggerschen Gedankens: Ihm zufolge war Heidegger zwar
durch Schleiermacher zu einer Konzeption einer Hermeneutik des faktischen Lebens angeregt worden, aber der eigentliche Kernpunkt der Hermeneutik Heideggers, nämlich daß das faktische Leben jeweils historisch verstanden werden muß,
stamme erst aus einer anderen, späteren Quelle: Die urchristliche Eschatologie
bezeuge exemplarisch das kairologische Wesen des faktisch historischen Lebens,
indem sie sich auf den Kairos der Ankunft Christi bezieht. 49 Diese Auffassung
von Pöggeler ist m. E. revisionsbedürftig.
Es ist zwar wahr, daß Heidegger in seinen frühen Freiburger Vorlesungen auch
eine Kritik an Schleiermachers Religionsphilosophie geübt hat. Das bedeutet aber
m. E. nicht, daß Heidegger erst durch seine Beschäftigung mit dem Urchristentum zu der Einsicht in die Geschichtlichkeit des faktischen Lebens gelangen
konnte. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß es Heidegger durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher möglich geworden ist, die Geschichte nicht mehr
metaphysisch, sondern lebensphänomenologisch zu behandeln. Schon in seiner
Habilitationsschrift über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus,
die Pöggeler zufolge auf die metaphysische, in Hegel kulminierende Theologie
verwies, hat Heidegger vom lebendigen Geist gesprochen, der wesensmäßig historisch ist: „Der lebendige Geist ist als solcher wesensmäßig historischer Geist
im weitesten Sinne des Wortes.“ 50 Heidegger hat dann nach seiner Beschäftigung
mit Schleiermacher diese Geschichte des Geistes durch die Geschichtlichkeit des
faktischen Lebens ersetzt; die Geschichte soll nunmehr nicht mehr kulturphilosophisch-teleologisch – wie in seiner Habilitationsschrift – behandelt werden, sondern phänomenologisch, d. h. als Wesensmerkmal des faktischen Lebens selbst.
Dies werde ich im ersten bzw. zweiten Teil dieser Arbeit noch ausführlicher darstellen. Ich möchte mich hier nur auf einige Punkte der Heideggerschen Schlei48
Vgl. Ebd., S. 26.
Vgl. Ebd., S. 26 ff.
50
M. Heidegger, Frühe Schriften, Frankfurt a. M. 1978, S. 407. Vgl. O. Pöggeler, Heidegger in
seiner Zeit, a.a.O., S. 26.
49
28
ermacher-Kritik konzentrieren, die zusätzlich deutlich machen, was Gadamer bei
seiner praxeologischen Heidegger-Auslegung übersieht.
Es ist wichtig festzustellen, wann Heideggers kritische Auseinandersetzung mit
Schleiermacher begonnen hat. Das lineare Entwicklungsmodell, das Pöggeler bei
seiner Darstellung von Heideggers hermeneutischer Neuausrichtung der Phänomenologie vorauszusetzen scheint, erweckt den Eindruck, Heidegger habe zuerst
die Hermeneutik des faktischen Lebens von Schleiermacher übernommen und
dann ein paar Jahre später, also nach seiner Beschäftigung mit dem Urchristentum,
sich von Schleiermacher kritisch distanziert. Dies ist jedoch nicht der Fall. Heideggers Kritik an Schleiermacher beginnt nämlich nicht erst nach seiner Rezeption von Schleiermachers Religionsbegriff, sondern beinahe gleichzeitig mit seiner
emphatischen Anerkennung der phänomenologischen Ausrichtung von Schleiermachers Religionsphilosophie; also nicht in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1920/21, sondern in seinen Ausarbeitungen und Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19, die eigentlich für das Wintersemester 1919/20 angekündigt wurde. Heidegger nimmt hier zunächst durchaus positiv auf Schleiermachers zweiter Rede Über das Wesen der Religion bezug: Nach Heideggers
Ansicht offenbare Schleiermachers Religionsbegriff ein genuin phänomenologisches Problembewußtsein. Dann aber folgt eine kritische Bemerkung zu Schleiermachers Glaubenslehre; in dieser Schrift findet Heidegger Ansätze, die im Gegensatz zum phänomenologischen Problembewußtsein der zweiten Rede auf ein
metaphysisches Seinsverständnis verweisen.
Heideggers Kritik richtet sich insbesondere dagegen, daß Schleiermacher das
religiöse Erlebnis – das Gefühl – in seiner Glaubenslehre als ein Gefühl der
schlechthinnigen Abhängigkeit deutet: Denn die schlechthinnige Abhängigkeit
impliziere nach Heidegger einen auf die Naturrealität hinweisenden Sinn des
Seins, so daß Schleiermacher, der mit seinem Religionsbegriff eine Dimension
des sich von der Vorhandenheit des Seienden gänzlich unterscheidenden Seinssinns in der faktischen Lebenserfahrung gezeigt habe, für Heidegger phänomenologisch nicht konsequent bleibt: „‚Schlechthinnige Abhängigkeit‘: dieser Deutungssinn ist zu roh, er objektiviert zu sehr in einer seinstheoretischen – spezi-
29
fisch die Naturrealität betreffenden – Richtung.“ 51 Dies ist allerdings eine fragwürdige Beurteilung. Denn das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl unterscheidet sich für Schleiermacher gerade dadurch vom relativen Abhängigkeitsgefühl,
daß dieses sich auf die Wechselwirkung der Dinge bezieht, während jenes auf
Gott als das absolute Sein bezogen ist. Und „Gott ist“ im Sinne Schleiermachers,
wie G. Scholtz zu Recht betont, „kein ‚Gegenstand‘, von dem apriorisch synthetische Urteile zu fällen wären“. 52 Er ist weder, so Scholtz, Naturrealität noch Ansichsein, sondern der höchste Bezugssinn zwischen Sein und Dasein, durch den
sich das Dasein über seine Freiheit und relative Abhängigkeit von äußerer Wirksamkeit hinaus zu dem nicht gegenständlichen Sein selbst verhält: „Es [das Gefühl der Frömmigkeit] ist zugleich die höchste Stufe des Selbstbewußtseins, das
nun seine Freiheit und relative Abhängigkeit und mit diesen die gesamte endliche
Welt in sein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit hineinnimmt und als abhängig
von Gott weiß.“ 53 Heideggers Behauptung, der Begriff der schlechthinnigen Abhängigkeit sei eine zu stark objektivierende, dingliche Formulierung des religiösen Gefühls, kann also nur dann als richtig betrachtet werden, wenn Schleiermacher trotz seiner Unterscheidung von der relativen und der schlechthinnigen Abhängigkeit dennoch zu Recht in dem Sinn kritisiert werden kann, daß sein Gottesbegriff das Absolute nicht scharf genug von der metaphysischen – an der
Vorhandenheit des substantiellen Seins orientierten – Idee der Naturrealität trenne.
Ob Heidegger mit dieser Kritik Recht hat, werde ich im zweiten Teil dieser Arbeit noch genauer untersuchen. Wichtig ist hier zunächst deutlich zu machen, was
Heidegger intendiert. Er möchte mit seiner Kritik an dem Begriff der schlechthinnigen Abhängigkeit gerade das noch konsequenter als Schleiermacher durchführen, was in Schleiermachers Religionsphilosophie von einem phänomenologischen Ausgangspunkt aus entwickelt worden ist. Und wenn ich Heideggers Argumentation richtig verstanden habe, besteht für Heidegger das ureigenste Merkmal der Religionsphilosophie Schleiermachers darin, daß bei ihm die Geschichte
51
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Erlebnisses, a.a.O., S. 331.
G. Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, S. 132.
53
Ebd., S. 130.
52
30
des Geistes im idealistischen Sinn durch die Geschichtlichkeit des sich selbst zum
Sein selbst verhaltenden Daseins ersetzt wird.
Heidegger findet in der Glaubenslehre Schleiermachers zwei auf die Vorhandenheit zurückführbare Begriffe, welche mit dem phänomenologischen Sinn des geschichtlichen Lebens schwerlich vereinbar seien; die „schlechthinnige Abhängigkeit“, wie bereits erwähnt, und darüber hinaus die „wechselnde Bestimmtheit unseres Selbst“. 54 Beide hängen voneinander ab: Während die schlechthinnige Abhängigkeit das empirisch als vorhanden konstatierbare Sein (Sein als Naturrealität) voraussetzt, von dem unser eigenes Selbst abhängt, setzt die wechselnde Bestimmtheit unseres Selbst allerdings voraus, daß unser Selbst ein gewordenes,
empirisch als vorhanden konstatierbares Seiendes ist. Und so ist die ‚wechselnde
Bestimmtheit unseres Selbst‘ für Heidegger ebenfalls eine zu sehr an den endlichen Bestimmungen des Seienden orientierte Formulierung: „‚Die wechselnde
Bestimmtheit unseres Selbst‘ besagt: unser lebendiges Bewußtsein ist ein stetiges
Sichfolgen und Sichdurchdringen von Situationen. Auch so ist alles noch zu sehr
naturtheoretisch charakterisiert.“ 55
Es stellt sich nun die Frage, ob diese Kritik insgesamt eine ablehnende Haltung
Heideggers gegenüber der Religionsphilosophie Schleiermachers zum Ausdruck
bringt. Es wurde schon gezeigt, daß Heidegger die Betrachtung als ein wesentliches Merkmal des Schleiermacherschen Religionsbegriffs versteht. Für die Religion ist die Betrachtung wesentlich, und das bedeutet nicht, daß sich der religiös
Gesinnte gegenüber der Welt wie ein Wissenschaftler verhalten würde; es bedeutet vielmehr, daß sich das Dasein durch die Religion von äußerer Wirksamkeit
befreit. Die Pointe von Heideggers Kritik an jenem Begriff der wechselnden Bestimmtheit unseres Selbst besteht nun darin, daß er gerade zu diesem Sinn der
religiösen, von äußerer Wirksamkeit zurückgezogenen „Gemütslage“ im Widerspruch stehe.
Diese Kritik beruht allerdings auf einem Mißverständnis. Wir werden später einsehen können, daß dieses Mißverständnis Heidegger zu einer faktisch solipsisti-
54
55
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Erlebnisses, a.a.O., S. 331.
Ebd.
31
schen Position verführt; seine abstrakte Dyadik von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Selbst und Man in Sein und Zeit legt nahe, daß er die eigene Seinsmöglichkeit des Daseins vom gemeinschaftlichen Leben grundsätzlich trennt. Schleiermacher weist dagegen mit diesem Begriff der wechselnden Bestimmtheit unseres Selbst darauf hin, daß der Ursprung der Religion nur im Zusammenhang mit
dem gemeinschaftlichen Leben sinnvoll erklärt werden kann. Es ist für Schleiermacher nur eine bloße Abstraktion, wenn man unter der Religion etwas von der
wechselnden Bestimmtheit, vom stetigen Sichfolgen und Sichdurchdringen von
Situationen gänzlich Unabhängiges versteht. Daher spricht Schleiermacher in der
Glaubenslehre von der „Frömmigkeit der Gemeinschaft“ bzw. „Gemeinschaftlichkeit der frommen Erregungen“, 56 die er eigentlich schon in seinen Reden klar
56
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (KGA 1. Abt. 7/1), Berlin / New York 1980, S. 40;
43. Obwohl sich Heideggers Anmerkung zur Glaubenslehre Schleiermachers auf die zweite Auflage bezieht, werde ich in dieser Arbeit hauptsächlich aus der ersten Auflage zitieren. Dafür gibt
es zwei Gründen:
1. Wenn es darum geht, die phänomenologische Seite der Philosophie Schleiermachers hervorzuheben (und hierin liegt auch einer der wichtigsten Aufgaben dieser Arbeit), so wird man der ersten
Auflage den Vorzug geben, da durch die stilistischen Veränderungen in der zweiten Auflage die
phänomenologischen Ansatzpunkte der Religionsphilosophie Schleiermachers m. E. schwieriger
zu erkennen sind. H. Peiter zitiert in seiner ‚Einleitung des Bandherausgebers‘ für die Glaubenslehre von KGA wichtige Zeugnisse von C. Stange, der 1910 in seiner kritischen Ausgabe der
Einleitung der Glaubenslehre die Texte der ersten und der zweiten Auflage nebeneinander gesetzt
habe: „Stange gibt der 1. Auflage den Vorzug, weil er meint, ‚daß insbesondere die Anordnung
der zweiten Auflage vielfach die ursprünglichen Intentionen der Systematik Schleiermachers nicht
mehr erkennen läßt, resp. selbst direkt verfehlt. Ja, es gibt sogar gelegentlich Stellen in der zweiten Auflage, die auch nach ihrem Wortlaut ohne die erste Auflage gar nicht verständlich
sind.“ (Ebd., S. LX.) In der Bewertung der Wichtigkeit der ersten Auflage schließe ich mich
C.Stange an. Der Grund für viele Veränderungen in der zweiten Auflage liegt vermutlich unter
anderem darin, daß Schleiermacher in der zweiten Auflage versucht hat, die phänomenologischen
Ansätze der ersten Auflage mit der Sprache der christlichen Dogmatik stärker zu verbinden. G.
Scholtz weist in einer Darlegung der Schleiermacher-Rezension von C. J. Braniß darauf hin, daß
Braniß im Gefühlsbegriff Schleiermachers, da „in ihm kein ‚Gegenstand‘, kein ‚etwas‘ sich von
dem affizierten Subjekt abscheidet,“ eine erhebliche Einschränkung der konkreten Wirkungsweise
Gottes auf uns findet: „Trotz der philosophischen Begriffe muß als Ausgangspunkt für die Dogmatik die religiöse Stellung genommen werden. Ins Zentrum der Kritik von Braniß rückt nun der
Gefühlsbegriff. […] Ist Gott […] nur im Gefühl, d. h. nur in ‚in uns, aber nicht für uns‘, ergibt
sich der Widerspruch, daß wir uns oder nur Gott haben, aber nie haben wir uns durch Gott. Und in
seiner Unmittelbarkeit bleibt auch das Abhängigkeitsgefühl selbst ‚immer unbewußt‘ und wir
erhalten lediglich ‚eine instinktmäßige Frömmigkeit‘. Außerdem findet das Gottesgefühl am Wissen und Wollen seine Schranke und büßt seine Absolutheit ein.“ (G. Scholtz, ‚Historismus‘ als
spekulative Geschichtsphilosophie: Christlieb Julius Braniß (1792-1873), Frankfurt a. M. 1973, S.
24.) Ob Braniß hierbei Recht hat, kann man allerdings erst nach der konkreten Analyse der Religionsphilosophie Schleiermachers feststellen, die besonders im zweiten und dritten Teil dieser
Arbeit ausführlich geschehen soll. Wichtig ist hier nun die Möglichkeit, ob diese SchleiermacherRezension von Braniß Schleiermacher dazu veranlaßt hat, das Verhältnis zwischen seiner Glaubenslehre und der christlichen Dogmatik noch konkreter darzulegen. Dies führte vielleicht dazu,
32
und deutlich dargestellt hat. Besonders in der fünften Rede, in der er gegen die
Idee der natürlichen Religion im Sinne der Aufklärung die positiven Religionen
als einzig mögliche Formen des faktischen religiösen Lebens geltend zu machen
versucht, hebt Schleiermacher besonders hervor, daß eine Religion, die von der
wechselnden Bestimmtheit im gemeinschaftlichen Leben unabhängig wäre, eine
reine Abstraktion ist. 57 Anders als Heidegger, der jegliche Form der „Öffentlichdaß Schleiermacher in der zweiten Auflage der Glaubenslehre bei der sprachlichen Formulierung
seines philosophischen Ansatzes viel vorsichtiger wurde. Durch Schleiermachers Anpassung an
die christliche Dogmatik wurden seine phänomenologischen Ansatzpunkte m. E. eher verdeckt,
und folglich hat „die stark umgearbeitete Zweitauflage seiner Dogmatik“ (Ebd., S. 38.) für die
Aufgabe dieser Arbeit, das phänomenologische Wesen der Religionsphilosophie Schleiermachers
zu erhellen, eher Nachteile als Vorteile; die erste Auflage seiner Glaubenslehre ist in dieser Hinsicht viel angemessener für die Erfüllung unserer Aufgabe.
Allerdings muß man auf inhaltliche Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Auflage
achten: Da es in dieser Arbeit auch um die Schleiermacher-Rezeption Heideggers geht, ist die
Vorliebe der ersten Auflage nur schwer zu rechtfertigen, wenn es zwischen den beiden Auflagen
grundsätzliche inhaltliche Veränderung des Grundgedankens gibt. Der Unterschied zwischen den
beiden Auflagen ist jedoch nur ein stilistischer, und irgendwelche Veränderung des Grundgedankens in der zweiten Auflage kann man ausschließen. Auch D. Offermann weist darauf hin, daß es
zwischen beiden Auflagen zwar eine stilistische, aber dennoch keine inhaltliche Veränderung des
Grundgedankens gibt: „Es ist beobachtet worden, daß Schleiermacher in der zweiten Ausgabe
seiner Glaubenslehre in stärkerem Maße als in der ersten den Begriff ‚unmittelbares Selbstbewußtsein‘ als tragend verwendet – ebenso entsprechend den Begriff ‚christlich frommes Selbstbewußtsein‘ – , dagegen nicht so sehr ‚Gefühl‘ und eben nicht so sehr ‚schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl‘. Eine solche Ausdrucksverlagerung würde nur der in der zweiten Auflage erfolgten Präzisierung des Grundbegriffs entsprechen, jedenfalls ist nicht schon daraus zu schließen, daß
die Aussage, die an diese Begriffe anschließt, inhaltlich verändert sei.“ (D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, Berlin 1969, S. 42.) Besonders im dritten Kapitel seines
Werkes macht Offermann deutlich, daß die Ausdrucksverlagerung in der zweiten Auflage nur
eine stilistische Bedeutung hat. (Vgl. Ebd., S. 38 ff.)
2. Der zweite Grund dafür, warum man bei der Darlegung der Glaubenslehre Schleiermachers
der ersten Auflage den Vorzug geben muß, besteht darin, daß die erste Auflage der Glaubenslehre
und die Dialektik-Vorlesung von 1822 sprachlich eine innerliche Einheit bilden, die man für eine
angemessene Darstellung des Schleiermacherschen Denkens beachten sollte. Schleiermachers
Dialektik-Vorlesung von 1822 liegt der ersten Auflage der Glaubenslehre zeitlich am nächsten,
und die hieraus resultierende Einheit des sprachlichen Ausdrucks zwischen den beiden Werken
ermöglicht die nötige Klarheit für die Untersuchung, aus welchem philosophischen Anlaß Schleiermacher das fromme Abhängigkeitsgefühl als ein konstitutives Element des menschlichen Bewußtseinslebens versteht. (Vgl. Ebd., S. 68 f.) Besonders wenn es darum geht, die phänomenologische Seite der Philosophie Schleiermachers hervorzuheben, kann man in der DialektikVorlesung von 1822 viele Stellen finden, in denen eine Art der phänomenologischen Bewußtseinsanalyse mit den Ausdrücken, die sich direkt auf die Glaubenslehre Schleiermachers beziehen
lassen, vorgenommen wird. Hierüber wird im dritten Teil dieser Arbeit noch einmal die Rede sein.
Allerdings wird im Verlauf der Arbeit auch aus der zweiten Auflage der Glaubenslehre zitiert,
wenn es für die präzise Darlegung dessen, was Heidegger von der Glaubenslehre Schleiermachers
übernommen hat, nötig ist.
57
F. Schleiermacher, Über die Religion (2.-) 4. Aufl. (KGA 1. Abt. 12), Berlin / New York 1995,
S. 250 ff. In dieser Arbeit wird es hauptsächlich aus dieser KGA-Ausgabe zitiert. Hierfür gibt es
einen wichtigen Grund, der für diese Arbeit von maßgebender Bedeutung ist: Nach der ersten
Auflage der Reden über die Religion hat Schleiermacher in den weiteren Auflagen wiederholt
33
keit als die Seinsart des Man“ versteht und der eigentlichen Seinsmöglichkeit des
Daseins gegenüberstellt, 58 versteht Schleiermacher das religiöse Leben nicht als
einen radikalen Gegensatz zu dem gemeinschaftlichen Leben; er will vielmehr
dem religiösen Erlebnis selbst die Möglichkeit zuweisen, die Geschichte als eine
Geschichte von den sich auf den Sinn des nicht gegenständlichen Seins selbst
ausgerichteten Menschen im konkreten Lebenszusammenhang umzugestalten.
Und gerade darin liegt der Grund, warum Schleiermacher in seiner fünften Rede
das Eigenrecht der positiven Religionen geltend zu machen versucht.
Obwohl oder gerade weil Heidegger unter der religiösen Betrachtung im Schleiermacherschen Sinn etwas von der wechselnden Bestimmtheit des Selbst radikal
Verschiedenes versteht, darf man nicht annehmen, daß Heideggers Kritik an
Schleiermachers Begriff der wechselnden Bestimmtheit des Selbst eine grundsätzliche Ablehnung von Schleiermachers Religionsphilosophie bedeuten würde.
Heidegger will vielmehr das, was Schleiermacher mit der religiösen Betrachtung
zum Ausdruck bringt, noch viel radikaler durchführen; er leitet von der religiösen
Betrachtung eine Seinsweise des Daseins ab, die darin liegt, alles, was das Dasein
von der gemeinschaftlichen Lebenswelt übernommen hat, als das uneigentliche
Selbst zu relativieren. Die Zurückgezogenheit des religiösen Daseins von der endlichen Welt, die ihm einen Bezug zu dem nicht gegenständlichen Sein selbst ermöglicht, versteht Heidegger als eine besondere Form der „Intentionalität“, als
einige stilistische Veränderungen vorgenommen, durch die das phänomenologische Wesen seiner
Philosophie viel deutlicher wird. Schleiermacher hat in den weiteren Auflagen der Reden das
Wort Universum zunehmend durch das Wort Gott ersetzt, und das Wort Anschauung zwar nicht
ganz, aber doch weitgehend beseitigt.
In der vorhergehenden Fußnote habe ich darauf hingewiesen, daß die zweite Auflage der Glaubenslehre, verglichen mit der ersten Auflage, keine inhaltliche Veränderung der Grundgedanken
zeigt, obwohl es zwischen beiden Auflagen stilistisch einen großen Unterschied gibt. Genau so ist
es bei den verschiedenen Auflagen der Reden: Man darf keine inhaltlichen Änderungen der
Grundgedanken zwischen den verschiedenen Auflagen vermuten. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß Schleiermacher durch eine stilistische Veränderung seines Werkes die Relation zwischen Gott, Welt und Selbstbewußtsein noch deutlicher zu erhellen versucht. Besonders durch die
Ersetzung des Wortes Universum durch das Wort Gott versucht Schleiermacher m. E. seine phänomenologische Grundeinsicht stäker zu betonen, die mit dem phänomenologischen Begriff der
Epoché vergleichbar ist: Im Gottesbewußtsein wird alles, was sich in einer raum-zeltlichen Relation alles endlichen Seienden (Welt) zeigt, nicht als ein reales Sein anerkannt, sondern seinem
Wesen nach als ein Phänomen aufgefaßt. Dieser Gedanke wird im zweiten Teil dieser Arbeit
detailliert untersucht.
58
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 138.
34
ein „Urelement des Bewußtseins“, in dem sich „jedes mögliche ‚Sichselbstnichtsogesetzthaben‘ [gründet].“ 59 Und gerade hierin liegt die Antwort auf die Frage,
in welchem Sinn Heideggers Hermeneutik des faktischen Lebens als eine Kritik
zu verstehen ist; alles, was das Dasein aus seiner historisch entstandenen Lebenswelt, aus der Traditionen und aus der Gemeinschaft als einen Teil seines eigenen Selbst übernommen hat, verliert seine Bedeutung für das Dasein dadurch,
daß das Dasein den Bezug zu dem nicht gegenständlichen Sein selbst als ein Urelement seines Innenlebens hat. Nicht das am Handlungsvollzug, an der Anwendung der Phronesis orientierte Subjektsein ist für Heidegger der Inbegriff einer
angemessenen existenzontologischen Auslegung des Selbst, es geht ihm viel
mehr darum, ein Bewußtsein davon zu haben, daß das Dasein das Nichts als ein
konstitutives Moment seiner existenzialen Grundstruktur hat. Denn ein Handlungssubjekt, das primär an der Anwendung der lebensweltlichen Klugheit
(Phronesis) orientiert ist, setzt notwendig voraus, daß man sich von den ständig
wechselnden, ineinandergreifenden Alltagssituationen bestimmen läßt. Damit ist
das Wozu (Zu welchem Zweck will man diese oder jene Handlung vollziehen?)
und das Woraus (Aus welchem Grund kommt es dazu, daß man diese oder jene
Handlung vollziehen will?) in einem konkreten Lebenszusammenhang begründet.
Dieses Handlungssubjekt wird aber in der religiösen Zurückgezogenheit von jeder äußeren Wirksamkeit vom Dasein als ein uneigentliches Selbst entlarvt, das
gar nicht angemessen das eigentliche Sein meines eigenen Daseins charakterisieren kann. Und somit steht das Dasein vor dem Nichts, das im doppelten Sinn zu
betrachten ist; einerseits als die Nichtigkeit des Selbst als eines Modus der von
äußerer Wirksamkeit bestimmten Uneigentlichkeit und andererseits als die Nichtigkeit der Welt, die kein Ansichsein, sondern ein vom Lebensvollzug des Daseins abhängiges Phänomen ist.
Mit Hilfe dieser Ausführungen wird deutlich, was Heidegger in seiner frühen
Freiburger Zeit unter der ‚Geschichtlichkeit‘ versteht, die für ihn zu dieser Zeit
eines der wichtigsten Themen seiner Hermeneutik der Faktizität ist. Der Sinn der
hermeneutisch verstandenen Geschichtlichkeit besteht für ihn gerade nicht darin,
59
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 332.
35
daß das Dasein zu verschiedenen Traditionen gehört, in denen sich eine bestimmte Form, die Welt zu betrachten, bildet, die allmählich eine Leitfunktion für das
Dasein in einem konkreten Lebenszusammenhang übernimmt. Er besteht vielmehr darin, daß das Dasein mit seiner eigenen Tradition stets in einem Spannungsverhältnis steht. Diese Spannung zwischen dem Dasein und der Tradition
kann gar nicht durch eine Praxeologie des Lebens erklärt werden. Denn das Dasein muß sich bei einem praktischen Handlungsvollzug als ein Subjekt verstehen,
dessen Handlungsintention von etwas abhängig ist, was in einer Lebenswelt als
bedeutsam für einen bestimmten Zweck gilt.
4. Sprache, Welt und Sein
Heideggers Existenzontologie steht somit in gewisser Hinsicht in einem radikalen
Gegensatz zu Gadamers Traditionalismus. Der Grund dafür liegt nicht nur darin,
daß Heidegger die Bedeutung des Seins selbst von einem metaphysischen Seinsverständnis strenger unterscheidet als Gadamer; sondern vielmehr darin, daß Heidegger dem Menschen einen Bezug zu dem Sein selbst als ein konstitutives
Grundelement der Daseinsstruktur zuweist. Das Dasein, das in seiner ruinanten
Sorge am Vollzug eines bestimmten Handlungszweckes orientiert ist, hat zugleich die Möglichkeit, das von bestimmten Handlungsmotivationen abhängige
Selbst als ein uneigentliches Selbst zu relativieren. Das Dasein, das schlechthin
an applicatio orientiert ist, lebt also für Heidegger in der Seinsvergessenheit. Das
ist der Grund, warum Heideggers Existenzontologie nicht einseitig als praxeologisch verstanden werden darf.
Der Leser, der mit der Hermeneutik von Gadamer gut vertraut ist, wird hier allerdings einwenden wollen, daß eine Praxeologie im Sinne Gadamers nicht auf
eine bloße Zweckorientierung reduzierbar ist; Gadamer spricht nicht nur von der
Anwendung des phronesischen Wissens, sondern auch von der weltoffenbarenden
Funktion der Sprache, durch die dem praxeologischen Leben des Daseins doch
die Dimension der Wahrheit eröffnet wird: „Die menschliche Sprache muß aber
36
insofern als ein besonderer und einzigartiger Lebensvorgang gedacht werden, als
in der sprachlichen Verständigung ‚Welt‘ offenbar gemacht wird.“60 Die Frage ist
nun aber, ob diese weltoffenbarende Funktion der Sprache, wenn sie bloß praxeologisch verstanden wird, das Dasein nicht lediglich zu einer Hypostasierung der
eigenen Weltsicht führt. Es ist sicher richtig, wenn Gadamer selber besonders
hervorhebt, daß man keine Welt an sich, die außerhalb aller Sprachlichkeit liegen
würde, annehmen darf. Damit macht er zwar unmißverständlich deutlich, daß er
die metaphysische Idee der Ansichwelt bzw. des Ansichseins ablehnt. Meine Frage ist aber, ob er dem faktischen Leben des Daseins selbst die Möglichkeit zuweist, das metaphysische Verständnis des Seins als eines Seienden zu überwinden.
Es wurde schon gezeigt, daß Gadamer „die unendliche Perfektibilität der menschlichen Welterfahrung“ voraussetzt, um zu behaupten, daß das Dasein im faktischen Leben „nie zu etwas anderem gelangt als zu einem immer mehr erweiterten
Aspekt, einer ‚Ansicht‘ der Welt.“ 61 Diese These weist aber höchstens auf einen
Pragmatismus zweiten Grades hin, der mit seinem eigenen Angriff gegen die romantische Genieästhetik schwerlich zu vereinbaren ist. In welchem Sinn ist diese
sogenannte unendliche Perfektibilität der menschlichen Welterfahrung zu verstehen, nachdem Gadamer den methodologischen Objektivismus der romantischen
Hermeneutik abgelehnt hat? Gibt es eine Welt der objektiv feststellbaren Wahrheiten, damit sich das Dasein an das richtige Verstehen der objektiven Welt annähern kann? Dann ist allerdings Gadamers Kritik am Objektivismus unhaltbar.
Oder gibt es zwar keine Welt der objektiven Wahrheiten, aber eine allen Menschen gemeinsame Vorbedingung der Welterfahrung, mit denen man zumindest
die Plausibilität einer Aussage überprüfen kann? Dann ist seine Hermeneutik
selbst als eine Form der romantischen Genieästhetik zu bewerten, welche ebenfalls etwas wie das allen Individuen gemeinsame Alleben voraussetzt. Mehr noch:
Das faktische Leben des Daseins hat für Gadamer, obwohl er selbst die Idee des
Ansichseins ablehnt, überhaupt keine Möglichkeit, das metaphysische Verständnis des Seins als eines Ansichseins zu überwinden: „In jeder Weltansicht ist das
60
61
H.-G. Gadamer, Hermeneutik I, a.a.O., S. 450.
Ebd., S. 451.
37
Ansichsein der Welt gemeint“, sagt Gadamer selber. 62 Und weil Gadamer bei
allen Überlegungen vom praxeologischen Handlungsmodell ausgeht, führt sein
Begriff der weltoffenbarenden Funktion der Sprache lediglich zu einer dogmatischen Gleichsetzung von Ansichwelt und Weltansicht: „Vielmehr ist, was die
Welt selbst ist, nichts von den Ansichten, in denen sie sich darbietet, Verschiedenes.“ 63
J. Habermas weist mit Recht darauf hin, daß Gadamer das Denken des Seins
selbst, das Heidegger nach der Kehre als Andenken bezeichnet hat, durchaus traditionalistisch umdeutet: „Wenn ich recht sehe, kann Gadamer das Andenken, das
die Sprachlosigkeit des Mystikers auszeichnet, nur darum so emphatisch als Denken verteidigen, weil er sich das Sein als Tradition zurechtlegt, weil er sich dem
gestaltlosen Sog des schwerlosen Seins nicht überläßt, sondern, den Blick zu Hegel zurückwendend, dem massiven Traditionsstrom der objektiv gewordenen, der
konkreten, an ihrem Ort und zu ihrer Zeit tatsächlich gesprochenen Worte Rechnung trägt.“ 64 Gadamer mißdeutet somit die Geschichtlichkeit des faktischen Daseins bei Heidegger: Er hat Heideggers Philosophie wieder in eine Nähe zur Hegelschen Phänomenologie des Geistes zurückgebracht, die Heidegger nach seiner
Habilitationsschrift verlassen hat.
Somit können wir nun die Ausgangsfrage dieser Einleitung beantworten: Heideggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher ist deswegen eine entscheidende
Wende gewesen, weil es Heidegger erst durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher möglich geworden ist, von der Metaphysik des lebendigen Geistes im
Sinne Hegels, auf die seine Habilitationsschrift verweist, zu einer Hermeneutik
des faktisch geschichtlichen Lebens überzugehen. Nicht der sprachliche Geist
einer Tradition, von dem aus der praxeologische Vollzug des Daseins geschieht,
sondern das Selbstbewußtsein des Daseins, nämlich das Bewußtsein des Sichselbstnichtsogesetzthabens, bildet für Heidegger den wahren Ursprung der Geschichtlichkeit des faktischen Lebens. Und um den Sinn dieser lebensphänome-
62
Ebd.
Ebd.
64
J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 1981, S. 398.
63
38
nologischen Geschichtlichkeit zu verstehen, muß man über die Grenze der Dyadik von Erkenntnis und Praxis hinausgehen.
Die nun folgende Analyse der Beziehung zwischen Schleiermacher und Heidegger gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil wird Schleiermachers Bedeutung für
Heideggers Konzeption der Hermeneutik des faktischen Lebens untersucht. Hierbei geht es nicht primär um eine theoretische Reflexion. Vielmehr stellt dieser
Teil einen quellenorientierten Versuch dar, der sich einerseits unmittelbar auf
Heideggers eigene Interpretation der Religionsphilosophie Schleiermachers und
andererseits auf diejenigen Zeitzeugen Heideggers bezieht, die für die Interpretation von Heideggers Beschäftigung mit Schleiermacher von Bedeutung sind. Das
primäre Ziel des ersten Teils der Arbeit besteht darin, die in bezug auf das philosophische Verhältnis zwischen Heidegger und Schleiermacher relevanten Quellen
zu interpretieren, um hierdurch die Bedeutung der Philosophie Schleiermachers
für Heideggers Ansatz adäquat einschätzen zu können.
Der zweite Teil konzentriert sich auf die Frage, ob Schleiermachers Religionsbegründung von einem phänomenologischen Ausgangspunkt geleitet wird. Dieses
Problem ist insofern für die Erfüllung der Aufgabe dieser Arbeit wichtig, als Heidegger m. E. in der Religionsphilosophie Schleiermachers eine phänomenologische Ontologie erkannt hat, d. h. eine Philosophie, die die ontologische Frage
nach dem nicht auf die Vorhandenheit zurückführbaren Sein gerade durch die
phänomenologische Analyse des faktischen Bewußtseinslebens des Daseins zu
erhellen versucht. Im zweiten Teil wird daher versucht zu zeigen, ob diese
Schleiermacher-Interpretation von Heidegger berechtigt ist. Erst nach einer solchen Analyse kann man beurteilen, inwieweit Heidegger von Schleiermacher
beeinflußt worden ist. Es geht hierbei im Grund genommen um die Frage, ob
Heidegger nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher eine Konzeption der
Philosophie entwickelt hat, die sich von der Religionsphilosophie Schleiermachers radikal unterscheidet, auch wenn er den zentralen Ansatzpunkt bei der hermeneutischen Neugestaltung der Phänomenologie, wie Pöggeler und Ott behaupten, von Schleiermacher übernommen hat. Wenn dagegen Schleiermachers Philo-
39
sophie tatsächlich als eine phänomenologische Ontologie zu bezeichnen ist, die
eine ontologische Frage nach dem Sein selbst durch die phänomenologische Analyse des faktischen Bewußtseinslebens des Daseins zu beantworten versucht,
dann kann man mit Recht vermuten, daß Heideggers Auseinandersetzung mit
Schleiermacher in seiner frühen Freiburger Zeit auch für die weitere Entwicklung
seiner Philosophie von bleibender Bedeutung ist.
Im dritten Teil steht die Beziehung zwischen der Religion im Sinne Schleiermachers und der ‚Existenz‘ im Mittelpunkt. Die zentrale These, die in diesem Teil
vertreten werden soll, besteht darin, daß Schleiermachers Begriff der Religion auf
einer existenzontologischen Analyse der Daseinsstruktur beruht. Hierbei geht es
hauptsächlich um eine werkimmanente Analyse: die These, daß Schleiermachers
Religionsphilosophie eine existenzontologische Analyse der Daseinsstruktur leistet, wird zunächst durch die Betrachtung der philosophischen Logik in Schleiermachers Werken – in der Glaubenslehre und in der Dialektik – detailliert erörtert.
Dabei wird deutlich werden, daß Schleiermacher in vielerlei Hinsicht Heideggers
Existenzontologie vorweggenommen hat. Mehr noch: Dadurch, daß Schleiermacher das Abhängigkeitsgefühl, das Handeln im praktischen Leben und das reine
Denken als eine untrennbare Einheit des wirklichen Bewußtseinslebens darlegt,
ist es ihm gelungen, eine überzeugende Erklärung für ein zentrales Problem der
Fundamentalontologie zu geben, das m. E. bei Heidegger ungelöst bleibt: Wie ist
es möglich, daß sich das faktische Dasein trotz seiner Verfallenheit in die
Seinsauslegung im Alltagsleben (das Sein als das Seiende) auf das Sein selbst
ausrichtet? Die werkimmanente Darstellung der existenzontologischen Ansatzpunkte bei Schleiermacher kann dann abschließend durch Schleiermachers eigene
Aussagen über diese Frage bestätigt werden, in denen Schleiermacher ganz explizit seinen Begriff des Abhängigkeitsgefühls als einen Ausdruck des Existenzialverhältnisses unseres Seins beschreibt.
Im vierten und abschließenden Teil der Arbeit wird das Verhältnis zwischen der
Existenz und dem Abhängigkeitsgefühl untersucht. Auf den ersten Blick scheint
es kaum einen Unterschied zwischen diesem Thema und der Thematik des dritten
Teils zugeben. Während aber im dritten Teil die Darstellung der immanenten
40
Ansatzpunkte der Existenzontologie in Schleiermachers Werken im Vordergrund
steht, geht es im vierten Teil um eine wirkungsgeschichtliche Analyse der Rezeption der Gedanken von Schleiermacher im Umkreis der Phänomenologen um
Husserl. Im dritten Teil wird somit versucht, durch eine werkimmanente Analyse
innerhalb der Religionsphilosophie Schleiermachers einen existenzontologischen
Ansatzpunkt aufzuspüren: Die philosophischen Überlegungen über das Wesen
der Religion stehen hierbei im Zentrum wie die Existenzialität des Daseins, die
vor allem als eine Ermöglichungsbedingung einer religiösen Gesinnung des Menschen ausgelegt wird. Im vierten Teil wird nun gezeigt, daß einige HusserlSchüler direkt oder indirekt von diesem existenzontologischen Ansatz der Religionsphilosophie Schleiermachers beeinflußt wurden. Der bekannte HusserlSchüler A. Reinach interpretiert z. B. im Zuge seiner Auseinandersetzung mit
Schleiermacher das Abhängigkeitsgefühl als ein jedem Bewußtseinsleben
zugrundeliegendes Existenzgefühl. Das Abhängigkeitsgefühl wird hier vor allem
in bezug auf die philosophische Analyse der allgemeinen Daseinsstruktur interpretiert. Es zeigt sich daher als ein Begriff, der nicht nur religionsphilosophisch
bedeutsam sein kann: Wenn das Abhängigkeitsgefühl ein Ausdruck der Existenzstruktur des Daseins ist, ist es zugleich mit einem philosophischen Anspruch verbunden, der darin besteht, daß es, unabhängig von einer religionsphilosophischen
Betrachtung des Lebens, ein notwendiges Ergebnis der ontologischen Untersuchung des Daseins darstellt.
Damit soll allerdings nicht gemeint sein, daß das Abhängigkeitsgefühl für
Schleiermacher nur ein für eine Religionsphilosophie zentraler Begriff wäre. Im
Gegenteil: Im Verlauf dieser Arbeit werden wir sehen können, daß Schleiermacher seinen Begriff des Abhängigkeitsgefühls als ein fundamentales Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseins betrachtet. Mit anderen Worten verbindet
Schleiermacher mit seiner Analyse des Abhängigkeitsgefühls den Anspruch, daß
jede richtig vollzogene philosophische Analyse des menschlichen Bewußtseins –
auch unabhängig von religionsphilosophischen Fragen – notwendig zu einer Anerkennung des Abhängigkeitsgefühls als eines fundamentalen Strukturelementes
des Bewußtseins kommen muß. Was im vierten Teil besonders hervorgehoben
41
werden soll, ist der Tatbestand, daß einige Husserl-Schüler wie Heidegger, Reinach und unter dessen Einfluß auch E. Stein das Abhängigkeitsgefühl (bzw. Geborgenheitsgefühl) als einen Begriff betrachten, der als ein wichtiger Ansatzpunkt
für die ontologische Analyse der Existenzstruktur des Daseins gelten kann. Besonders wichtig sind hierbei zwei Tatbestände: Erstens betrachtet Reinach das
Abhängigkeitsgefühl – wie Schleiermacher – als einen Ausdruck des Existenzverhältnisses unseres Daseins; zweitens macht Heidegger in seiner kritischen Rezension der Reinachschen Interpretation des Abhängigkeitsgefühls unmißverständlich deutlich, daß er in demjenigen Existenzverhältnis unseres Daseins,
das im Abhängigkeitsgefühl zum Ausdruck kommt, einen existenzontologischen
Sinn der Geschichtlichkeit des faktischen Lebens erkennt. Diese zwei Tatbestände können m. E. als ein doppelter Beleg für zwei zentrale Thesen dieser Arbeit
gelten: Erstens hat Heidegger die Religionsphilosophie Schleiermachers tatsächlich als eine phänomenologische Ontologie betrachtet, von der er einige Grundgedanken für seine Existenzontologie übernommen hat; zweitens hat Heidegger
die Geschichtlichkeit des faktischen Lebens, die ein zentraler Begriff seiner Hermeneutik ist, von Schleiermacher übernommen, worauf in dieser Einleitung bereits hingewiesen wurde. Schleiermachers Philosophie hat also für die Philosophie Heideggers eine viel wichtigere Rolle gespielt, als man bisher angenommen
hat. Denn das, was Heidegger von Schleiermacher als einen entscheidenden Ansatzpunkt zu seiner hermeneutischen Umgestaltung der Husserlschen Phänomenologie übernommen hat, ist auch für die existenzontologische Entwicklung der
Heideggerschen Philosophie von wichtiger Bedeutung. Inwieweit und in welchem konkreten Sinn Schleiermacher auf Heidegger gewirkt hat, werden wir im
weiteren Verlauf dieser Arbeit sehen können.
42
I. Schleiermachers Bedeutung für die Hermeneutik des faktischen Lebens
In dem ersten Teil dieser Arbeit geht es darum, Schleiermachers Einfluß auf Heidegger detailliert zu untersuchen. Wenn man überprüfen möchte, in welchen Aspekten Heidegger von der Religionsphilosophie Schleiermachers beeinflußt wurde, so muß man vor allem analysieren, wie sich Heideggers Philosophie vor und
nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher verändert hat.
Heideggers Denken orientiert sich nach seiner Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie Schleiermachers an einer ‚Hermeneutik des faktischen Lebens‘.
Die Zielsetzung des ersten Teils kann daher in zwei Fragen zusammengefaßt
werden: 1. Welche Bedeutung hat Heideggers Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Schleiermachers für seine hermeneutische Wende? 2. Welche Rolle
spielt diese hermeneutische Wende für die weitere Entwicklung des Heideggerschen Denkens?
Bei beiden Fragestellungen geht es darum, welche Bedeutung man der Schleiermacher-Rezeption Heideggers für seine Philosophie im ganzen zuweisen kann. In
zwei Fällen darf die Bedeutung von Schleiermacher für Heidegger nicht überbetont werden: 1. Wenn die hermeneutische Wende Heideggers nicht wesentlich
durch das geprägt wurde, was er von Schleiermacher übernommen hat; 2. wenn
die hermeneutische Wende für die weitere Entwicklung der Philosophie Heideggers nur von einer vorübergehenden Bedeutung bleibt. Um des besseren Verständnisses halber möchte ich hier keinen Hehl daraus machen, daß Heideggers
Denken m. E. sehr weitgehend von der Religionsphilosophie Schleiermachers
beeinflußt wurde. Das bedeutet entsprechend, daß ich zwei Thesen vertreten
möchte: 1. Die hermeneutische Wende Heideggers wurde wesentlich durch das
geprägt, was er von Schleiermacher übernommen hat. 2. Die Hermeneutik des
faktischen Lebens, die Heidegger bereits in seiner frühen Freiburger Zeit thematisiert hat, ist für seine Philosophie von bleibender Bedeutung.
43
In der Einleitung wurde auf zwei Tatbestände hingewiesen: 1. Heidegger versteht
unter der Religion im Sinn Schleiermachers eine phänomenologische Epoché. 2.
Diese phänomenologische Epoché führt Heidegger nicht zu einem Verständnis
der Phänomenologie als einer absoluten Wissenschaft (Husserl), sondern zu einer
phänomenologischen Hermeneutik des faktisch historischen Lebens. Betrachtet
man die beiden Tatbestände im ganzen, wird man leicht einsehen können, daß das
‚faktisch historische Leben des Daseins‘ für Heidegger nicht einfach mit den biographischen Veränderungen im Verlaufe eines individuellen Lebens gleichgesetzt
werden kann: Ein solches Verständnis des individuellen Lebens kann z. B. für
eine biographische Forschung über eine bestimmte Person sinnvoll sein, die diese
in ihrer persönlichen Eigentümlichkeit betrachtet. Dadurch aber, daß er das faktisch historische Leben mit einer besonderen Form des Bewußtseinslebens verbindet, in dem alle Seinssetzungen des natürlichen Weltbewußtseins enthalten
bleiben (Epoché), erhebt Heidegger einen paradoxen Anspruch: Das Historische
des Lebens, das freilich die Gebundenheit des Daseins an eine bestimmte Lebenssituation voraussetzt, muß zugleich eine Seinsweise des Daseins bedeuten, die für
jedes Individuum absolut allgemein bleiben soll. Denn dasjenige, zu dem sich das
Dasein nach seiner kritischen Einklammerung aller Seinssetzungen des natürlichen Weltbewußtseins verhalten soll, kann nicht etwas sein, was je nach der konkreten Seinssituation anders ist. Gibt man sich mit dem empirischen Tatbestand
zufrieden, daß jedes Bewußtsein ein Bewußtsein von einem besonderen Seienden
bzw. Sachverhalt ist, so ergibt die Rede über die phänomenologische Epoché oder
die religiöse Betrachtung im Sinne Schleiermachers keinen Sinn. Erst dadurch,
daß man die konkrete Lebensführung des faktischen Daseins auf etwas zurückführt, was für jedes Dasein immer absolut gleich bleibt, kann man verstehen, warum Heideggers Konzeption der phänomenologische Epoché, als die er die religiöse Betrachtung im Sinne Schleiermachers versteht, für die philosophische Darstellung der faktisch historischen Lebensführung des Daseins sinnvoll sein kann.
Für Heidegger besteht diese Möglichkeit, daß das Dasein sich trotz seiner notwendigen Gebundenheit an eine bestimmte Lebenssituation zugleich zu etwas für
jedes Dasein absolut gleich Bleibenden verhält, im Sein selbst. Allerdings kann
44
man die formal-ontologische Dimension des Heideggerschen Denkens betonen
und behaupten, daß die Existenz als Daseinsstruktur für jedes Dasein absolut
gleich bleibt. Aber die Existenz ist nur eine formal-ontologische Bedingung dafür,
daß sich das Dasein einerseits auf das konkrete Seiende ausrichtet, andererseits
auf das Sein selbst ausrichten kann, wie dies nach Heidegger im Phänomen der
Angst zum Ausdruck kommt. 65 Die Einsicht, daß die formal-ontologische Existenzstruktur des Daseins für jedes Dasein gleich ist, ist eigentlich nur eine Aussage, die man vom Standpunkt des philosophischen Beobachters aus fällen kann.
Auch wenn das Dasein als ein solches Sein definiert werden sollte, das sich zu
seiner eigenen Existenz verhält,66 darf man dabei nicht ignorieren, daß diese Aussage sinnlos bleibt, wenn das Dasein sich nicht zugleich als ein solches Sein versteht, das wesentlich durch die Ausrichtung auf das transzendente Sein bestimmt
ist. Die Existenz bedeutet ja die ausstehende Seinsweise des Daseins (Dasein als
das Sein-bei-etwas), die allerdings das Sein als Transzendenz voraussetzt. 67 Das
faktische Dasein, das nach Heidegger ein historisches Leben führen soll, bezieht
sich nicht primär auf seine Existenzstruktur selbst, die zwar als ontologische Bedingung für die Seinsoffenheit gelten kann, aber im faktischen Bewußtseinsleben
nicht ohne Begleitung des Bewußtseins des transzendenten Seins erkannt werden
kann. Das heißt: Das Dasein bezieht sich in seinem faktischen Bewußtseinsleben
direkt auf das, was durch diese Existenzstruktur des Daseins als Seinsoffenheit
vorkommt: auf das Seiende in seiner faktisch ruinanten Alltagssituation einerseits,
und auf das Sein selbst, wenn die Nichtigkeit des am Seienden orientierten Alltagsbewußtseins durch eine Enthaltung aller Seinssetzungen (die phänomenologi65
Daß Heidegger bereits in seiner frühen Freiburger Zeit das Phänomen der Angst und den Verfall (Seinsvergessenheit im primär am Seienden orientierten praktischen Leben) des alltäglichen
Daseins ausführlich analysiert hat, werden wir im Verlauf des ersten Teils noch deutlich werden.
66
Vgl. „Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie
verhält, nennen wir Existenz.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 12.)
67
Besonders im §7 von Sein und Zeit, in dem die Bedeutung der phänomenologischen Methode
für seine Existenzontologie erläutert wird, macht Heidegger deutlich, daß er die Transzendenz als
das wesentliche Merkmal des Seinsbegriffs versteht. So behauptet Heidegger, daß die Phänomenologie notwendig das Sein als das transzendente Sein erschließen muß, ja daß hierin die Möglichkeit liegt, die Phänomenologie als eine transzendentale Philosophie zu fundieren: „Sein ist
transcendens schlechthin. […] Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas transcendentalis.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 38.)
45
sche Epoché oder die religiösen Betrachtung im Sinn Schleiermachers) offenbar
wird. Das Seiende, zu dem sich das Dasein verhält, ist etwas Variables, was je
nach der Seinssituation etwas Anderes sein kann: Aber das Sein selbst, auch
wenn das Seinsbewußtsein notwendig vom Bewußtsein des konkreten Seienden
begleitet werden muß, kann nicht variabel sein. Einen ähnlichen Gedanken kann
man auch bei Schleiermacher finden: Nach ihm soll „das höchste Wesen […] als
ein schlechthin einfaches gedacht werden“,68 und das bedeutet nun, daß wir uns
in unserem Bewußtseinsleben, da bekanntlich unser Weltbewußtsein nach Schleiermacher vom Gottesbewußtsein begleitet werden muß, notwendig zu etwas verhalten, was in jeder Seinssituation absolut allgemein bleibt.
Um die Besonderheit dieser Gedanken hervorzuheben, möchte ich hier zwei
Möglichkeiten vergleichen, die Variabilität des individuellen Lebens nicht bloß
empirisch und psychologisch, sondern vom Standpunkt der Logik und Erkenntnistheorie aus zu betrachten. Wenn man die Variabilität des individuellen Lebens
zum Gegenstand der Logik erheben möchte, muß man vor allem danach fragen,
was in welcher konkreten Seinssituation eine solche Variabilität des individuellen
Lebens ermöglicht. Nach einer gründlichen Untersuchung dieser Frage muß man
dann untersuchen, ob man hierbei eine gewisse Allgemeinheit bzw. Gesetzmäßigkeit annehmen darf, die die Analyse der individuellen Variabilität mit Hilfe
der Anwendung logischer Kategorien möglich macht. Hierfür kann man sich zwei
Ausgangspunkte vorstellen:
1. Man kann das Bewußtsein des Daseins als eine Schnittstelle zwischen dem
Individuellen und dem Sozialen betrachten, um damit den Bildungsprozeß
eines individuellen Selbstbewußtseins mit der konkreten und geschichtlichen
Veränderung einer sozialen Umwelt zu verbinden. Dadurch wird es auf zwei
Arten möglich, das Historische des Lebens nicht bloß vom Standpunkt der
rein biographischen Beschreibung aus zu betrachten, sondern vom Standpunkt einer allgemeingültigen methodischen Theorie. Man kann einerseits
die universalen Merkmale des menschlichen Bewußtseins hervorheben, die
trotz der Vielfältigkeit des individuellen Bewußtseins bzw. der Verschieden68
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 36.
46
heiten der konkreten Lebensformen dennoch eine wissenschaftliche Verallgemeinerung möglich machen; andererseits kann man nach der Möglichkeit
fragen, ob der geschichtliche Prozeß auf die objektive Gesetzmäßigkeit bzw.
allgemeine Entwicklungsformen einer Nation, einer Gesellschaft oder eines
Zeitalters zurückführbar ist. Dies kann eine angemessene Orientierung für
diejenigen sein, die die Geschichtlichkeit des Lebens zum Gegenstand einer
systematischen Wissenschaft machen wollen.
2. Man kann das Historische als ein Grundmerkmal des selbstbestimmten Lebens betrachten, das unabhängig davon, in welchem sozialen Milieu sich ein
individuelles Dasein befindet, notwendig zum Ausdruck kommt. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Betrachtung des Phänomens des Historischen
stellt sich das Historische hier nicht als ein solches Phänomen dar, das einer
objektiven Gesetzmäßigkeit bzw. einer allgemeinen Tendenz einer bestimmten Region bzw. eines bestimmten Zeitalters unterworfen ist. Für diejenigen,
die das Phänomen des Historischen primär vom Standpunkt der systematischen Wissenschaft betrachten wollen, spielt die Frage, ob das Leben durch
die Selbstbestimmung des Daseins historisch wird, eigentlich keine Rolle:
Denn wichtig ist es bei diesem Ansatz, subjektive und objektive Faktoren herauszufinden, mit denen die Veränderungen des Lebens durch ein Erklärungsmodell der allgemein-notwendigen Gesetzmäßigkeit sinnvoll und überzeugend dargestellt werden können. Für diejenigen aber, die das historische
Leben auf die selbstbestimmende Seinsweise des Daseins zurückführen, ist
eine Theorie, in der die Veränderungen im Verlauf eines individuellen Lebens in Anlehnung an die allgemein-notwendige Gesetzmäßigkeit erklärt
wird, letztlich nicht relevant: Diese Veränderungen können selbst als ahistorisch bezeichnet werden, wenn sie am Ende nur als ein Prozeß verstanden werden, der durch allgemein-notwendige Gesetze über die Welt bzw. über die angeborenen Anlagen des menschlichen Bewußtseins vorprogrammiert ist. Wenn also das Dasein in jeder Situation die Möglichkeit eines historischen Lebens haben soll, muß es zugleich die Möglichkeit haben, eine
bestimmte Weise der Lebensführung nicht passiv unter fremdem Einfluß
47
hinzunehmen, sondern sie kritisch zu überprüfen, um sich für eine eigenständige Lebensführung zu entscheiden.
Heideggers Ausgangpunkt seiner Bestimmung der historischen Lebensführung
des faktischen Daseins folgt der zweiten Stoßrichtung. Zwar kann man einwenden, daß der zweite Ausgangspunkt den ersten nicht ausschließe, sondern eher
voraussetze: Denn eine Entscheidung setzt stets das Verständnis der jeweiligen
Lebenssituation voraus, das freilich erst dann ermöglicht werden kann, wenn das
Dasein gewisse allgemeine Bestimmungen zur Verfügung hat; ohne eine Erkenntnis des Allgemeinen, ohne eine Verallgemeinerung der erfahrenen Lebenswelt, ist es nämlich gar nicht möglich, daß das Dasein seine eigene Lebenssituation versteht und hierdurch eine gewisse Entscheidung für sein eigenes Leben trifft.
Dies ist allerdings richtig. Aber dieser Einwand setzt auch voraus, daß das Dasein
mit seiner individuellen Entscheidung weiterhin an eine konkrete Lebenssituation
gebunden bleibt. Nehmen wir ein Beispiel: Herr Schmidt versteht, daß er auf den
lang erwünschten Kauf eines neuen Wagens verzichten muß, um die finanzielle
Situation seines Haushalts nicht zu gefährden; daher entscheidet er sich, auf den
Kauf eines neuen Wagens zu verzichten und statt dessen das Geld für die Deckung seiner Schulden zu verwenden. Eine solche Entscheidung setzt freilich
voraus, daß Herr Schmidt allgemeine Regeln versteht, nach denen auch sein eigenes Leben geführt werden sollte. Mit dieser Entscheidung überwindet er aber
keineswegs die Gebundenheit seines Lebens an eine alltägliche Lebenssituation.
Wenn es aber bei der Entscheidung darum geht, sich selbst über die Grenze des
an bestimmte Lebenssituation gebundenen alltäglichen Lebens hinauszuführen,
spielt die Entscheidung in diesem üblichen Sinn des Wortes überhaupt keine Rolle. Wenn Heidegger die Religion im Sinn Schleiermachers als eine phänomenologische Epoché bezeichnet und in ihr dann eine Ermöglichungsbedingung für die
historische Lebensführung des Daseins findet, kann die Entscheidung des Daseins,
die die Lebensführung des Daseins historisch macht, erst durch einen fundamentalontologischen Standpunkt richtig verstanden werden: Denn hier geht es um die
Entscheidung des Daseins, sich über die Gebundenheit seines Seins an das All-
48
tagsleben, in dem das Sein vom Standpunkt des Seienden her verstanden wird,
zum Sein selbst hinauszuführen und sich selbst auf das Sein selbst auszurichten.
Um verstehen zu können, was Heidegger mit dem Ausdruck des Historischen
meint, muß man sich vor allem darüber klar sein, daß Heidegger bereits in seiner
frühen Freiburger Zeit das Dasein mit einer für seine Existenzontologie in Sein
und Zeit typische Duplizität der Seinsweise des Daseins betrachtet hat: Die uneigentliche Seinsweise des Daseins als eines Man, und die eigentliche Seinsweise
des Daseins, die durch den Ruf des Seins (Gewissen) geleitet wird. In den frühen
Freiburger Vorlesungen Heideggers gibt es Stellen, in denen das Dasein einerseits
in seiner ruinanten Lebensbewegtheit betrachtet wird, andererseits aber im Phänomen der Angst, durch das die fundamentale Nichtigkeit des alltäglichen Weltbewußtseins offenbar wird. 69 Was das Leben historisch macht, besteht für Heidegger nicht etwa in einer Lebensbewegtheit des Daseins, nicht in der Kinesis der
Lebensführung des Daseins. Denn die ruinante Lebensbewegtheit im Alltagsleben
ist für Heidegger eher als eine Tendenz zu bezeichnen, in der sich das Dasein
verliert (das Man als das uneigentliche Selbst). Im §44 von Sein und Zeit, der mit
Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit betitelt ist, weist Heidegger darauf hin,
daß das Verfallen in der existenzontologischen Analyse des Daseins eine Doppelrolle spielt: Einerseits verliert das Dasein die Wahrheit des Seins, da seine Lebensbewegung im Alltagsleben durch das Verfallen zu charakterisieren ist; gerade das aber, was das Dasein durch seine verfallende Lebensbewegtheit als vermeintlich Wahrheit über das Sein erhält (nämlich die Auslegung des Seins als des
vorhandenen bzw. zuhandenen Seienden), soll zugleich den fragwürdigen Charakter dieser vermeintlichen Wahrheit offenbar machen. Was Heidegger damit
meint, besteht in dem Paradoxon, daß die Rede über die Seinswahrheit nicht ohne
die Verdeckung der Seinswahrheit in der verfallenden Lebensbewegtheit des alltäglichen Daseins möglich ist: „Das Dasein ist, weil wesenhaft verfallend, seiner
Seinsverfassung nach in der ‚Unwahrheit‘. […] Zur Faktizität des Daseins gehören Verschlossenheit und Verdecktheit. Der volle existenzial-ontologische Sinn
69
Besonders im dritten Teil der Vorlesung im Wintersemester 1921/22 (Phänomenologische
Interpretationen zu Aristoteles) wird die Beziehung zwischen der Sorge, der Ruinanz und der
Angst detailliert untersucht.
49
des Satzes: ‚Dasein ist in der Wahrheit‘ sagt gleichursprünglich mit: ‚Dasein ist
in der Unwahrheit‘. Aber nur sofern Dasein erschlossen ist, ist es auch verschlossen; und sofern mit dem Dasein je schon innerweltlich Seiendes entdeckt ist, ist
dergleichen Seiendes als möglich innerweltlich Begegnendes verdeckt (verborgen)
oder verstellt.“ 70
Darin, daß das Dasein notwendig in der Wahrheit und der Unwahrheit zugleich
ist, besteht m. E. der eigentliche Schwerpunkt in der Heideggerschen Bestimmung der existenzial zu verstehenden Alltäglichkeit des Daseins: Gerade in der
existenzialen Seinsweise des Daseins, daß es sich als ein ausstehendes Sein (Existenz) notwendig zum Seienden verhalten muß, liegt der Grund dafür, daß das
Dasein einerseits in der Unwahrheit (Sein als das Seiende), andererseits in der
Wahrheit (das Bewußtsein der Unmöglichkeit, das Sein selbst mit einem Seienden identifizieren) ist. Indem sich das Dasein in der faktisch ruinanten Lebensbewegung in der Alltagssituation befindet, bleibt es in der Unwahrheit. In dieser
Unwahrheit führt das Dasein nicht durch die eigene Selbstbestimmung sein Leben, da das, was im Alltagsleben als sein Selbst fungiert, eigentlich nur ein Man,
ein uneigentliches Selbst ist. Zwar kann man auch schon hier die Möglichkeit
haben, das Leben des faktischen Daseins historisch zu nennen, wenn das Alltagsleben selbst in seiner Veränderlichkeit erfaßt wird, und folglich wenn auch das
Man, das als das uneigentliche Selbst des Daseins in der jeweiligen Alltagssituation fungiert, nicht als ein fest stehendes, absolut unvariables Denksystem verstanden wird. Aber wenn man dies mit einer strengen Logik des rationalen Denkens zu analysieren versucht, nimmt man hierbei die Rolle eines wissenschaftlichen Betrachters ein, der die Veränderungen innerhalb eines individuellen Lebens
entweder auf die allgemeinen, objektiv feststellbaren Entwicklungstendenzen
einer Gesellschaft bzw. eines Zeitalters oder auf die angeborenen Anlagen des
subjektiven Bewußtseins zurückführen muß. Die Frage, wie sich das Dasein von
dem Standpunkt seines uneigentlichen Selbst im Alltagsleben kritisch distanzieren kann, bleibt hierbei allerdings unbeantwortet. Gerade hier liegt der Grund
dafür, warum Heidegger in der Religion im Sinne Schleiermachers, die Heidegger
70
Ebd., S. 222.
50
als eine phänomenologische Epoché versteht, die Möglichkeit eines faktisch historischen Lebens gesehen hat: Gerade in der religiösen Zurückhaltung des Daseins von dem faktischen Lebensprozeß, in dem sich das Dasein als befindlich in
einer Relation mit dem Seienden im praktischen Lebenszusammenhang (das Dasein als ein In-der-Welt-sein) befindet, besteht die Möglichkeit, daß das unrichtige Seinsverständnis im Alltagsleben (Sein als das Seiende) dem Dasein offenbar
wird. Erst hieraus kann man die Möglichkeit erkennen, wie sich das Dasein trotz
seiner notwendigen Verfallenheit an die Alltagswelt über die Grenze des uneigentlichen Lebens in der Form des ‚Man‘ zum eigentlichen Leben hinausführen
kann. Was Heidegger mit dem Ausdruck des historischen Lebens des Daseins
zum Ausdruck bringen will, kann man also nicht verstehen, wenn man dieser für
Heideggers Philosophie typischen Dyadik von eigentlich und uneigentlich nicht
Rechnung trägt.
Es ist m. E. bereits deutlich geworden, warum die Religion im Sinne Schleiermachers für den existenzial-hermeneutischen Begriff des historischen Lebens im
Heideggerschen Sinn von entscheidender Bedeutung ist. Allerdings gibt es auch
Unterschiede zwischen beiden Denkern, die ebenfalls nicht von geringer Bedeutung sind. Bei Heidegger gibt es eine scharfe Trennung zwischen dem Denken,
das am Seienden orientiert ist, und dem Bewußtsein des Seins selbst, das nicht
auf das Seiende zurückzuführen ist: Für Heidegger bilden das Denken und das
Bewußtsein des Seins selbst einen unüberwindlichen Gegensatz, es gibt daher in
seiner Philosophie eigentlich keine Möglichkeit, die konkrete Beziehung zwischen der erkennenden Tätigkeit des Menschen und dem Bewußtsein des Seins
selbst herzustellen. Bei Schleiermacher verhält sich dies ganz anders: Zwar erkennt auch Schleiermacher an, daß die Gleichsetzung des Seins mit dem vorhandenen Seienden – wie bei Heidegger – im praktischen Leben ihren Ursprung
hat. 71 Schleiermacher erkennt aber das reine Denken als ein konstitutives Bewußtseinselement an und weist ihm die Funktion zu, das Seiende nicht als das
von meinem Sein abgesonderte Dingobjekt zu betrachten, sondern als das an sich
Seiende, das mit meinem Sein in einem konkreten und absolut kontinuierlichen
71
Vgl. F. Schleiermacher, Dialektik, Berlin 1942 (hrsg. von R. Odebrecht), S. 104 ff.
51
Wirkungszusammenhang steht. Das Ansich bedeutet allerdings in diesem Zusammenhang nicht ein an sich seiendes Dingobjekt; es hat vielmehr die Funktion,
die Relativität unseres Weltbewußtseins, in dem das Sein primär als eine raumzeitliche Relation zwischen den von einander abgesonderten Dingobjekten verstanden wird, offenbar zu machen. Dies wird besonders im dritten Teil dieser
Arbeit ausführlich analysiert. Wichtig ist hier zunächst einzusehen, warum Heidegger in der Religion im Sinne Schleiermachers die Möglichkeit einer faktisch
historischen Lebensführung des Daseins gesehen hat.
Der besondere Schwerpunkt des ersten Teils besteht darin, zu überprüfen, ob
Heidegger diese Zurückführung der historischen Lebensführung des Daseins auf
die religiöse Dimension des Bewußtseinslebens nicht von einer anderen Quelle
(außer Schleiermacher) übernommen hat. Denn erst dann kann man feststellen,
wie weitreichend Schleiermachers Einfluß auf Heideggers Denken ist und welche
Bedeutung der Schleiermacher-Rezeption Heideggers für seine Philosophie zuzuweisen ist. Eine genealogische Beschreibung des Denkwegs, den Heidegger
vor und nach seiner hermeneutischen Wende vollzogen hat, ist daher notwendig
für die Erfüllung der Aufgabe des ersten Teils.
52
1. Die Quellen von Heideggers Hermeneutik
In der Einleitung wurde darauf hingewiesen, daß Heidegger unter dem Einfluß
von Schleiermacher eine radikale Umdeutung des Begriffs des Historischen
vollzogen hat. Seine Beschäftigung mit Schleiermachers Religionsphilosophie hat
ihn zu der Einsicht geführt, daß die Frage nach dem Sein selbst weder erkenntnistheoretisch noch praxeologisch gestellt werden darf: Statt dessen ist eine religiöse
Betrachtung dieser Frage erforderlich. Nach Heideggers Rekonstruktion von
Schleiermacher ist es dabei zentral, daß sich das Dasein von äußerer Wirksamkeit
zurückzieht. Dieses Dasein läßt sich in seiner religiösen Zurückgezogenheit weder als ein erkennendes Subjekt noch als ein handelndes Subjekt verstehen. Denn
sowohl beim Erkennen als auch beim Handeln bleibt das Dasein der gegenständlichen Interpretation des Seins verhaftet; Erkennen und Handeln sind ohne die
empirisch konstatierbare Vorhandenheit einer Welt nicht möglich.
Die Religion hat die Funktion, dem Dasein bewußt zu machen, daß sein alltägliches Selbstverständnis unangemessen ist. Denn das Selbst ist notwendig, wenn
es sich als ein Subjekt des Erkennens und des Handelns versteht, darauf bedacht,
in der Welt zu wirken und die Welt als Objekt für seine Handlungen zu betrachten. Damit ist der Ausgangspunkt für die Existenzontologie von Sein und Zeit
gelegt, in der das Dasein auf den Gegensatz vom eigentlichen und uneigentlichen
Selbstsein verwiesen ist: Das faktisch historische Leben des Daseins steht für
Heidegger unter dem Spannungsverhältnis zwischen der öffentlichen Ausgelegtheit des Seins und dem Bewußtsein von der Nichtigkeit des öffentlich ausgelegten
Seinssinns. Das faktische Leben des Daseins ist gerade deswegen historisch im
Sinne Heideggers, das heißt der Zeitlichkeit und der Endlichkeit unterworfen,
weil das Nichts zur ontologischen Struktur des Daseins gehört; das Dasein hat die
Möglichkeit, dem Gewordensein des öffentlichen Selbsts (Man) das Bewußtsein
des Sichselbstnichtsogesetzthabens gegenüberzustellen, so daß im Ruf des Seins
selbst, der durch das Bewußtwerden der fundamentalen Nichtigkeit des Seinsver-
53
ständnisses im Alltagsleben geschieht, die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins
ermöglicht wird.
1.1. Zum philosophischen Verhältnis von Phänomenologie, Hermeneutik und
Theologie beim frühen Heidegger
Der Grundgedanke der Hermeneutik der Faktizität besteht also darin, die Geschichtlichkeit durch eine phänomenologische Analyse als einen Seinssinn des
faktischen Lebens selbst aufzufassen. Dieser Gedanke hat einen theologischen
Ursprung. Otto Pöggeler und Hugo Ott weisen darauf hin, daß Heidegger durch
sein Theologiestudium entscheidende Anregungen für seine Hermeneutik erhalten hat. 72 Dies wird auch dadurch bestätigt, daß Heidegger selbst den Ursprung
seiner Hermeneutik seinem Theologiestudium zuweist. In der Schrift Aus einem
Gespräch von der Sprache 1953/54, in dem er einem japanischen Gast über die
Herkunft und Entwicklung seiner Philosophie berichtet, hat er rückblickend bemerkt, daß die Hermeneutik ihm aus seinem Theologiestudium her geläufig gewesen sei. 73 Sein Theologiestudium habe ihm einen entscheidenden Anstoß zum
philosophischen Denken gegeben: Ohne die theologische Herkunft wäre er nie
auf den Weg des Denkens gelangt und Herkunft bleibe stets Zukunft. 74
Heideggers Bericht über den theologischen Ursprung seiner Hermeneutik ist
nicht unbedingt dahingehend zu interpretieren, daß die Hermeneutik Heideggers
sich ohne weiteres aus der Hermeneutik Schleiermachers (und Diltheys) ableiten
lasse. Zwar deutet Heidegger selber darauf hin, daß seine Hermeneutik von Dilthey und Schleiermacher beeinflußt wurde: „Später fand ich den Titel ‚Hermeneutik‘ bei Wilhelm Dilthey in seiner Theorie der historischen Geisteswissenschaften wieder. Dilthey war die Hermeneutik aus derselben Quelle her vertraut,
aus seinem Theologiestudium, insbesondere aus seiner Beschäftigung mit Schlei72
Vgl. dazu das vom Heidegger selbst geschriebene Vorwort zur ersten Ausgabe seiner Frühen
Schriften, a.a.O., S. 56; H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., 96 ff.; O. Pöggeler, Heidegger in seiner
Zeit, a.a.O., S. 89 f. / S. 100 ff.; ders. Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S.
270 ff.
73
M. Heidegger, ‚Aus einem Gespräch von der Sprache (1953/54)‘, in: ders., Unterwegs zur
Sprache, Frankfurt a. M. 1959, S. 91.
74
Ebd.
54
ermacher.“ 75 Aber dabei darf man nicht übersehen, daß Heidegger gleich zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn die Frage nach dem Sein, das nicht als Eigenschaft eines Gegenstandes zu verstehen ist, gestellt hat.
Im Jahre 1907 hat der junge Heidegger vom späteren Erzbischof von Freiburg C.
Gröber, den er einen väterlichen Freund aus seiner Heimat nannte, Franz Brentanos Dissertation Von der mannigfaltigen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (1862) erhalten. 76 Die Problematik der Frage nach dem Sein, die in Brentanos
Dissertation behandelt wird, hat ihn zeitlebens begleitet. Heidegger hat von Brentano die Einsicht in die Unreduzierbarkeit des Seins auf das Vorhandensein übernommen, die er dann in seiner Dissertation über Die Lehre vom Urteil im Psychologismus besonders durch die Unterscheidung von kategorischem Satz und Existenzialsatz noch gründlicher analysiert hat. 77 Seine Habilitationschrift über Duns
Scotus ist im Grunde genommen der Versuch, diese Frage nach dem Sein mit der
scholastischen Seinslehre in Verbindung zu bringen. 78 Die Hermeneutik Heideggers kann ohne Berücksichtigung dieser Seinsfrage, die er schon in seiner philosophischen Anfangszeit thematisiert hat, nicht richtig verstanden werden. „Der
Name Hermeneutik ist in ‚Sein und Zeit‘ in einer noch weiteren Bedeutung gebraucht“, d. h. „jener Weite, die aus dem anfänglichen Wesen entspringt.“ 79 Diese Weite der Hermeneutik, die Heidegger in der ursprünglichen Seinserschlossenheit durch das Da des Daseins gesucht hat, ist die Folge langjähriger Untersuchungen, die Heidegger seit dem Anfang seiner philosophischen Laufbahn kontinuierlich durchgeführt hat.
Heideggers Bericht über die Herkunft seiner Hermeneutik ist aber insofern für
uns von besonderem Interesse, weil seine Erwähnung von Dilthey und Schleiermacher sich auf den Zeitraum zwischen 1917 und 1919 bezieht, in dem Heidegger sich intensiv mit dem Problem der Religionsphänomenologie beschäftigt
75
Ebd., S. 92.
Vgl. H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 54.
77
Vgl. M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 120 ff.
78
Vgl. A. Wucherer-Huldenfeld, ‚Zu Heideggers Verständnis des Seins bei Johannes Duns Scotus
und im Skotismus sowie im Thomismus und bei Thomas von Aquin‘, in: H. Vetter (Hrsg.), Heidegger und das Mittelalter, Frankfurt a. M. (u. a.) 1999, S. 48 ff.
79
M. Heidegger, ‚Aus einem Gespräch von der Sprache (1953/54)‘, a.a.O., 93.
76
55
hat. 80 Seine Religionsphänomenologie ist durch ein vorhergehendes Ereignis geprägt, das für ihn zeitlebens von bleibender Bedeutung gewesen ist; „die Abkehr
nämlich vom Katholizismus, vom katholischen System“ 1916, die allerdings auch
eine philosophische Neuausrichtung des einstigen katholischen Theologiestudenten bedeutete. 81 „Der Bezug zu Schleiermacher“, den O. Pöggeler als „eine Wende“ des Heideggerschen Denkens bezeichnet, ist für Heidegger eine neue Orientierung gewesen; 82 nach seiner Abkehr vom Katholizismus hat er nach einer neuen Möglichkeit gesucht, das religiöse Erlebnis unabhängig von einem theologischen Denksystem zu erklären.
Sicherlich fand Heidegger eine neue Orientierung darüber hinaus auch bei Husserl, der in Freiburg die philosophische Laufbahn des Privatdozenten Heidegger
wesentlich mitbestimmt hat. Aber Husserl selber gab in einem ausführlichen
Brief, den er 1919 an R. Otto geschrieben hat, an, daß er bei Heideggers Konversion vom Katholizismus zum Protestantismus „nicht den leisesten Einfluß geübt“ habe. 83
Die Phänomenologie Heideggers, die nach Pöggeler „in den Nachkriegsjahren
[...] zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens“ 84 geworden ist, steht spätestens
ab 1917 unter dem starken Einfluß von Heideggers Beschäftigung mit Schleiermacher. Schleiermacher hat mehr als 100 Jahre zuvor nachzuweisen versucht, daß
die Philosophie, verstanden als eine Wissenschaft des Absoluten, für das Verständnis der Religion unzureichend ist. Durch eine phänomenologische 85 Analyse
80
Vgl. H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 106 ff.; C. Ochwadt / E. Tecklenborg, Das Maß des
Verborgenen. Heinrich Ochsner zum Gedächtnis, Hannover 1981, S. 158 f. Auch T. Kisiel hebt in
seiner Untersuchung der Genese der Konzeption von Sein und Zeit besonders hervor, daß dieser
Bericht von Heidegger der einzige Anhaltspunkt ist, den Heidegger selber in bezug auf die Zeit
seiner Religionsphänomenologie gegeben hat: „General as it is, this remark on the ‚later‘ encounter with Dilthey and his work on Schleiermacher is really the only substantive clue that Heidegger himself offers us to the core-period which is of special interest here. Specifically, we are
referring to that obscure and virtually unknown Interregnum (1917-19) in Heidegger’s development from which he emerges as a ‚protestant apostate‘ and breaks through to his own lifetime
thought.” (T. Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley / Los Angeles / London 1993, S. 70.)
81
H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 96.
82
O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 100.
83
C. Ochwadt / E. Tecklenborg, Das Maß des Verborgenen, a.a.O., S. 159.
84
O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 100.
85
R. Williams weist darauf hin, daß Schleiermacher schon hundert Jahre vor Husserls Begründung der Phänomenologie eine Art der Phänomenologie entwickelt hat: „Schleiermacher’s
56
des wirklichen Bewußtseins kam er zu dem Ergebnis, daß die Religion generell
als ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl des endlichen Daseins vom Unendlichen zu verstehen ist, welches vom gegenständlichen Bewußtsein bei den Erkenntnisakten und dem praktischen Handeln grundverschieden ist und gerade als
solches zum Wesensmomente des wirklichen Bewußtseins gehört. Heidegger hat
die Philosophie selbst streng von der Wissenschaft unterschieden, um dadurch
eine Dimension des Seinsdenkens zu erschließen, welche nicht auf das Vorhandensein des Gegenstandes zurückführbar ist. Diese Frage hat er freilich, wie
schon erwähnt, gleich am Anfang seiner philosophischen Laufbahn gestellt. Nach
seiner Begegnung mit Schleiermacher wird aber deren Untersuchung nicht mehr
von einer theologischen Ambition begleitet, die noch seine auf die Metaphysik
des Geistes hinweisende Habilitationsschrift charakterisiert. Das faktische Leben
des Daseins selbst ist nunmehr der Ausgangpunkt seiner Philosophie geworden;
das Denken des Seins muß im faktischen Leben selbst begründet sein, wenn es
philosophisch adäquat erfaßt werden soll.
Heideggers Bericht über den theologischen Ursprung seiner Hermeneutik zeigt,
daß sein Denken nicht nur nach, sondern auch vor seiner Beschäftigung mit Dilthey und Schleiermacher entscheidend durch einen theologischen Einfluß bestimmt gewesen ist. Dies wird dadurch bestätigt, daß auch Heideggers frühe
Schriften von theologischen Fragen motiviert wurden.
Daher stellt sich nun die Frage, ob die These, die wir in Anlehnung an die Arbeiten von Pöggeler und Ott aufgestellt haben, nicht einer Korrektur bedarf? Muß
man nicht vielmehr davon ausgehen, daß Heidegger bereits vor seiner Beschäftigung mit Schleiermacher über die Grenze der klassischen Erkenntnistheorie hi-
theology is phenomenological in that he approaches the question of God and the entire doctrine of
God through a reflective analysis of religious consciousness and its object.“ (R. Williams,
Schleiermacher The Theologian, Philadelphia 1978, S. 5.) Vgl.: „One hundred years before
Husserl made phenomenology an explicit self-concious philosophical method, Schleiermacher
was practicing something very much like it.“ (Ebd., S. 6) Nach ihm hat Schleiermacher in seiner
Religionsphilosophie eine Methode verwendet, die der phänomenologischen Reduktion von Husserl sehr ähnlich ist („a function similar to the phenomenological reduction“). (Ebd., S. 8). Ob und
in welchem Sinn Schleiermachers Religionsphilosophie als eine Phänomenologie zu bezeichnen
ist, wird im zweiten Teil erörtert.
57
nausgegangen war, da er schon in seinen frühen Schriften – ausgehend von einem
theologischen Hintergrund – die Frage nach dem Sein thematisiert hat?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es ist einerseits wahr, daß Heidegger
auch in seiner philosophischen Anfangszeit nicht vorhatte, sein Denken ausschließlich der Erkenntnistheorie zu widmen. Man wird aber sicherlich nicht
fehlgehen in der Annahme, daß Heidegger bis kurz vor seiner Beschäftigung mit
Schleiermacher in gewisser Hinsicht metaphysisch ausgerichtet blieb. Dies zeigt
sich besonders in seiner Abhandlung „Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft“. Dieser Aufsatz fällt nach dem bibliographischen Nachweis der Frühen
Schriften inhaltlich mit der Probevorlesung zusammen, die er am 27. Juli 1915
vor der philosophischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. zur Erlangung der
venia legendi hielt. Gleich am Anfang des Aufsatzes weist Heidegger darauf hin,
daß seit einigen Jahren in der wissenschaftlichen Philosophie ein gewisser „metaphysischer Drang“ 86 erwacht sei. Er befürwortet dieses neue Bemühen um eine
Metaphysik, das aus dem Bewußtsein der Unzulänglichkeit der reinen Erkenntnistheorie für die Lösung der echten philosophischen Probleme entstanden sei:
„Das Stehenbleiben bei bloßer Erkenntnistheorie will nicht mehr genügen. Die
aus einem berechtigten, energischen Bewußtsein von Notwendigkeit und Wert
der Kritik herausgeborene Beharrung in erkenntnistheoretischen Problemen läßt
die Ziel- und Endfragen der Philosophie nicht zu ihrer immanenten Bedeutung
kommen.“ 87 Heidegger bezeichnet nun „die bald verdeckte, bald offen zutage
tretende Tendenz zur Metaphysik“ in der wissenschaftlichen Philosophie seiner
Zeit „als ein tieferes Erfassen der Philosophie und ihrer Probleme“. 88
Das Ergebnis, das Heidegger aus diesen metaphysischen Bestrebungen zieht,
besteht darin, daß die Philosophie eine andere Form der Wissenschaft finden muß,
die nicht „im Sinne der intellektuellen Gewaltsamkeiten der sogenannten ‚naturwissenschaftlichen Weltanschauung‘“ zu verstehen ist. 89 „Der Zeitbegriff in der
Geisteswissenschaft“ ist qualitativ unterschieden „von dem homogenen Charakter
86
M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 415.
Ebd.
88
Ebd.
89
Ebd.
87
58
des naturwissenschaftlichen Zeitbegriffs“, und dieses „Qualitative des historischen Zeitbegriffes bedeutet nichts Anderes als die Verdichtung – Kristallisation
– einer in der Geschichte gegebenen Lebensobjektivation.“ 90 Heidegger spricht
am Ende des Aufsatzes von der „Erkenntnis der fundamentalen Bedeutsamkeit
des historischen Zeitbegriffes“, die „es ermöglichen“ soll, „weiter wissenschaftstheoretisch in den eigentlichen Charakter der Geschichtswissenschaft einzudringen.“ 91
Heideggers Denken ist bis zu dem Zeitpunkt seiner Beschäftigung mit Schleichermacher von der Überzeugung geleitet, daß die Philosophie eine andere Form
der Wissenschaft ist, die nicht von einem bloßen erkenntnistheoretischen Interesse, sondern von einem ,metaphysischen Drang‘ zur geistigen Welt des Lebens
geleitet werden soll. Er hat auch am Ende seiner Habilitationsschrift, wie ich in
der Einleitung ausgehend von der Bemerkung Pöggelers gezeigt habe, seine zukünftige Philosophie mit einer metaphysischen Theologie Hegelscher Prägung
verbunden: „Die Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der
verehrenden Gottinnigkeit […] steht vor der großen Aufgabe einer prinzipiellen
Auseinandersetzung mit dem an Fülle wie Tiefe, Erlebnisreichtum und Begriffsbildung gewaltigsten System einer historischen Weltanschauung, als welches es
alle vorausgegangenen fundamentalen philosophischen Problemmotive in sich
auf gehoben hat, mit Hegel.“ 92 Diese Idee einer metaphysischen Theologie, die
ausgehend vom „Begriff des lebendigen Geistes“ einen „Einblick in seine metaphysische Grundstruktur“ eröffnen soll, ist für Heideggers Philosophie nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher nicht mehr ein bestimmender Faktor gewesen. 93 Ähnlich wie Schleiermacher in seiner Kritik an der zeitgenössischen
Philosophie idealistischer Prägung deutlich gemacht hat, daß die wirkliche Religion nicht zum Gegenstand einer metaphysischen Wissenschaft gemacht werden
kann, verzichtet Heidegger unter dem Einfluß von Schleiermacher darauf, die
Frage nach dem Sein durch eine metaphysische Wissenschaft zu erörtern.
90
Ebd., S. 431.
Ebd., S. 432.
92
Ebd., S. 411.
93
Ebd., S. 410.
91
59
1.1.1. Die Frage nach dem Sein im scholastischen Umfeld
Pöggeler weist darauf hin, daß „Heidegger in seiner Dissertation und in seiner
Habilitationsschrift der scholastischen Verarbeitung der antiken Seinslehre gefolgt [ist].“ 94 Heideggers Denken sei in dieser Zeit durch den Neukantianismus
geprägt: „Freilich hatte er sich zugleich für die mystische Tradition interessiert;
unter Neukantianern fand er die unmittelbaren Lehrer.“ 95 Unverkennbar ist aber
auch, daß er schon eine Frage gestellt hat, die für die philosophische Entwicklung
Heideggers von bleibender Bedeutung gewesen ist; die Frage nach dem Sinn des
Seins selbst, das nicht als Eigenschaft eines vorhandenen Gegenstandes verstanden werden kann.
Er entwickelt in seiner Dissertation über Die Lehre vom Urteil im Psychologismus 1913 eine wichtige Konzeption des Seins, die später in seiner Habilitationsschrift um die theologische Dimension des unendlichen Ganzen (das Ens) erweitert wurde und die Heideggers Philosophie ein Leben lang begleitete. In Anlehnung an Brentano weist er darauf hin, daß ein kategorisches Urteil (,Irgendein
Mensch ist krank‘) notwendig einen Existenzialsatz (,Ein kranker Mensch ist‘,
oder ,Es gibt einen kranken Menschen‘) impliziert und daß der Sinn des Seins bei
diesem Existenzialsatz nicht als Wesensbestimmung eines Gegenstandes zu verstehen ist; dieser Gedanke, daß der Sinn des Seins nicht als Eigenschaft eines
Gegenstandes hypostasiert werden kann, mündet dann am Schluß seiner Dissertation in der Analyse des impersonalen Urteils (Es blitzt), das Heidegger zufolge
auf den Ereignischarakter des Seins bzw. Existierens verweist. 96 Diese Frage
nach dem Sein, die die Grenze des am Gegenstand orientierten Erkenntnisaktes
überschreitet, wiederholt sich dann in der Habilitationsschrift anhand der Analyse
von Ens und Unum in der scholastischen Seinslehre; das Unum ist keine Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern eine Privation durch das Nichts, da sich jedes
Eins-Sein (Unum) notwendig von anderen abheben muß. Auch das Ens, verstan94
O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 9.
Ebd.
96
Vgl. M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 120 ff.; S. 187 ff.
95
60
den als das Ganze eines Gegenstandes, ist nicht als eine Eigenschaft des Dinges
zu verstehen, sondern als ein Verweis auf die Existenz von etwas; und da das
Unum gleich ursprünglich die Vielheit des Seienden (das Multum) fordert, ist das
Bewußtsein bei einem Urteil notwendig auf das unendliche Bewandtnisganze von
verschiedenen Seienden ausgerichtet, in dem allein eine Privation von etwas
durch das Nichts geschehen kann; den Seinssinn dieses unendlichen Ganzen, der
weder auf die Existenz vom Seienden noch auf die reine Negation der Existenz
vom Seienden zurückzuführen ist, 97 faßt Heidegger in einer These zusammen, die
wiederkehrt, wenn der späte Heidegger das Thema des in der Existenz wesenden
Seins behandelt: Gott west in der Existenz. 98
Ich habe nicht vor, Heideggers Untersuchung über die scholastische Seinslehre in
seinen frühen Schriften im Detail zu verfolgen. Dies überschreitet die Grenzen
dieser Arbeit. Für uns ist es aber von Interesse, daß Heidegger gleich am Anfang
seiner philosophischen Laufbahn von einem Problembewußtsein motiviert gewesen ist, das über das Thema der Husserlschen Phänomenologie hinausgeht; daß
die Phänomenologie die Frage nach dem Sein selbst als ihre Aufgabe aufnehmen
soll, dessen Sinn nicht auf das Vorhandensein eines Gegenstandes zurückzuführen ist, ist der eigentliche Kernpunkt bei seiner Kritik an Husserl.
Betrachten wir nun, daß sich Heidegger kurz nach seiner Habilitation 1915 mit
der Religionsphilosophie Schleiermachers beschäftigt hat. Aus seinen Bemerkun97
Laut E. Bréhier ist das Wissen von der Substanz für D. Scotus – im Unterschied zum Thomismus – erst durch die Univozität des Seinsbegriffs möglich, die nicht aus den Erfahrungen des
gegenständlichen Bereiches abgeleitet werden kann. Das Sein muß bei jedem Urteil einen identischen Sinn haben; und diese Univozität des Seinssinns ist die Grundvoraussetzung für das Urteil
in jeder gegenständlichen Erfahrung. Und hierin liegt der Grund, warum das Sein nicht schlechthin relational auf die Vielheit des Seienden zurückzuführen ist, sondern auf das absolute Sein,
auf Gott bezogen werden muß: „Un autre moyen pour le thomism d’établir la continuité est la
notion de l’analogie de l’être qui unit tout en distinguant; pour Duns Scot, au contraire, être est un
term univoque qui a même signification appiliqué aux accidents ou à la substance, à Dieu ou aux
créatures, à la matière et à la forme. Sans l’univocité de l’être, aucune connaisance de la substance
n’est possible. Des choses sensibles, l’intelligence perçoit seulement les accidents et non pas la
substance; si elle peut se représentir la substance, c’est grâce à la notion d’être que lui fournissent
les accidents. Sans cette univocité, aucun jugement même n’est possible, car on ne peut énoncer
un attribut d’un sujet, si l’être n’a pas le même sens dans l’un et dans l’autre. Sans elle enfin, nous
ne pourrions parvenir à la connaissance de Dieu […].“ (E. Bréhier, La philosophie du Moyen Age,
Paris 1971, S. 333-334.
98
„Im strengsten, absoluten Sinne wirklich ist nur Gott. Er ist das Absolute, das Existenz ist, die
im Wesen existiert und in der Existenz ‚west‘.“ (M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 260.).
Vgl.: ebd., S. 214 ff.; S. 287 ff.
61
gen zur zweiten Rede über die Religion, in der Schleiermacher das Wesen der
Religion erläutert, erkennt man deutlich, daß Heidegger die Religionsphilosophie
Schleiermachers als eine Phänomenologie betrachtet, die auf den Sinn des Seins
selbst ausgerichtet ist; das Bewußtsein von gegenständlichen Relationen wird in
der religiösen Zurückgezogenheit von innerweltlichen Aktivitäten eingeklammert,
so daß das Dasein hier eine spezifische Form der Intentionalität hat; es ist in der
Religion auf das Seinsganze (das Universum) selbst ausgerichtet, in dem alles in
ununterbrochenem Fließen und Wirken bleibt. Man sieht also, daß Heidegger bei
seiner Beschäftigung mit Schleiermacher jene Frage nach dem Sein selbst weiterverfolgt hat, deren Beantwortung er sich gleich am Anfang seiner philosophischen Laufbahn als seine Aufgabe vorgenommen hat.
Es fragt sich nun: Wie ist das genaue philosophische Verhältnis von Phänomenologie, Hermeneutik und Theologie beim frühen Heidegger? Wie ist Heideggers
Hermeneutik auf die Phänomenologie Husserlscher Prägung einerseits und auf
das theologische Denken andererseits bezogen? Darauf können wir jetzt eine eindeutige Antwort geben: Heideggers Aufnahme der Husserlschen Phänomenologie
ist von Anfang an durch die Problematik bestimmt gewesen, die aus seiner Beschäftigung mit dem theologischen Denken entstanden ist. Streng genommen ist
Heidegger in keinem Moment seines Lebens ein Husserlianer gewesen.
1.1.2. Heideggers Husserl-Rezeption
In Anschluß an diese Überlegungen stellt sich die Frage, ob die in der philosophischen Öffentlichkeit häufig thematisierte hermeneutische Wende Heideggers tatsächlich stattgefunden hat. M. E. darf die hermeneutische Wende nicht schlechthin als ein Übergang von der Husserlschen Phänomenologie zur Hermeneutik des
faktischen Lebens verstanden werden. Gegenüber dieser Vorstellung ist schon
deswegen Skepsis angebracht, weil das philosophische Verhältnis des jungen
Heideggers zu Husserl von Anfang an durch eine kritische Distanz geprägt gewesen ist.
62
Es hat somit kein Übergang von der Phänomenologie zur Hermeneutik des faktischen Lebens stattgefunden, wenn man unter der Phänomenologie primär die
Phänomenologie Husserls verstehen will. Man muß vielmehr davon ausgehen,
daß die Phänomenologie des frühen Heideggers selbst entscheidend von seinem
Theologiestudium beeinflußt gewesen ist. Streng genommen markiert die hermeneutische Wende Heideggers nicht einen Übergang von der Phänomenologie zur
Hermeneutik, sondern eher eine Entdeckung der Tatsache, daß die Frage nach
dem Sinn des Seins erst durch die phänomenologische Analyse des faktisch geschichtlichen Lebens richtig erfaßt werden kann. Hierin liegt der Grund, warum
der frühe Heidegger die nötige Methodologie für seine Hermeneutik in der Phänomenologie gesucht hat. Man kann dem Denkweg Heideggers nach seiner Habilitation erst dann richtig folgen, wenn man der Dimension des Seinsdenkens beim
jungen Heidegger gebührend Rechnung trägt.
Der Tatbestand, daß Heidegger gleich am Anfang seiner philosophischen Laufbahn die Frage nach dem Sein selbst gestellt hat, ist von maßgebender Bedeutung
für die Frage nach dem philosophischen Verhältnis von Heidegger und Schleiermacher. Heidegger hat den philosophischen Ansatz, der ihn zur sogenannten
hermeneutischen Wende geführt hat, m. E. unmittelbar nach seiner Habilitation
durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher erworben; seine hermeneutische
Wende schlechthin als einen Übergang von der Phänomenologie Husserls zur
Hermeneutik der Faktizität darzulegen, verstellt den wirklichen Denkweg Heideggers, den er nach seiner Habilitationsschrift eingeschlagen hat.
Allerdings kann man auch in der Habilitationsschrift über Die Kategorien und
Bedeutungslehre des Duns Scotus philosophische Bezüge zu Husserl finden. Besonders im zweiten Teil, in dem die Bedeutungslehre von Duns Scotus behandelt
wird, weist Heidegger nachdrücklich darauf hin, daß Husserl „die ‚Idee einer reinen Grammatik‘ wieder zu Ehren gebracht [habe]“; der Punkt, der die Phänomenologie Husserls mit der Bedeutungslehre von Duns Scotus verbinde, soll in der
Einsicht bestehen, „daß es apriorische Bedeutungsgesetze gibt, die von der objektiven Gültigkeit der Bedeutungen noch absehen.“ 99
99
Ebd., S. 327.
63
Die Frage, ob man die Habilitationsschrift Heideggers insgesamt als phänomenologisch bezeichnen soll, kann unterschiedlich beantwortet werden. Heideggers
Husserl-Rezeption in dieser Zeit scheint m. E. aber noch von einem neukantianischen Problembewußtsein motiviert gewesen zu sein. Es steht allerdings außer
Zweifel, daß Heidegger im zweiten Teil seiner Habilitationsschrift weitgehend
den Überlegungen folgt, die Husserl besonders in der 4. Logischen Untersuchung
über die Idee der reinen Grammatik dargelegt hat. 100 Man kann aber in der Habilitationsschrift Heideggers auch philosophische Bezüge zum Denken Rickerts
finden, der das Habilitationsverfahren als zuständiger Fachvertreter betreut hat.
Besonders dadurch, daß er Scotus’ Unterscheidung der Bedeutung in die Modi
essendi, intelligendi activi und significandi activi mit dem neukantianischen
Thema des vorwissenschaftlichen Erkennens verbindet, zeigt sich der starke Einfluß Rickerts auf Heideggers Habilitationsschrift. „Der Modus essendi“, der als
„das Erlebbare überhaupt“ „das im absoluten Sinn dem Bewußtsein Gegenüberstehende“ oder „die ‚handfeste‘ Wirklichkeit“ schlechthin, bedeutet, ist Heidegger
zufolge für Duns Scotus nicht unabhängig vom kategorischen Urteilsakt des Bewußtseins möglich. 101 Denn „auch diese empirische Wirklichkeit“ charakterisiert
sich gerade „als unter ‚ratio‘, d. h. einem Gesichtspunkt, einer Form, einer Bewandtnis stehend“, so daß am Ende der Gegenstandsbereich der Naturwissenschaft sich als abhängig erweist von einer vorwissenschaftlichen Erschließung der
Welt durch das Reich des immanenten Sinnes; 102 „damit kommt nichts anderes
zum Ausdruck, als was man neuerdings dahin formuliert hat: auch die ‚Gegebenheit‘ stelle bereits eine kategoriale Bestimmung dar. Es liegen hier ‚elementarste
logische Probleme‘ vor, die, wie Rickert einmal bemerkt, ‚sich erst dem logischen
100
So heißt es bei Husserl: „Es handelt sich ja, genauer ausgedrückt, um die Einsicht, daß sich alle
möglichen Bedeutungen überhaupt einer festen, in der generellen Idee Bedeutung a priori vorausgesetzten Typik kategorialer Strukturen unterwerfen, und daß im Bedeutungsgebiet eine apriorische Gesetzmäßigkeit waltet, wonach alle möglichen Formen konkreter Gestaltungen in systematischer Abhängigkeit von einer kleinen Anzahl primitiver, durch Existenzialgesetze festgelegter
Formen stehen, aus denen sie daher durch reine Konstruktion hergeleitet werden können. Mit
dieser Gesetzmäßigkeit kommt uns, da sie eine apriorische und rein kategoriale ist, ein Grund und
Hauptstück von der Konstruktion der ‚theoretischen Vernunft‘ zum wissenschaftlichen Bewußtsein.“ (E. Husserl, Logische Untersuchungen II/1, Tübingen 1993, S. 333)
101
M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 318.
102
Vgl. E. Bréhier, La philosophie du Moyen Age, a.a.O., S. 337 ff.
64
Forscher erschließen, der auch das ‚vorwissenschaftliche‘ Erkennen in den Bereich seiner Untersuchung zieht‘.“ 103
Heidegger ist in seiner Habilitationsschrift weitgehend der neukantianischen
Tradition seit Windelband gefolgt. Bekanntlich ist Rickert, ausgehend von der
Unterscheidung seines Lehrers Windelband der Natur- und Kulturwissenschaft in
nomothetische und idiographische Wissenschaften, zu dem Ergebnis gelangt, daß
der gemeinsame Bezugspunkt von beiden Wissenschaften in der prophysischen
Welt einer vorwissenschaftlichen Einheit objektiver Wirklichkeit liegt. Am
Schluß seiner Habilitationsschrift präsentiert Heidegger eine Analyse des Kategorienproblems, die nachdrücklich die „Notwendigkeit der Miteinbeziehung des
logischen urteilenden Subjekts“ bei der Erkenntnis, die „H. Rickert in seinem
‚Gegenstand der Erkenntnis‘ zum Bewußtsein gebracht hat“, betont. 104 Die objektive Wirklichkeit ist in dem Sinn auf eine vorwissenschaftliche Einheit im
Bewußtseinsleben angewiesen, „daß Gegenständlichkeit nur Sinn hat für ein urteilendes Subjekt, ohne welches Subjekt es auch nie gelingen wird, den vollen
Sinn dessen herauszustellen, was man mit Geltung bezeichnet.“ 105 Der Begriff
Geltung selbst, der das Zustandekommen eines immanenten Gegenstandbewußtseins durch den kategorischen Urteilsakt einerseits und die transeunte Wirklichkeit des Seins voraussetzt, weist nach Heidegger darauf hin, daß die subjektive
Logik bei jedem Erkenntnisakt vorausgesetzt ist: „Erst vom Urteil aus ist dann
auch das Problem der ‚immanenten und transeunten (‚außerhalb des Denkens‘ liegenden) Geltung‘ der Kategorien zu lösen. Ohne Berücksichtigung der
‚subjektiven
Logik‘ hat es nicht einmal einen Sinn, von immanenter und tran-
seunter Geltung zu sprechen.“ 106
Heideggers Denken in seinen frühen Schriften ist nicht schlechthin als phänomenologisch zu bezeichnen. Der junge Heidegger war zwar von der Phänomenologie Husserls stark beeinflußt; gleich in der Einleitung seiner Dissertation hat er
die Überwindung des Psychologismus innerhalb der Logik als die wesentliche
103
M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 318.
Ebd., S. 404.
105
Ebd., S. 405.
106
Ebd., S. 404.
104
65
Leistung der Husserlschen Phänomenologie anerkannt. Aber in seiner HusserlRezeption selbst war er doch weiterhin der Gedankenlinie der mystischen Tradition einerseits und der neukantianischen Problematik der vorwissenschaftlichen
Sinnerschließung der Welt seit Windelband andererseits gefolgt. Dem Versuch,
Heideggers Philosophie in seinen frühen Schriften pauschal als neukantianisch
oder phänomenologisch zu bezeichnen, sollte man daher skeptisch gegenüberstehen. Man sollte eher davon ausgehen, daß das Denken, das in den frühen Schriften Heideggers zum Ausdruck kommt, eine eigentümliche Verbindung von scholastischer Mystik, Neukantianismus und Husserlscher Phänomenologie darstellt.
Auf jeden Fall ist es sicher, daß Heideggers Denken in seiner frühen Zeit von
einem theologischen Ansatz motiviert ist, so daß er die Frage nach dem Sinn des
Seins durch eine Weiterführung der scholastischen Seinslehre zu beantworten
versucht. Dieser Thematik ist Heidegger auch nach seiner hermeneutischen Wende treu geblieben. Die Wende, die Heidegger nach seiner Habilitation vollzogen
hat, besteht gerade darin, daß er dieselbe Frage nach dem Sein nun von einem
anderen Gesichtspunkt aus betrachtet.
Dieser Gesichtspunkt ist in der Tat eine phänomenologische Perspektive. M. E.
ist aber auch deutlich, daß die Phänomenologie Heideggers nach seiner Habilitation zugleich hermeneutisch war. Oder genauer formuliert: Die Einsicht, daß die
Phänomenologie im echten Sinn nur als Hermeneutik möglich ist, die die Frage
nach dem Sein selbst durch die phänomenologische Analyse des faktischen Lebens zu beantworten versucht, führte Heidegger zu seiner hermeneutischen Wende.
1.2. Heideggers Abkehr von der Phänomenologie Husserls
Es soll nun untersucht werden, worin sich Heideggers Denken nach seiner Wende
zur Hermeneutik des faktischen Lebens von seinem früheren Ansatz unterscheidet. Welche Folge hat diese Wende für seine philosophische Entwicklung gehabt?
Die Beantwortung dieser Fragen hängt endscheidend davon ab, wie man Heideg-
66
gers Bezug zu Schleiermacher beurteilt, unter dessen Einfluß Heidegger seine
Phänomenologie zugleich als eine Hermeneutik zu verstehen beginnt.
1.2.1. Geschichte als Leitwort bei Heideggers Kritik an Husserl
Mit der Veröffentlichung der Freiburger Vorlesungen aus den Jahren 1919 bis
1923 wurde deutlich, daß Heidegger, der sich erst 1915 bei dem Neukantianer H.
Rickert habilitiert hatte, in dieser frühen Zeit seiner philosophischen Laufbahn
beinahe alle zentralen Themen von Sein und Zeit behandelt hat. In Bezug auf
Heideggers Beschäftigung mit den Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles 1921/22 stellt Gethmann sogar fest, daß „das Reflexionsniveau der Vorlesung dem Text von Sein und Zeit überlegen“ ist; „die in Sein und Zeit §7 gegebenen Bestimmungen“ von dem „Begriff der Philosophie“, die „durchaus dogmatisch-definitorisch wirken“, sind in jener Vorlesung als Ergebnis anhand konkreter Überlegungen dargestellt. 107
Im Wintersemester 1919/20 beklagt Heidegger die „Verunstaltungen der Idee der
Phänomenologie“ durch die „veralteten und gänzlich verworrenen metaphysischen Interessen“. 108 Ihm zufolge hat „die unkritische Verabsolutierung der Idee
der Wissenschaft“ äußerst negative Folgen für die phänomenologische Forschung;
nicht die wissenschaftliche Gegebenheit der Welt, sondern „das faktische Leben“ selbst soll als die eigentliche „Problemsphäre der Phänomenologie“ angenommen werden. Zwei Jahre später bezeichnete er in seinen Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles den „Grundbezugssinn des Lebens an
sich“ als „das Sorgen“, durch dessen Untersuchung „ein konkreter Ansatz für die
kategoriale Explikation“ der Lebensfaktizität ermöglicht werden soll.109
In Heideggers Denken zeigt sich also schon wenige Jahre nach seiner Habilitation eine starke Distanz zur Husserlschen Phänomenologie. Heidegger ist sich der
Grenzen der Phänomenologie Husserls bewußt. Ott berichtet in seiner HeideggerBiographie ausführlich darüber, warum und in welcher Form Heidegger gleich
107
C. F. Gethmann, Philosophie als Vollzug und als Begriff, in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986/87), S.
36.
108
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 18 f. / 23 f. / 41 ff.
109
M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.O., 1985, S. 89.
67
am Anfang seiner eigenen phänomenologischen Arbeiten über Husserl hinausgegangen ist. Heidegger hat sich nach seiner Habilitation nicht nur mit der Phänomenologie Husserls beschäftigt. In dieser Zeit hat er sich vor allem in die protestantische Theologie vertieft, die später in seinen frühen Freiburger Vorlesungen
intensiv behandelt wurde. 110 Heidegger, der bereits in den frühen zwanziger Jahren als „heimlicher König […] im Reich des Denkens“ 111 betrachtet wurde, ist
durch sein Theologiestudium zu einer Hermeneutik der Lebensfaktizität gelangt,
deren methodologische Grundlage die Phänomenologie ist.
Die Phänomenologie des jungen Heideggers wurde von einer theologischen Fragestellung bestimmt. Ein wichtiger Zeuge dafür ist H. Ochsner, der sich 1915 mit
dem anderthalb Jahre älteren Heidegger anfreundet. Er nimmt ab dem Wintersemester 1916/17 an den Lehrveranstaltungen des neuen Privatdozenten Martin
Heidegger teil. Im Winter 1917/18 begleitet er Heidegger auf dem Weg zu Husserl für ein philosophisches Gespräch. Aus den Berichten über dieses Gespräch,
die Ochsner später seinem Freund Bernhard Welte vermittelte, kann man erkennen, daß Heidegger in der Phänomenologie Husserls eine unkritische Verabsolutierung der Idee der Wissenschaft gesehen hat: „Heidegger habe schon ganz am
Anfang begriffen, daß ‚Husserls Ansatz bei all seiner Bedeutung doch keine prima philosophia sein konnte, weil Husserls ‚Gegenstand‘ der abstrakte des theoretischen Wissens der Wissenschaft war, als ein sehr abkünftiges‘ - demgegenüber
der in den konkreten Formen des Daseins sich konstituierende vergegenständlichte Gegenstand ‚ein viel ursprünglicherer und früherer ist.‘“ 112 In einer Schrift, die
B. Welte zur Erinnerung an H. Ochsner geschrieben hat, wird der Punkt genannt,
an dem sich der Gedanke H. Ochsners an den Gedanken des jungen Heideggers
anschließt: H. Ochsner hat „in der Zusammenarbeit mit Husserl bei aller Anerkennung seiner grundsätzlich weitreichenden Bedeutsamkeit doch auch schon
dessen Einseitigkeit gespürt“; bei Husserl muß sich „die Frage nach der geschichtlichen Bestimmtheit der Gegebenheiten der Welt verhüllen“, da für ihn
110
Vgl. H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 101 f. / 103 f. / 112 ff.
H. Arendt, ‚Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt‘, in: Merkur 7 (7/1969), S. 895.
112
H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 103. Diese Informationen stammen nach Ott aus den Tagebuchnotizen von Bernhard Welte (1957).
111
68
„die wissenschaftliche Gegebenheit eine nicht mehr zu befragende Selbstverständlichkeit“ ist. 113 Die Leitidee, die Heidegger über Husserl hinausführt, sei die
Betonung der Geschichte, die bekanntlich in den frühen Freiburger Vorlesungen
eine zentrale Rolle spielt: Heidegger habe Husserls phänomenologischen „Ansatz
radikalisiert, da ihm die Frage nach der geschichtlichen Bestimmtheit der Gegebenheit der Gegenstände und des Zuganges zu ihnen wesentlich geworden“ sei. 114
1.2.2. Heideggers Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Schleiermachers
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Heidegger, der sich erst 1915 beim
Neukantianer H. Rickert über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns
Scotus habilitiert hat, schon 1917/18 anfing, eine an der Geschichtlichkeit orientierte Phänomenologie zu entwickeln. Ott gibt aber keine konkrete Erklärung
dafür, was Heidegger gerade in dieser anfänglichen Zeit seines phänomenologischen Neuansatzes dazu gebracht hat, die Geschichte als eine Leitidee der Phänomenologie zu betrachten. Oder genauer: Wodurch Heidegger nach seiner Habilitation die Einsicht gewonnen hat, daß die Geschichte durch eine phänomenologische Analyse des faktischen Lebens selbst behandelt werden soll, bleibt bei Ott
weitestgehend unklar.
Seine biographische Darstellung konzentriert sich auf Heideggers Auseinandersetzung mit dem Protestantismus, der Heidegger „die Zugänge zu anderen Sichtweisen“ gebahnt haben soll. 115 Er weist darauf hin, daß sich Heidegger in erster
Linie mit F. Schleiermacher beschäftigt hat. Schleiermacher stellt in seiner zweiten Rede Über die Religion eine These über das Wesen der Religion auf, die für
Heidegger von bleibender Bedeutung gewesen ist: Das „Wesen“ der Religion „ist
weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will
sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es
andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindli113
C. Ochwadt / E. Tecklenborg, Das Maß des Verborgenen, a.a.O., S. 214.
H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 103.
115
Ebd., S. 112.
114
69
cher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“ 116 Ott legt diese These dahingehend
aus, daß beim Religionsbegriff Schleiermachers eine „Wendung des Religionsverständnisses ins Existentielle“ ansatzweise deutlich werde. 117 Ott behauptet
also, daß Schleiermachers Religionsbegriff bei der hermeneutischen Wende Heideggers eine große Rolle gespielt hat, indem er Heidegger auf das Existentielle
als den eigentlichen Gegenstand des philosophischen Denkens aufmerksam gemacht hat. Und diese These ist nicht nur von Ott vertreten worden. Wie wir bereits gesehen haben, ist auch Pöggeler zu demselben Ergebnis gelangt. 118
Pöggeler und Ott sind sich darin einig, daß Schleiermachers Religionsbegriff
eine zentrale Rolle für Heideggers Hermeneutik des faktischen Lebens spielt;
diese Dimension des Denkens bleibe der Husserlschen Phänomenologie verschlossen, weil sie an der Idee der abstrakten Wissenschaft orientiert sei. Beide
stellen anhand der Briefe von H. Ochsner fest, daß Heidegger sich im Sommer
1917 mit Schleiermacher beschäftigt hat. 119 Pöggeler weist auf den augenfälligen
Unterschied hin, der zwischen Heideggers neuen philosophischen Ansatz und
seiner auf eine metaphysische Theologie ausgerichteten Habilitationsschrift besteht: „Heidegger hatte seiner Habilitationsschrift einen Schluß angehängt, der
auf die metaphysische Theologie verwies, die in Hegel noch einmal kulminierte.
Kurze Zeit später, am 1. August 1917, hatte Heidegger sich jedoch in einer Rede
in einem privaten Kreis auf Schleiermachers Reden über die Religion bezogen.
Schleiermacher zeigt, daß wir nicht mit vorgefaßten Begriffen von Gott und Unsterblichkeit in die religiöse Dimension des Lebens eintreten dürfen, daß wir
vielmehr allenfalls im vorsichtigen Eindringen in diese Dimension solche Begriffe bilden können.“ 120
116
F. Schleiermacher, Über die Religion (1. Auflage), in: Schleiermachers Werke (hrsg. von O.
Braun / J. Bauer) Bd. 4, Aalen 1967, S. 50 (nach der Originalpaginierung).
117
H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 113.
118
Vgl. O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 100.
119
Vgl. Ebd., S. 26; ders., Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 270 f.; H. Ott,
Martin Heidegger, a.a.O., S. 101.ff.
120
O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 26.
70
1.2.3. Zur Frage nach der Motivation für Heideggers hermeneutische Wende
Man kann somit festhalten, daß die Auseinandersetzung mit Schleiermacher eine
deutliche Wende im Denken Heideggers ausgelöst hat. Aber der Grund dafür ist
m. E. noch erklärungsbedürftig.
Was hat Heidegger von seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher gegen
1917 gewonnen? Ott und Pöggeler weisen darauf hin, daß Schleiermachers Religionsbegriff Heidegger zur Einsicht in die Unzulänglichkeit der Idee der Wissenschaft für eine phänomenologische Philosophie gebracht habe. In der Tat läßt
Heideggers strenge Unterscheidung von Wissenschaft und Philosophie in den
frühen Freiburger Vorlesungen keinen Zweifel daran, daß hierin der entscheidende Unterschied zwischen ihm und Husserl liegt. Husserl geht in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie ausdrücklich
davon aus, daß die Phänomenologie zu einer strengen Wissenschaft werden soll.
„Die philosophische Epoché“ soll erst dadurch ermöglicht werden, daß „wir uns
hinsichtlich des Lehrgehaltes aller vorgegebenen Philosophie vollkommen des
Urteils enthalten und alle unsere Nachweisungen im Rahmen dieser Enthaltung
vollziehen.“ 121 Und in diesem Sinn sind die Phänomenologen „die echten Positivisten“, wenn der „‚Positivismus‘ soviel wie absolut vorurteilsfreie Gründung
aller Wissenschaften auf das ‚Positive‘, d. i. originär zu Erfassende, bedeutet.“ 122
Sie lassen sich „durch keine Autorität das Recht verkümmern, alle Anschauungsarten als gleichwertige Rechtsquellen der Erkenntnis anzuerkennen – auch nicht
durch die Autorität der ‚modernen‘ Naturwissenschaft.“ 123 Dagegen sieht Heidegger in der „Scheidung von strengwissenschaftlicher Philosophie und Weltanschauungsphilosophie“ einen Grundfehler des philosophischen Denkens; eine
solche „Scheidung ist […] abzuweisen, […] weil sie überhaupt nicht gemacht
werden darf und an der Wurzel falsch ist; m. a. W., weil sie in einer Dimension
121
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I
(Husserliana III/1), Den Haag 1976, S. 39.
122
Ebd., S. 45.
123
Ebd.
71
‚vollzogen‘ ist, die dem Ursprünglichen gegenüber, in dem verbleibend Philosophie sich expliziert, sekundär abgesetzt und verdinglicht ist.“ 124
Die Frage ist aber, ob für Heidegger diese Einsicht in die Unzulänglichkeit der
Idee der Wissenschaft für eine strenge Philosophie wirklich neu gewesen ist.
Wenn man das am faktischen Leben selbst orientierte Denken Heideggers betont
und meint, Heidegger sei durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher zur Einsicht in die Unzulänglichkeit der am Wissen orientierten Phänomenologie Husserls gekommen, erweckt man den Eindruck, daß Heidegger jener Idee der Philosophie als strenger Wissenschaft gegenüber vorher unkritisch gewesen wäre. Das
ist jedoch nicht der Fall; Heidegger hat, wie gezeigt, gleich am Anfang seiner
philosophischen Laufbahn die Frage nach dem Sein selbst als die Aufgabe der
Philosophie bestimmt.
Die Einsicht, daß das Sein nicht als eine Hypostasierung der Eigenschaft eines
Gegenstandes betrachtet werden kann, führte den jungen Heidegger zur scholastischen Seinslehre, in der der Sinn des Seins entscheidend vom in der Existenz
‚wesenden‘ Gott abhängt. Seine Habilitationsschrift ist eine Weiterführung dieser
Frage nach dem Sein selbst und endet mit dem auf eine metaphysische Theologie
verweisenden Schluß; Heidegger spricht von dem „lebendigen Geist“, der „wesensmäßig historischer Geist im weitesten Sinne des Wortes“ sein sollte. 125
Zwar darf man nicht annehmen, daß Heidegger mit seiner Rede vom historischen
Geist bereits eine Hermeneutik des faktischen Lebens im Sinne hatte; die vom
lebendigen Geist ausgehende Theologie ist weder Phänomenologie noch Hermeneutik; sie ist für den frühen Heidegger eine Metaphysik, die, wie Pöggeler richtig zeigt, an Hegel anknüpft. 126 Die Betonung des „historischen Geistes“ zeigt
aber unmißverständlich, daß Heidegger auch in dieser frühen Phase seines Denkens jene Gleichsetzung der Philosophie mit der strengen Wissenschafts- oder
Erkenntnistheorie ausdrücklich ablehnt: „Das erkenntnistheoretische Subjekt deutet nicht den metaphysisch bedeutsamsten Sinn des Geistes, geschweige denn
124
M. Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, Frankfurt a. M. 1993, S.
11-12.
125
M. Heidegger, Frühe Schriften, Frankfurt a. M., S. 407.
126
Vgl. Ebd., S. 411 ff.
72
seinen Vollgehalt. Und erst durch Hineinstellung in diesen erhält das Kategorienproblem seine eigentliche Tiefendimension und Bereicherung.“ 127
Es liegt allerdings auf der Hand, daß man alleine mit dem Hinweis auf Heideggers Unterscheidung zwischen Philosophie und Wissenschaft nicht ausreichend
erklären kann, was genau der Anlaß für seine hermeneutische Wende gewesen ist.
Die Religion ist für Heidegger sicherlich deswegen von Bedeutung, weil sie auf
etwas theoretisch Unverfügbares verweist. Diese Erklärung reicht aber nicht aus,
wenn man verständlich machen will, warum der Bezug zu Schleiermacher als
eine Wende des Heideggerschen Denkens bezeichnet werden soll. Hätte Heidegger im Religionsbegriff Schleiermachers nur jene nicht am Wissen orientierte
Dimension des Denkens wiedererkannt, dann würde sein Bezug zu Schleiermacher keine große Wende in seiner philosophischen Entwicklung markieren, sondern nur eine kurzfristige Übergansphase ohne besondere Bedeutung sein. Heideggers Ablehnung der erkenntnisorientierten Philosophie stellt nämlich überhaupt keinen besonderen Wendepunkt seines Denkens während seiner frühen
Freiburger Zeit dar. Vielmehr besteht Heideggers hermeneutische Wende darin,
daß er in dieser Zeit die Idee einer Metaphysik des geschichtlichen Geistes aufgibt, und daß er den Sinn der Geschichte nun durch die phänomenologische Analyse des faktischen Lebens erkennen will. Die Bedeutung von Heideggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher kann in dieser Hinsicht erst dann richtig erkannt werden, wenn man die Frage klärt, ob Heidegger die Religionsphilosophie
Schleiermachers als eine Position aufgefaßt hat, die die Frage nach dem Sinn der
Geschichte von einer Metaphysik des objektiven Geistes befreit und durch eine
Analyse des Seinssinns des faktischen Daseins ersetzt.
Heideggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher markiert in der Tat eine
bedeutende Wende; erst durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher ist Heidegger zu der Einsicht gelangt, daß die Phänomenologie im strengen Sinn nur als
Hermeneutik des faktischen Lebens möglich ist. Die Frage ist aber, worin für
Heidegger der Kernpunkt von Schleiermachers Religionsphilosophie besteht.
Was ist der Grund, warum Schleiermachers Religionsbegriff Heidegger auf die
127
Ebd., S. 407.
73
Faktizität des Lebens als eigentlichen Gegenstand des philosophischen Denkens
aufmerksam gemacht hat? Was ist der endscheidende Unterschied zwischen seiner Hermeneutik des faktischen Lebens und der Metaphysik des geschichtlichen
Geistes, auf die seine Habilitationsschrift verwiesen hat?
M. E. läßt sich die hermeneutische Wende Heideggers vor allem durch eine neue
Betrachtung der Frage nach dem Sinn der Geschichte charakterisieren. Wie bereits betont wurde, darf man die hermeneutische Wende Heideggers nicht
schlechthin als einen Übergang von einer Phänomenologie zu einer Hermeneutik
bezeichnen. Sie ist eher eine Wende innerhalb einer Fragestellung, die Heidegger
noch stärker beschäftigte als die Phänomenologie Husserlscher Prägung. Die Frage nach dem Sein selbst, deren Antwort Heidegger ursprünglich mit Hilfe einer
Metaphysik des geschichtlichen Geistes zu finden versucht hatte, stellt Heidegger
nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher auf eine neue Weise.
74
2. Hermeneutik und Geschichte
Es wurde schon zu Beginn des ersten Kapitels darauf hingewiesen, daß die Geschichtlichkeit des faktischen Lebens der eigentliche Kern der Hermeneutik Heideggers ist. Dabei ist die Auseinandersetzung mit dem Protestantismus von entscheidender Bedeutung für Heideggers hermeneutische Wende.
Pöggeler weist darauf hin, daß Heidegger „das Anliegen der Hermeneutik nicht
primär von der sog. Hermeneutik des Aristoteles nahegebracht worden ist, sondern von der Hermeneutik der theologischen Tradition“. 128 Damit ist zugleich
ausgedrückt, daß für Heidegger die auf Aristoteles zurückgehende Aussagenlogik
für ein ontologisches Denken, dem es um das Sein selbst geht, unzulänglich ist.
Man kann einen klaren Beleg für diese These in der frühen Freiburger Vorlesung vom Wintersemester 1919/20 finden, in der eine Unterscheidung der Welterschlossenheit durch das Da des Daseins in verschiedene Bekundungsgestalten
von Selbstwelt, Mitwelt und Umwelt vorgenommen wird. Diese Vorlesung ist
wohl der erste Versuch Heideggers, seinem hermeneutischen Denken einen eigenen systematischen Ansatz zu verleihen. Heidegger selber verweist in einer Anmerkung am Ende des 15. Paragraphen von Sein und Zeit darauf, „daß er die
Umweltanalyse und überhaupt die ‚Hermeneutik der Faktizität‘ des Daseins seit
dem W.S. 1919/20 wiederholt in seinen Vorlesungen mitgeteilt hat.“ 129 Der
Kernpunkt dieser Vorlesung besteht darin, daß das hermeneutische Verstehen
nicht primär auf das Als der begrifflichen Gegenstandbestimmung verwiesen ist,
sondern auf das hermeneutische Als der Bedeutsamkeit, das als solches notwendig
mit einer konkreten, historischen Lebenssituation des Daseins verbunden ist. 130
Damit ist Heideggers Einsicht in die Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes in Sein und Zeit vorweggenommen; die Wahrheit, die seit Aristoteles
ihren Ort in der Übereinstimmung des Urteils mit seinem Gegenstand hat, ist für
eine Fundierung der hermeneutischen Wahrheit unzulänglich. 131
128
O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 270.
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 72.
130
Vgl. M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 110 ff.
131
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 214 ff.
129
75
Hierbei ist wiederum die Geschichtlichkeit entscheidend. Nur dadurch, daß das
Verstehen auf die historische Lebensweise des faktischen Daseins zurückgeführt
wird, wird eine hermeneutische Philosophie möglich, die über den abkünftigen
Wahrheitsbegriff der Aussagenlogik hinaus zum ursprünglichen Phänomen der
Wahrheit gelangt. Die Frage nach dem Wesen der hermeneutischen Wahrheit
hängt also untrennbar mit der Frage nach dem Wesen des Historischen zusammen;
nur wenn man analysiert, was Heidegger unter dem Historischen versteht, kann
man das wirkliche Anliegen seiner hermeneutischen Wende erkennen.
Somit stellen sich in Bezug auf diese Arbeit zwei Fragen: 1. Wie läßt sich Heigeggers neues Verständnis der Geschichtlichkeit, das seiner Hermeneutik der
Faktizität zugrunde liegt, bestimmen? 2. Läßt sich diese neue Bestimmung der
Geschichtlichkeit auf seine Beschäftigung mit Schleiermacher zurückführen?
2.1. Das apophantische Als und das hermeneutische Als
Heidegger stellt aus der Prädikation, also der Verwendung von prädikativen Elementaraussagen zur Beurteilung und näheren Bestimmung eines Subjekts, das Als
als eine Grundstruktur der Aussage heraus. Und dieses Als bezeichnet er im Anschluß an Aristoteles als ein apophantisches Als, bei dem das Verstehen auf die
Vorhandenheit eines Seienden bezogen ist. 132 Das hermeneutische Als ist dagegen das ursprüngliche Als, das direkt auf die anfängliche Erschlossenheit des
Seins durch das Da des Daseins bezogen ist. 133
Heideggers Unterscheidung zwischen dem apophantischen Als und dem hermeneutischen Als zeigt, daß seine Existenzontologie von Sein und Zeit in gewisser
Hinsicht weiterhin durch den Ansatz seiner philosophischen Anfangszeit bestimmt ist. Heidegger hat in seinen frühen Schriften wiederholt darauf hingewiesen, daß das ‚Sein‘ in einem Existenzialsatz nicht schlechthin als eine Eigenschaft
eines Gegenstandes zu verstehen ist. Die Erschlossenheit des Seinssinns, der im
Existenzialsatz zum Ausdruck kommt, muß anfänglicher und ursprünglicher sein
132
Vgl. Ebd., S. 153 ff.; O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., 268
ff.
133
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 158 f.
76
als die kategorische Wesensbestimmung eines Gegenstandes. Jeder kategorische
Satz läßt sich, wie Heidegger in Anlehnung an Brentano behauptet, in einen Existenzialsatz umformen; die kategorische Wesensbestimmung eines Gegenstandes
ist notwendig auf die vorhergehende Erschließung des Seinssinns angewiesen.
Heideggers Unterscheidung zwischen dem apophantischen und dem hermeneutischen Als geht von diesem Grundgedanken aus, den er gleich zu Beginn seiner
philosophischen Laufbahn entwickelt hat.
„Die Aussage“ ist nach Heidegger „als abkünftiger Modus der Auslegung“ zu
verstehen, da das „Was, als welches die Aussage das Vorhandene bestimmt“,
„aus dem Vorhandenen als solchem geschöpft [wird].“ 134 Diese komplizierte
These kann erst dann richtig verstanden werden, wenn man der Existenz im Heideggerschen Sinn gebührend Rechnung trägt; die Existenz, die als Sein des Seienden bei jeder Wesensbestimmung von etwas durch das kategorische Urteil implizit mitgedacht ist, gehört nicht zur Eigenschaft des Vorhandenen. Dieser Gedanke ist allerdings nicht neu; er ist, wie schon gezeigt, die eigentliche Hauptthese von Heideggers Dissertation. Heidegger hat auch in seiner Habilitationsschrift
diesen Grundgedanken durch eine Analyse der scholastischen Seinslehre weiter
verfolgt; das Ens, das als das Ganze von etwas nicht schlechthin als Eigenschaft
eines Gegenstandes zu verstehen ist, läßt sich nur als Verweis auf die Existenz
von etwas in der Bewandtnisganzheit von Seienden verstehen. Denn das Bewußtsein vom Ganzen eines Seienden setzt notwendig voraus, daß etwas durch die
Privation von anderen Seienden als ein Unum abgesondert wird; und eben deswegen, weil dieses Unum durch eine Absonderung eines Seienden von anderen Seienden (Multum) entsteht, ist die Existenz des Unum notwendig auf das Ganze des
Seins, aus dem es herausgelöst wurde, bezogen und setzt somit in Heideggerscher
Sprache eine Bewandtnisganzheit voraus. Die These, daß die Aussage ein abkünftiger Modus der Auslegung ist, ist nun darin begründet, daß „das begegnende
Vorhandene“ in der apophantischen Auslegung nicht mehr auf diese Bewandtnisganzheit bezogen wird, sondern durch die prädikativen Elementaraussagen „in
seinem So-und-so-vorhandensein bestimmt [wird]“: „Das ‚Als‘ greift in seiner
134
Ebd., S. 153; 158.
77
Funktion der Zueignung des Verstandenen nicht mehr aus in eine Bewandtnisganzheit.“ 135
„Das ‚Als‘“, das primär als die Grundstruktur des Verstehens überhaupt zu bezeichnen ist, „wird“ nach Heidegger durch die apophansis (das aufweisende Sehenlassen von etwas als etwas) „in die gleichmäßige Ebene des nur Vorhandenen
zurückgedrängt“. 136 Die Aussage, die apophantisch etwas in seinem So-und-sovorhandensein sehen läßt, führt zur „Nivellierung des ursprünglichen ‚Als‘ der
umsichtigen Auslegung zum Als der Vorhandenheitsbestimmung“, da das Als in
einer Aussage „bezüglich seiner Möglichkeiten der Artikulation von Verweisungsbezügen von der Bedeutsamkeit, als welche die Umweltlichkeit konstituiert,
abgeschnitten [ist].“ 137 Der Grund, warum die Hermeneutik des Aristoteles für
die Hermeneutik der Faktizität unzulänglich ist, liegt also darin, daß das Verstehen ursprünglich auf die Dynamik des Lebenszusammenhanges verwiesen ist, in
dem alles Seiende im Bewußtsein der Bewandtnisganzheit alles Seienden verstanden wird. Das apophantische Als, das in der Übereinstimmung des Urteils mit
seinem Gegenstand seinen Ort hat, ist nur eine abgeleitete Form der umsichtigen
Auslegung des Daseins, in der das Seiende in bezug auf das Ganze des Seins betrachtet wird.
Heidegger stellt in Sein und Zeit diesem bloß theoretisch vorgehenden apophantischen Als der Aussage „das existenzial-hermeneutische ‚Als‘“ gegenüber, welches als das „ursprüngliche ‚Als‘ der umsichtig verstehenden Auslegung“ situationsgebunden ist. 138 In seiner Vorlesung vom Wintersemester 1919/20 bringt er
noch deutlicher zum Ausdruck, was dieses hermeneutische Als bedeutet; es ist
„das ‚Als‘ der Bedeutsamkeit, das notwendig immer situationsentwachsenes, historisches ist.“ 139
135
Ebd., S. 158.
Ebd.
137
Ebd. Vgl. O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 268 ff.
138
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 158.
139
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 114.
136
78
2.2. Die Bedeutsamkeit
Was ist nun die Bedeutsamkeit? Was heißt es genau, daß das hermeneutische Als
das Als der Bedeutsamkeit ist? In Sein und Zeit kann man verschiedene Definitionen der Bedeutsamkeit finden, die aus der Perspektive des begrifflichen Denkens beinahe sinnlose Aussagen darstellen. Die erste Definition der Bedeutsamkeit gibt Heidegger in §18 von Sein und Zeit, in dem die Weltlichkeit der Welt
durch das Begriffspaar ‚Bewandtnis‘ und ‚Bedeutsamkeit‘ erläutert wird: Die Bedeutsamkeit ist das „Bezugsganze“ des „Bedeutens“: „Sie ist das, was die Struktur der Welt, dessen, worin Dasein als solches je schon ist, ausmacht. Das Dasein
ist in seiner Vertrautheit mit der Bedeutsamkeit die ontische Bedingung der Möglichkeit der Entdeckbarkeit von Seiendem, das in der Seinsart der Bewandtnis
(Zuhandenheit) in einer Welt begegnet und sich so in seinem An-sich bekunden
kann.“ 140
2.2.1 Die Bedeutsamkeit als Zusammenhang der Bezüge des Daseins auf seine
Welt
Auf den ersten Blick scheint diese Definition ein Zirkelschluß zu sein: Die Bedeutsamkeit ist zuerst als das Bezugsganze des Bedeutens, also des bedeutungsverleihenden Aktes des Daseins definiert; dieses Dasein, durch dessen Akt die
Bedeutsamkeit ermöglicht wird, ist selber die ontische Bedingung der Möglichkeit der Entdecktheit von Seiendem, die die Vertrautheit des Daseins mit der Bedeutsamkeit voraussetzt. Bei einer genaueren Betrachtung erkennt man jedoch,
daß diese Definition von einer Analyse der kontingenten Struktur der Welterschlossenheit durch das Dasein ausgeht; die Struktur der Welterschlossenheit
wird durch die Unterscheidung verschiedener Bezugsmodi des Daseins zur Welt
als ein Bedeutsamkeitszusammenhang aufgefaßt, der als solcher auf die umsichtigen Verhaltensweisen des Daseins zu seiner Welt verweist. In §69 spricht Heidegger von einem „im umsichtigen Besorgen beschlossene[n] Verstehen einer
Bewandtnisganzheit“, das in einem vorgängigen Verstehen der Bezüge des Um140
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 87.
79
zu, Wo-zu, Dazu, [und des] Um-willen [gründet].“ 141 Es folgt eine Aussage, in
der die Bedeutsamkeit klar als ein Zusammenhang von diesen Verhaltensweisen
des Daseins zu seiner Welt (Um-zu, Wo-zu, Dazu, Um-willen) definiert wird:
„Der Zusammenhang dieser Bezüge wurde früher als Bedeutsamkeit herausgestellt.“ 142
Die Bedeutsamkeit ist in diesem Sinn nicht primär auf die Sinnerschlossenheit
eines konkreten Seienden bzw. einer Situation verwiesen; sie ist eher ein formalontologischer Begriff, der eine kontingente Struktur des Weltverstehens und
Welthabens aufweist. Die Welt selber gehört bei Heidegger zur Kategorie der
formalontologischen Begriffe, da ihre Weltlichkeit von der Verhaltensweise des
Daseins zur Welt abhängt: „Das Worin des sichverweisenden Verstehens als
Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist
das Phänomen der Welt. Und die Struktur dessen, woraufhin das Dasein sich
verweist, ist das, was die Weltlichkeit der Welt ausmacht.“ 143 Und schließlich ist
auch das Bedeuten nicht primär auf eine konkrete Aussagesituation verwiesen,
sondern auf die kontingente Struktur der Verhaltensweise des Daseins zu seiner
Welt, durch deren Analyse Heidegger verschiedene Bezüge des Daseins zu seiner
Welt darlegt: „Das Verstehen läßt sich in und von diesen Bezügen selbst verweisen. Den Bezugscharakter dieser Bezüge des Verweisens fassen wir als bedeuten.“ 144
Schon in seinen frühen Freiburger Vorlesungen hat Heidegger den Zusammenhang der Beziehungen des Daseins auf seine Welt wie in Sein und Zeit als Bedeutsamkeit bezeichnet. Besonders die Vorlesung vom Wintersemester 1919/20
über die Grundprobleme der Phänomenologie und die Vorlesung vom Wintersemester 1920/21 über die Phänomenologie des religiösen Lebens zeigen, daß sich
Heidegger in seiner Freiburger Zeit mit diesem Thema sehr intensiv auseinandergesetzt hat.
141
Ebd., S. 364.
Ebd. Das Wort ‚früher‘ im Zitat bezieht sich auf §18, S. 87ff.
143
Ebd., S. 86.
144
Ebda., S. 87.
142
80
In Grundprobleme der Phänomenologie ist die „Bedeutsamkeit als Wirklichkeitscharakter des faktischen Lebens“ schlechthin definiert.145 D. h.: Jede Erfahrung, die ich in meinem Leben mache, ist notwendig auf die Bedeutsamkeit verwiesen, die als der Zusammenhang der Beziehungen meines Verhaltens zu meiner Welt zu verstehen ist.
2.2.2. Bedeutsamkeit und Zuhandenheit
Man darf freilich daraus, daß die Bedeutsamkeit primär auf die kontingente
Struktur der Welterschlossenheit bezogen ist, nicht schlußfolgern, daß sie mit den
konkreten Lebenssituationen nichts zu tun hätte. Im Gegenteil: Die Bedeutsamkeit ist gerade als solche bei jeder konkreten Lebenssituation zu beobachten, und
allein in diesem Sinn ist sie als der Wirklichkeitscharakter des faktischen Lebens
zu bezeichnen. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: „Teetrinkend nehme ich
meine Tasse in die Hand; im Gespräch habe ich meine Tasse vor mir stehen. Es
ist nicht so, daß ich etwas Farbiges oder gar Empfindungsdaten in mir als Ding
auffasse und dieses Ding als Tasse [betrachte], die in Raum und Zeit bestimmt ist,
etwas, das in Wahrnehmungssukzessionen sich gibt, eventuell auch nicht existieren könnte.“ 146 Dieses Beispiel zeigt, daß die Bedeutsamkeit eine konkrete Lebenssituation voraussetzt, in der das Dasein in der Vertrautheit mit der öffentlichen Welterschlossenheit lebt. In einer faktischen Lebenssituation nehme ich
nicht ein Ding wahr, das aus dem Fluß der kontinuierlichen Wahrnehmungsdaten
als ein Gegenstand konstruiert wird, sondern eine Tasse, ein Zeug, durch das sich
das Sein des in der Umwelt begegnenden Seienden als etwas Bedeutsames für
meine eigene Lebensführung zeigt. Der entscheidende Punkt von Heideggers
Auffassung besteht nun darin, daß diese Bedeutsamkeit die einzige Möglichkeit
des Daseins ist, die Welt zu erfahren: „‚Meine Tasse, aus der ich trinke‘ – in der
Bedeutsamkeit erfüllt sich ihre Wirklichkeit, sie ist sie selbst. Ich lebe faktisch
immer bedeutsamkeitsgefangen, und jede Bedeutsamkeit hat ihren Umring von
145
146
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 104.
Ebd., S. 104.
81
neuen Bedeutsamkeiten: Beschäftigungs-, Beteiligungs-, Verwertungs-, Schicksalshorizonte.“ 147
Heidegger hat also in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1919/20 das wichtige Thema von der Zeughaftigkeit des Seins des in der Umwelt begegnenden Seienden in Sein und Zeit vorweggenommen. Die Grundvoraussetzung dafür ist seine These, daß das Sein des Daseins wesentlich durch die Sorge bestimmt ist; „das
Zeug“ ist dann „das im Besorgen begegnende Seiende.“ 148 Die Bedeutsamkeit,
die Heidegger als den Sinn der hermeneutischen Auslegung der Welt überhaupt
darlegt, erweist sich in diesem Sinn als die Zeughaftigkeit, die sich aus dem Sein
des Daseins selbst, nämlich aus der Sorge, ergibt.
Heidegger versteht unter der Bedeutsamkeit die zeughafte Erschlossenheit der
innerweltlichen Dinge. Dies ist eine konsequente Folge aus seiner These, daß das
Dasein in einem Bedeutsamkeitszusammenhang lebt, der auf die Bezüge des Daseins auf seine Welt – nämlich das Um-zu, Wo-zu, Dazu, Um-willen – verwiesen
ist. Wie die Bedeutsamkeit verweist auch die Zeughaftigkeit auf das Bewandtnisganze der Umwelt, so daß durch die umsichtigen Verhaltensweisen des Daseins
zu seiner Welt diese Welt als ein Verweisungszusammenhang von etwas auf etwas erschlossen wird: „Ein Zeug ‚ist‘ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug
gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug
ist wesenhaft ‚etwas, um zu . . .‘ . Die verschiedenen Weisen des ‚Um-zu‘ wie
Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine
Zeugganzheit. In der Struktur ‚Um-zu‘ liegt eine Verweisung von etwas auf etwas.“ 149
147
Ebd., S. 104 f.
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 68.
149
Ebd.
148
82
2.3. Das Problem der Heideggerschen Umweltanalyse: Bedeutsamkeit, Wissen
und Denken
Die Zuhandenheit, die bekanntlich in Sein und Zeit als die Seinsart des Zeugs
definiert wird, 150 ist für Heidegger die ursprüngliche Möglichkeit des Daseins,
einen Zugang zu dem Sein des Seienden zu erhalten. Seine These, das hermeneutische Als sei das Als der Bedeutsamkeit, ist in diesem Sinn eine Kombination
von drei Annahmen:
1. Die Welterschlossenheit verweist auf die Verhaltensweise des Daseins, die
notwendig eine intentionale Struktur hat (Um-zu, Dazu, Wo-zu, Um-willen).
2. Das Dasein zielt dabei nicht primär auf ein theoretisches Wissen, sondern auf
die praktische Zugangsmöglichkeit zu dem Seienden, dessen Seinsweise als Zuhandenheit eines Zeugs zu bezeichnen ist.
3. Ein Zeug ist streng genommen nie, da es auf das Bewandtnisganze von etwas
auf etwas verwiesen ist, das notwendig mit dem Sich-befinden des Daseins in
einer jeweiligen, konkreten Lebenssituation verbunden ist.
Heideggers Analyse der Zuhandenheit ist allerdings m. E. höchst problematisch;
sie beruht auf einer abstrakten Trennung zwischen praktischen und theoretischen
Wissen. Genauer gesagt: Heideggers einseitige Betonung des praktischen Zugangs zu dem Sein des Seienden ist nur eine Folge davon, daß die Frage danach,
unter welchen Bedingungen das Erwerben des praktischen Wissens möglich ist,
ausgeblendet wird. Man wird aber wohl annehmen müssen, daß theoretisches
Wissen über die Welt immer schon notwendig ist für praktisches Handeln in der
Welt. Eine einseitige Betonung der praktischen Erschließung der Welt als zuhandene Bewandtnisganzheit ignoriert daher m. E. die Bedeutung des theoretischen
Wissens. Dies soll im Folgenden näher untersucht werden.
150
Vgl.: „Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische ‚Handlichkeit‘ des Hammers. Die Seinsart
von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit“ (Ebd., S. 69.)
83
2.3.1. Die Welterschlossenheit im Alltagsleben und das Denken
Es ist auffällig, daß Heidegger die Welterschlossenheit im Alltagsleben als Ausgangpunkt seiner Analyse des Bedeutsamkeitszusammenhanges nimmt. In
Grundprobleme der Phänomenologie hebt Heidegger hervor, daß das faktische
Leben ein Leben in der ‚geöffneten Situation‘ ist: „Der Sinn von ‚Existenz‘ liegt
im faktischen Leben in den aktuell erfahrenen, erinnerten oder erwarteten Bedeutsamkeiten, so daß das so und so bestimmte erinnerungs- oder erfahrungsoder erwartungsmäßige Erfahren in einer vollen konkreten Einheit sich vollzieht
(geöffnete Situation). Auch wo in bestimmt Erfahrenem theoretische Momente
stecken, sind diese einschlußweise da, eingegangen in die jeweils lebendige Bedeutsamkeit. Sie kommen ihrem Eigen-Sinn nach nicht zum Recht; entsprechend
ist auch phänomenal kein theoretisches Verhalten aufweisbar.“ 151 Eine Folge
dieser Annahme ist, daß bei Heidegger die Auffassung des Seinenden als Zuhandenheit (z.B. als Tauglichkeit eines Hammers, einer Tasse, eines Stuhls etc.) immer stärker betont wird und die Rolle des theoretischen Wissens vernachlässigt
wird.
Betrachten wir nun genauer, inwiefern man die Seinsweise des Zeugs als Zuhandenheit verstehen kann. Ich benutze z.B. einen Stein als einen Hammer, um etwas
zu zerbrechen. Die Voraussetzung für diese Verwendung des Steines ist allerdings das vorhergehende Wissen davon, daß der Stein hart ist. Das Wissen von
der Härte des Steines ist genauso wie die Zuhandenheit eines Zeugs auf das Bewandtnisganze von etwas auf etwas verwiesen: ohne Vergleich mit den anderen
Seienden ist die Rede von der Härte eines Dinges sinnlos. Kann man nun aber
daraus schlußfolgern, daß die Härte des Steins die Dienlichkeit des Steins als eines Hammers (Zuhandenheit) aufzeigt? Gewiß: Man kann die Härte des Steins als
die Möglichkeit des Steins verstehen, ein Hammer zu sein. Bedeutet dies nun, daß
der Stein von Anfang an als ein Hammer da gewesen ist? Offensichtlich nicht:
Ohne vorhergehende Erfahrung, durch die mir die Härte des Steins bewußt wird,
habe ich keine Möglichkeit, den Stein als Hammer zu benutzen. D. h.: Die Härte
des Steins zeigt zwar die Möglichkeit, den Stein als ein Zeug zu einem prakti151
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 106.
84
schen Zweck zu benutzen; dies ist aber nicht primär ein Ausdruck der Zuhandenheit des Steins, sondern darin zeigt sich vielmehr das Wesen bzw. die Eigenschaft
eines Dinges, durch die erst die Möglichkeit entsteht, dieses Seiende als ein Zeug
zu benutzen oder es einen ‚Stein‘ zu nennen (‚Stein‘ als ein Name für bestimmte
Dinge, die einen gewissen Grad der Härte als ihre Eigenschaft haben).
Der Irrtum von Heidegger besteht darin, daß er die vielen verschiedenen Möglichkeiten des Daseins, dem Sein des Seienden zu begegnen, auf den praktischen
Bezug des Daseins, auf die Zuhandenheit des Seienden reduziert. Unser Wissen,
daß ein Stein hart ist, ist selbstverständlich kein rein theoretisches Wissen, falls
man darunter ein rein objektives Erkennen verstehen will: schon die Qualität des
Seienden selbst (Härte) läßt die untrennbare Verbindung von dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen bei jedem Urteil über etwas erkennen. Gerade
weil diese Qualität ohne Vergleich mit den Eigenschaften anderer Dinge sinnlos
ist, ist unser Wissen, daß ein Stein hart ist, von Anfang an auf das Bewandtnisganze von etwas auf etwas verwiesen und insofern sind solche Qualitäten immer
mehr als nur eine Eigenschaft eines Gegenstandes.
Dieses Bewandtnisganze ist aber nicht schlechthin das Bewandtnisganze der
Zuhandenheit, das durch die Verhaltensweise des Daseins auf das Sein des Seienden in der Form von Um-zu, Dazu, Wo-zu und Um-willen ermöglicht wird. So
kann beispielsweise ein Wissen über Eigenschaften eines Gegenstandes auch
durch Zufall entstehen: Zufällig habe ich entdeckt, daß etwas sehr klebrig ist.
Dabei ist die Erfahrung, daß es klebrig ist, mit einem unangenehmen Gefühl verbunden, da meine Hände durch das Berühren des Gegenstandes klebrig wurden.
Somit wird man zwar auch bei diesem Beispiel sagen können, daß auch dieses
Wissen mit meinen Intentionen verbunden ist: Es gehört zu meiner Absicht, das
Entstehen dieses unangenehmen Gefühls zu vermeiden. Das Wissen von der
Klebrigkeit des Gegenstandes habe ich aber zuerst durch das zufällige Offenbarwerden seiner Eigenschaften erhalten, durch das ich dann natürlich auch die Möglichkeit habe, dieses Wissens nun für meine Absichten zu nutzen, d. h. in diesem
Fall werde ich beispielsweise weitere Berührungen mit solchen Gegenständen in
Zukunft vermeiden. Mit anderen Worten: Das Wissen ist primär eine Entdeckung
85
der Eigenschaften eines Dinges, durch die wir allein einen Zugang zum Sein des
Seienden haben können. Und die Zuhandenheit, die wir in unserem Alltagsleben
als eine Zugangsmöglichkeit zum Sein des Seienden haben, ist eigentlich nur ein
nachträgliches Phänomen gegenüber dieser Entdeckung.
Der m. E. folgenreichste Irrtum von Heidegger besteht darin, daß er aus der kontingenten Struktur des praktischen Wissens paradigmatisch den Modus des Denkens überhaupt ableitet. Betrachten wir ein weiteres Beispiel: Ich habe gestern ein
seltsames Geräusch gehört, das ich mir zuerst nicht erklären konnte. Nach einer
längeren Überlegung vermute ich, daß dieses Geräusch vielleicht von einem Radio verursacht wurde, das unter das Bett gefallen ist. Nachdem ich unter dem Bett
das klingende Radio gefunden habe, weiß ich, daß das Geräusch tatsächlich aus
dem Radio kam. Dabei ist meine Absicht, die Ursache für das unbestimmte Geräusch zu finden, von meinem praktischen Interesse geleitet: das Geräusch verursacht in mir möglicherweise Angst, Neugierde oder Streß usw. Und das Wissen,
daß die Ursache für das Geräusch das Radio ist, ist in diesem Sinn ein praktisches
Wissen, mit dem ich mein praktisches Interesse erfüllen kann. Kann man aus dieser Verbindung des Wissens mit lebensweltlichen Absichten ableiten, daß das
Denken in jedem Fall notwendig und schlechthin ein praktisches Denken ist?
Offenbar nicht. Denn ohne die Beziehung auf die Sachrelationen selbst, in denen
etwas unabhängig von meinem eigenen Willen oder Lebensinteresse geschieht,
kann ich nicht zu einem Wissen gelangen, das für meine praktischen Lebensinteressen dienlich sein kann. D. h.: Das reine Denken, das rein im Sinn der Unreduzierbarkeit auf das praktische Interesse des Lebens ist und als solches um des
Denkens selbst willen vollzogen wird, ist die notwendige Voraussetzung für die
Möglichkeit, ein Wissen zu haben und dieses Wissen dem praktischen Interesse
dienlich zu machen.
Freilich ist die Bedeutsamkeit im Sinne Heideggers, die durch das praktische
Verhalten des Daseins zu seiner Umwelt erschlossen ist, auch dann implizit vorhanden, wenn es um rein theoretisches Wissen geht und man wird auch darin
Heidegger zustimmen können, daß das Wissen, das angeblich ein rein theoretisches Wissen von etwas ist, im faktischen Leben in die jeweils lebendige Bedeut-
86
samkeit eingegangen sein muß, um überhaupt als Wissen wirksam sein zu können.
Aber das Denken zielt nicht schlechthin auf ein Wissen, das wie ein fertiges Produkt für eine praktische Anwendung da ist. Das Denken legt vielmehr davon
Zeugnis ab, daß unser Leben stets von der Unwissenheit begleitet wird, die auch
in der Form der Anerkennung der Unreduzierbarkeit des Seins auf den Bedeutsamkeitszusammenhang unseres Lebens zum Bewußtsein kommt.
2.3.2. Das vortheoretische Etwas und die Unheimlichkeit des Lebens
In Grundprobleme der Phänomenologie betont Heidegger in bezug auf das Phänomen der Erfahrung von etwas Fremden, daß auch diese Erfahrung von etwas
gleichsam ‚Bestimmungslosen‘ selber auf einen bestimmten Bedeutsamkeitszusammenhang verwiesen ist: „Auch das ‚etwas‘, das ich so erfahre, das ich als
bestimmungslos, unbestimmt erfahre, erfahre ich in der Unbestimmtheit eines
bestimmten Bedeutsamkeitszusammenhangs […].“ 152 Einerseits kann man dieser
These durchaus zustimmen, da etwas immer nur unbestimmt ist vor dem Hintergrund dessen, was ich schon weiß. Andererseits ist Heideggers Beschreibung der
verschiedenen Möglichkeiten, mit denen man auf eine fremdartige Erfahrung
reagieren kann, m. E. eine unangemessene Vereinfachung. Ich höre „ein ‚unerklärliches‘ Geräusch im Zimmer (‚es ist etwas nicht in Ordnung‘, ‚es ist etwas
nicht geheuer‘).“ 153 Mit diesem Beispiel will Heidegger auf die „Unheimlichkeit
des Lebens“ hinweisen, die nach ihm ebenfalls ein Bestandteil der Bedeutsamkeit
des Lebens ist. 154 Die Unbestimmtheit, die beim Hören eines unerklärlichen Geräusches entsteht, ist in dieser Hinsicht ein Beispiel für ein unheimliches Moment
des Lebens im Sinne Heideggers.
Allerdings erkennt Heidegger nicht an, daß die Erfahrung von etwas Fremden
notwendig eine gewisse theoretische Reflexion auf eine mögliche gegenständliche Erklärung der unerklärten Erfahrung zur Folge hat: „Dieses ‚Etwas‘ des faktischen Erfahrens hat seinem Sinngehalt und seiner Sinnfunktion nach nicht das
152
Ebd.
Ebd.
154
Ebd., S. 107.
153
87
mindeste zu tun mit dem formallogischen Etwas der Gegenständlichkeiten, das
Korrelat ist des freien Prozesses der Formalisierung, der frei ist, weil er sinngenetisch an keine bestimmte Stufe der Theoretisierung gebunden ist.“ 155 Er versteht
sogar unter den fremden Erfahrungen des faktischen Lebens den Inbegriff dessen,
was im Leben als etwas Unheimliches vorkommt, das angeblich weder dem theoretischen Denken noch dem Denken im faktischen Bedeutsamkeitszusammenhang zugänglich werden könne: „Während im Sinne des formallogischen Etwas
überhaupt [...] absolute und radikalste Unterbindung faktisch lebendigen personalen Lebensbezugs (‚Leer‘-form) [liegt], trägt das vortheoretische Etwas die
höchste potentielle und volle Unheimlichkeit des Lebens und zwar seiner undurchsichtigen, aber doch lebendigen Erwartungszusammenhänge, ohne daß gerade die geringste Abgehobenheit des besonderen Welt- und Erfahrungsstils vorläge.“ 156
Heidegger versteht also offenbar unter unbestimmten, fremden Erfahrungen etwas Unheimliches, mit dem das Dasein stets nur auf eine vortheoretische Weise
umgehen könne. M. E. ist diese Interpretation der Fremdheitserfahrung nicht differenziert genug. Heidegger ignoriert die Art, in der das Dasein mit solchen Erfahrungen wirklich umgeht, indem er diese Erfahrungen schlechthin als ein Zeichen der Unheimlichkeit des Lebens interpretiert. Zwar wird man nicht leugnen
wollen, daß das Leben Momente der Unheimlichkeit hat, die die Grenze des Denkens und des Erklärbaren überschreiten. Aber die Erfahrung von etwas Unbestimmten ist m. E. nicht primär als ein Bewußtsein von der Unheimlichkeit zu
verstehen, gegenüber der das Denken ohnmächtig sei. Sie ist eher als ein Anlaß
zu betrachten, der das Dasein für seine eigene Lebensführung stets zum richtigen
Denken (d. h. zu einer Erklärung der fremden Erfahrung) auffordert. Diese Erklärung kann nur durch eine theoretische Ausrichtung des Daseins auf die Sache
selbst geleistet werden. Die Unbestimmtheit hat in diesem Sinn eine richtungsweisende Funktion für das Dasein, durch die das Worauf des Bewußtseins beim
Denken offenbar wird; auf die Identität von Sein und Denken muß ich ausgerich-
155
156
Ebd., S. 106 f.
Ebd., S. 107.
88
tet sein, da etwas, was in meinem Bewußtsein vorgestellt wird, oder die Sachlage,
die als eine so oder so seiende Relation von Seienden verstanden wird, von meinem Willen und Lebensinteresse unabhängig existiert. Ich höre ein seltsames Geräusch, dessen Ursache ich jetzt nicht erklären kann. Die Unbestimmtheit, die ich
beim Hören dieses unerklärlichen Geräusches habe, ist nicht bloß eine abstrakte
‚Unheimlichkeit‘, sondern eher eine Motivation zum Nachforschen und Nachdenken über die Ursachen dieses Geräusches, durch die mein Bewußtsein auf die
Sachrelation selbst ausgerichtet wird, in der etwas unabhängig von meinem Willen und Lebensinteresse geschehen ist; ich gehe über meinen vertrauten Umgang
mit der Bedeutsamkeit hinaus zur unbekannten Sachrelation selbst. Erst nachdem
das Geräusch sich als etwas erwiesen hat, was ich mit meinem eigenen Denkvermögen überhaupt nicht erklären kann, stellt sich das Gefühl der Unheimlichkeit
ein.
2.4. Das faktische Leben und die Geschichte
Heideggers Analyse der Bedeutsamkeit ist aber insofern für unseren Zusammenhang interessant, als daß sich darin ein neues Verständnis der Geschichte zeigt,
das sich bis zu seiner Freiburger Zeit nicht bei Heidegger nachweisen läßt. Die
Geschichte ist, wie bereits gezeigt, auch in seiner Habilitationsschrift das zentrale
Thema. Die Geschichte wird dort aber als die Geschichte des lebendigen Geistes
aufgefaßt, der als wahres Subjekt der Weltanschauungen der Zeitlichkeit des Lebens eine metaphysische und teleologische Dimension geben soll: „Der lebendige
Geist ist als solcher wesensmäßig historischer Geist im weitesten Sinne des Wortes. Die wahre Weltanschauung ist weit entfernt von bloßer punktueller Existenz
einer vom Leben abgelösten Theorie. Der Geist ist nur zu begreifen, wenn die
ganze Fülle seiner Leistungen, d. h. seine Geschichte, in ihm aufgehoben wird,
mit welcher stets wachsenden Fülle in ihrer philosophischen Begriffenheit ein
sich fortwährend steigerndes Mittel der lebendigen Begreifung des absoluten Geistes Gottes gegeben ist. Die Geschichte und deren kulturphilosophisch-
89
teleologische Deutung muß ein bedeutungsbestimmendes Element für das Kategorienproblem werden […].“ 157
Das Geschichtliche ist in seiner Hermeneutik der Faktizität nun aber nicht mehr
auf einen absoluten Geist bezogen, der sich im Sinne Hegels in der Geschichte
entfaltet; sondern auf die jeweilige Seinssituation des Daseins selbst, in der das
Dasein sich in seinem selbstweltlichen Vollzug zeigt.
2.4.1. Die Selbstgenügsamkeit und Unruhe des faktischen Lebens
Das Dasein befindet sich nach Heidegger nun in einem Spannungsverhältnis zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit; die eigentliche Seinsweise läßt sich
nicht mehr als Ausdruck eines souveränen Geistes verstehen, der dem praktischen
Sinnzusammenhang des Alltagslebens autonom gegenübersteht, sondern die eigentliche Seinsweise ergibt sich aus der faktischen Lebensbewegtheit des Daseins
selbst, die vom umsichtigen, praktischen Umgang des Daseins mit seiner Umwelt
abhängig ist. Alle zentralen Ansätze der Problematik des Alltagslebens in Sein
und Zeit, mit denen Heidegger dort die Struktur des Daseins analysiert und dabei
die Alltäglichkeit als die fundamentale Seinsart des Daseins in seiner jeweiligen
Seinssituation darlegt, finden sich somit bereits in der Vorlesung vom WS
1919/20. Besonders im zweiten Kapitel des ersten Teils kann man deutlich erkennen, daß Heidegger in dieser Vorlesung die ersten Ansätze der existenzontologischen Analyse des Alltagslebens in Sein und Zeit entwickelt hat. Hier betont
er den „Situationscharakter der Selbstwelt“, die in der „Selbstgenügsamkeit“ ihren eigenen „Grundcharakter“ habe. 158 Die Selbstgenügsamkeit wird als ein dynamisches Moment des Lebens aufgefaßt, 159 sich von der „Unruhe des Lebens“ zu befreien und nach einer möglichen „Ruhefindung“ zu streben; 160 das
Sein des Daseins wird hier durch den sorgenden Umgang mit der Umwelt charak-
157
M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 407f.
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 62; 63.
159
Vgl. H. Vetter, ‚Grundbewegtheit des faktischen Lebens und Theoria. Zu Heideggers frühen
Freiburger Vorlesungen und zur ‚theologischen Jugendschrift‘‘, in: ders. (Hrsg.), Heidegger und
das Mittelalter, a.a.O., S. 90 ff.
160
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 63.
158
90
terisiert, bei dem das Dasein eine Bewegung, ein Hin- und Her zwischen der Unruhe des Lebens und der möglichen Ruhefindung vollzieht. Hierin liegt der erste
Ansatz für Heideggers wichtige Einsicht in die untrennbare Verbindung des eigentlichen und des uneigentlichen Selbstseins; daraus, daß die Bewegung des
Daseins ein Hin- und Her zwischen der Unruhe des Lebens und der möglichen
Ruhefindung ist, entsteht die existenzontologische Notwendigkeit, die alltägliche
Sinnerschlossenheit des Seins als einer Bewandtnisganzheit von Zuhandenheiten
als Ausgangpunkt des Daseinsentwurfs auf die Selbstwelt zu betrachten. Mit anderen Worten: „Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation
des Man als eines wesenhaften Existenzials.“ 161
Heideggers These in Grundprobleme der Phänomenologie, das hermeneutische
Als der Bedeutsamkeit sei ein situationsentwachsenes, historisches, ist ein Beleg
dafür, daß Heidegger in seiner frühen Freiburger Zeit eine entscheidende Wende
vollzogen hat, durch die sein früheres Geschichtsverständnis überwunden worden
ist, das an der Logik der Begriffsbildung orientiert war. Die Dynamik der Selbstgenügsamkeit, in der sich das Dasein in seinem Bewegtheitscharakter, in einem
steten Hin- und Her zwischen der Unruhe des Lebens und der möglichen Ruhefindung zeigt, ist der Ursprung für die existenzontologische Analyse der Geschichtlichkeit; sie weist auf die existenziale Struktur der „Selbständigkeit“ hin,
die nach der Auffassung von Sein und Zeit als „eine Seinsweise des Daseins“ zu
verstehen ist und „deshalb in einer spezifischen Zeitigung der Zeitlichkeit [gründet].“ 162 Gerade diese selbstweltlich geschehende Bewegtheit des Daseins ist der
wirkliche Ursprung der Geschichtlichkeit; und wenn die Geschichte auf diesen
Ursprung der spezifischen Zeitigung der Zeitlichkeit durch den selbstweltlichen
Vollzug des Daseins zurückgeführt wird, ist schon „damit über den Ort des Problems der Geschichte entschieden.“ 163
161
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 130.
Ebd., S. 375.
163
Ebd.
162
91
2.4.2. Die Selbstwelt und die Geschichte
Heidegger versteht also das hermeneutische Problem der Geschichte als ein
selbstweltliches. Daran erkennt man sehr gut, daß Heideggers Denken zwischen
seiner frühen Freiburger Zeit und der Zeit der Publikation von Sein und Zeit eine
große Kontinuität hat. In Sein und Zeit betont Heidegger nachdrücklich, daß die
Geschichte im philosophischen Sinn nicht objektgeschichtlich verstanden werden
soll. Der Ort des Problems der Geschichte „darf nicht in der Historie als der Wissenschaft von der Geschichte gesucht werden“. 164 Denn die ursprüngliche Geschichtlichkeit im selbstweltlichen Vollzug des Daseins wird sowohl durch die
Logik der objektgeschichtlichen Begriffsbildung, als auch durch die Orientierung
an den historischen Ereignissen als spezifischen Objekten eines wissenschaftlichen Bewußtseins verstellt: „Selbst wenn die wissenschaftstheoretische Behandlungsart des Problems der ‚Geschichte‘ nicht nur auf ‚erkenntnistheoretische‘ (Simmel) Klärung des historischen Erfassens oder die Logik der Begriffsbildung historischer Darstellung (Rickert) abzielt, sondern sich auch nach der
‚Gegenstandsseite‘ orientiert, so wird in dieser Fragestellung die Geschichte
grundsätzlich immer nur als Objekt einer Wissenschaft zugänglich.“ 165 Dieser
Gedanke, daß der Sinn der Geschichte in philosophischer Hinsicht nicht in den
historischen Gegebenheiten als dem Gegenstand für eine wissenschaftliche Untersuchung ihren Ursprung hat, sondern in der selbstweltlichen Bewegtheit des
Daseins, ist der Hauptgedanke seiner Freiburger Vorlesungen.
In der Vorlesung vom Sommer-Semester 1920 – mit dem Titel: Phänomenologie
der Anschauung und des Ausdrucks – spricht Heidegger von der „Strenge der
Philosophie“, die „ursprünglicher als alle wissenschaftliche Strenge“ sein soll. 166
Diese philosophische Strenge besteht ihm zufolge darin, daß kein absoluter Ausgangspunkt des sicheren Wissens angenommen wird. „Wir haben […] weder ein
absolutes Bewußtsein, noch eine absolute Faktizität“; nur „das Selbst im Erfahren
seiner selbst ist die Urwirklichkeit“, die eine strenge Philosophie als ihren Aus-
164
Ebd.
Ebd.
166
M. Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, a.a.O., S. 174.
165
92
gangspunkt nehmen soll. 167 Damit hat er deutlich gemacht, daß die selbstweltliche Existenzweise des Daseins der Ausgangspunkt seines hermeneutischen Denkens ist.
Im Anhang A der Grundprobleme der Phänomenologie werden die „konkrete[n]
Ausdrucksgestalten des Geistes“ erwähnt, die der eigentliche Untersuchungsbereich der phänomenologischen Forschung sein sollen. 168 In diesem Gedanken
weist Heideggers Hermeneutik sowohl eine Kontinuität als auch Unterschiede zu
seiner früheren Philosophie auf.
Heidegger hat sich in seiner Habilitationsschrift sehr intensiv mit der Unterscheidung des Demonstrativpronomens in das „Demonstrativum ad sensum“ („ille currit“) und das „Demonstrativum ad intellectum“ („haec herba crescit in horto
meo“) bei Duns Scotus beschäftigt. 169 Dabei liegt der Hauptpunkt seiner Ausführungen darin, daß das Demonstrativum ad intellectum (haec) nicht primär auf die
Vorhandenheit eines Gegenstandes zurückzuführen ist, sondern eher auf die jeweilige Seinssituation des Geistes. Heidegger will in Anlehnung an diese Lehre
von Duns Scotus zeigen, daß die Sprache in ihrem lebensweltlichen Ursprung
notwendig den Charakter der Jeweiligkeit hat. Die Personalpronomen bei einem
wirklichen Gespräch sind ein typisches Beispiel dafür, daß jede Sprechsituation
auf das Sein eines individuellen Einzelwesens verwiesen ist. Zwar bleibt die Bedeutungsfunktion eines Pronomens bei jedem Einzelsatz identisch; aber die Beziehung auf eine bestimmte Person, die bei dem Gebrauch eines Pronomens intendiert ist, kann nicht identisch bleiben, da sie von der Situation abhängt. Mit
anderen Worten: „Die Bedeutungsfunktion“ von Pronomen „ist eine ganz bestimmte, die Erfüllung eine jeweils andere, so oft ein anderes Ich die Bedeutung
aktualisiert.“ 170 Dieser Gedanke läßt sich auch in Heideggers späterer Daseinsanalyse wiederfinden. Er will einerseits zeigen, daß die Phänomenologie „den
echten lebendigen Ursprung nicht in einem letzten leeren Allgemeinen [sucht],
sondern in diesen oder jenen konkreten Gestaltwesen“, die mit verschiedener Be167
Ebd., S. 174.
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 147.
169
M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 318.
170
Ebd., S. 319.
168
93
deutung erfüllt werden können. 171 Aber solche Pronomen wie „dies“ und „jenes“ sind „nicht wahllos aufgegriffen[e Wörter], sondern durch die rein deformative Kritik gewonnen“; sie sind durch das Da des Daseins „geoffenbarte Sinnbezüge“, „die als reine Ausdrucksgestalten des Lebens“ selbst bei jeder konkreten
Seinssituation gegeben sind; die Bedeutungsfunktion dieser Wörter ist also bestimmt, obwohl ihre konkrete Bedeutung je nach der spezifischen Lebenssituation
anders ist. 172
Allerdings ist Heideggers Analyse der Jeweiligkeit, die jede auf eine wirkliche
Lebenssituation bezogene Aussage kennzeichnet, in seiner Habilitationsschrift
hauptsächlich von einem erkenntnistheoretischen Interesse geleitet. In der Selbstanzeige zu seiner Habilitationsschrift weist er selber darauf hin, daß er im II. Teil
(Bedeutungslehre) versucht hat, „die prinzipiellen Thesen über Akt und Aktsinn
der Bedeutungs- und Erkenntnisakte, weiterhin die Grundformen von Bedeutung
überhaupt […] herauszuarbeiten“; während er im ersten Teil (Kategorienlehre)
„die allgemeinsten Gegenstandbestimmtheiten überhaupt“ dargelegt hat.173 Seine
hermeneutische Analyse der Ausdrucksgestalten des Lebens orientiert sich dagegen nicht primär an der Möglichkeit des Erkennens, nämlich wie der Erkenntnisakt in der jeweiligen Seinssituation geleistet wird, sondern an dem selbstweltlichen Vollzug des Daseins selbst; das Dasein ist nun nicht mehr als ein Subjekt
eines Erkenntnisaktes aufzufassen, sondern als ein Entwurf auf die Selbstwelt, der
durch die Unruhe des Lebens selbst motiviert wird.
171
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 147-148.
Ebd.
173
M.Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 412.
172
94
Exkurs: Schleiermachers Begriff des reinen Denkens und Heideggers Begriff
des Bedeutens
Den aufmerksamen Lesern wird sicherlich bekannt sein, daß zwischen dem Denken Schleiermachers und dem Heideggers ein großer Unterschied besteht; zwar
verweist für Schleiermacher das Verstehen ebenso wie für Heidegger notwendig
auf den einen konkreten, historischen und faktischen Lebenszusammenhang; er
ist aber zugleich derjenige Philosoph, der gerade aus der untrennbaren Verbindung von Wissen und Lebensinteresse, die Heidegger etwas zu voreilig als ein
untrügliches Indiz für den wesentlichen Zuhandenheitscharakter des Seienden für
das Dasein betrachtet, die philosophische Notwendigkeit erwiesen hat, das reine
Denken als ein fundamentales Strukturmoment jedes wirklichen Bewußtseins
anzunehmen. Das reine Denken, das nicht um des praktischen Interesses willen
geleistet wird, sondern um des Denkens selbst willen, soll nach Schleiermacher
„in jedem einzelnen schon in und an dem anderen Denken vorhanden“ sein. 174
Einerseits betont Schleiermacher – wie Heidegger – die notwendige Mitgesetztheit des praktischen Lebensinteresses beim Denken, die man auf das Verhältnis
Daseins zu seiner Umgebung zurückführen kann: „Sobald aber die Empfindungsund Begehrungszustände einen begleitenden Ausdruck gewinnen, der uns,
gleichviel jetzt, ob mit Recht oder Unrecht, nicht mehr als eine rein mechanische
Rückwirkung erscheint, so setzen wir voraus, daß diese Zustände vorgestellt werden, und dies schreiben wir dem geschäftlichen Denken zu, insofern diese die
Verhältnisse zwischen dem Einzelwesen und seinen Umgebungen insgesamt ausdrückt, sowohl wie sie sind, als wie sie angestrebt werden.“ 175 Ein geschäftliches
Denken kommt aber niemals ohne Verbindung mit dem künstlerischen Denken
einerseits und dem reinen Denken andererseits zustande.
Das künstlerische Denken ist bei jedem wirklichen Bewußtsein mitgesetzt, da
alles, was im Bewußtsein vorgestellt wird, die Tätigkeit des Daseins („das freie
174
175
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 24.
Ebd., S, 30.
95
Bilden und Vorstellen“) voraussetzt, durch die die „künstlerischen Hervorbringungen“ der Vorstellung aus den „Sinnesdaten“ ermöglicht werden. 176
Das reine Denken ist ebenfalls notwendig bei jedem wirklichen Bewußtsein mitgesetzt, da unser Bewußtsein stets von einer gewissen Unbestimmtheit begleitet
werden muß, welche auf etwas, worauf das Bewußtsein bei einem aktuellen
Denkvorgang ausgerichtet ist, verweist: das Seinsganze, in dem etwas unabhängig von meinem Willen und Lebensinteresse geschieht. Die Vorstellung selbst,
die durch die zusammenhängende Wirkung von dem geschäftlichen und dem
künstlerischen Denken zustande kommt, ist zugleich ein Beleg dafür, daß das
Dasein gerade in seinem Handeln aus dem praktischen Lebensinteresse auf die
Sache selbst ausgerichtet sein muß. Denn im aktuellen Denkprozeß hat diese
Ausrichtung gerade als ein dem praktischen Lebensinteresse dienlich seiendes
Wissen zugleich eine richtungsweisende Funktion, durch die im Inneren des Daseins ein Streben nach der Identität von der Vorstellung und dem vorgestellten
Seienden entsteht: „In dem Setzen der Gegenstände und des Vonaußenbestimmtseins aber ist schon eine Richtung auf das Wissen und auf das Bestimmen des
Seins. Denn das eben beschriebene Interesse des Subjekts hat es nur mit den Zuständen desselben zu tun, wie sie durch die momentanen Veränderungen des Außer-ihm bestimmt werden.“ 177
Diese Einsicht ins dialektische Wesen des menschlichen Bewußtseins ist von
grundlegender Bedeutung für das Wesen der Religion im Sinne Schleiermachers. 178 Unser Selbstbewußtsein muß gerade deswegen notwendig vom Abhän176
Ebd.
Ebd.
178
In seiner Kritik an E. Brunner (und F. Flückiger) weist D. Offermann darauf hin, daß Brunner
das unmittelbare Selbstbewußtsein irrtümlicherweise aus der Dialektik abgeleitet habe. Offermann zufolge zeichnet sich Brunners Schleiermacher-Interpretation wesentlich durch „eine geschlossene Gleichungskette“ der Begriffe aus, die der Religionsphilosophie Schleiermachers nicht
gerecht werden kann: „Gefühl (als ganz und gar der Empfänglichkeit angehörend) = völlige Passivität = Selbstbewußtsein (Indifferenzpunkt von Wissen und Wollen [Definition der Dialektik!])
= Bewußtsein der schlechthinnigen Abhängigkeit. Unter dieser Voraussetzung muß man ja in der
Aporie enden: ‚Gefühl war also zuerst etwas ganz Passives und Gegenstandsloses.; mit einem
Male wird es aber zum Denker, und zwar zum Denker hochabstrakter Gedanken‘.“ (D. Offermann,
Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 48; Vgl.; E. Brunner, Die Mystik und
das Wort, Tübingen 1924, S. 65 ff.) Offermann möchte dann seine Kritik an dieser unzulänglichen
Gleichsetzung der Begriffe dahingehend erweitern, daß das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl
in der Glaubenslehre nicht einfach aus der Analyse des Abhängigkeitsgefühls bzw. des Selbstbe177
96
gigkeitsgefühl begleitet werden, da das Worauf des Denkens voraussetzt, daß
alles, was in meinem aktuellen Bewußtsein vorgestellt wird, durch das Sein außer
mir mitbestimmt ist. In seiner Glaubenslehre weist er darauf hin, daß „das fromme Gefühl überhaupt nur zur Erscheinung kommt, d. h. wirkliches zeiterfüllendes
Selbstbewußtsein wird, indem es sich mit einem bestimmten Moment des sinnlichen Selbstbewußtseins einigt: so ist auch jede Beschreibung desselben die eines
bestimmten innern Gemüthszustandes, und dies ist die ursprüngliche Form“ des
frommen Gefühls. 179 Das fromme Gefühl ist in diesem Sinn ein Ausdruck, den
Schleiermacher in seiner Dialektik der notwendigen Selbstausrichtung jedes wirklichen Bewußtseins auf die Sache selbst gegeben hat: „Da aber jede Bestimmtheit
des sinnlichen Selbstbewußtseins auf ein bestimmendes außer dem Bewußtsein
zurückweist, welches Aeußere wegen des allgemeinen Zusammenhanges nur als
ein Theil des Gesammtseins auftritt“, muß das Selbstbewußtsein durch ein frommes Gefühl begleitet werden, das nur insofern fromm ist, solange das Bewußtsein
auf das gesamte Sein, in dem sich das im sinnlichen Bewußtsein vorkommende
Äußere befindet, bezogen ist. 180 Schleiermacher bringt also mit seinem Begriff
des Abhängigkeitsgefühls die Bezogenheit des Selbstbewußtseins auf das Bewandtnisganze des Seienden zum Ausdruck, und als Gefühl wird dieses Ausgewußtseins in der Dialektik abgeleitet werden darf. Dabei liegt die Pointe darin, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein nicht einfach mit dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit verwechselt werden darf: „[W]ir bezweifeln schon die Gültigkeit der oft wie selbstverständlich genannten
Beziehung ‚unmittelbares Selbstbewußtsein‘ = ‚Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit‘.“ (D.
Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 50)
M. E. kann man diesen Ausführungen im wesentlichen zustimmen, auch wenn eine solche strikte
Trennung der Glaubenslehre und der Dialektik allerdings problematisch ist: Das unmittelbare
Selbstbewußtsein bezieht sich, wie Offermann selbst richtig darstellt, einerseits auf das Bewußtsein des Einzelnen von seinem Sein-in-der-Welt, andererseits auf das von Bewußtsein seines
Sein-in-Gott. Es versteht sich von selbst, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein nur im zweiten
Sinn als das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit verstanden werden kann. (Vgl.; Ebd., S.
53 ff.) Man sollte aber m. E. dennoch davon ausgehen, daß die Glaubenslehre und die Dialektik
voneinander abhängen. Damit ist nicht nur gemeint, daß die Dialektik primär am Denken orientiert sei, während die Glaubenslehre primär am Religionsgefühl ausgerichtet sei, wobei das Denken und das Religionsgefühl nur zwei Seiten einer Medaille seien. Vielmehr besteht die eigentliche Pointe der Beziehung zwischen Dialektik und Religionsphilosophie darin, daß für Schleiermacher sowohl das Denken als auch die Religion wesensmäßig auf die gemeinschaftliche Lebensführung zurückzuführen sind; Schleiermacher weist dem Gespräch die religionsstiftende Funktion
zu, und dies ist der Grund, warum seine Glaubenslehre nur in bezug auf seine Dialektik richtig
verstanden werden kann.
179
F. Schleiermacher, Der Christliche Glaube, a.a.O., S. 119.
180
Ebd.
97
richtetsein des Bewußtseins auf die Sachrelation selbst deswegen bezeichnet, weil
die Beziehung auf das Sein notwendig die Form des Glaubens hat: das Ganze des
Seins kann niemals zum Gegenstand eines begrifflichen Denkens werden, sondern umgekehrt muß jedes Denken im Grunde auf die Selbstausrichtung des Daseins auf das Ganze des Seins selbst verwiesen sein, das im Selbstbewußtsein in
der Form eines unmittelbaren Gefühl des Seins bewußt ist.
Der entscheidende Unterschied zwischen Schleiermacher und Heidegger besteht
also darin, daß jener aus der kontingenten Struktur des Wissens selbst, daß es
notwendig mit einem etwa selbstweltlichen Vollzug des Daseins verbunden ist, die
Identität von Denken und Sein (Wissen) als Ideal jedes wirklichen Denkens ableitet; gerade wegen der Mitgesetztheit des Lebensinteresses beim Erkennen muß
das Dasein in seinem wachen Bewußtsein notwendig nach der Identität von Denken und Sein streben, da ohne diese Identität kein Erfolg der Handlung gewährleistet werden kann. Heidegger dagegen trennt das Gebiet der vertrauten Bedeutsamkeit im faktischen Leben abstrakt von dem Gebiet der Unbestimmtheit; er
berücksichtigt nicht, daß das Phänomen der Unbestimmtheit nicht schlechthin als
ein Zeichen der Unheimlichkeit des faktischen Lebens zu verstehen ist, sondern
eher als eine Motivation zum reinen Denken aufzufassen ist, die das Dasein bei
jeder konkreten Lebenssituation haben muß. Das Bedeuten, das im Heideggerschen Sinn auf den sorgenden Bezug des Daseins auf seine Umwelt – auf die Bedeutsamkeitsverhalte wie Um-zu, Wo-zu, Dazu und Um-willen – bezogen ist, läßt
sich zwar als ein fundamentales Moment jedes wirklichen Denkens verstehen; die
radikale Reduktion des verstehenden Vollzugs des Daseins auf die Bedeutsamkeitsverhalte, die als solche den Zuhandenheitscharakter des Seienden in der
Welterschlossenheit voraussetzt, ist aber widersinnig und entspricht nicht der
Vollzugsform des wirklichen Denkens.
Ferner darf man hierbei nicht ignorieren, daß sowohl das Denken als auch das
Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher nur in bezug auf das gemeinschaftliche
Leben richtig verstanden werden können. G. Scholtz weist darauf hin, daß die
Dialektik Schleiermachers nicht nur als eine Korrespondenztheorie verstanden
werden darf. Gegen Diltheys Auslegung der Dialektik, die einseitig die Dialektik
98
auf die antike Wahrheitstheorie von Platon und Aristoteles zurückführt, hebt
Scholtz hervor, daß für Schleiermacher „die Übereinstimmung des Denkens mit
sich selbst als Übereinstimmung der Denkenden, d. h. durch den Dialog sich realisiert“. Gleich „wie er in der Dialektik die fürs Erkennen konstitutive Rolle des
Gesprächs kaum heraushob“, hat Dilthey „die Dialektik als antike Korrespondenztheorie, nicht aber zugleich als moderne Konsensheorie aufgefaßt.“ 181
In der Tat ist es m. E. richtig, daß die Dialektik ohne diese Einbeziehung des
gemeinschaftlichen Zusammenwirkens der Denkenden nicht adäquat erfaßt werden kann. Ja, gerade hier liegt der Grund, warum die Religionsphilosophie
Schleiermachers erst dann richtig verstanden werden kann, wenn die untrennbare
Verbindung von der Glaubenslehre und der Dialektik oder von dem Gefühl und
dem Denken anerkannt wird. Es wurde schon in der Einleitung darauf hingewiesen, daß die Religion für Schleiermacher nur als Religionsgemeinschaft realisierbar ist. Die Religion, die als Ausdruck der frommen Erregungen im Einzelnen –
im Inneren des Einzelnen – auftritt, tritt in dem Moment ihrer sprachlichen Äußerung in die Situation des Dialoges zwischen den frommen Menschen in einer
Gemeinschaft. Und wie der Streit der Denkenden (Dialog) nicht nur auf das gemeinsame Sein, sondern auf die Verschiedenheit und Begrenztheit der Urteile
über dasselbe Sein zurückzuführen ist, so zeichnet sich jede Religion dadurch aus,
daß „die Beschaffenheit der frommen Gemüthszustände des Einzelnen nicht ganz
aufgeht in dem für die Gemeinschaft als gleichanerkannten“. 182 Die Religion hat
immer zugleich eine innere und äußere Dimension, genauso wie auch das Selbstbewußtsein sowohl in seiner inneren Bestimmtheit als auch in seiner Äußerung in
einer gemeinschaftlichen Lebensführung betrachtet werden kann: „Endlich wie
allerdings in den frommen Erregungen selbst wiewol zusammengehörig doch
unterschieden werden kann die innere Bestimmtheit des Selbstbewußtseins selbst
von der Aeußerung desselben: so pflegt man die Gliederung der mittheilenden
und fortpflanzenden Aeußerungen der Frömmigkeit in einer Gemeinschaft die
äußere Religion nennen, den Gesamtinhalt aber aller frommen Erregungen in den
181
182
G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1995, S. 257.
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 43.
99
Einzelnen nennt man dann die innere Religion.“ 183 Schleiermacher zufolge ist
aber die Trennung der inneren und der äußeren Religion nur eine Abstraktion:
„denn keines von beiden existirt als Religion für sich allein, und [so] wird es daher immer besser sein, dieser ganzen Terminologie zu entrathen.“ 184
Diese Einsicht in das dialektische Wesen der Religion, die darin besteht, daß das
gemeinschaftliche Leben für die Religion eine konstitutive Rolle spielt, findet
allerdings in der Heideggerschen Umweltanalyse keine Berücksichtigung. Seine
Analyse der Momente der Bedeutsamkeit des Daseins – die auf die Zwecke und
Absichten des Um-zu, Wo-zu, Dazu und Um-willen rekurriert – ist m. E. nicht
umfassend genug, um wirklich dem Phänomen der Bedeutsamkeit gerecht zu
werden. Sie ist schon deswegen als einseitig zu bezeichnen, weil hier die Möglichkeit des Sinnhabens überhaupt auf die praktische Zweckorientierung des Daseins reduziert wird.
Es stellt sich daher die Frage: Warum zeigt sich das Dasein seinsentschlossen,
wenn das Bewußtsein des Seins (Angst) als der Grund für die Abkehr des Daseins
von dem Sein (Verfallen in die Alltagswelt) zu verstehen ist? Es ist m. E. Heidegger nicht gelungen zu zeigen, warum das Dasein sich nicht nur des Seins bewußt
wird, sondern sich auf das Sein selbst ausrichtet. Schleiermacher stellt dagegen
mit seiner Erläuterung der Begriffe des reinen Denkens und des Abhängigkeitsgefühls überzeugend dar, daß die Selbstausrichtung des Daseins auf das Sein selbst
als eine kontingent-notwendige Form des wirklichen Bewußtseins verstanden
werden muß.
183
184
Ebd.
Ebd.
100
3. Die Religion und die existenzontologische Fundierung des Nichts: R. Ottos
Bedeutung für die Schleiermacher-Rezeption Heideggers
Nach der bisherigen Analyse stellt sich die Frage, ob man Schleiermachers Einfluß auf die Hermeneutik der Faktizität nicht überbewertet, wenn man Heideggers
Auseinandersetzung mit Schleiermacher als eine entscheidende Wende des Heideggerschen Denkens bezeichnet. Ist der große Unterschied zwischen Heideggers
und Schleiermachers Position nicht ein Beleg dafür, daß der Ursprung der Heideggerschen Hermeneutik nicht in der Religionsphilosophie Schleiermachers zu
suchen ist? Ich glaube, daß dieser Unterschied zwischen beiden Denkern selbst zu
einem großen Teil eine Folge des Schleiermacher-Studiums von Heidegger ist,
das allerdings nicht nur die Schriften von Schleiermacher, sondern auch die über
Schleiermacher umfaßt. Der Grund dafür, warum Heidegger unter dem Phänomen der Unbestimmtheit primär das Unheimliche des faktischen Lebens versteht,
ist sehr wahrscheinlich der, daß er in seiner frühen Freiburger Zeit unter dem Einfluß eines theologischen Denkers stand, der die Religionsphilosophie Schleiermachers um eine mystische Dimension erweitern wollte: Die Rede ist von Rudolf
Otto. An derselben Textstelle, in der Heidegger das unbestimmte Etwas schlechthin als ein Phänomen der Unheimlichkeit des Lebens interpretiert, findet sich eine
Formulierung, die man offensichtlich auf das theologische Denken von R. Otto
zurückführen kann. Heidegger spricht dort von dem „‚Etwas‘ im mysterium tremendum.“ 185
3.1. R. Ottos Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls
Das mysterium tremendum ist ein Begriff von Otto, den er als einen Ausdruck für
die Erfahrung des Absoluten verwendet. 186 Im Anhang B der Grundprobleme der
185
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 107.
R. Otto hat in seinem Hauptwerk Das Heilige insgesamt sechs Momente des Numinosen angegeben, die den wesentlich irrationalen, über die Grenze des rationalen Denkens hinausgehenden
186
101
Phänomenologie findet sich eine ergänzende Erläuterung dieses Ausdrucks; das
unbestimmte Etwas ist nach dieser Erläuterung in einem faktischen Lebenszusammenhang primär als das Unheimliche zu verstehen und soll gerade als solches
von der unbestimmten Dingheit (Formalisierung aus dem theoretischen Interesse)
abgegrenzt werden: „Dagegen ist das Etwas als Unbestimmtes in einem Bedeutsamkeitszusammenhang denkbar erfüllt, geladen mit Leben, so daß es einen drohenden, beängstigenden Charakter annehmen kann.“ 187 Es ist daher plausibel
anzunehmen, daß der Begriff mysterium tremendum von R. Otto sowohl für die
Schleiermacher-Rezeption Heideggers als auch für seine Begründung der existenzontologischen Hermeneutik nicht von geringer Bedeutung gewesen ist.
R. Ottos Hauptwerk Das Heilige, dessen erste Ausgabe 1917 erschien, ist mit
einem Untertitel versehen, in dem das eigentliche Anliegen dieses Werkes in aller
Kürze zusammengefaßt ist: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und
sein Verhältnis zum Rationalen. Der Ausgangspunkt dieses Werkes ist Schleiermachers Definition der Religion als eines frommen Abhängigkeitsgefühls, durch
die vor allem zum Ausdruck gebracht wird, daß das religiöse Erlebnis, in dem das
Absolute sich in seinem überrationalen Wesen zeigt, nicht zum Gegenstand des
begrifflichen Denkens gemacht werden kann. „Ein sehr bemerkenswertes Element solchen Erlebnisses hat Schleiermacher glücklich herausgegriffen“, indem
er „es das Gefühl der ‚Abhängigkeit‘ [nennt].“ 188
R. Otto zufolge ist aber „zweierlei [...] an dieser […] bedeutenden Entdeckung“ Schleiermachers „auszusetzen“. 189 Er weist zuerst darauf hin, daß „das
von ihm [Schleiermacher] eigentlich gemeinte Gefühl [...] nach seinem besonderen Wie eben nicht Abhängigkeitsgefühl im ‚natürlichen‘ Sinne des Wortes“ bedeutet. 190 Gemeint ist dabei, daß Schleiermacher das religiöse Erlebnis durch
einen Vergleich mit bekannten Abhängigkeitsgefühlen aus den anderen LebensUrsprung der Religion demonstrieren sollen: Das Kreaturgefühl als Reflex des numinosen Objektgefühls im Selbstgefühl, Myterium tremendum, numinose Hymnen, Ungeheuer, und das Sanctum
als numinoser Wert. (Vgl.; R. Otto, Das Heilige, München 1971. Siehe besonders die Erläuterung
der numinosen Momente des religiösen Lebens Kapitel 3 - 9.)
187
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 217.
188
R. Otto, Das Heilige, a.a.O., S. 9.
189
Ebd.
190
Ebd.
102
gebieten erörtert. „Schleiermacher unterscheidet“ zwar „selber nachdrücklich das
Gefühl frommer Abhängigkeit von allen anderen Abhängigkeits-gefühlen“, indem er es als ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl bezeichnet. 191 Aber das
ändere nichts daran, daß das fromme Gefühl selbst aus dem Verhältnis des Menschen zu übrigen innerweltlichen Seienden abgeleitet worden ist. Auf die „Abhängigkeitsgefühle […] auf anderen Gebieten des Lebens und Erlebens“, die als
„Gefühle eigener Unzulänglichkeit Ohnmacht und Gehemmtheit durch Verhältnisse der Umgebung vorkommen können“, ist also der eigentliche Sinn der Abhängigkeit zurückzuführen, in dem der Bezug des Daseins auf innerweltlich Seiendes zum Ausdruck kommt. 192 Die Besonderheit des religiösen Erlebnisses wird
aber nicht adäquat erfaßt, wenn man es aus der Analogie mit der Bezugsweise des
Menschen auf die Sachen (Abhängigkeit als Ausdruck einer Beziehung zwischen
Einzelwesen und Sachen) verstehen will: „Aber doch eben nur als das ‚schlechthinnige‘ von bloß bezüglichen: das heißt, er unterscheidet es nur als das absolute
vom relativen, als das vollendete von allem gradweisen, aber nicht durch eine
besondere Qualität. Er übersieht, daß wir eigentlich doch nur eine Analogie zur
Sache selber im Auge haben, wenn wir es Abhängigkeitsgefühl nennen.“ 193 Aus
diesem Grund ersetzt Otto das fromme Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers
durch ein neues Wort, das die besondere Qualität des religiösen Gefühls besser
zum Ausdruck bringen soll: das Kreatur-gefühl.
„Der zweite Fehler der Bestimmung Schleiermachers“ besteht nun nach Otto
darin, daß das Abhängigkeitsgefühl eigentlich nur eine Bestimmung des Menschen ist, die auf keine Art „den eigentlichen Inhalt des religiösen Gefühles selbst
bestimmen“ kann. 194 Otto zufolge ist das fromme Abhängigkeitsgefühl nur „ein
Selbstgefühl, das heißt ein Gefühl einer eigentümlichen Bestimmtheit meiner
selbst, nämlich meiner Abhängigkeit.“ 195 Die Begegnung mit dem Göttlichen sei
dadurch auf „einen Schluß“ zurückgeführt, „indem ich nämlich zu ihr [Abhän-
191
Ebd.
Ebd.
193
Ebd.
194
Ebd., S. 10.
195
Ebd.
192
103
gigkeit] eine Ursache außer mir hinzudenke“. 196 Ottos Einwand besteht nun darin,
daß dieser Vorgang eigentlich „völlig gegen den seelischen Tatbestand [ist]“; das
Selbstbestimmen des Menschen im Kreatur-gefühl geschieht nicht vor seiner Begegnung mit dem Göttlichen; man muß vielmehr davon ausgehen, daß das „‚Kreatur-gefühl‘ […] selber erst subjektives Begleitmoment und Wirkung ist“,
„gleichsam der Schatten eines anderen Gefühlsmomentes (nämlich der ‚Scheu‘)“,
das durch die vorhergehende Begegnung mit dem Göttlichen entstanden ist. 197
Zwar wird man nach Otto mit Schleiermacher insofern einverstanden sein, als daß
dieses Gefühlsmoment, das durch die Begegnung mit dem Göttlichen entsteht,
„selber zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht.“ 198 Aber die Scheu
vor dem Göttlichen, die ein durch die Begegnung mit dem Göttlichen entstandenes Gefühlsmoment ist, sei offensichtlich ursprünglicher als das Kreaturgefühl,
das Schleiermacher das Abhängigkeitsgefühl nennt und irrtümlicherweise als das
ursprüngliche religiöse Erlebnis verstehe: „Nur wo numen als praesens erlebt
wird, wie im Falle Abrahams, oder wo ein Etwas numinosen Charakters gefühlt
wird, also erst infolge einer Anwendung der Kategorie des Numinosen auf ein
wirkliches oder vermeintliches Objekts kann als deren Reflex das Kreatur-gefühl
im Gemüt entstehen.“ 199
Exkurs: Das Gefühl und das Urteil
R. Ottos Kritik, Schleiermacher habe mit seinem Begriff des Abhängigkeitsgefühls das religiöse Erlebnis des Göttlichen auf eine logische Schlußfolgerung
zurückgeführt, scheint m. E. sehr problematisch zu sein. Zwar weist Otto darauf
hin, daß das von Schleiermacher gemeinte Gefühl nicht das Abhängigkeitsgefühl
sei; damit meint er freilich, daß der Begriff Abhängigkeitsgefühl etwas Wesentliches erfaßt, auch wenn er kein glücklicher Ausdruck ist. Ottos Interpretation des
Abhängigkeitsgefühls bei Schleiermacher scheint mir aber weder in bezug auf das
196
Ebd.
Ebd., S. 10 f.
198
Ebd., S. 11.
199
Ebd.
197
104
schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl noch in bezug auf das relative Abhängigkeitsgefühl gerechtfertigt werden zu können.
A. Das Gefühl als allgemeines Lebenselement
Schon seine Behauptung, die Abhängigkeit sei eigentlich auf die Gefühle eigener
Unzulänglichkeit, Ohnmacht und Gehemmtheit durch Verhältnisse der Umgebung bezogen, zeigt, daß er den eigentlichen Hauptgedanken bei dem Ausdruck
Abhängigkeit im Sinne Schleiermachers übersieht. Das Abhängigkeitsgefühl ist
für Schleiermacher keineswegs ein Ausdruck der Unzulänglichkeit und Ohnmacht eines Handelnden, der sich etwa in einer ungünstigen Handlungssituation
befindet. Es ist vielmehr ein fundamentales Strukturmoment jedes wirklichen Bewußtseins und kommt daher sowohl dem frommen Bewußtsein zu (in der Form
des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl) als auch dem auf innerweltliche Dinge bezogenen Bewußtsein (in der Form eines relativen Abhängigkeitsgefühls, das
zugleich auf ein Freiheitsgefühl verweist).
G. Scholtz weist darauf hin, daß das Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher
nicht primär als ein zufälliges Begleitmoment des Lebens zu verstehen ist, das
nur bei einem vereinzelten Erkenntnis- bzw. Handlungsbewußtsein vorkommen
würde: „Aber das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist als Gefühl zugleich
Bewußtsein, nämlich ‚Selbstbewußtsein‘, genauer ‚unmittelbares Selbstbewußtsein‘. Darin liegt, daß dies Gefühl nichts Zufälliges, sondern ein ‚allgemeines
Lebenselement‘ ist, gegründet im ‚schlechthin gemeinsamen Wesen des Menschen‘.“ 200
Gerade in dieser Einsicht in das gemeinsame Wesen des Menschen liegt der
Grund, warum das Abhängigkeitsgefühl als ein Strukturmoment jedes wirklichen
Bewußtseins zu betrachten ist. Es ist sicher richtig, daß das Abhängigkeitsgefühl
in gewisser Hinsicht auf das Verhältnis vom Menschen zum Seienden verweist.
Daraus kann man in der Tat die Trennung von Selbst und Außenwelt ableiten, da
ohne diese Trennung auch kein Abhängigkeitsgefühl entstehen kann. Eine solche
200
G. Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, a.a.O., S. 129f..
105
Trennung wäre aber nicht möglich, wenn wir kein Bewußtsein davon hätten, daß
alles im Erkennen Getrennte doch zu einem gemeinsamen Seinsganzen gehört.
Auf diese kontingent-notwendige Struktur des Bewußtseins, daß nämlich das
Differenzbewußtsein stets vom Bewußtsein der Zusammengehörigkeit alles endlich Seienden zu einem Seinsganzen begleitet werden muß, ist für Schleiermacher
das Abhängigkeitsgefühl verwiesen: „Daß aber das Abhängigkeitsgefühl an sich
in Allen dasselbe ist, zugegeben die größere oder geringere Unvollkommenheit
nach dem Maaß der Entwicklung, dies ist darin gegründet, daß es an sich nicht
auf bestimmten Differenzen des Selbstbewußtseins beruht, sondern auf der Möglichkeit aller dieser Differenzen, d. h. auf dem Bewußtsein, welches schlechthin
das gemeinsamste ist und weit hinausgeht über das, wodurch die einzelne Persönlichkeit bestimmt wird.“ 201
Mit dem Begriff Abhängigkeitsgefühl drückt Schleiermacher eine fundamentale
Möglichkeit des Daseins aus, sich auf die Sache selbst auszurichten und dadurch
ein wirklich rationales Denken zu erlangen. Denn das Abhängigkeitsgefühl ist
notwendig nur in der Form der Anerkennung möglich, daß mein Sein selbst auf
eine objektive Sachrelation angewiesen ist, in der etwas unabhängig von meinem
Willen und Lebensinteresse geschieht. 202 Aber für ihn ist das Gefühl der Abhän201
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 125.
S. Holm weist darauf hin, daß für R. Otto das Problem, ob die Welt einen realen Grund hat,
nicht primär eine Sache der Erkenntnistheorie ist, sondern eine religiöse Frage darstellt. Nach
Holm geht Otto dabei von Fries’ Philosophie aus, die durch den Begriff Ahnung über die Grenze
des Kantischen Phänomenalismus zum realen Seinsgrund selbst hinauszugehen versucht: „Otto ist
der Ansicht, daß es der Naturwissenschaft gleichgültig sein könne, ob ihre Welt Vorstellung oder
Realität sei; aber für den Religiösen ist es nicht gleichgültig. […] Kant habe einen Fehlschluß
begangen, wenn er von der Apriorität der Erkenntnis auf ihre Idealität schließt und in die Sphäre
der praktischen Vernunft hinübergehen muß, um mit Hilfe von ihren Postulaten zu der Wirklichkeit zu kommen, die sowohl die Religion wie die Moral fordern. An dieser Stelle nimmt Otto
seine Zuflucht zu Fries’ Philosophie, die durch ihre Ahnung die Formen der Erkenntnis und die
Schale der Phänomene transzendiert. Wir begegnen hier dem bekannten Versuch der Romantik,
zu dem hinauszugelangen, was dahinter liegt, und es war ja gerade das Privilegium des Genies,
das ausführen zu können. Deshalb trat Otto auch der Behauptung Schleiermachers entgegen, daß
prinzipiell alle Menschen die Veranlagung für das Divinatorische besäßen.“ (S. Holm, ‚Apriori
und Urphänomen bei R. Otto‘, in: E. Benz (Hrsg.), Rudolf Ottos Bedeutung für die Religionswissenschaft und die Theologie heute, Leiden 1971, S. 74.) Auch ich nehme nicht an, daß Otto in
seiner Religionsphilosophie die Dimension der Transzendenz ignoriert hätte. Er hat z. B. in seinem früheren Werk Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie (1909) die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Glaube gestellt; ihm zufolge können
wir durch das „Wissen“, das „auf die sinnanschauliche Welt [geht]“, „nicht positive Erkenntnisinhalte über transzendente Wesenheiten“ gewinnen. (R. Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilo202
106
gigkeit gerade als solches nicht primär die Folge eines logischen Schlusses, der
als solcher freilich nicht als allgemeines Merkmal des menschlichen Lebens anzuerkennen wäre, sondern nur als ein Begleitmoment von einzelnen Bewußtseinsakten verstanden werden könnte, die nicht von jedem gleichermaßen vollzogen
werden. Darum beschränkt sich das Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher
nicht auf das Wechselverhältnis von einzelnen, differenten Seienden; es beruht
vielmehr auf der Möglichkeit aller dieser Differenzen, wie wir im obigen Zitat
gesehen haben. Und diese Möglichkeit ist für Schleiermacher nicht primär ein
geheimnisvolles mythisches Moment des Lebens, sondern eher eine kontingentnotwendige Existenzbedingung des Differenzbewußztseins selbst; jedes Differenzbewußtsein muß stets von diesem Bewußtsein des Seinsganzen begleitet sein.
B. Das Gefühl als Urteil und das Abhängigkeitsgefühl
Es spricht nichts dagegen, daß Abhängigkeitsgefühl in gewisser Hinsicht als eine
Form des Urteils zu verstehen ist. Der Satz: ‚Ich fühle mich abhängig vom einem
anderen Seienden‘, setzt schon voraus, daß mein Bewußtsein auf das Seiende
gerichtet ist, das als das von meinem eigenen Sein getrennte Seiende wahrgenommen bzw. erkannt wird. Das Urteil, das in der Form des Abhängigkeitsgesophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. 81f.) Er zeigt dann – ausgehend
vom Fries’schen Begriff ‚ahnen‘ – daß er dem Gefühl ein besonderes Erkenntnisvermögen zuweist: „Was aber das Begreifen nicht vermag, das vermögen wir im Gefühl. Das Gefühl gibt uns
zu Wissen und Glauben eine dritte Art von Erkenntnis, eine beide verbindende und zur Einheit
bringende: das ‚Ahnen‘.“ (Ebd., S. 83-84) Man kann also keineswegs behaupten, R. Otto hätte das
unmittelbare Realitätsbewußtsein im Gefühl nicht richtig erfassen können. Die Frage ist nur, ob er
in seinem Hauptwerk Das Heilige die richtigen Konsequenzen aus seinen früheren Überlegungen
gezogen hat. S. Holm weist auf die auffällige Differenz hin, die zwischen Das Heilige, dessen
erste Auflage 1917 erschien ist, und Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie besteht. „Das Buch über Kant und Fries ist von einem Philosophen geschrieben, und das religiöse Apriori wird hier im großen und ganzen philosophisch behandelt.
Otto fragt, was da sein muß, damit ein Zusammenhang im Dasein sein kann, und die Antwort ist:
Gott. Dies ist eine transzendentale Deduktion. Falls wirklich ein Zusammenhang im Dasein ist,
dann muß auch Gott sein.“ (S. Holm, ‚Apriori und Urphänomen bei R. Otto‘, a.a.O., S. 82.) Holm
zufolge ist eine solche philosophische Konsequenz in Das Heilige nicht zu finden: „Dagegen ist
es höchst unrein in dem Werk ‚Das Heilige‘. Hier ist es ein psychisches Datum, das ein Urdatum
genannt wird. Es ist ein Urphänomen, das nicht auf anderen Phänomenen beruht, sondern causa
sui oder von Gott ist. Es ist folglich nicht rein, es ist nicht formal, es ist nicht transzendental, sondern eher etwas in Richtung einer übersinnlichen Epiphanie. Es ist sozusagen ein corpus alienum
in der Welt der Relationen, wo es vor aller anderen Erfahrung ist, diese aber nicht bedingt, wie es
mit Kants reinem Apriori der Fall ist.“ (Ebd.)
107
fühls enthalten ist, ist somit bereits eine Erfassung einer Differenz, auch wenn das
Sein des anderen Seienden nicht mehr als ein völlig unbestimmtes Etwas wahrgenommen wird; mir wird zumindest die Trennung von meinem Sein und dem Sein
des Seienden außer mir vermittelt, so daß das Sein mir als ein Verhältnis von differenzierten Seienden erscheint. Man darf daraus aber nicht ableiten, daß das Abhängigkeitsgefühl bereits ein Wissen wäre. Ein Wissen ist nach der Definition in
der Dialektik Schleiermachers „ein von allen gleichmäßig produziertes Denken
unter der Form des Urteils“. 203 Das Urteil, das in meinem Abhängigkeitsgefühl
enthalten ist, kann also erst dann als ein Wissen gelten, wenn es durch eine theoretische Reflexion als ein Urteil anerkannt wird, das von jedem Individuum methodisch nachvollzogen werden kann. Ferner ist es beachtenswert, daß die Religion im Sinn Schleiermachers ein Begriff ist, der durch ein mit der phänomenologischen Reduktion sehr ähnliches Verfahren gewonnen wurde. Wie wir gesehen
haben, betont Heidegger nachdrücklich, daß die Religion im Sinn Schleiermachers als eine Epoché zu verstehen ist, die durch eine Art der phänomenologischen Reduktion als die ursprüngliche Form des Bewußtseins herausgebildet ist.
Schleiermacher selber weist in der Glaubenslehre darauf hin, „daß es Augenblikke giebt, in denen hinter einem irgendwo bestimmten Selbstbewußtsein alles
Denken und Wollen zurücktritt.“ 204 Das Bewußtsein in diesen Augenblicken,
denen gegenüber jedes am Handeln und Erkennen orientiertes, von der Selbstverständlichkeit der Existenz vom handelnden Subjekt einerseits und von der Welt
andererseits ausgehendes natürliches Bewußtsein eingeklammert ist, kann m. E.
zutreffend als eine phänomenologische Epoché bezeichnet werden. Darüber wird
im zweiten Teil noch ausführlicher zu handeln sein.
Was bedeutet es aber, daß alles Denken und Wollen hinter dem Selbstbewußtsein zurücktritt? Das bedeutet, daß das Bewußtsein nicht nur auf das Verhältnis
von differenzierten Dingen und Begriffen verwiesen ist, sondern von Anfang an
auch auf das unendliche ganze Sein, von dem mein endliches Sein abhängig sein
muß. So ist das Abhängigkeitsgefühl im primären Sinn ein Moment, indem nicht
203
204
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 249.
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 26.
108
meine Abhängigkeit von diesem oder jenem einzelnen Seienden zum Ausdruck
kommt, die lediglich Ausdruck der Wirkung eins Objektes auf ein reflektiertes
Handlungs- bzw. Erkenntnissubjekt ist. Im Abhängigkeitsgefühl erfahre ich mich
vielmehr in der Form des Einssein mit dem Sein oder besser; als ein Sein-imganzen-Sein, das stets das Bewußtsein von Differenz begleiten muß: „Mit diesem
Charakter reiner Abhängigkeit hängt aber auch zusammen, daß dasjenige, wovon
wir uns in den frommen Erregungen abhängig fühlen, nie kann auf eine äußerliche Weise uns gegenüberstehend gegeben werden. Denn was uns so gegeben
wird, darauf können wir uns der Gegenwirkung – die an sich immer möglich
bleibt, indem ein sinnlich wirkendes auch für sinnliche Rückwirkungen empfänglich sein muß – nur durch freiwillige Entäußerung begeben, und die Frömmigkeit
muß schon vorausgesetzt werden, um diese Entäußerung hervorzubringen.“ 205
Somit wird deutlich, daß das fromme Abhängigkeitsgefühl nicht auf ein Seiendes
bezogen ist, das uns auf eine äußerliche Weise als ein Objektsein gegeben ist.
Untersuchen wir nun, in welchem Sinn das Abhängigkeitsgefühl als ein Urteil
verstanden werden kann. Der Urteilssatz, daß ich mich von etwas abhängig fühle,
setzt zwei vermeintliche Gewißheiten voraus; die Gewißheit meines Seins und die
Gewißheit des Seins von etwas Anderem, das als das äußere Sein meinem eigenen Sein gegenübersteht. Diese Gewißheit in diesem Urteilssatz ist für Schleiermacher insofern nur eine vermeintliche Gewißheit, als daß die Trennung zwischen einem Ich und einem Objekt nicht eine selbstverständliche Gegebenheit im
ursprünglichen Selbstbewußtsein ist, sondern lediglich eine Folge einer Objektivierung durch die Selbstreflexion. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Einsicht, daß das Gefühl in dieser Form ein Begleitmoment des einzelnen Bewußtseinsaktes ist; das Gefühl kommt hier in der Form der Gewißheit des Seins von
einzelnen und differenzierten Seienden vor, also als ein Bewußtsein, das auf die
Differenz bezogen ist. Aber ein solches Gefühl, das auf die Differenz, auf den
Gegensatz von mir und dem Außensein bezogen ist, bildet für Schleiermacher
nicht den primären Sinn des Abhängigkeitsgefühls. Das „fromme Gefühl“ ist
„immer ein reines Gefühl der Abhängigkeit“, und „[bezeichnet] nie ein Verhältnis
205
Ebd., S. 33.
109
der Wechselwirkung“. 206 D. h.: Das Abhängigkeitsgefühl bezieht sich nicht primär auf die Gewißheit von der Existenz von dem Ich einerseits und dem Objektsein andererseits, die bei einem Urteilssatz ‚Ich fühle mich abhängig von etwas‘ vorausgesetzt wird. Es ist eher, wie wir bereits erwähnt haben, ein fundamentales Strukturmoment jedes wirklichen Bewußtseins, ohne das kein Bewußtsein von Differenz möglich ist. Mit anderen Worten: Das Bewußtsein davon, daß
alles endliche Seiende nur als ein Sein im ungeteilten Seinsganzen existieren
kann, begleitet jedes Bewußtsein einer Differenz; diese beiden Momente (Bewußtsein der Einheit und Bewußtsein der Differenz) sind sozusagen nur zwei
Seiten derselben Medaille. 207
206
Ebd., S. 32.
Bekanntlich versteht M. Frank das unmittelbare Selbstbewußtsein im Sinne Schleiermachers
als ein präreflexives Bewußtsein, das J. P. Sartre in seinem Versuch einer phänomenologischen
Ontologie als die ursprüngliche Bewußtseinsform darstellt. Besonders seine Kritik an G. Deleuze,
der „aus dem Geschehen der Differenzierung selbst – ohne transzendenten Rekurs auf eine gründende Einheit – das Faktum unseres Selbstbewußtseins“ zu erklären versucht, zeigt klar und deutlich, daß er unter der Präreflexivität die Ermöglichungsbedingung für eine solche Differenz versteht: „Offenbar ist Vertrautheit mit sich kein Sachverhalt, der dem Kriterium der Identität untersteht. Mithin gibt es Gründe, an der Ansicht festzuhalten, daß die Ermöglichungsbedingung der
Repräsentierbarkeit von Welt einerseits, der unaufhörlichen Verschiebbarkeit dieser Repräsentation andererseits nicht eine vor-bewußte ‚différence avec soi‘ (oder ‚différence interne‘, ‚différence
en soi‘) sein kann, daß es sich vielmehr um ein durchaus prä-reflexives (und mithin a fortiori prädifferentielles) Bewußtsein handeln muß.“ (M. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a.
M 1984, S. 481) Ferner weist Frank darauf hin, daß Deleuze die Seinsweise der Individualität
ichhaft auffaßt und damit die Möglichkeit, seine Theorie der Differenz ausgehend von einer Theorie des individuellen Selbstbewußtseins zu begründen, verspielt: „Alles, was Deleuze zur Seinsweise der Individualität sagt, wäre mit Schleiermachers und Sartres Auffassung versöhnbar, sofern Deleuze dem Individuum eine Theorie des individuellen Selbstbewußtseins zuordnete. Genau
das tut er nicht, weil er mit der von ihm bekämpften Repräsentationstheorie des Selbstbewußtseins
darin übereinkommt, daß Bewußtsein grundsätzlich ichhaft beschaffen sei“. (Ebd., S. 485)
Inwieweit Franks Rekonstruktion von Deleuzes Ansichten zutreffend ist, kann hier nicht untersucht werden. Allerdings hat er in Bezug auf Schleiermacher recht, wenn er ausführt, daß das
Selbstbewußtsein im Sinne Schleiermachers nicht primär als ein ichhaft beschaffenes Bewußtsein
zu verstehen ist. Zugleich muß man aber hinzufügen, daß der Begriff Präreflexivität für das richtige Verständnis des Begriffs Selbstbewußtsein irreführend sein kann. M. Frank weist selbst darauf hin, „daß das Reflexionsmodell dem Erfahrungsbestand von Selbstbewußtsein unangemessen
ist“; Frank zufolge „[orientiert sich Deleuze] am Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins“; und
er will dann infolgedessen die Frage, wie das Ego trotz seines „späkuläre[n] Doppel[s]“ nach der
reflexiven Selbstobjektivierung die „Identifikation der beiden unterschiedenen Momente“ leisten
kann, lediglich dadurch lösen, daß er „Selbstbewußtsein für einen speziellen Fall des Aufeinanderverwiesenseins zweier Elemente“ hält. (Ebd., S. 476f.) Es gibt nach Deleuze „keine (weder
hypothetische noch faktische) Identität“, die „das Differenzmoment, das jeder Wiederholung
anhaftet, unterdrückt: Jede Reflexion wäre mithin eine nicht-identische Spiegelung“. (Ebd.., S.
477)
Unübersehbar ist aber dabei, daß man bei der Gleichsetzung von dem unmittelbaren Selbstbewußtsein und dem präreflexiven Bewußtsein Gefahr läuft, einen fiktiven Anfangszustand des
Bewußtseins anzunehmen, in dem die Differenz von Selbst und Welt einerseits und von identisch207
110
bleibendem Ich und sich-wandelndem Ich nicht bewußt wäre. Frank interpretiert Deleuze vor dem
Hintergrund einer bestimmten Selbstbewußtseinstheorie, nach der das „Selbstbewußtsein“ „nicht
Bewußtsein von einem Ich (ob ‚Je‘ oder ‚Moi‘) [ist]“. Es ist vielmehr das „Bewußtsein (von)
Bewußtsein“. (Ebd., S. 486) Frank zufolge räumt Deleuze zwar zurecht ein, daß das Prinzip der
Individuation weder auf Je noch auf moi zurückzuführen ist. Dennoch bleibe er weiterhin am
Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins orientiert; die Bewegung von sich zu sich wird dabei
allerdings nicht als ein solcher Prozeß verstanden, in dem die Vertrautheit mit einem wiederholbaren Selbst entsteht; in der Bewegung von sich zu sich entsteht „die Individualität“, die „mit sich
vertraut [ist] in einer Weise, die sich gleichwohl von der Gewißheit der Reflexion und der Rekursivität der Repräsentation unterscheiden läßt; denn es handelt sich um die Vertrautheit eines
Nicht-Wiederholbaren, also auch nicht Instantanen (Gegenwärtigen).“ (Ebd., S. 480) Frank weist
nun darauf hin, daß „wir doch nicht darauf verzichten“ dürfen, eine Erklärung der Art und Weise
zu verlangen, wie das ‚unbestimmte, flottierende, kommunizierende, eingehüllt-enthüllende‘ (und
nicht-ichhaft organisierte) Individuum von sich Kenntnis hat“. (Ebd., S. 487). Die Antwort auf
diese Frage findet er im Begriff der Präreflexivität. Diese Idee ist scheinbar eine notwendige
Konsequenz aus der These, daß das Ich erst nach der Selbstreflexion vorkommt. Es muß ein „VorIch“ geben, und Deleuze bringt dieses Vor-Ich zwar mit dem Ausdruck „‚ante-moi et anteJe‘ zum Ausdruck, aber er nimmt dabei die Frage nicht ernst genug, „in welcher Weise es mit sich
vertraut ist, d. h. wie es von sich weiß.“ (Ebd.) Die Präreflexivität ist für Frank also ein Begriff,
der dem Selbstbewußtsein trotz des fehlenden Ichs als eines wiederholbaren Identitätsprinzips
doch auf eine andere Weise eine Identität gewährleisten soll.
Hier zeigt sich wohl der Einfluß seines akademischen Lehrers E. Tugendhat, der, ausgehend von
der sprachlichen Analyse des propositionalen Satzes, das Selbstbewußtsein als ein Vorbewußtsein
interpretiert: „Da das Selbstbewußtsein vorbewußt sein kann, braucht es sich auch nicht sprachlich zu artikulieren.“ (E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M.
1993, S. 26) Auch M. Frank hebt durch seine strenge Trennung des Selbstbewußtseins von dem
Ichbewußtsein hervor, daß das Selbstbewußtsein das „Bewußtsein (von) Bewußtsein“ ist, „das
seinerseits Bewußtsein von etwas Nichtbewußtem (z.B. einem Sachverhalt) ist“. Eine solche Definition des Selbstbewußtseins ist aber leer und unzulänglich. Es ist zwar richtig, daß das Selbstbewußtsein vorbewußt sein kann. Bewußtsein ist Bewußtsein von einem Sachverhalt, und das Ich,
das bei einem Satz wie Ich weiß, daß p (p = propositionaler Sachverhalt, der nach Tugendhat nicht
unbedingt intentional bzw. bewußt sein muß. Vgl.; Ebd., S. 21 ff.) als ein Subjekt gesetzt wird,
kommt erst nach der Selbstreflexion zum Bewußtsein; das Bewußtsein ist eigentlich ein Bewußtsein, daß p, aber nicht ein Bewußtsein vom Ich, das ein Bewußtsein, daß p hat. Aber ein solches
Bewußtsein, auf das das zweite Bewußtsein in der Form von Bewußtsein von Bewußtsein bezogen
sein sollte, ist doch ein Bewußtsein eines Sachverhaltes, dessen Intention auf die Außenwelt gerichtet ist und mithin das Bewußtsein von Einzelgegenständen (intentionales Gerichtetsein des
Bewußtseins auf etwas) nicht ausschließt, sondern impliziert; nur die Außenwelt ist hier nicht als
ein einzelnes Objekt gedacht, sondern als ein Sachverhalt, in dem ein unbestimmter (nicht unbewußter) Horizont mit impliziert ist. Es muß deutlich werden, daß das, was Tugendhat und Frank
als das Nichtbewußte im ersten Bewußtsein darlegen wollen, eigentlich nicht das Nichtbewußte
bedeutet, sondern ein Horizontbewußtsein, das ohne Bewußtsein von differenzierten Einzelgegenständen nicht möglich ist: „Das Bewußtsein von etwas, so hat sich jetzt gezeigt, ist propositional. Es bezieht sich nicht auf Objekte im üblichen Sinn dieses Wortes, sondern auf Propositionen.
Es hat oder impliziert die Struktur Bewußtsein[,] daß p.“ (Ebd., S. 21) Und falls man das
Selbstbewußtsein schlechthin als ein Bewußtsein von diesem Bewußtsein, daß p definiert, zeigt
dieses Selbstbewußtsein sich dann als ein reflektiertes Selbstbewußtsein; das Ich, das bei einem
Bewußtsein von einem Sachverhalt (Bewußtsein von p) latent bleibt, kommt erst im Bewußtsein
von diesem Bewußtsein (das Bewußtsein vom Selbst, das sich bewußt ist, daß p) zutage. Man
wird diesen Zirkel nun nie dadurch verlassen können, daß man einen unsinnigen Begriff wie das
präreflexive Selbstbewußtsein als eine vorbewußte Einheit des Seins in die Strukturanalyse des
Selbstbewußtseins einführt.
Das Selbstbewußtsein ist ein Bewußtsein von sich selbst, und verweist darum notwendig auf eine
reflexive Struktur. Auch wenn man das Selbstbewußtsein nicht als Bewußtsein von Ich, sondern
als Bewußtsein von Bewußtsein verstehen will, kann diese reflexive Struktur nicht vermieden
111
Daß das Bewußtsein notwendig auf das Seinsganze bezogen ist, ist m. E. nicht
nur ein Ausdruck eines mystischen Denkens. 208 R. Otto hat daher durchaus Recht,
wenn er im Gegenteil die fehlende mystische Dimension im Religionsbegriff
Schleiermachers beklagt. Es ist eher ein nüchternes Denken, das das Hinausgehen
über die Grenze des an der Differenz orientierten Denkens gerade dadurch ermöglicht, daß durch die Analyse des wirklichen Bewußtseinslebens das Bewußtsein vom Seinsganzen als ein kontingent-notwendiges Strukturelement jedes wirklichen Selbstbewußtseins dargelegt wird. Es gibt für Schleiermacher keinen rationalen Grund anzunehmen, das Bewußtsein sei schlechthin auf die Differenz bewerden. Schleiermachers Intention besteht nun m. E. nicht darin, diese reflexive Struktur des
Selbstbewußtseins als eine theoretische Abstraktion abzuwerten. Schleiermacher will sie vielmehr
als existenziale Grundstruktur jedes wirklichen Selbstbewußtseins deuten, die existenzial in dem
Sinn ist, daß das Selbst hier nie als ein reines Ich vorkommt, sondern als ein Sein-in (Sein-in-Gott
für ein frommes Selbstbewußtsein und Sein-in-der-Welt für ein relatives Selbstbewußtsein) bzw.
als ein Sein-bei, das ohne Bewußtsein von Differenz nicht möglich ist. Nach Schleiermacher kann
man zwei verschiedene Momente des Selbstbewußtseins unterscheiden, nämlich „ein Selbstbewußtsein von uns als den sich immer gleichbleibenden, und in besonderen wieder ein anderes von
uns als den von einem Augenblick zum anderen veränderlichen“; und „beides sind nur Bestandtheile jedes bestimmten Selbstbewußtseins, indem jedes ist ein unmittelbares Bewußtsein des
Menschen von sich als verändertem.“ (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31)
Was Schleiermacher mit diesem doppelten Bezug des Selbstbewußtseins meint, werden wir im 2.
Teil noch im Detail erörtern. Wichtig ist hier zunächst, um das Selbstbewußtsein gerade im Sinne
Schleiermachers verständlich zu machen, einzusehen, daß das Selbstbewußtsein weder als eine
vorbewußte Einheit des Seins noch als Bewußtsein von Bewußtsein definiert ist, sondern explizit
als ein Bewußtsein von sich selbst, das einerseits ein Bewußtsein von sich als dem stets identisch
Bleibenden und andererseits das Bewußtsein von sich als dem Veränderlichen ist. Und gerade
dieser doppelte Selbstbezug im Selbstbewußtsein ist die Ermöglichungsbedingung für die Selbstausrichtung des Daseins auf das Sein selbst. Denn „mit dem bestimmten Selbstbewußtsein ist
unmittelbar verbunden die Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas als mitwirkende Ursache, d. h. das Bewußtsein, es sei etwas von uns unterschiedenes, ohne welches unser Selbstbewußtsein jetzt nicht so sein würde“. (Ebd.) Schleiermacher hebt dann hervor, daß ein solches
Bewußtsein nicht ein Bewußtsein eines Gegenstandes ist, sondern ein Bewußtsein vom Selbst:
„jedoch wird deshalb das Selbstbewußtsein nicht Bewußtsein eines Gegenstandes, sondern es
bleibt Selbstbewußtsein, und man kann nur sagen, daß in dem Selbstbewußtsein der erste Bestandtheil ausdrücke das für sich sein des Einzelnen, der andere aber das Zusammensein desselben
mit anderen.“ (Ebd.)
Da ein Bewußtsein von sich nicht möglich ist, das nicht die Differenz voraussetzt zwischen sich
und der Außenwelt einerseits und zwischen dem eigenen aktuellen Bewußtsein als Subjekt und
dem ‚ich‘ als Gegenstand dieses Bewußtseins andererseits, ist die Annahme der Präreflexivität des
Selbstbewußtseins m. E. nicht akzeptabel für die Erklärung des Selbstbewußtseins. Vielmehr muß
man davon ausgehen, daß ein Bewußtsein von der Differenz notwendig von einem Bewußtsein
vom Seinsganzen begleitet werden muß. Und das Bewußtsein vom Seinsganzen ist nicht eine
präreflexive Einheit des Seins, die bei einem aktuellen Bewußtsein des Erkennenden und des
Handelnden zurücktritt; es ist vielmehr ein Strukturmoment jedes wirklichen Bewußtseins.
208
Vgl. dazu; „Er [Schleiermacher], der einzige wirklich große Theologe des Jahrhunderts, ist
gleichsam der Wurzelstock, von dem, wie Absenker, unterirdisch mit ihm verbunden, die ‚christliche Mystik‘ der modernen Theologie herkommt.“ (E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O.,
S. 4)
112
zogen. Schon die einfachsten Formen des Wissens, nämlich daß es außer mir etwas gibt, oder die einfachsten Formen des Handelns, ein unbestimmtes Ding zu
beobachten und zu ergreifen, setzen schon ein Bewußtsein davon voraus, daß ich
und dieses etwas außer mir zu einem gemeinsamen Seinsganzen gehören. Denn
ohne ein Bewußtsein davon, daß ich und das andere Seiende zu einem Seinsganzen gehören, kann ich keine Motivation entwickeln, auf das Seiende außer mir zu
wirken und somit in ein aktuelles Wirkungsverhältnis zu ihm zu treten.
Bekanntlich nennt Schleiermacher das Abhängigkeitsgefühl ein unmittelbares
Selbstbewußtsein, das vom Ich streng unterschieden werden muß: „Freilich sagt
man, das unmittelbare Selbstbewußtsein sei das Ich. Dieses bedeutet nun zweierlei. Entweder ist das Ich Objekt, und zwar nicht als Moment gesetzt, sondern abstrakt genommen, oder der Sich-selbst-bewußte ist das Ich. Das letztere ist dann
aber nicht das unmittelbare, sondern das reflektierte Selbstbewußtsein, wo man
sich selbst zum Gegenstande geworden ist.“ 209 Das Gefühl ist also ein Bewußtseinszustand, bei dem man sich in seinem unmittelbaren Einssein mit dem Seienden, in der Zusammengehörigkeit zu einem Seinsganzen von sich und dem Seienden findet, während die Trennung von dem Ich und dem Sein außer mir eine
gewisse Objektivierung durch die Selbstreflexion bedeutet. Das Abhängigkeitsgefühl als ein Urteil zu verstehen heißt in diesem Sinn, die Abhängigkeit als eine
Beziehung zwischen dem Ich als dem reflektierten Selbstbewußtsein und dem
Sein zu verstehen.
Somit ist nun deutlich, daß die Gewißheit von jenem Urteilssatz, ich fühle mich
abhängig von anderen Seienden, für Schleiermacher nur eine vermeintliche Gewißheit ist, wenn das Ich als ein vom anderen Sein getrenntes Sein verstanden
wird. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, Schleiermachers These eines
notwendigen Zusammenhanges von Wesen und Relation zu berücksichtigen, die
Schleiermacher durch seine Beschäftigung mit Platon gewonnen hat. Die Einsicht,
daß „jedes seiende Wesen durch seine Relationen auch in gewissem Sinne ein
Nichtseiendes wird“, führt Schleiermacher zu einer besonderen Urteilslehre, nach
der das Sein, das im Denken als Subjekt gesetzt ist, zugleich als ein Nichtsein zu
209
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 287f.
113
verstehen ist. 210 Jedes „Urteil“ wird nach Schleiermacher dadurch vollzogen, daß
„das Prädikat außer dem Subjekt gesetzt“ wird, also „das Nichtsein des Subjekts“ behauptet wird. 211 Das bedeutet vor allem: „Das Subjekt weist uns zurück
auf einen ganzen vorhergehenden Prozeß von Begriffsbildung, der mit der Fixierung des Gegenstandes angefangen hat […].“ 212 Daraus folgt, daß sowohl das Ich
als auch die Außenwelt in gewissem Sinn als das Nichtseiende aufzufassen sind,
da beides nur Folgen einer vorhergehenden Fixierung des Gegenstandes sind (das
Ich kommt nur als ein Sein-in vor, also als ein mit dem Ausdruck in-der-Weltseiend prädiziertes Subjekt). Das Ich ist also nicht das absolute Sein, da das absolute Sein nach Schleiermacher ein solches Sein ist, von dem „nichts […] prädiziert werden kann“. Das ‚Ich‘ ist daher lediglich ein Produkt eines Urteils, das aus
der vorhergehenden Fixierung des Gegenstandes folgt. 213 Auch wenn dieser Gedanke höchst spekulativ anmutet, so kann man dennoch einen ähnlichen Gedankengang auch bei den modernen Denkern finden, die zwar von der Husserls Phänomenologie ausgehen, aber doch Husserls Übergang zu einem transzendentalen
Idealismus durch die Einführung des Begriffs eines reinen Ichs als dem absoluten
Sein entschieden ablehnen: J.-P. Sartre, A. Gurwitsch und – letztlich auch – M.
Heidegger u. a. Dieses Problem werden wir im dritten Teil noch im Detail behandeln.
Hier soll nur darauf hingewiesen werden, daß das Abhängigkeitsgefühl, verstanden als Folge eines logischen Schlusses, nichts mit der Religion im Sinn Schleiermachers zu tun hat. Ein solches Gefühl, das in der Form eines Urteils über die
Gewißheit eines bestimmten Seienden vorkommt, ist für Schleiermacher kein
frommes Abhängigkeitsgefühl. Ihm zufolge soll „jedes Moment des Erkennens,
ohne Unterschied des Gebietes und des Gegenstandes, von einem Gefühl begleitet“ sein, „welches die Gewißheit des Erkennenden von dieser bestimmten Sache
ausdrückt“; „dies aber“ darf nicht als ein „frommes“ bezeichnet werden, „indem
210
G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 266.
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 205
212
Ebd.
213
Ebd., S. 209
211
114
es zugleich die Neigung des Erkennenden zu dem bestimmten Gegenstand ausspricht, und also von dieser abhängt.“ 214
C. Das Kreaturgefühl und das Abhängigkeitsgefühl: Urteil und Urteilsenthaltung
Ferner wird Ottos Versuch, das Abhängigkeitsgefühl durch das Kreaturgefühl zu
ersetzen, um das religiöse Erlebnis von der Rationalität des Denkens zu befreien,
von einem Mißverständnis vom Wesen des Gefühls und des Urteils geleitet. Otto
behauptet, daß das, was Schleiermacher mit dem Abhängigkeitsgefühl zum Ausdruck bringt, eigentlich als Kreaturgefühl zu verstehen ist. Diese Behauptung
impliziert dann aber auch eine weitere Behauptung, nämlich daß das Abhängigkeitsgefühl als eine Form des Urteils zu verstehen ist, das eigentlich auf unser
Verhältnis zu dem gegenständlich Seienden zurückzuführen ist. Hierin liegt für
ihn der Grund, warum das Abhängigkeitsgefühl für die Definition des Wesens der
Religion unangemessen ist. Er möchte durch diese Ersetzung des Abhängigkeitsgefühls durch das Kreaturgefühl die rationalen Elemente, von denen die Religionsphilosophie Schleiermachers nicht frei ist, beseitigen; das religiöse Erlebnis,
das Schleiermacher seiner Ansicht nach unangemessen mit dem Begriff Abhängigkeitsgefühl zum Ausdruck bringen wollte, soll nun vom Standpunkt des mystischen Denkens aus verstanden werden.
Die Frage ist allerdings, ob wirklich ein prinzipieller Unterschied zwischen dem
Abhängigkeitsgefühl und dem Kreaturgefühl besteht. Otto nennt offenbar zwei
Gründe dafür, warum das Abhängigkeitsgefühl durch das Kreaturgefühl ersetzt
werden müsse. Der erste Grund liegt darin, daß das Abhängigkeitsgefühl eigentlich das Resultat einer logischen Schlußfolgerung sei, das als solches keineswegs
dem genuin religiösen Erlebnis entsprechen kann; und der zweite Grund ist, daß
das Gefühl, das in der Form von Abhängigkeitsgefühl bzw. Kreaturgefühl vorkommt, nur ein abgeleitetes Gefühl ist, dem ein echt religiöses Gefühl vorausgehen muß: das mysterium tremendum, das durch die Begegnung mit dem Numinosen erzeugt wird.
214
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 29.
115
Folglich stellt sich dann aber die Frage, wie das Bewußtsein vom mysterium tremendum selbst möglich ist? Was ist die Bedingung dafür, daß wir uns des mysterium tremendum bewußt werden? M. E. ist ein Bewußtsein des mysterium tremendum, das nicht das Wirkungsverhältnis zwischen mir und dem mir äußerlich
Seienden voraussetzt, nicht möglich. Damit soll nicht gesagt sein, daß ein spezifisches Seiendes vorausgesetzt werden muß, ohne welches das mysterium tremendum nicht möglich ist. Ich meine nur, daß das mysterium tremendum nur als das
Unbegreifliche möglich ist, das freilich ein Bewußtsein davon voraussetzt, daß
etwas begreiflich ist. Ohne Verständnis davon, daß ich etwas begreife und begreifen kann, auch wenn es noch nicht ausreichend bestimmt ist, kann ich nicht ein
Bewußtsein vom mysterium tremendum haben. Denn das Bewußtsein vom mysterium tremendum ist nur als eine Folge eines Urteils möglich, nämlich daß ich
etwas nicht verstehen kann, weil es meinen Verstand prinzipiell übersteigt. Sonst
ist das Moment des tremendum nicht auf das mysterium zurückzuführen, sondern
auf etwas Bedrohliches, vor dem Ich Angst bzw. Furcht habe. Und daß irgendein
Seiendes als etwas Bedrohliches bewußt wird, bedeutet natürlich wiederum nicht,
daß es etwas Unbegreifliches ist.
Auch das Kreaturgefühl ist eigentlich nur eine Folge des Urteils, durch das der
Charakter des Verhältnisses zwischen meinem Sein und dem Numinosen auf eine
bestimmte Weise entschieden wird. Denn das Bewußtsein davon, daß mein eigenes Sein nicht von mir selbst in die Welt gebracht worden ist, ist nicht möglich
ohne eine Reflexion über die Frage, woher mein eigenes Sein letztlich stammt.
Das Bewußtsein von der Geschöpflichkeit meines eigenen Seins entsteht nicht
vor, sondern erst nach dem Bewußtsein davon, daß sich mein Sein unabhängig
von meinem Willen je schon in der Welt befindet. Ferner wird das Wesen des
unendlichen Seins beim Kreaturgefühl im Sinne Ottos als das Irrationale (Gott
als Schöpfer) verstanden bzw. beurteilt (in der Form eines abgeleiteten zweiten
Urteils, das aus dem ersten Urteil, daß sich mein Sein unabhängig von meinem
Willen je schon in der Welt befindet, folgt). Somit wird das Absolute bzw. das
unendliche Sein von der Dimension des rationalen Denkens getrennt.
116
Eine solche radikale Trennung zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen
ist dem Religionsverständnis von Schleiermacher fremd. Aber das bedeutet nicht,
daß das Wesen der Religion bei Schleiermacher durch ein rationales Denken vollständig logisch bestimmt wird. Zwar setzt das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl nicht notwendig die Anerkennung Gottes als eines Schöpfers voraus, falls
man unter dem Schöpfer irgendein Wesen versteht, dessen Erfahrung ein irrationales Verständnis vom Ursprung der Welt erfordert. Aber das Urteil darüber, ob
Gott als ein irrationales Wesen erfahrbar ist, ist bei einer Verwendung des Konzeptes des Abhängigkeitsgefühls nicht negativ entschieden, sondern eher enthalten. Die Möglichkeit, daß Gott in einer positiven Religion mit dem mystischen
Weltverständnis verbunden sein kann, ist bei Schleiermacher gar nicht ausgeschlossen.
Schleiermacher selber verbindet das Abhängigkeitsgefühl mit dem Begriff der
Schöpfung, die aber in einem rein religiösen Sinn verstanden werden soll. Unter
der Schöpfung darf man nach Schleiermacher nicht einen Akt der Freiheit verstehen, der in Analogie zu dem auf die Vorhandenheit der Welt bezogenen menschlichen Aktbewußtsein gebildet wird: „In Gott können bei der Schöpfung keine
Freiheit bestimmende Gründe gesetzt werden, weil er selbst in keinen Zusammenhang mit etwas anderem gesetzt ist.“ 215 Die Schöpfung bezieht sich nicht auf
einen möglichen Willensakt Gottes, der lediglich eine Analogisierung Gottes mit
der Existenz des endlichen Daseins bedeuten würde. Für Schleiermacher ist „die
Schöpfung der Welt“ vielmehr „die reine Offenbarung“ von Gottes „Wesen“, in
der sich alles Endliche, zu dem sich das Dasein in seinem Bewußtsein der Freiheit verhält, in seiner Abhängigkeit vom Unendlichen zeigt. 216
Das schlechthinnige Abhägigkeitsgefühl, das Otto als ein vom Bezug des Daseins zu dem endlichen Seienden abgeleitetes Phänomen versteht, hat also bei
Schleiermacher eine doppelte Funktion. Einerseits wird der Seinscharakter des
weltlich Seienden, zu dem sich das rationale Denken verhält, anerkannt, da die
Welt als Offenbarung des Wesens von Gott nicht als bloßes Nichts verstanden
215
216
Ebd., S. 147.
Ebd.
117
werden kann. Andererseits läßt sich das, was durch das rationale Denken als wahr
erkannt wird, im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl nicht verabsolutieren;
alles, was sich in seiner weltlichen Vorhandenheit zeigt, ist nicht schlechthin das
Wesen des Gottes selbst, sondern das Offenbarwerden seines Wesens.
Bei Schleiermacher ist die Beziehung zwischen Gott und Welt überhaupt nicht
als die zwischen Sein und Nichts verstanden, wie Otto in seinem mystischen
Denken des Numinosen geltend machen will. Scholtz hebt in seiner Darstellung
der Religionsphilosophie Schleiermachers besonders hervor, daß die Frömmigkeit (Beziehung auf Gott) und das Freiheitsbewußtsein (Beziehung auf die Welt)
bei Schleiermacher nicht schlechthin als Gegensätze verstanden werden: „Da wir
aber aus relativer Abhängigkeit nicht herauskommen und auch unsere Freiheit
nicht uns selbst verdanken, ist unser Grundgefühl das der schlechthinnigen Abhängigkeit. Daraus folgt, daß die Frömmigkeit nicht das Freiheitsbewußtsein ausschließt, sondern vielmehr voraussetzt.“ 217 Bei Otto ist die Religion vom Weltbewußtsein radikal getrennt, so daß die rationalen Momente des Bewußtseins im
Kreaturgefühl lediglich in ihrer radikalen Nichtigkeit empfunden werden. Im Gegensatz dazu ist die Religion bei Schleiermacher auf die Möglichkeit verwiesen,
die Frage nach dem Wesen der rationalen Wahrheit jenseits von formal-logischen
Gegensätzen wie Sein und Nichts zu stellen.
3.2. Das Heilige von R. Otto und dessen Bedeutung für die SchleiermacherRezeption Heideggers
Ottos Kritik an Schleiermacher hat auf Heideggers Schleiermacher-Rezeption
einen großen Einfluß ausgeübt. Es steht außer Zweifel, daß sich Heidegger in
seiner frühen Freiburger Zeit mit der Religionsphilosophie von Otto beschäftigt
hat. Dafür gibt es mindestens zwei philologische Belege. Der erste Beleg ist ein
Brief von Husserl an Otto vom 5. März 1919, in dem Husserl eine empfehlende
Stellungnahme für seinen Schüler H. Ochsner abgibt. Husserl berichtet, wie er
Ottos Werk Das Heilige erhalten hat und welchen Eindruck er davon bekommen
217
G. Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, a.a.O., S. 130.
118
hat: „Durch H. [Heidegger] und O. [Ochsner] […] wurde ich im letzten Sommer
auf Ihr Buch über das Heilige aufmerksam und es hat stark auf mich gewirkt, wie
kaum ein anderes Buch seit Jahren. Gestatten Sie, daß ich meinen Eindruck so
fasse: Es ist ein erster Anfang für eine Phänomenologie des Religiösen, mindestens nach all dem, was eben nicht über eine reine Deskription und Analyse der
Phänomene selbst hinausgeht.“218 Der zweite Beleg sind Heideggers Vorarbeiten
zur Rezension von Rudolf Otto, Das Heilige, 1917, die ein Teil von Heideggers
Ausarbeitungen und Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19 sind.
Hier nennt Heidegger zwei prinzipielle Probleme, die im Ottos Werk behandelt
werden: „1. Problem des historischen Bewußtseins“, und „2. Problem des Irrationalen“. 219 Beide hängen voneinander ab. Das erste Problem betrifft das „Bewußtsein personaler Existenz und erfüllter originärer Lebenssphäre“, welches auf
die „durchlaufende herrschende Konstituierungsform“ des lebendigen Bewußtseins zurückzuführen ist. Das zweite Problem bezieht sich dann auf „die Konstituierung einer originären Objektivität“, durch die das Irrationale (das Heilige)
„nicht als theoretisches Noema – auch nicht als irrational theoretisches – “ erlebt
wird, „sondern als Korrelat des Aktcharakters ‚Glaubens‘, welcher selbst nur aus
dem grundwesentlichen Erlebniszusammenhang des historischen Bewußtseins
heraus zu deuten ist.“ 220 Das Bewußtsein personaler Existenz und erfüllter originärer Lebenssphäre ist also nicht nur in dem Sinn ein historisches Bewußtsein,
daß es „bezüglich der […] sich andrängenden Welten“ irgendwelche rationalen
Verstehensmöglichkeiten schafft, die zugleich als Möglichkeiten zur Bewältigung
der selbstweltlichen Lebensführung vorkommen. 221 Sondern nach Heidegger ist
auch und gerade das Heilige für Otto das eigentliche und bestimmende Moment
des Bewußtseins, das zum grundwesentlichen Erlebniszusammenhang des historischen Bewußtseins selbst gehört.
218
C. Ochwadt / E. Tecklenborg, Das Maß des Verborgenen, a.a.O., S. 159.
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen, a.a.O., S. 332 f.
220
Ebd.
221
Ebd., S. 332.
219
119
3.2.1. Heideggers Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls
Heideggers Bemerkungen zu Das Heilige zeigen, woher Heidegger die eigentlichen Ansätze seiner Kritik an der Glaubenslehre Schleiermachers entnommen hat.
Heidegger hat seine Kritik an der Glaubenslehre erst einige Monate nach seinen
Bemerkungen zur zweiten Rede verfaßt, in denen der phänomenologische Charakter der Religionsphilosophie von Schleiermacher nachdrücklich betont wurde; die
Religionsphilosophie Schleiermachers wurde hier durchaus positiv eingeschätzt. 222 Das Heilige von Otto erschien 1917, also im gleichen Jahr, in dem
Heidegger seine Bemerkungen zur zweiten Rede und zu §§3-4 der zweiten Auflage der Glaubenslehre geschrieben hat. Heideggers Vorarbeiten zur Rezension von
Das Heilige folgen unmittelbar nach seiner Kritik an der Glaubenslehre, in der –
gerade wie in Das Heilige – die seinstheoretische Seite des Abhängigkeitsgefühls
bemängelt wurde. Schon hieraus läßt sich wohl entnehmen, daß Heidegger sehr
wahrscheinlich erst nach der Lektüre von Das Heilige die Ansätze für seine Kritik
an der Glaubenslehre gewonnen hat.
Gerade wie Otto findet Heidegger den wesentlichen Mangel an Schleiermachers
Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls darin, daß er die Beziehung
des Menschen zu Gott „zu sehr in einer seinstheoretischen – spezifisch die Naturrealität betreffenden – Richtung [objektiviert].“ 223 Das Heilige von Otto grenzt
sich dadurch von dem Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers ab, daß es nicht als
theoretisches Noema – auch nicht als irrational theoretisches – aufgefaßt wird.
„Die Aufpfropfung des Irrationalen auf das Rationale“, die beim Begriff des
schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls zu finden ist, „muß vermieden und bekämpft werden.“ 224 Ferner ist auch der Versuch von Schleiermacher, „unser lebendiges Bewußtsein“ als „ein stetiges Sichfolgen und Sichdurchdringen von
Situationen“ zu deuten, für Heidegger ebenfalls „zu sehr naturtheoretisch“, da
hier die Abhängigkeit des Daseins vom Sinnzusammenhang einer kulturellen
222
Vgl.; „One sees the beginning of Heidegger’s critique taking shape in an extended note on
Schleiermacher’s The Christian Faith §§3-4, which postdates the avobe selective reading of the
Second Speech (by all accounts in the summer of 1917) by at least several months.“ (T. Kisiel,
The Genesis of Heideggers Being and Time, a.a.O., S. 92).
223
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 331.
224
Ebd., S. 333.
120
Lebenswelt überbetont wird. 225 „Die religiöse Erlebniswelt braucht ihre Selbstgewißheit sich nicht durch eine Messung an kulturkritischen ‚Gesetzlichkeiten‘ und Ideen zu sichern“, die das Reduktionsverfahren unseres lebendigen Bewußtseins auf einen historischen, aber zugleich in seinem Zustandscharakter erblickten Sinnzusammenhang einer Kultur voraussetzt: „Es muß […] das prinzipielle Phänomen der Eigenbeständigkeit originärer Gewißheitsgebungen herausgestellt und in seiner jeweilig abgesteckten Bewußtseinsherrschaft dargetan werden“, wenn man das religiöse Erlebnis im vollen Umfang als einen Ausdruck des
wirklichen Bewußtseinslebens selbst verstehbar machen will. 226
Hierin liegt der Grund, warum Heidegger die Unbestimmtheit von etwas primär
als ein Zeichen der Unheimlichkeit des Lebens versteht. Heidegger will, ausgehend von Ottos Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls, das
religiöse Erlebnis streng vom rationalen Denken unterscheiden. Daß das Heilige
nicht als theoretisches Noema – auch nichts als irrational theoretisches – zum
Problem gemacht werden darf, bedeutet in diesem Sinn, daß die Religion auf eine
Dimension des Bewußtseinslebens verwiesen sein muß, in der alles Rationale als
grundsätzlich nichtig erscheint. Das Etwas, das als unbestimmt erlebt wird, bleibt
ein Element der rationalen Sinn-Relationen, welches in einem Bezug zu dem rationalen Verständnis der Welt steht. Dagegen ist das Etwas, das als unheimlich
erlebt wird, auf das genuin religiöse Erlebnis verwiesen, welches dem rationalen
Denken schlicht nicht zugänglich ist. „Das ‚Numinose‘“, das Otto als „das Sonderelement im Heiligen minus des sittlichen und rationalen Momentes“ darlegt,
ist also für Heidegger viel geeigneter als Ausdruck des religiösen Erlebnisses als
das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl im Sinne Schleiermachers, das seiner
Ansicht nach zu sehr im Rahmen einer objektivistischen Seinstheorie verbleibt. 227
225
Ebd., S. 331.
Ebd., S. 333.
227
Ebd.
226
121
3.2.2. Die religiöse Betrachtung und die Unheimlichkeit des Seins
Man darf freilich nicht annehmen, daß Ottos Kritik am Abhängigkeitsgefühl Heidegger zu einer generellen Abwertung der Religionsphilosophie Schleiermachers
geführt hätte. Otto selber bleibt trotz seiner Kritik an Schleiermacher im großen
und ganzen dem Grundgedanken Schleiermachers treu, indem er nicht im theoretischen Denken, sondern im Gefühl die eigentliche Instanz für die Wesensbestimmung des religiösen Erlebnisses findet. Er möchte durch die Ersetzung des
Abhängigkeitsgefühls durch das Kreaturgefühl die Religionsphilosophie Schleiermachers nicht ablehnen, sondern radikalisieren, um dadurch die mystische Dimension des religiösen Erlebnisses noch stärker hervorzuheben.
In der Einleitung wurde gezeigt, daß Heidegger die religiöse Betrachtung im
Sinne Schleiermachers – die Zurückgezogenheit des Daseins von äußerer Wirksamkeit – als das eigentliche Wesen des religiösen Erlebnisses betrachtet. Die
religiöse Betrachtung, die Heidegger in seinen Bemerkungen zu der zweiten Rede
als eine Art der phänomenologischen Epoché – Einklammerung des an der
Vorhandenheit orientierten natürlichen Weltbewußtseins – versteht, wird dann in
seinen Bemerkungen zu §§3-4 der Glaubenslehre zugleich als eine spezifisch
religiöse Selbstbestimmung des Daseins in seinem religiösen Gemütszustand verstanden: das Bewußtsein des „Sichselbstnichtsogesetzthaben[s]“, das allerdings
das Zurückgezogensein des Daseins von äußerer Wirksamkeit voraussetzt.
228
Phänomenologisch betrachtet ist die Existenz des Selbst, verstanden als ein Gewordensein in einem konkreten Lebenszusammenhang, bei dem religiösen Bewußtsein nicht vorausgesetzt. Das Dasein leistet in der religiösen Betrachtung
eine Art der phänomenologischen Reduktion; die Existenz des Selbst (des alltäglichen Selbstseins des Daseins) wird im Verfahren der Epoché zusammen mit
dem Vorhandensein der Welt eingeklammert. „Erfüllung und Erfülltsein“ vom
personalen Bewußtsein „können phänomenologisch […] nicht als Gewordensein,
überhaupt nicht als seinsmäßig gedeutet werden“; und hierin liegt der eigentliche
Sinn der religiösen Betrachtung, dem der Begriff der schlechthinnigen Abhängigkeit nicht gebührend Rechnung trägt. Das Wesen des Daseins ist keineswegs das
228
Ebd., S. 332.
122
„Sichselbstsetzenkönnen“, das im Abhängigkeitsgefühl in der Form von Sichselbst-setzen-als-abhängig-von-etwas durch die logische Schlußfolgerung zum
Ausdruck kommt. 229 „Sein eigenster Urgrund ist zugleich und eigentlich ewiger
Beruf als absolutes Konstituens des Geistes und Lebens überhaupt“, und hierin
allein „gewinnt der Begriff der Intentionalität seine apriorische Deutung als Urelement des Bewußtseins.“ 230
Heideggers Kritik am Begriff der Abhängigkeit bedeutet also nicht eine generelle
Abwertung der Religionsphilosophie Schleiermachers, sondern eher deren Korrektur; das phänomenologische Wesen des religiösen Erlebnisses, das Schleiermacher mit dem Begriff der religiösen Betrachtung richtig zum Ausdruck gebracht hat, soll von seinstheoretischen Elementen gänzlich befreit werden. Heidegger bleibt auch nach seiner Beschäftigung mit Ottos Hauptwerk Das Heilige
dem Grundgedanken Schleiermachers treu, daß das Wesen der Religion in der
Zurückgezogenheit des Daseins von äußerer Wirksamkeit liegt. Nun aber führt
Ottos Kritik am Begriff des Abhängigkeitsgefühls Heidegger zu der Einsicht, daß
das religiöse Erlebnis, das Schleiermacher als ein Zurückgezogensein von äußerer
Wirksamkeit definiert, im faktischen Leben notwendig zur Erfahrung der Unheimlichkeit führt.
Otto weist darauf hin, daß „das ‚Abhängigkeitsgefühl‘ oder besser das Kreaturgefühl eine erst nachfolgende Wirkung“ hat, „nämlich eine Abwertung des erlebenden Subjektes hinsichtlich seiner selbst. Oder anders ausgedrückt: Das Gefühl
einer ‚schlechthinnigen Abhängigkeit‘ meiner hat zur Voraussetzung ein Gefühl
einer ‚schlechthinnigen Überlegenheit (und Unnahbarkeit)‘ seiner.“ 231 Damit
begründet Otto seine These, daß das Abhängigkeitsgefühl oder das Kreaturgefühl
als ein Selbst-Gefühl (Selbstbestimmen) keineswegs das religiöse Erlebnis umfassend bestimmen kann, sondern sich nur als ein subjektives Begleitmoment
eines anderen Gefühls (nämlich der Scheu) verstehen läßt. Dieses ursprüngliche
religiöse Gefühl der Scheu ist nach Otto das mysterium tremendum. Erst durch
die Erfahrung des Absoluten, das wegen seiner absoluten Überlegenheit im Inne229
Ebd.
Ebd.
231
R. Otto, Das Heilige, a.a.O., S. 11 f.
230
123
ren des Menschen ein Gefühl der Unheimlichkeit verursacht, entsteht das „Kreaturgefühl“; und dieses „Gefühl ist [das Gefühl] eigener Nichtigkeit, eigenen Versinkens gegenüber dem in der ‚Scheu‘ objektiv erlebten Schauervollen und Großen selbst.“ 232
3.3. Die existenzontologische Fundierung des Nichts im theologischen Umfeld
Ottos Gedanke, daß das Dasein in einem religiösen Erlebnis sich seiner eigenen
Nichtigkeit gewahr wird, ist für Heideggers Denken von entscheidender Bedeutung. Das Wesen der Religion besteht im „Gefühl der Kreatur, die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem, was über aller Kreatur ist.“233
Hierin liegt wahrscheinlich der eigentliche Ursprung des Heideggerschen Versuchs, den existenzialen Ursprung der Sorge auf die „Grundbefindlichkeit der
Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins“ zurückzuführen. 234
Freilich darf man nicht ignorieren, daß auch Kierkegaard für den Heideggerschen
Begriff der Angst von Bedeutung gewesen ist. „Am weitesten ist S. Kierkegaard
vorgedrungen in der Analyse des Angstphänomens“, 235 sagt Heidegger; und diese
Aussage kann zugleich als ein Beleg dafür gelten, daß Heideggers Begriff der
Angst wohl auch von Kierkegaard beeinflußt wurde. Aber Kierkegaard analysiert
das Phänomen der Angst „im theologischen Zusammenhang einer ‚psychologischen‘ Exposition des Problems der Erbsünde“, ohne die Möglichkeit in Betracht
zu ziehen, das Phänomen der Angst im Rahmen der existenzialen Problematik zu
behandeln. 236 Er hat nach Heidegger „das Existenzproblem als existenzielles ausdrücklich ergriffen und eindringlich durchdacht. Die existenziale Problematik ist
ihm aber so fremd, daß er in ontologischer Hinsicht ganz unter der Botmäßigkeit
Hegels und der durch diesen gesehenen antiken Philosophie steht.“ 237
232
Ebd., S. 19 f.
Ebd., S. 10.
234
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 184.
235
Ebd., S. 190.
236
Ebd.
237
Ebd., S. 235.
233
124
Allerdings muß man festhalten, daß auch Otto den Begriff ‚Angst‘ im Rahmen
des theologischen Denkens behandelt, das, gerade wie bei Kierkegaard, auf die
psychologische Exposition des Problems des religiösen Erlebnisses angewiesen
ist. Gewiß: Die Religion beruht nach Otto auf einem irrationalen Erlebnis, das als
solches nicht nur auf die ontologische Grundstruktur des Daseins verweist, sondern auch etwa auf die emotionalen Erregungen (das mysterium tremendum und
das Fascinans), deren Exposition ebenfalls eine Sache der psychologischen Analyse ist. Dennoch ist es auffällig, daß Heideggers Analyse der Angst und die daraus folgende Beschreibung des Schuldigseins des Daseins eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Ausführungen hat, mit denen Otto das religiöse Erlebnis als Kreaturgefühl beschreibt. Betrachten wir zwei Thesen in Sein und Zeit, die für Heideggers Definition des Schuldigseins von zentraler Bedeutung sind: 1. „Seiend ist
das Dasein geworfenes, nicht von ihm selbst in sein Da gebracht.“ 2. „Der eigene
geworfene Grund zu sein, ist das Seinkönnen, darum es der Sorge geht.“ 238 Bei
beiden Thesen ist deutlich, daß das Schuldphänomen und das Kreaturgefühl den
gleichen ontologischen Grund voraussetzen: das Sein des Daseins ist nicht vom
Dasein selbst ermöglicht. Ebenso wie Otto aus dem Kreaturgefühl die Nichtigkeit
als das wesenhafte Merkmal des religiösen Erlebnisses ableitet, sieht Heidegger
gerade in diesem Schuldphänomen die ontologische Notwendigkeit, daß die
„Nichtigkeit in der Struktur der Geworfenheit [liegt]“. 239
Auch die folgenden zwei Überlegungen können helfen, die Frage nach der Bedeutung von Otto für Heideggers Daseinsanalyse richtig zu beantworten. 1. Es
gibt keine frühere Schrift von Heidegger, in der er das Dasein mit dem Angstphänomen bzw. der Geworfenheit in Verbindung bringt. Aber unmittelbar nach der
Lektüre von Das Heilige, in dem Otto das Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers
durch das Kreaturgefühl ersetzt, beginnt Heidegger, für die Unruhe des Lebens
bzw. für die Angst Interesse zu zeigen. 2. Die Unheimlichkeit im Sinne von Otto,
die sich im Kreaturgefühl als Gefühl der eigenen Nichtigkeit des Daseins zum
Ausdruck bringt, ist in gewisser Hinsicht als existenziale Unheimlichkeit zu be238
239
Ebd., S. 284.
Ebd., S. 285. Vgl. hierzu auch unten §3.4.
125
zeichnen. Zwar ist es sicher richtig, daß Otto das Gefühl der eigenen Nichtigkeit
nicht selten als ein Gefühl der Selbstabwertung betrachtet, das als solches keineswegs als existenzial bezeichnet werden kann. Dieses Gefühl beruht aber zugleich auf der ontologischen Faktizität des Daseins, des eigenen Seins nie mächtig sein zu können. Diese Nichtigkeit gehört also auch für Otto zur wesenhaften
Seinsstruktur des Daseins selbst, die weder auf das Vorhandensein des Seienden
noch auf das Ich zurückzuführen ist.
Die Unheimlichkeit ist sowohl für Otto als auch für Heidegger ein Bewegrund
für das Dasein, sich aus der alltäglichen Weltverfangenheit zurückzuholen und
ein im existentialen Sinn historisches Leben zu ergreifen. Was mit diesem historischen Leben gemeint ist, wird in Abschnitt 3.4. näher erläutert.
3.3.1. Die vita religiosa
Das erste Moment des Numinosen, das Kreaturgefühl, ist nach Otto einerseits auf
„das schon ausgeführte abdrängende Moment des tremendum mit der ‚majestas‘“ zurückzuführen; andererseits aber auf das anziehende Moment, nämlich
das Moment des fascinans, das im numinosen Hymnen (als drittes Moment) konkret zum Ausdruck kommt. 240 Das Moment des fascinans führt die Menschen zu
einem religiösen Leben, das von dem an praktischen Zwecken orientierten Leben
des alltäglichen Daseins grundverschieden ist: „Das Innehaben selber und das
Ergriffensein vom numen wird Selbstzweck, wird um seiner selbst willen gesucht,
mit Aufbietung der raffiniertesten und wildesten Verfahren der Askese. Die ‚vita
religiosa‘ beginnt.“ 241 Die vita religiosa, die auf die anziehende Wirkung des
Numinosen im religiösen Erlebnis zurückzuführen ist, unterscheidet sich dadurch
von der sogenannten existenzialen Entschlossenheit des Daseins im Heideggerschen Sinn, daß sie mit einer konkreten Belohnung verbunden ist, wie Erlösung
(als Ziel des religiösen Lebens) und Wohlgefühl (das Numinose als das Moment
des fascinans oder die Religion als Geschmack des Menschen für das Unendliche
im Schleiermacherschen Sinn): „Und in diesen seltsamen, oft bizarren Zuständen
240
241
R. Otto, Das Heilige, a.a.O., S. 42.
Ebd., S. 44.
126
numinoser Ergriffenheit zu weilen wird selber ein Gut, ja ein Heil, das gänzlich
verschieden ist von den durch Magie erstrebten profanen Gütern.“ 242 Die vita
religiosa ist aber nicht primär als ein besonderes Phänomen zu verstehen, das nur
wenige Menschen durch ihre religiöse Selbstbesinnung verwirklichen, sondern
eher als eine existenziale Grundmöglichkeit des menschlichen Lebens, sich aus
der Befangenheit des rationalen Denkens zu befreien; die anziehende Kraft des
Numinosen weist darauf hin, „daß über und hinter unserem rationalen Wesen ein
Letztes und Höchstes unseres Wesens verborgen liegt [,] das nicht sein Genüge
findet in Sättigung und Stillegung Triebe und Begehrungen. Die Mystiker nannten es den ‚Seelengrund‘.“ 243
3.3.2. Die Angst
Die Angst im Sinne Heideggers beinhaltet hingegen keinerlei Aspekte einer religiösen Begeisterung, die dem Dasein irgendeinen positiven Grund (wie z. B. Zuversicht oder Erlösungshoffnung) für eine Ausrichtung auf das Sein selbst gibt.
Das Dasein flieht stets vor seiner eigenen Seinsmöglichkeit, und das Verfallen in
das Alltagsleben ist daher ein Phänomen, das das Sein des Daseins existenzial
bestimmt und somit auch das Wesensmerkmal seines In-der-Welt-seins darstellt:
„Dieser Charakter des In-Seins wurde dann konkreter sichtbar gemacht durch die
alltägliche Öffentlichkeit des Man, das die beruhigte Selbstsicherheit, das Selbstverständliche ‚Zuhause-sein‘ in die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins
bringt.“ 244 Für Heidegger besteht aber in der Angst explizit die Möglichkeit, die
Verfallenheit an das Man zu überwinden: „Die Angst dagegen holt das Dasein
aus seinem verfallenden Aufgehen in der ‚Welt‘ zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen.“ 245
Während Otto also die vita religiosa sowohl vor dem Hintergrund der bedrohlichen Momente des Numinosen einerseits als auch vor dem Hintergrund der erhebenden Momente andererseits erörtert, akzeptiert Heidegger nur das bedrohliche
242
Ebd., S. 44 f.
Ebd., S. 49.
244
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O, S. 188 f.
245
Ebd., S. 189.
243
127
Moment des Seins selbst als Grund für die Selbstausrichtung des Daseins auf das
Sein selbst. Hierin liegt der Grund, warum Heidegger das Sein des Daseins als
durch die Sorge bestimmt versteht. Die Sorge besteht einerseits darin, daß das
Dasein sich um Innerweltlich-Seiendes sorgt bzw. seine alltäglichen Besorgungen
in der Welt verrichtet; andererseits aber darin, daß die Sorge des Daseins und ihre
Umwandlung der Welt zu einer zeughaften Umwelt auf die Angst als existenziale
Grundbefindlichkeit des Daseins zurückzuführen ist: „Die verfallende Flucht in
das Zuhause der Öffentlichkeit ist Flucht vor dem Unzuhause, das heißt der Unheimlichkeit, die im Dasein als geworfenen, ihm selbst in seinem Sein überantworteten In-der-Welt-sein liegt. Diese Unheimlichkeit setzt dem Dasein ständig
nach und bedroht, wenngleich unausdrücklich, seine alltägliche Verlorenheit in
das Man.“ 246 Und diese Unheimlichkeit entsteht nicht nur bei Vorkommnissen,
deren Erklärbarkeit die Grenze des rationalen Denkvermögens überschreiten:
„Die Angst kann in den harmlosesten Situationen aufsteigen“, da das Verfallen in
das Alltagsleben schon eine Folge der Angst als einer ausgezeichneten Erschlossenheit des Daseins ist: „Die alltägliche Art, in der das Dasein die Unheimlichkeit
versteht, ist die verfallende, das Un-zuhause ‚ablehnende‘ Abkehr.“ 247
Die Angst hat also bei Heidegger eine doppelte Funktion. Einerseits ist sie der
eigentliche Grund für das Verfallen des Daseins, da das Verfallen eine das Unzuhause ablehnende Abkehr darstellt; andererseits aber ist sie zugleich der Grund
dafür, daß das Dasein aus seiner Weltverfallenheit zurückkehrt, auch wenn es in
seinem Alltagsleben keinen Grund hat, sich durch irgend etwas bedroht zu fühlen.
3.4. Das religiöse Gefühl und die Angst als Stimmung der ursprünglichen Geworfenheit des Daseins in die Welt
Es stellt sich nun die Frage, was Heidegger mit seiner Behauptung ausdrücken
möchte, daß die Angst auch in den harmlosesten Situationen aufsteigen kann?
Heidegger meint damit, daß die Angst des Daseins ein Gefühl der grundwesentlichen Nichtigkeit seiner selbst ist. Ähnlich wie das Kreaturgefühl das Dasein zu
246
247
Ebd.
Ebd.
128
der Einsicht bringt, daß sein eigenes Sein nicht von ihm selbst in die Welt gebracht ist, ist das Dasein in seiner existenzialen Sorgestruktur auf die ursprüngliche Geworfenheit seines Seins verwiesen: „Seiend ist das Dasein geworfenes,
nicht von ihm selbst in sein Da gebracht.“ 248
3.4.1. Die Geworfenheit und das Nichts
Der Sinn der Geworfenheit, die der unhintergehbare Ausgangspunkt des sorgenden Lebensvollzugs ist, kann erst dann angemessen verstanden werden, wenn
man das Bewußtseinsmoment, in dem das Sein des Daseins in seiner grundwesentlichen Nichtigkeit erblickt wird, als den eigentlichen Sinn der Geworfenheit
versteht. Hierin liegt der existenzial-ontologisch erweiterte Sinn der phänomenologischen Reduktion, den Heidegger nicht primär von der Phänomenologie Husserls, sondern eher von der Religionsphilosophie von Schleiermacher und Otto
übernommen hat. Die religiöse Betrachtung im Sinne Schleiermachers, in der die
Existenz des Ichs und der Welt eingeklammert ist, wird von Heidegger unter dem
Einfluß von Otto dahingehend interpretiert, daß die Angst als Grundbefindlichkeit des Daseins betrachtet werden muß. Die Sorgestruktur ist, sofern sie auf die
Angst als Grundbefindlichkeit des Daseins zurückzuführen ist, ein konkretes Lebensapriori, das jedem praktischen Handeln vorausgeht und daher nicht einen
Vorrang des praktischen Lebens vor dem theoretischen bedeutet: „Die Sorge liegt
als ursprüngliche Strukturganzheit existenzial-apriorisch ‚vor‘ jeder, das heißt
immer schon in jeder faktischen‚Verhaltung‘ und ‚Lage‘ des Daseins. Das Phänomen drückt daher keineswegs einen Vorrang des ‚praktischen‘ Verhaltens vor
dem theoretischen aus.“ 249
Die Sorgestruktur ist nach Heidegger auf drei Existenzialien bezogen: „Das Sein
des Daseins ist die Sorge“, die „in sich Faktizität (Geworfenheit), Existenz (Entwurf) und Verfallen [umfaßt].“ 250 Dabei muß man die ursprüngliche Faktizität
der Geworfenheit und das Verfallen genau unterscheiden. Das Verfallen ist für
248
Ebd., S. 284.
Ebd., S. 193.
250
Ebd., S. 284.
249
129
Heidegger zwar ebenfalls ein Existenzial; es ist aber ein Existenzial in dem Sinn,
daß es eine kontingent-notwendige Folge des sorgenden Lebensvollzugs des Daseins ist. Das Verfallen in die Welt ist eine Abkehr vom Un-zuhause, und diese
Abkehr ist selbstverständlich nur als ein nachträglicher Lebensvollzug möglich,
den das Dasein aus dem Bewußtsein seiner Geworfenheit, d. h. aus der Angst als
dem Bewußtsein von der Unheimlichkeit des Seins, durchführt.
Der selbstweltliche Vollzug des Daseins – d. h. die je-meinige Art, das Leben zu
erfahren – hat also nicht primär einen praxeologischen Ursprung. Es ist zwar richtig, daß nach Heidegger das Dasein sein eigenes Leben faktisch durch das praktische Verhalten zur Welt führt: „Existierend kommt es nie hinter seine Geworfenheit zurück, so daß es dieses ‚daß es ist und zu sein hat‘ je eigens erst aus seinem
Selbstsein entlassen und in das Da führen könnte. Die Geworfenheit aber liegt
nicht hinter ihm als ein tatsächlich vorgefallenes und vom Dasein wieder losgefallenes Ereignis, das mit ihm geschah, sondern das Dasein ist ständig – solange
es ist – als Sorge sein ‚Daß‘.“ 251 Dabei liegt die Pointe allerdings in der Hervorhebung des selbstweltlichen Charakters des Daseins, nämlich daß das Dasein als
Sorge dieses ‚daß es ist und zu sein hat‘ ist. Aber der Grund dafür, warum Heidegger den selbstweltlichen Charakter des Daseins hervorhebt, liegt nicht
schlechthin darin, daß Heidegger praxeologisch den selbstweltlichen Vollzug des
Daseins als Grundmerkmal der daseinsmäßigen Lebensführung darlegen will; er
will vielmehr – ausgehend von seiner Unterscheidung von dem eigentlichen
Selbst und dem uneigentlichen – zeigen, was das Dasein von seinem Verfallen ins
alltägliche Dasein zu seiner ursprünglichen Existenzstruktur des selbstweltlichen
Daseins im eigentlichen Sinn zurückbringt. Und ähnlich wie Otto das Wesen der
Religion im Gefühl eigener Nichtigkeit findet, die sich im Kreaturgefühl ausdrückt, weist Heidegger die grundwesentliche Nichtigkeit des Seins des Daseins
auf, deren Bewußtsein (Gefühl) das Dasein zum Bewußtsein seiner Schuldigkeit
führt: „Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit
durchgesetzt. Die Sorge – das Sein des Daseins – besagt demnach als geworfener
Entwurf: Das (nichtige) Grund-sein einer Nichtigkeit. Und das bedeutet: Das Da251
Ebd.
130
sein ist als solches schuldig, wenn anders die formale existenziale Bestimmung
der Schuld als Grundsein einer Nichtigkeit zurecht besteht.“252
3.4.2. Die Duplizität der selbstweltlichen Lebenserfahrung: Die Eigentlichkeit
und die Uneigentlichkeit
Die Angst, die als Grundbefindlichkeit des Daseins eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins bedeutet, wird in Sein und Zeit explizit als der eigentliche
Ausgang des sorgenden Lebensvollzugs bezeichnet. Dieser Gedanke ist auch in
den frühen Freiburger Vorlesungen von Heidegger zu finden, besonders in
Grundprobleme der Phänomenologie, wo die Selbstgenügsamkeit als Grundcharakter der Selbstwelt definiert wird.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Selbstgenügsamkeit des Lebens
dynamisch gemeint ist. 253 Der Grundcharakter der Selbstwelt ist in dem Sinn als
selbstgenügsam zu charakterisieren, daß sämtliche Impulse, sein Leben zu gestalten, einen selbstweltlichen Charakter haben, weil sie aus der selbstweltlich gelebten Seinssituation des Daseins entstehen und das Dasein zu einer neuen, ebenfalls
selbstweltlich zu lebenden Seinssituation führen: „Aus der eigenen Geschichte
der Selbstwelt selbst erwachen die Motivierungen zu neuen Tendenzen, und die
Erfüllungen dieser laufen als solche immer zurück in die Selbstwelt und ihre jeweiligen erfüllungsbereiten Situationen, die faktische des faktischen Lebens
sind.“ 254 Dabei liegt die Pointe keineswegs in der Behauptung, der Grundcharakter der Selbstwelt liege in der Selbstgenügsamkeit. Heidegger will vielmehr die
Bedingungen zeigen, unter denen neue Orientierungen in der selbstgenügsamen
Lebensführung des Daseins entstehen. 255
In §23 der Grundprobleme der Phänomenologie, dessen Titel Das Problem der
Gewinnung der Grunderfahrung der Selbstwelt ist, weist Heidegger darauf hin,
252
Ebd., S. 285.
Siehe oben 2.4.
254
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 63.
255
Vgl. dazu G. Imdahls Dissertation über Heideggers Hermeneutik in den frühen Freiburger
Vorlesungen: „Man könnte von einer Eigendynamik der Habitualitäten des Lebens sprechen,
denen sich das Selbst eigens entwinden muß, um die Selbstgenügsamkeit aufzuheben.“ (G. Imdahl, Das Leben verstehen, Würzburg 1997, S. 112)
253
131
daß die Frage nach dem Grundcharakter der Selbstwelt zugleich die Frage nach
der „Erfahrung der Selbstwelt“ ist, „in der diese selbst als solche in ihrer Abgehobenheit erfahren wird.“ 256 Heidegger will „die Weise des Erfahrens der Selbstwelt, ihren eigenen Sinn, die darin beschlossenen Tendenzen und Möglichkeiten“ verstehen; und dabei handelt es sich nicht um eine Frage, wie die Lebenserfahrung insgesamt als eine selbstweltliche auszulegen ist, sondern, „was hier überhaupt Abhebung heißt, wie sie möglich ist, wie es zu besonderen Erfahrungen
kommt und zwar kommt durch und in Abhebung aus der faktisch vollen Lebenserfahrung“. 257
Diese auf den ersten Blick sehr unklaren Aussagen von Heidegger kann man erst
dann richtig verstehen, wenn man die Heideggersche Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Seinsweise bei seiner Analyse des Selbstseins berücksichtigt. Heidegger definiert in Sein und Zeit die unthematische Lebensweise des
alltäglichen Daseins als ein Existenzial; das Dasein ist kontingent-notwendig ins
Man (uneigentliches Selbst) verfallen und „[d]as eigentliche Selbst beruht nicht
auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine
existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials.“ 258 Die
Überwindung der alltäglichen Verfallenheit an das Man ist in diesem Sinn als ein
Vorgang zu verstehen, in dem das Dasein sich von seinem uneigentlichen Selbst
abwendet. Heidegger spricht davon, daß sich diese eigentliche Selbstwelt ‚abheben‘ muß von den einfachen und einheitlichen Erfahrungen der Alltagswelt und
stellt der ‚Abgehobenheit‘ der Lebenswelt die „faktische unabgehobene Lebenserfahrung“ des Dasein gegenüber. Es geht also darum, wie es möglich ist, die
alltägliche Verfallenheit an das Man zu überwinden und eine die alltägliche einheitliche Lebenserfahrung transzendierende Perspektive einzunehmen.
In §24 (Der Bedeutsamkeitscharakter des konkreten Lebenszusammenhangs)
werden zwei Probleme behandelt, deren Analyse m. E. der eigentliche Ursprung
der Konzeption des Alltagslebens in Sein und Zeit ist: a) Die Einheit der alltäglichen Lebenserfahrung, und b) die Rolle der ‚Bedeutsamkeit‘ für das Wirklich256
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 101.
Ebd.
258
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 130.
257
132
keitsverständnis des faktischen Lebens. Es wurde bereits erläutert, daß die Bedeutsamkeit eines Dinges sich aus seiner ‚Zuhandenheit‘ in einer gegebenen Situation ergibt. Ich nehme ein solches Ding nicht einfach nur wahr, sondern verwende es für einen Zweck, wie z. B. eine Tasse, aus der ich trinke – und in diesem
Zuhandenheitscharakter des Seienden (für mein Lebensinteresse als Zeug dienlich
zu sein) besteht der Sinn der Aussage, daß die Bedeutsamkeit die Wirklichkeit
des faktischen Lebens überhaupt bestimmt: „Ich lebe faktisch immer bedeutsamkeitsgefangen“. Da ich im Alltag immer in einem Bedeutsamkeitszusammenhang
gefangen bleibe, findet keine Reflexion oder Distanzierung von der Welt statt, in
der die Dinge ‚abgehoben‘ von bzw. außerhalb ihrer lebensweltlichen Bedeutung
betrachtet werden, so daß Heidegger die Lebenserfahrung im Alltagsleben als
„die faktisch unabgehobene Lebenserfahrung“ bezeichnet. Ich möchte hier im
Folgenden von der Einheitlichkeit der faktischen Lebenserfahrung sprechen. 259
In der Vorlesung über die Phänomenologie des religiösen Lebens vom Wintersemester 1920/21 kann man noch deutlicher erkennen, was Heidegger mit dieser
Einheitlichkeit der faktischen Lebenserfahrung meint. Er grenzt dort die faktische
Lebensweise von der theoretischen Lebensweise ab, die einerseits den Erfahrungsgegenstand vom theoretischen Interesse her als ein von dem Bedeutsamkeitszusammenhang des Lebens getrenntes und somit abgehobenes Objektsein
bestimmt, und die andererseits das Subjekt der Erfahrung als ein Ich von den anderen Seienden abhebt: „Ich erfahre mich selbst im faktischen Leben weder als
Erlebniszusammenhang, noch als Konglomerat von Akten und Vorgängen, nicht
einmal als irgendein Ichobjekt in einem abgegrenzten Sinn, sondern in dem, was
ich leiste, leide, was mir begegnet, in meinen Zuständen der Depression und Gehobenheit u. ä. Ich selbst erfahre nicht einmal mein Ich in Abgesetztheit, sondern
bin dabei immer der Umwelt verhaftet. Dies Sich-Selbst-Erfahren ist nicht theoretische ‚Reflexion‘, ist nicht ‚innere Wahrnehmung‘ u. ä., sondern selbstweltliche
Erfahrung, weil das Erfahren selbst einen weltlichen Charakter hat, bedeutsamkeitsbetont ist, so zwar, daß die eigene erfahrene Selbstwelt faktisch gar nicht
259
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 104.
133
mehr von der Umwelt abgehoben ist.“ 260 Somit wird deutlich, daß die faktische
einheitliche Lebenserfahrung mit der Selbstgenügsamkeit des faktischen Lebens
identisch ist, die Heidegger in den Grundproblemen der Phänomenologie als
Grundcharakter der Selbstwelt bezeichnet.
Die oben besprochene Erfahrung des Unheimlichen, die Heidegger in seiner frühen Freiburger Zeit von Ottos Begriff des Numinosen als mysterium tremendum
übernommen hat, ermöglicht eine andere Form der Distanzierung von der alltäglichen Lebenserfahrung, die im Unterschied zur theoretischen Lebensweise, die
Subjekt und Objekt trennt, die ursprüngliche und eigentliche Seinsweise des faktischen Daseins erhellt. Hierin liegt der entscheidende Grund dafür, warum Heidegger von der theologischen Herkunft seiner Hermeneutik spricht. „Das tiefste
historische Paradigma für den merkwürdigen Prozeß der Verlegung des Schwerpunktes des faktischen Lebens und der Lebenswelt in die Selbstwelt und die Welt
der inneren Erfahrungen gibt sich uns in der Entstehung des Christentums“, behauptet Heidegger in den Grundproblemen der Phänomenologie. 261 Dabei versteht Heidegger die im Christentum vollzogene Verlegung des Schwerpunktes
des faktischen Lebens in die Selbstwelt als eine selbstweltliche Distanzierung,
durch die das Dasein sich von seiner weltverfangenen Lebensführung zurückholt:
„Was im Leben der christlichen Urgemeinden vorliegt, bedeutet eine radikale
Umstellung der Tendenzrichtungen des Lebens“, die „meist“ als „Weltverneinung
und Askese“ verstanden wird. 262 Und gerade diese selbstweltliche Askese und
Weltabkehr ist nach Heidegger als der eigentliche Ursprung der Geschichte zu
verstehen: „Hier liegen die Motive für die Ausbildung ganz neuer Ausdruckszusammenhänge, die sich das Leben schafft, sogar bis zu dem, was wir heute Geschichte nennen.“ 263
260
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 13.
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 61.
262
Ebd.
263
Ebd.
261
134
3.5. Die Religion und die Entschlossenheit des Daseins zum Sein
Es ist nun deutlich geworden, daß die religiöse Betrachtung im Sinne Schleiermachers, die Heidegger als das Zurückgezogensein von äußerer Wirksamkeit
versteht, der Anfang des Heideggerschen Verständnisses der Geschichte ist. Sie
wurde allerdings durch Heideggers Beschäftigung mit Otto dahingehend modifiziert, daß die Angst als das Grundphänomen des Lebens hervorgehoben wird; die
Unheimlichkeit des Seins, die dem Dasein seine eigene Nichtigkeit bewußt macht,
ist für Heidegger die notwendige Folge davon, daß das Dasein sich von seiner
Verfallenheit an die Welt löst. Die Eigentümlichkeit des religiösen Lebens, die
Schleiermacher im Zurückgezogensein von äußerer Wirksamkeit gesehen hat,
bleibt für Heideggers Hermeneutik des faktischen, geschichtlichen Lebens weiterhin von maßgebender Bedeutung. Daher ist für Heidegger, der die Religion im
Sinne Schleiermachers als eine phänomenologische Epoché versteht, die „Geschichte im eigentlichsten Sinn“ „der höchste Gegenstand der Religion“, wie er in
seinen Bemerkungen zur zweiten Rede behauptet. 264
In Sein und Zeit spricht Heidegger von „der uneigentlichen Geschichtlichkeit“, in
der „die ursprüngliche Erstrecktheit des Schicksals verborgen [ist].“ 265 Die Möglichkeit, diese uneigentliche Geschichtlichkeit des einheitlichen faktischen Lebens zu überwinden, besteht nun in der „Treue der Existenz zum eigenen Selbst“,
die die „angstbereite Entschlossenheit“ bedeutet. 266 Hieraus kann man erkennen,
daß die Möglichkeit des Daseins, aus der uneigentlichen Geschichtlichkeit des
alltäglichen Lebens in die ursprüngliche Geschichtlichkeit zurückzukehren, entscheidend von dem Phänomen der Angst abhängt, das auf das Gefühl der eigenen
Nichtigkeit zurückzuführen ist. Diese Erkenntnis der existenzialen Möglichkeit
des Daseins, ein eigentliches Leben zu führen, hat Heidegger erst durch seine
Beschäftigung mit Schleiermachers Religionsphilosophie gewonnen: 1917, also
unmittelbar nach seiner metaphysisch-theologischen Habilitationsschrift, hat er
im Religionsbegriff von Schleiermacher eine phänomenologische Epoché gesehen, die das faktische Dasein selbst in seinem religiösen Zurückgezogensein von
264
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 322.
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 391.
266
Ebd.
265
135
äußerer Wirksamkeit erreicht. Diese religiöse Zurückgezogenheit des Daseins
wurde dann nach seiner Beschäftigung mit der Religionsphilosophie von Otto
dahingehend modifiziert, daß das Gefühl der eigenen Nichtigkeit – die Angst –
als das Wesensmerkmal des religiösen Bewußtseins anerkannt wird. Heideggers
Dualismus zwischen dem eigentlichen Selbst und dem uneigentlichen, der schon
in seiner frühen Freiburger Zeit sein Denken bestimmt, wurde entscheidend von
der Religionsphilosophie Schleiermachers und Ottos beeinflußt.
136
II. Schleiermachers Begründung der Religion und die Phänomenologie
Im ersten Kapitel wurde gezeigt, inwiefern Heidegger Schleiermachers Religionsphilosophie als eine Art Phänomenologie betrachtet. Im Vordergrund stand
das religiöse Gefühl bei Schleiermacher, das Heidegger als eine phänomenologische Epoché auffaßt.
Im Gefühl ist das Dasein auf eine Bewußtseinsform verwiesen, die sich vom
Denken und Handeln grundsätzlich unterscheidet. Das Dasein ist im aktuellen
Denken und Handeln an der Vorhandenheit bzw. Zuhandenheit des Seienden orientiert, und es tritt hier in ein Wirkungsverhältnis mit dem Seienden; es ist als ein
In-der-Welt-sein je schon in einer Beziehung zum Seienden, und das Seiende
zeigt sich nach Heideggers Umweltanalyse nicht bloß als das Vorhandene, sondern als das Zuhandene, dessen bedeutsame Erschlossenheit für das Leben auf die
Bedeutsamkeitsverhalte des Daseins wie Um-zu, Wo-zu, Dazu und Um-willen
zurückzuführen ist. In der religiösen Betrachtung, die für Schleiermacher das
Zurückgezogensein des Daseins von äußerer Wirksamkeit bedeutet, erkennt Heidegger nun den Grund dafür, warum das faktische Leben, obwohl es ontologisch
bedeutsamkeitsverfangen ist, historisch wird.
Das Leben ist für Heidegger einerseits auf den Vollzug der Sorge des Daseins
angewiesen, durch den die Welt als ein Zusammenhang der Zuhandenheiten erschlossen ist, andererseits ist es auf das Sein selbst bezogen. Das Dasein, das in
der alltäglichen Lebenssituation bedeutsamkeitsverfangen bleibt, gelangt in der
Grundbefindlichkeit (Angst) seines Seins zum Bewußtsein seiner grundwesentlichen Nichtigkeit. Das Dasein befindet sich in einem Spannungsverhältnis zwischen dem uneigentlichen Selbst und dem eigentlichen. Dabei ist Ottos Kritik an
dem Begriff Abhängigkeitsgefühl von Schleiermacher, die Heidegger durch seine
Beschäftigung mit Ottos Hauptwerk Das Heilige 1917 kennengelernt hat, für
Heidegger von großer Bedeutung. Die Zurückgezogenheit des religiösen Daseins
wird nun als die Unruhe des Lebens bezeichnet. Das Sein selbst, auf das sich das
137
Dasein in seiner (religiösen) Zurückgezogenheit ausrichtet, zeigt sich nun als unheimlich. Hieraus entwickelt der frühe Heidegger die paradoxe Bezeichnung der
Dynamik der Selbstgenügsamkeit. Die Bewegung des faktischen Lebens ist Ruinanz, also ein Verfallen ins Alltagsleben, eine Abkehr des sorgenden Daseins
vom Sein selbst. Diese Bewegung des faktischen Lebens bleibt aber insofern dynamisch, weil sie vom Bewußtsein des Seins selbst begleitet wird, was Heidegger
mit Begriffen wie die Unruhe des Lebens, die Unheimlichkeit des Seins und die
Angst des Daseins zum Ausdruck bringt.
Der Ursprung dieses Gedankens einer Dynamik der selbstgenügsamen Lebensbewegung liegt wohl in Heideggers Beschäftigung mit Schleiermachers Religionsphilosophie. Allerdings wurde Heideggers Schleiermacher-Rezeption durch
seine Beschäftigung mit Ottos Hauptwerk Das Heilige stark beeinflußt. Aber
wenn Heidegger in seinen Bemerkungen zur zweiten Rede Schleiermachers die
Geschichte als das zentrale Thema der Religionsphilosophie Schleiermachers
hervorhebt, zeigt er zugleich, daß er gerade durch seine Beschäftigung mit
Schleiermachers Religionsphilosophie den entscheidenden Ansatzpunkt für seine
am faktischen Leben orientierte Hermeneutik erhalten hat. Heidegger hat bis zu
1915/16 nach einer Möglichkeit einer metaphysischen Geschichtswissenschaft
gesucht, wie wir zu Beginn des ersten Kapitels (im ersten Teil) anhand seines
Aufsatzes ‚Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft‘ deutlich gemacht haben. Nach seiner Beschäftigung mit Schleiermachers Religionsphilosophie im
Jahr 1917 spricht Heidegger nicht mehr von einer metaphysischen Wissenschaft
der Geschichte. Die Geschichte, die Heidegger in seinen Bemerkungen zu Schleiermachers zweiten Rede als den eigentlichen Sinn des religiösen Lebens hervorgehoben hat, wird nun aus der Perspektive der an der Lebensfaktizität orientierten Hermeneutik betrachtet.
Heideggers Bemerkung, Schleiermachers Religion sei eine Form der phänomenologischen Epoché, kann wie folgt erläutert werden: Das Sein der Welt, das im
natürlichen Selbstbewußtsein des alltäglichen Daseins als selbstverständliche
Voraussetzung für das Denken und das Handeln angenommen wird, wird in der
religiösen Zurückgezogenheit von äußerer Wirksamkeit kritisch eingeklammert.
138
Nach seiner Beschäftigung mit Ottos Hauptwerk Das Heilige interpretiert nun
Heidegger das religiöse Zurückgezogensein dahingehend, daß die Einklammerung der Welt im religiösen Bewußtsein als Ursprung der Angst – der Grundbefindlichkeit des Daseins – umgedeutet wird. Dabei darf man allerdings nicht annehmen, Schleiermacher betrachte das religiöse Selbstbewußtsein und das Weltbewußtsein als getrennte Momente, da die echte Dimension des Seins für Schleiermacher erst durch das Sichzurückziehen des Daseins von äußerer Wirksamkeit
ermöglicht werde, während Heidegger die Angst und das Alltagsbewußtsein des
selbstgenügsamen Lebens als untrennbare Strukturmomente des Lebens betrachte.
Im Gegenteil: Für Heidegger stellt Schleiermacher die Religion als ein fundamentales Strukturelement des Lebens dar, und hierin liegt der Grund dafür, warum
Heidegger das Geschichtliche als das eigenste Thema der Religionsphilosophie
Schleiermachers bezeichnet. Das faktische Leben des Daseins, das nach der Umweltanalyse Heideggers bedeutsamkeits- und weltverfangen bleibt, wird dadurch
historisch, daß es kontingent-notwendig auf das Bewußtsein vom Sein selbst, das
Schleiermacher mit dem Begriff der Religion zum Ausdruck gebracht hat, verwiesen ist.
In diesem Kapitel soll überprüft werden, ob Schleiermachers Religionsphilosophie tatsächlich als eine Phänomenologie verstanden werden kann. Dabei liegt
der Schwerpunkt der Analyse wiederum in der Rolle der Geschichte. Kann man
Schleiermachers Religionsphilosophie als eine spezifische Form der Phänomenologie bezeichnen, die, wie Heidegger in seinen Bemerkungen zur zweiten Rede
Schleiermachers behauptet, die Geschichtlichkeit als ihr zentrales Thema hat?
Hierbei geht es um die Frage, ob die Religion im Sinne Schleiermachers die Rolle
spielt, dem Dasein die Ausrichtung auf das Sein selbst, das nicht auf das Seiende
zurückgeführt werden kann, zu ermöglichen. Dem existenzontologischen Sinn der
Geschichtlichkeit des faktischen Lebens liegen m. E. zwei Definitionen des Daseins zugrunde: Erstens kann das Dasein nicht mit dem Sein als Subjekt identifiziert werden, sondern es muß als ein Seiendes verstanden werden, dessen Existenzstruktur die Seinserschließung durch das Da des Da-seins notwendig in sich
schließt; zweitens ist dem Dasein die Möglichkeit gegeben, sich von der Verfal-
139
lenheit ins Alltagsleben zur ursprünglichen Geschichtlichkeit des faktischen Lebens zurückzuholen, wie sie Heidegger in Sein und Zeit mit den Begriffen wie
Gewissen, Ruf des Seins usw. thematisiert. Daher ist die ontologische Differenz
zwischen dem Sein und dem Seienden für Heidegger nicht bloß als das Ergebnis
einer philosophischen Betrachtung zu verstehen, sondern sie ist ein fundamentaler Ermöglichungsgrund für die faktisch geschichtliche Lebensführung des Daseins selbst. Zu fragen ist hier also, ob Schleiermacher mit seinem Begriff der
Religion die Ausrichtung des Menschen auf das Sein selbst zum Ausdruck bringt,
die allerdings das Bewußtsein von der ontologischen Differenz zwischen dem
Sein und dem Seienden voraussetzt.
Die Beantwortung dieser Frage kann allerdings nicht darauf hinauslaufen,
Schleiermachers Philosophie mit der Phänomenologie Husserlscher Prägung
gleichzusetzen. Schon daraus, daß Heidegger durch seiner Auseinandersetzung
mit Schleiermacher seine hermeneutische Wende vollzogen hat, kann man erkennen, daß für Heidegger Schleiermachers Religionsphilosophie als eine alternative
Form der Phänomenologie zu verstehen ist. Heidegger versteht die Religionsphilosophie Schleiermachers als eine Phänomenologie, die – im Unterschied zur
Husserlschen Phänomenologie – die faktisch historische Lebensführung des religiösen Daseins als ihren wichtigsten Inhalt hat. Wir wollen nun überprüfen, ob
diese Interpretation zutreffend ist. Dafür müssen wir vor allem nach den Inhalten
und der Struktur der Religionsphilosophie Schleiermachers fragen.
140
1. Schleiermachers Begriff der Religion
1.1. Das Gefühl und die Epoché
Es wurde bereits gezeigt, daß Heidegger als das Wesen der Religion im Sinn
Schleiermachers die religiöse Betrachtung versteht, in der sich das Dasein vom
äußeren Wirkungsverhältnis zwischen den endlich Seienden zurückzieht. Man
kann aus den folgenden Passagen der zweiter Rede erkennen, daß diese Auslegung richtig ist: „Denn freilich ist der Religion die Betrachtung wesentlich, und
wer in zugeschlossener Stumpfsinnigkeit hingeht, wem nicht der Sinn offen ist
für das Leben der Welt, den werdet Ihr nie fromm nennen wollen; aber diese Betrachtung geht nicht wie Euer Wissen um die Natur auf das Wesen eines Endlichen im Zusammenhang mit und im Gegensatz gegen das andere Endliche, noch
auch wie Eure Gotteserkenntniß, wenn ich hier beiläufig noch in alten Ausdrükken reden darf, auf das Wesen der höchsten Ursache an sich und in ihrem
Verhältniß zu alle dem, was zugleich Ursache ist und Wirkung […].“ 267 Vereinfacht ausgedrückt ist hier die Religion insofern als eine ‚Betrachtung‘ definiert,
als daß sie unmittelbar auf das Wesen der höchsten Ursache geht, aber nicht auf
das Wesen des endlichen Seienden, das nur im Wirkungszusammenhang mit den
anderen Seienden als seiend betrachtet werden kann.
Schleiermacher geht aber nicht davon aus, daß man sich in der religiösen Betrachtung auf das jenseitige Seinsgebiet des Absoluten ausrichtet, welches von
dem diesseitigen Seinsgebiet des endlich Seienden getrennt bleibt. In der religiösen Betrachtung holen wir uns zwar vom Wirkungszusammenhang zwischen den
endlichen Seienden zurück. Das bedeutet aber nicht, daß unser Bewußtsein um
der religiösen Wahrheit willen die Mannigfaltigkeit alles Endlichen einfach hinter
sich läßt. Der Sinn der religiösen Betrachtung besteht vielmehr darin, daß das
Endliche nicht nur in seinem Verhältnis zu den anderen endlichen Seienden zu
betrachten ist, sondern auch in seiner kontingent-notwendigen Abhängigkeit vom
267
F. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 53.
141
Unendlichen; „die Betrachtung des Frommen ist nur das unmittelbare Bewußtsein
von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen durch das Ewige.“ 268
Es ist wichtig zu erkennen, daß Schleiermacher das religiöse Bewußtsein – das
Gefühl – nicht als ein Sonderphänomen versteht, sondern als ein fundamentales
Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseins auffaßt. Es ist zwar wahr, daß „das
Erkennen, das Gefühl und das Handeln“ unterschiedliche Momente des bewußten
Lebens darstellen und in diesem Sinn „nicht einerlei sind“; sie sind aber „doch
unzertrennlich“, das wache Bewußtsein ist notwendig auf diese drei Elemente
verwiesen. 269 Das bedeutet einerseits, daß das religiöse Gefühl in jedem wirklichen Bewußtsein mitgesetzt ist; andererseits aber auch, daß kein wirkliches Bewußtsein möglich ist, das nicht auf eine bestimmte Gegenständlichkeit bezogen
wäre.
Daraus ergibt sich aber nun eine schwierige Frage, die im Hinblick auf den Vergleich von Schleiermachers Religionsphilosophie mit der Phänomenologie von
entscheidender Bedeutung ist: In welchem Sinn ist die religiöse Betrachtung als
eine phänomenologische Epoché zu bezeichnen? Bedeutet die Epoché nicht eine
Enthaltung von jeglichem Urteil über einen Sachverhalt, die nach der konsequenten Durchführung einer phänomenologischen Untersuchung zur kritischen Einklammerung jedes gegenständlich Seienden führen soll? Husserl behauptet ganz
explizit, daß wir, wenn die phänomenologische Reduktion konsequent durchgeführt werden soll, nicht umhinkönnen, alles, was durch den thetischen Akt des
Bewußtseins als Gegenständlichkeit zu setzen ist, kritisch einzuklammern. 270
Inwiefern kann also Heidegger in der religiösen Betrachtung Schleiermachers
eine Art der phänomenologischen Reduktion erkennen? Bleiben wir auch in der
268
Ebd.
Ebd., S. 62.
270
„Es ist ferner anzumerken, daß nichts im Wege steht, korrelativ auch in Ansehung einer zu
setzenden Gegenständlichkeit, welcher Region und Kategorie auch immer, von Einklammerung zu
sprechen. In diesem Falle ist gemeint, daß jede auf diese Gegenständlichkeit bezogene Thesis
auszuschalten und in ihre Einklammerungsmodifikation zu verwandeln sei. Genau besehen, paßt
übrigens das Bild von der Einklammerung von vornherein besser auf die Gegenstandsphäre, ebenso wie die Rede vom Außer-Aktion-setzen besser auf die Akt- bzw. Bewußtsseinssphäre paßt.“ (E.
Husserl, Ideen zu einer Reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S.
64.)
269
142
religiösen Betrachtung im Sinn Schleiermachers dem natürlichen Bewußtsein
verhaftet, weil unser Bewußtsein immer noch auf das gegenständlich Seiende
bezogen ist?
Man kann diese Frage nicht angemessen beantworten, wenn man nicht die befreiende Funktion des religiösen Gefühls berücksichtigt: In der religiösen Betrachtung holen wir uns von unserer praktischen Lebensführung zur ursprünglichen Einheit von Anschauung und Gefühl zurück. Das religiöse Gefühl bietet die
Möglichkeit, „in das innerste Heiligthum des Lebens [hinabzusteigen]“, in welchem „allein […] das ursprüngliche Verhältniß des Gefühls und der Anschauung“ betrachtet werden kann. 271
Dies ist ein Gedanke, der wahrscheinlich zu den schwierigsten Thesen der ganzen Philosophie Schleiermachers gehört. „Die Religion der Reden“ ist, wie Dilthey richtig meint, „nicht bloß Gefühl, sondern immer auch Anschauung.“ 272 In
der Tat spricht Schleiermacher von dem „Einssein“ und der „Trennung“ von Gefühl und Anschauung im innersten Heiligtum des Lebens. 273
1.2. Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher
Was bedeutet es aber, daß Gefühl und Anschauung eine Einheit bilden? Setzt die
Anschauung als visuelle Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen nicht etwas objektiv Vorhandenes voraus, während das religiöse Gefühl nicht auf das in diesem
Sinne Objektive zurückgeführt werden kann? Dilthey weist darauf hin, daß
Schleiermacher selbst in Bezug auf diese Frage unsicher sei und daher in der
zweiten (1806) und dritten (1821) Auflage der Reden die ‚Anschauung‘ durch
andere Begriffe ersetzt habe: „In den weiteren Auflagen verschwindet zwar die
‚Anschauung‘ nicht ganz; aber an vielen Stellen wird sie gestrichen; an anderen
wird sie durch unbestimmtere Ausdrücke wie ‚Ansichten‘, ‚Wahrnehmungen‘ ersetzt; dabei ist die 3. Auflage in der Vermeidung des Begriffs der Anschauung noch ängstlicher als die 2. Auflage. Der Grund dieser Änderung leuch271
F. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 58.
W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2 (GS = Gesammelte Schriften, XIV/2), Göttingen 1966,
S. 579.
273
F. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 58.
272
143
tet ein und wird sich uns unten noch stärker aufdrängen. Die Religion soll nicht
irgendwie als etwas Objektives erscheinen; namentlich nicht in Analogie zur
Spekulation stehen; deshalb wird sie immer ausschließlicher in das Gefühl verlegt,
und das Gefühl wird immer ausschließlicher subjektiv gefaßt.“ 274
Auch E. Brunner gelangt in seinen Arbeiten über Schleiermacher zu dem gleichen Ergebnis. Nach ihm habe die Anschauung Schleiermachers „einen kognitiven Charakter“; „Schleiermacher sah sofort ein, daß seine ‚Religion‘ dadurch in
gefährliche Nähe der Spekulation gerückt [wird].“ 275 Wie Dilthey behauptet auch
Brunner, daß Schleiermacher „von der zweiten Auflage an, immer ausschließlicher, das subjektive Moment hervorgehoben [hat], bis endlich im Religionsbegriff der Glaubenslehre jede Spur von Inhaltlichkeit ausgetilgt ist: Religion ist reines Selbstbewußtsein.“ 276
1.2.1. Zur Frage der Psychologisierung der Religion bei Schleiermacher
Dilthey und Brunner sind sich in zwei Punkten völlig einig. Erstens stellt Schleiermachers Konzept der Anschauung für beide eigentlich nur eine Wiedergabe der
Schellingschen intellektuellen Anschauung dar. 277 Zweitens führe Schleiermachers Versuch, seinen Begriff der Religion von der Spekulation möglichst fern zu
halten, zu einer Überbetonung des Subjektiven: Schleiermachers Religionsphilosophie erweise sich somit als psychologisch. „Die späteren Auflagen“ der Reden
sind nach Dilthey ein Versuch, jenen mystischen Augenblick, in dem Gefühl und
Anschauung eins sind, als „eine psychische Tatsache“ darzulegen. Dilthey zufol274
W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 579. Auch E. Huber stellt in seinem Werk
Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher detailliert dar, warum und auf welche
Weise Schleiermacher den Begriff der Anschauung in der 2. und 3. Auflage der Reden vermieden
hat. (Vgl. E. Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, Leipzig 1972, S.
52 ff.)
275
E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 42.
276
Ebd.
277
Vgl. „Diese Anschauung hat nun (das war der Grund der späteren Ähnderung) alle wesentlichen Züge gemein mit dem was wenig später Schelling unter dem Namen intellektuelle Anschauung als Prinzip seiner Philosophie einführte, oder mit dem, was wir heute aus der NeuSchellingschen Philosophie Bergsons besser unter dem Namen Intuition kennen.“ (Ebd., S. 41-42);
„Es scheint uns aber vor allem nötig, auf Schellings Philosophie zu verweisen. Jener geheimnisvolle Augenblick Schleiermachers scheint uns nichts anderes zu sein als Schellings intellektuelle
Anschauung […].“ (W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 580.)
144
ge besteht also Schleiermachers Anliegen darin, die ursprüngliche Einheit von
Gefühl und Anschauung „psychologisch nachzuweisen“. 278 Brunner schließt
Schleiermachers Religionsphilosophie sogar an die Errungenschaften der „Aufklärung“ an, die „den christlichen Begriff der Offenbarung mit dem der natürlichen Religion vertauscht“ habe: „Die Deisten und Hume haben ebenso wie
Schleiermacher nach dem Wesen der Religion als psychischer Funktion gefragt.“ 279
Diese Behauptung wird aber von einer unklaren Konnotation begleitet. Zugegeben: Die Religion ist für Schleiermacher, wie Dilthey und Brunner behaupten,
eine psychische Tatsache. Ergibt sich daraus aber, daß Schleiermacher die Religion einfach auf psychische Tatsachen reduziert? Es steht natürlich außer Zweifel,
daß für Schleiermachers Religionsphilosophie die psychologische Dimension
nicht von geringer Bedeutung ist. Entscheidend ist aber nicht die Frage, ob
Schleiermachers Religionsphilosophie eine psychologische Dimension hat; sondern ob sie ihrem Wesen nach psychologisch ist. 280 Ferner wird man zwar Brunner (und Dilthey) zustimmen, daß Schleiermacher in gewisser Hinsicht nach der
psychischen Funktion des religiösen Gefühls fragt. Aber dies ist auch nicht weiter
verwunderlich, denn unabhängig davon, aus welcher Perspektive auch immer
man die Religion betrachtet, so muß man doch anerkennen, daß die Religion auf
das ganze psychische Leben des Menschen einwirkt und einwirken kann; andernfalls hätte die Religion keine Bedeutung für die wirkliche Lebensführung des
Menschen. Entscheidend ist also hier nicht die Frage, ob Schleiermacher nach
der psychischen Funktion des religiösen Gefühls fragt, sondern, ob Schleiermacher die Religion lediglich als eine psychische Funktion versteht, die außerhalb
des subjektiven Innenlebens keinen ontologischen Grund hat.
278
Ebd.
E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 33.
280
Ähnlich kritisiert auch M. Simon die These von Brunner, Schleiermachers Glaubenslehre sei
im wesentlichen psychologisch ausgerichtet: „La question qui nous occupe n’est évidemment pas
de savoir s’il existe chez Schleiermacher une étude psychologique de la religion. Pas de problème
à ce sujet, car la réponse est manifestement affirmative, mais elle concerne le programme de la
psychologie, non celui de la philosophie de la religion. La seule question véritable est celle-ci : la
philosophie de la religion est-elle, chez Schleiermacher, d’essence psychologique? En définissant
la religion, Schleiermacher a-t-il recours à une méthode psychologique?“ (M. Simon, La philosophie de la religion dans l’œuvre de Schleiermacher, Paris 1974, S. 64 f.)
279
145
E. Huber schlägt eine interessante Interpretation der Veränderungen, die Schleiermacher in den weiteren Auflagen der Reden unternommen hat, vor. Einerseits
ist er mit Dilthey und Brunner der Meinung, daß Schleiermacher versuche, „die
Schellingschen Spuren in den Reden zu verwischen.“ 281 Er behauptet ferner auch,
daß „das Selbstbewußtsein“, mit dem das Gefühl ab der dritten Auflage der Reden „identifiziert“ werde, als ein rein subjektives Phänomen zu verstehen sei.
Denn dadurch, daß das Gefühl mit dem Selbstbewußtsein gleichgesetzt werde,
„wird das Gefühl des objektiven Inhalts beraubt, und die Religion wird konsequenterweise etwas rein Subjektives.“ 282 Aber in seiner Analyse der Veränderungen, die Schleiermacher in der zweiten Auflage durchführt, weist er dennoch darauf hin, daß für Schleiermacher das Gefühl mehr darstelle, als ein rein subjektives
Moment.
Wie erwähnt, betonen Dilthey und Brunner lediglich die zunehmende Hervorhebung des Subjektiven beim religiösen Erlebnis und die daraus folgende Psychologisierung der Religion als Ergebnis der mehrfachen Änderungen der Reden. Der
wirkliche Vorgang der einzelnen Änderungen der verschiedenen Auflagen ist
aber für Huber nicht mit dieser einfachen Erklärung zu erfassen. Nach ihm kann
man die Änderungen zwischen der ersten und der zweiten Auflage nicht lediglich
als Ausdruck einer Subjektivierung der Religion verstehen: „Der ersten Auflage
lag es nahe, das Gefühl als einen rein subjektiven Vorgang zu fassen im Gegensatz zu der Anschauung, die dem fühlenden Subjekt Objekte gegenüberstellt.
Sollte nun der Begriff der Anschauung soweit möglich gemieden werden, so
mußte dem Gefühl die Fähigkeit zugeschrieben werden, sich auf Objekte zu beziehen. Sonst wäre ja der Inhalt der Religion wesentlich verkürzt worden, sonst
hätte nicht mehr das Universum ihr Gegenstand sein können. Demgemäß werden
Formeln gebraucht wie die folgenden: ‚Sein Gottes in uns durch das Gefühl‘; ‚das
Göttliche im Gefühl‘; ‚Gefühl des Universums‘.“ 283 Mit anderen Worten: Das
Gefühl in der zweiten Auflage vereinigt in sich die subjektive und die objektive
Seite der Religion, während es in der ersten Auflage nur die subjektive Seite ver281
E. Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, a.a.O., S. 59.
Ebd., S. 65 f.
283
Ebd., S. 58.
282
146
tritt und somit wesentlich enger gefaßt ist als in der zweiten Auflage der Reden.
„Diese Neuerung ist“ nach Huber „für die weitere Entwicklung von Bedeutung,
und es ist sehr unrichtig, zu behaupten, hinsichtlich der Darstellung ‚der subjektiven Aneignung des religiösen Lebens‘ sei eine Vergleichung der verschiedenen
Auflagen der Reden nicht nötig.“ 284
Huber analysiert nicht im Detail, auf welche Weise in der zweiten Auflage dem
Gefühl die Fähigkeit zugeschrieben wird, sich auf Objekte zu beziehen. Man
kann aber vor dem Hintergrund seiner weiteren Darstellung über den Unterschied
zwischen der ersten und der zweiten Auflage vermuten, daß nach Hubers Ansicht
das Nicht-Subjektive 285 , auf das sich die Religion bezieht, in der ersten und der
zweiten Auflage unterschiedlich aufgefaßt wird. Nach Huber spielt das Universum in der ersten Auflage eine wichtige Rolle, da dessen Anschauung der Religion eine gewisse Objektivität verleihe. In der zweiten Auflage versuche Schleiermacher den Begriff der Anschauung zu vermeiden und somit auch den des Universums: „Gott tritt in den Mittelpunkt der Religion.“ 286 Während das Universum
als „das Ganze“ alles Seienden an die Vorstellung des gegenständlich Seienden
gebunden sei, sei Gott als „das Eine“ wesentlich frei von der Gegenständlichkeit,
obwohl beide inhaltlich als „der gleiche [Gegenstand]“ der Religion, als „das
Alleine“, zu verstehen seien. 287
Aber wie ist die theoretische Beziehung zwischen der zweiten und der dritten
Auflage zu verstehen? Warum wird das Gefühl, dem in der zweiten Auflage zugestanden wird, dass es sich auf etwas Objektives bezieht, nun in der dritten Auflage mit dem Selbstbewußtsein gleichgesetzt, unter dem Huber mit Dilthey und
Brunner etwas rein Subjektives versteht? M. E. ist diese Behauptung, das Selbstbewußtsein Schleiermachers sei rein subjektiv zu verstehen, ein vollkommenes
Mißverständnis seiner Position.
284
Ebd.
Man sollte m. E. nicht von dem ‘Objekt’ der Religion sprechen, da sich für Schleiermacher die
Religion und ihr Gegenstandsbereich nicht angemessen mit der Trennung von ‘Objekt’ und ‘Subjekt’ erfassen läßt.
286
Ebd., S. 56.
287
Ebd.
285
147
1.2.2. Die Identifizierung der Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein
in der Glaubenslehre
Die dritte Auflage der Reden ist 1821 erschienen, also in dem selben Jahr, in dem
die erste Auflage der Glaubenslehre erschienen ist. Wenn das Gefühl in der dritten Auflage aber als das rein Subjektive zu verstehen ist, da es mit dem Selbstbewußtsein identifiziert wird, so bedeutet dies offenbar auch, daß auch Selbstbewußtsein in der Glaubenslehre, wie E. Brunner explizit behauptet, als etwas rein
Subjektives verstanden werden muß. Dies ist aber sicherlich eine kaum haltbare
Behauptung.
Es fällt erstens auf, daß Huber von der „Gleichung Religion = Gefühl = Selbstbewußtsein = Sein Gottes im Menschen“ ausgeht, durch die „Religion und Gott
als zusammengehörig bezeichnet“ sind. 288 Diese Gleichung ist m. E. auch für die
Schleiermacher-Interpretation von Brunner und Dilthey charakteristisch. Beide
behaupten, wie schon gezeigt, Schleiermachers Glaubenslehre führe die Religion
auf das rein Subjektive zurück, da Schleiermacher unter der Religion das Gefühl,
das in der Glaubenslehre mit dem Selbstbewußtsein identifiziert werde, verstehe.
Diese Gleichung ist m. E. zwar nicht vollkommen falsch, aber dennoch äußerst
irreführend. Zwar wird die Religion bei Schleiermacher bekanntlich als ein Gefühl definiert, und dieses Gefühl wird in der Glaubenslehre tatsächlich mit dem
Selbstbewußtsein identifiziert. Aber das bedeutet nicht, daß die Religion, das Gefühl und das unmittelbare Selbstbewußtsein das Gleiche wären, so wie der Abendstern und der Morgenstern nur zwei verschiedene Namen des gleichen Sterns
sind. Die Religion wird bei Schleiermacher je nach Kontext einmal als das Gefühl
ein andermal als das unmittelbare Selbstbewußtsein verstanden; Schleiermacher
stellt aber ebenfalls die Differenz zwischen der Religion und dem Gefühl bzw.
dem unmittelbaren Selbstbewußtsein dar.
Zwar kann man auf Grund der folgenden Passagen davon ausgehen, daß das Gefühl und das unmittelbare Selbstbewußtsein in der Glaubenslehre das Gleiche
bedeuten: „Unter Gefühl verstehe ich das unmittelbare Selbstbewußtsein, wie es,
wenn nicht ausschließend, doch vorzüglich einen Zeittheil erfüllt, und wesentlich
288
Ebd., S. 66.
148
unter den bald stärker bald schwächer entgegengesetzten Formen des angenehmen und unangenehmen vorkommt.“ 289 Aus dieser Stelle kann man jedoch zugleich klar erkennen, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein, das Gefühl, auch
eine irreligiöse Dimension haben kann; denn ein Selbstbewußtsein, das einen
Zeitteil erfüllt und wesentlich unter den Formen des angenehmen und unangenehmen vorkommt, ist eindeutig ein Bewußtsein, das auf die sinnliche Bestimmtheit des Seienden bezogen ist. Daher spricht Schleiermacher von der „Richtung
und Bestimmtheit des Gefühls“, die als „Frömmigkeit“ bezeichnet werden
kann. 290
Mit Recht betont D. Offermann in ihrer Darstellung von Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, „daß in der ganzen Erörterung [Schleiermachers] der
Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins eben insofern interessiert, als er das
Verständnis des Erfüllens eines ‚Zeitteiles‘ impliziert.“ 291 Wie gezeigt, behauptet
Huber, daß das Gefühl ab der dritten Auflage des objektiven Inhalts beraubt würde, weil es mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein identifiziert werde. Diese
Behauptung erweist sich hier als unhaltbar. „Es geht“ Schleiermacher in der Einführung des unmittelbaren Selbstbewußtseins in seine Religionsphilosophie
„nicht darum, diesen Begriff sozusagen in abstrakter Reinheit, losgelöst von jeglicher Möglichkeit inhaltlichen Bestimmtseins zu entfalten, sondern darum, den
Ausdruck ‚Gefühl‘ zu klären, der wohl (auf diesem Gebiet) längst bekannt ist,
aber nicht genau und abgesichert genug gebraucht wird.“ 292 Das Selbstbewußtsein ist also nicht das rein Subjektive, wenn man darunter die Unfähigkeit versteht, sich auf die Objekte zu beziehen. Es ist eher eine konsequente Durchführung jenes Versuchs, im Gefühl sowohl die subjektive als auch die objektive Seite
des Erlebnisses zu vereinen, den Huber in seiner Darstellung des Gefühlsbegriffs
in der zweiten Auflage der Reden darstellt. Ferner ist diese Einheit von der Subjektivität und der Objektivität im Gefühl nicht schlechthin als das Wesen des religiösen Erlebnisses zu bezeichnen; diese Einheit ist eher auf die Erfahrungssphäre
289
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 26.
Ebd.
291
D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 41.
292
Ebd., S. 41-42.
290
149
bezogen, in der das Bewußtsein durch die Einwirkung des endlich Seienden sinnlich bestimmt wird. Nicht das Gefühl als das unmittelbare Selbstbewußtsein repräsentiert ohne weiteres das religiöse Gefühl, sondern nur die fromme Richtung
bzw. die fromme Bestimmtheit des Gefühls kann als Religion bezeichnet werden.
150
2. Selbstbewußtsein und Religion
Was ist nun die Religion? Welche Bedingungen muß das Gefühl erfüllen, um als
Religion betrachtet werden zu können?
Es ist m. E. von entscheidender Bedeutung, daß Schleiermacher das Unendliche
nicht in dem Sinn als das Absolute versteht, daß es jenseits der Seinssphäre alles
endlich Seienden liegt. Man kann nicht dadurch zur Religion gelangen, daß man
die Seinssphäre des Endlichen verläßt; sondern nur dadurch, daß man in der
Sphäre des zeitlichen und endlichen Seienden das Unendliche, das Ewige, als den
Existenzgrund alles Endlichen zu erkennen bzw. zu erfahren versucht: Die Betrachtung des Frommen ist, wie schon gezeigt, für Schleiermacher auf das allgemeine Sein alles Endlichen im Unendlichen bezogen. Dieser Gedanke ist an sich
nicht neu und es ist sicherlich falsch, wenn man die originäre Leistung Schleiermachers bloß in der Formulierung dieses Gedankens finden will. Ferner darf er
nicht einfach auf die Spinozistische Lehre von der Immanenz der Dinge in Gott
zurückgeführt werden. 293 Dieser Gedanke ist vielmehr ein Ausdruck dafür, daß
Schleiermachers Philosophie zu einer großen Tradition des theologischen Denkens gehört, deren Ursprung bis zum Zeitalter der Kirchenväter reicht. Mit Recht
weist R. Stalder darauf hin, daß man in Schleiermachers Begriff des religiösen
Gefühls einen „zutiefst augustinische[n] Grundgedanke[n]“ wiedererkennen könne. 294 Er hebt in seiner Darstellung des theologischen Denkens Schleiermachers
hervor, „daß die Überzeugung von der Gegenwart Gottes im Innern des Men-
293
Vgl. „Wie in uns selbst ist uns Gottes Sein auch in den Dingen gegeben. In jedem einzelnen
Ding ist schließlich der transzendente Grund mitgesetzt. Denn in ihm ist ‚vermöge des Seins und
Zusammenseins die Totalität gesetzt‘, und damit auch ihr transzendenter Grund. […] Nur sofern
wir das Ding im Zusammenhang mit der Totalität, in der es gesetzt ist, in seinem Verhältnis zu
dem System der Begriffe auffassen, ist die Gottheit in ihm ausgedrückt. […] Wir befinden uns
mit diesen Bestimmungen ganz auf dem Boden von Spinoza und der aus ihm entsprungenen Identitätsphilosophie Schellings.“ (W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/1 (GS = Gesammelte Schriften, XIV/1), Göttingen 1966) Auch D. F. Strauß weist darauf hin, daß der ganze erste Teil der
Glaubenslehre in die pantheistische Formeln Spinozas zurückübersetzbar sei. (Vgl. D. F. Strauß,
Charakteristiken und Kritiken, Leipzig 1839, S. 168.)
294
R. Stalder, Grundlinien der Theologie Schleiermachers I, Wiesbaden 1969, S. 339.
151
schengeistes sich nicht nur am Rande der christlichen Tradition findet, sondern
einen integrierenden Teil ihrer Lehre ausmacht.“ 295
2.1. Diltheys Interpretation des Begriffs Religionsgefühl bei Schleiermacher
Hierin kann man vielleicht noch einen weiteren Beleg dafür sehen, daß Schleiermachers Identifikation der Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein
nicht eine Reduktion der Religion auf das rein Subjektive bedeutet. Das Selbstbewußtsein Schleiermachers ist nicht im Kontext der neuzeitlichen Subjektphilosophie zu verstehen, sondern im Kontext der theologischen Denktradition, in der
das seelische, geistige Leben des Menschen überhaupt als eine Widerspieglung
der ewigen göttlichen Wahrheiten verstanden wird.
G. Scholtz zeigt in einem Vergleich der Dialektik Schleiermachers mit der erkenntnistheoretischen Logik Diltheys, daß für Dilthey „Schleiermachers Religionsgefühl nur eine historisch vermittelte Stimmung war“. 296 Zwar könne man
„Diltheys Begriff des Innewerdens“ als ein „Gefühl“ verstehen, das „wie bei
Schleiermacher […] auch Selbstgewißheit, ‚Sich-selbst-haben‘ ist“. 297 Aber es
gäbe auch einen Unterschied zwischen beiden Begriffen: „Dilthey tilgt im unmittelbaren Selbstbewußtsein das metaphysische Implikat, das Religionsgefühl, und
löst das Realitätsproblem durch den Aufweis der inneren Tatsachen, die als Dinge-an-sich selbst gegeben sind: Der Schmerz z. B. ist ‚objektive Tatsache‘, ‚Vorstellung und Tatsache fallen zusammen‘.“ 298 Daraus ergibt sich, daß das Problem
der Realität für Dilthey zu einem offenen Problem wird: „Aber während für Jacobi und Schleiermacher dies Gefühl unauflöslich gegeben war und die Realität
Gottes und der Welt so unbedingt garantierte wie die des eigenen Selbst, zeigt
Dilthey es als durch Erfahrung vermittelt. Eben dadurch wird die Subjektivität
ganz auf sich zurückgeworfen; die Existenz der Welt bleibt ihr ein offenes Problem.“ 299 Dilthey gerate also in die Probleme des Psychologismus. Wie gezeigt,
295
Ebd., S. 340.
G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 240.
297
Ebd.
298
Ebd., S. 240 f.
299
Ebd., S. 241.
296
152
bedeutet für ihn Schleiermachers Identifizierung der Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein eine Zurückführung der Religion auf das psychische bzw.
rein subjektive. Nach Scholtz mache Dilthey aber eben dadurch das Problem der
Realität zu einer Sache der Psychologie, daß er das unmittelbare Selbstbewußtsein Schleiermachers von den metaphysischen Inhalten abtrennt: Diltheys „Rückgang auf die Widerstandserfahrung gibt nur eine psychologische Erklärung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt, aber keinen Beweis für ihre Existenz.“ 300
Scholtz’ Kritik an Dilthey bestätigt sich dadurch, daß Dilthey die Erfahrungsstruktur des religiösen Gefühls mit dem Lebenszusammenhang analogisiert. Die
Unmittelbarkeit des Gefühls, die in der Glaubenslehre mit dem Ausdruck des
unmittelbaren Selbstbewußtseins wiedergegeben wird, bringt nach Dilthey nichts
anderes zum Ausdruck, als daß das ungeteilte Ganze des Daseins im Bewußtsein
vergegenwärtigt ist: „Schwieriger und dem Mißverständnis sehr ausgesetzt ist die
nähere Bestimmung des Selbstbewußtseins als ‚unmittelbar‘. Diese soll nach seiner Erklärung dasjenige Bewußtsein von sich selbst ausschließen‚ welche mehr
einem gegenständlichen Bewußtsein gleicht, und eine Vorstellung von sich selbst
und als solche durch die Betrachtung seiner selbst vermittelt ist‘. Man könnte
diesen Unterschied auch etwa als den des Erlebens und des gegenständlichen
Denkens über das Erlebte bezeichnen. So kann Schleiermacher sich auch die Bestimmung des Gefühls bei Steffens als ‚unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins‘ aneignen.“ 301 Aus zwei Gründen scheint diese Erklärung m. E.
plausibel zu sein: 1. Schleiermacher betont selbst, daß es kein reines Selbstbewußtsein gibt, das von der Wechselwirkung zwischen den endlich Seienden getrennt bliebe. 302 2. Schleiermacher weist selbst (in der zweiten Auflage der Glaubenslehre) darauf hin, daß sein Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins mit
„Steffens Beschreibung vom Gefühl“, nämlich „die unmittelbare Gegenwart des
300
Ebd.
W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 521.
302
Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31 ff.
301
153
ganzen ungeteilten Daseins“, „sehr verwandt“ ist. 303 Dilthey versteht aber unter
dem religiösen Gefühl (Gottesbewußtsein) bei Schleiermacher nicht ein ursprüngliches Selbstbewußtsein, sondern eher ein nachträgliches Phänomen, das aus der
Naturerfahrung des geschichtlichen Menschen psychologisch abgeleitet wird:
„Also bezeichnet der Ausdruck ‚unmittelbar‘ keineswegs bloße, ursprüngliche,
gleichsam geschichtslose Gegebenheit, er bezeichnet nicht, daß solche Gefühle
niemals Vorstellungen und Entschlüsse zu ihrer Voraussetzung hätten; entsteht
ihm doch nach der Psychologie das Gottesbewußtsein durch die Vermittlung der
geselligen und der Naturgefühle.“ 304 Schleiermachers Ausdruck unmittelbar bezieht sich für Dilthey nicht primär auf unseren Bezug zu dem absoluten Sein
selbst, sondern eher auf eine Lebenseinheit, die bei jedem wirklichen Moment des
Erlebens gegeben ist und die erst nach einer Reflexion als eine geteilte Beziehung
zwischen dem Selbst und dem Objekt vergegenständlicht wird: „Er [der Ausdruck unmittelbar] bezeichnet nur, daß jeder Zustand der Lebendigkeit nur sofern
dem unmittelbaren Selbstbewußtsein angehöre, als er nicht vergegenständlicht,
nicht zum Objekt der Reflexion gemacht werde.“ 305
2.1.1. Die Weltbezogenheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins und das Gottesbewußtsein
Diltheys Erklärung bleibt aber der eigentlichen Intention Schleiermachers keineswegs treu. Dilthey hebt die Weltbezogenheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins hervor und macht das Gottesbewußtsein zu einem sekundären Bewußtsein,
das die Vermittlung der Naturgefühle voraussetzt. Für Schleiermacher selbst ist
jedoch das religiöse Gefühl des Unendlichen kein psychologisch abgeleitetes
Bewußtsein. Schleiermacher versteht das religiöse Gefühl, anders als Dilthey
irrtümlich meint, als ein ursprüngliches Bewußtsein.
303
Die Anmerkung zu §3.2 von F. Schleiermacher, Der christliche Glaube², Berlin 1960, S. 17.
Vgl. W. H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, Berlin / New York 1988, S. 33.
304
W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 521.
305
Ebd.
154
Dilthey legt das unmittelbare Selbstbewußtsein Schleiermachers einseitig und
eigensinnig aus. 306 Das kann man an Hand seiner Kritik an Schleiermacher selbst
deutlich erkennen. In einer anderen Stelle in dem Werk Leben Schleiermachers
spricht Dilthey von der „Irrung in Schleiermachers Auffassung der Religiosität“.
Es sei nach Dilthey ein Irrtum von Schleiermacher, „daß er dieses Gottesgefühl
als etwas Ursprüngliches, jedem Menschen einwohnendes, gesondert von den
Ideen und dem Gewissen in ihm Gegenwärtiges auffaßte.“ 307 Vor dem Hintergrund dieses Zitates läßt sich bereits vermuten, daß Dilthey die Unmittelbarkeit
des Selbstbewußtseins gerade deswegen als einen Ausdruck der ursprünglichen
Lebenseinheit auslegt, weil er die metaphysisch-theologischen Implikationen
dieses Begriffs abwertet.
Dilthey erkennt richtig, daß die Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins für
Schleiermacher nicht im Gegensatz zur Weltbezogenheit des Bewußtseins steht:
Schleiermacher selbst behauptet explizit, „daß wir keinen Augenblik sein können
ohne ein sinnliches Gefühl“. 308 Aber daraus folgt nicht, daß das religiöse Selbstbewußtsein für Schleiermacher kein ursprüngliches Bewußtsein wäre; denn der
Versuch, „alle frommen Gefühle auf sinnliche zurück zu führen“, ist für Schleiermacher „der ungläubige [Ausweg]“ 309 angesichts des notwendigen sinnlichen
Moments aller Gefühle. Eine solche Reduktion kann Schleiermacher nicht akzeptieren. Dilthey interpretiert das unmittelbare Selbstbewußtsein Schleiermachers
306
Nach G. Meckenstock ist Diltheys Werk Leben Schleiermachers durch die lebensphilosophische Überzeugung Diltheys charakterisierbar: „Ideengehalte und Philosopheme […] werden angemessen nur verstanden, wenn sie als Ausdruck des Lebensprozesses verstanden werden. Sie
sind Darstellungen des ursprünglichen Erlebens. Und Dilthey hält Schleiermacher für einen besonders geeigneten Gegenstand einer lebensphilosophisch orientierten Biographie.“ (G. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, Berlin / New York 1988, S. 6) Nach
Meckenstock bleibt diese Überzeugung Diltheys auch für die theoretische Auffassung der Philosophie Schleiermachers nicht ohne Konsequenzen: „Einerseits zieht er [Dilthey] eine Vielzahl von
Quellen heran, andererseits wertet er diese Quellen sehr eklektisch aus. Einerseits bringt er eine
Vielzahl von Entwicklungsfaktoren ins Spiel, andererseits setzt er seinen lebensphilosophischen
Interpretationsrahmen bei allen Einzeluntersuchungen sehr markant durch.“ (Ebd., S. 8) Offenbar
bleibt die Wirkung dieser lebensphilosophisch geprägten Schleiermacher-Interpretation Diltheys
nicht von geringer Bedeutung für die gesamte Rezeptionsgeschichte der Philosophie von Schleiermacher: „Mit seiner imponierenden materialgesättigten Darstellung“ in Leben Schleiermachers,
dessen erster Band 1870 erschienen war, „prägte Dilthey auf Dauer die weitere Forschung.“ (Ebd.)
307
W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/1, a.a.O., S. 142.
308
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 36.
309
Ebd.
155
mit den Kategorien seiner Lebensphilosophie. Der fromme Ursprung des Selbstbewußtseins, der den eigentlichen Kernpunkt von Schleiermachers Glaubenslehre
bildet, wird bei Dilthey nicht genügend gewürdigt. 310
Wenn Dilthey Schleiermacher daher vorwirft, die Lehre der Gottesgegenwart im
Selbstbewußtsein sei verfehlt, so läuft diese Kritik an diesem (vermeintlichen)
‚Irrtum‘ von Schleiermacher bei Dilthey letztlich auf jene falsche Annahme hinaus, daß Schleiermacher mit seiner Identifizierung der Religion mit dem Selbstbewußtsein die Religion auf ein rein subjektives Moment reduziere. Einerseits
führt Dilthey die Ursache für diesen „Irrtum“ von Schleiermacher auf „den Einfluß der dünnen, halb sentimentalen Lehre Jacobis vom Glauben als Gefühl“ zurück. 311 Zugleich versteht Dilthey Schleiermachers Lehre des unmittelbaren
Selbstbewußtseins als ein Resultat des Einflusses des zeitgenössischen Spinozismus, der das pantheistische Denken Spinozas dadurch modernisiere, daß er die
Vorstellung der „Immanenz der Gottheit in der Welt“ ergänze durch den Gedan-
310
M. Redeker, der Diltheys Leben Schleiermachers (in den Gesammelten Schriften) herausgegeben hat, weist in seiner ‚Einleitung‘ zu dem Werk darauf hin, daß „Diltheys Bedenken gegen
Schleiermacher“ hauptsächlich „gegen seine Christologie“ gerichtet sind. (M. Redekers ‚Einleitung‘ für Diltheys Leben Schleiermachers, in: W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/1, a.a.O., S.
XLIV.) Ihm zufolge ist sich Dilthey zwar mit Schleiermacher-Kritikern wie F. C. Baur und D. F.
Strauß darin einig, daß Schleiermacher der Geschichtlichkeit des religiösen Bewußtseins nicht
genügend Rechnung trägt: „Dilthey selber steht auf dem Standpunkt der Kritiker Schleiermachers,
den Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß einnehmen. Diese sind der Meinung,
daß das Ewige und Absolute sich einer geschichtlichen Gestalt nicht vollkommen offenbaren
könne.“ (Ebd.) Dilthey erkenne richtig, daß „Schleiermachers Kulturphilosophie“ „eigentlich eine
Theologie der Kultur“ darstelle und in ihrer letzten Begründung doch die Frömmigkeit des religiösen Daseins voraussetze: „Die Gegner Schleiermachers haben niemals verstanden, daß es Schleiermacher um Frömmigkeit und nicht um Philosophie ging. […] Dilthey ist also der Überzeugung,
daß Schleiermacher das Theologische an der Theologie gegenüber der Geschichts- und Kulturphilosophie von Kant, Schelling und Hegel zur Geltung gebracht hat […].“ (Ebd., S. XLIV, XLIV)
Mit dieser Meinung von Redeker bin ich insgesamt einverstanden und möchte daher nicht bestreiten, daß Dilthey in seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher auch die theologische Dimension der Philosophie Schleiermachers Ernst nimmt. Diltheys Kritik an Schleiermachers Religionsphilosophie scheint mir jedoch noch tiefere Gründe zu haben, als Redeker annimmt. Denn Diltheys Bedenken richten sich, wie wir gesehen haben, nicht nur gegen Schleiermachers Christologie; sondern gegen den eigentlichen Kerngedanken des religiösen Selbstbewußtseins. Er wendet
sich dagegen, daß das Gottesbewußtsein ein ursprüngliches Selbstbewußtsein ist. Im weiteren
Verlauf dieses Teils wird deutlich werden, daß Dilthey den Grund, warum Schleiermacher das
Gottesbewußtsein als ein ursprüngliches Bewußtsein versteht, mißversteht. Ich behaupte keineswegs, daß Dilthey die Frömmigkeit im Sinn Schleiermachers einfach ignoriert. Dilthey bleibt aber
m. E. bei seiner Darstellung des religiösen Lebens bzw. der Frömmigkeit des Gefühls nicht der
eigentlichen Intention Schleiermachers treu, sondern folgt in gewisser Hinsicht seinem eigenen
lebensphilosophischen Ansatz.
311
Ebd.
156
ken „der Gottheit dieses Göttlich-Unendlichen in der individuell gearteten Einzelperson“ 312 . Die Unendlichkeit, auf die sich das religiöse Gefühl Schleiermachers beziehe, sei zwar keine „extensive Unendlichkeit des Universums“, die „als
Dogma definitiv durch Kants Antinomie aufgelöst “ 313 sei. Sie ist nach Dilthey
charakteristisch für das moderne Zeitalter, in dem die Transzendenz der Gottheit
aufgehoben ist, und nur als ein Versuch zu verstehen, den Verlust der transzendenten Gottheit durch den „Begriff der ideellen Unendlichkeit“ zu kompensieren:
„Der Mensch übertrug sein religiöses Gemütsverhältnis, als er die Transzendenz
der Gottheit aufhob, auf das unendliche Universum, gleichviel, wie dieses religiöse Bewußtsein der Unendlichkeit der Gottheit, des unendlichen Wertes der Person
sich gebildet hatte.“ 314 Dilthey versteht also unter der Unendlichkeit der Gottheit,
auf die sich das unmittelbare Selbstbewußtsein Schleiermachers bezieht, eine
immanente Idee, eine ideelle Unendlichkeit im religiösen Gemütsverhältnis. Diese „intensive oder ideale Unendlichkeit, nämlich die Gegenwart der Gottheit in
jeder endlichen Erscheinung“ ist für Dilthey nur ein Ausdruck des ästhetischen
und religiösen Lebens, der philosophisch gesehen ebenso wie die extensive Unendlichkeit unhaltbar sei: „Aber alle diese Begriffe, welche den modernen Pantheismus konstituieren, sind schlechthin unbeweisbar. Weder die extensive oder
die ideelle Unendlichkeit des Universums noch der unendliche Wert der Individual-Existenz noch die bildende Ethik lassen sich beweisen. Diese Begriffe entspringen aus der Vertiefung des ganzen Gemüts in die uns umgebende Macht,
Schönheit und Unermeßlichkeit der Natur. Sie sind ästhetisch und religiös.“ 315
Mit anderen Worten: Das religiöse Selbstbewußtsein Schleiermachers ist nach
Dilthey kein Ergebnis einer originär philosophischen Untersuchung, das einer
näheren Überprüfung durch die strenge Logik standhalten könne; es sei eher ein
312
Ebd., S. 13. Die gesamte Strömung des pantheistischen Denkens, die gerade auf diesen Gedanken der Gottesgegenwart in der individuellen Einzelperson zurückzuführen ist, faßt Dilthey folgendermaßen zusammen: „Spinoza war der große abstrakte Verstand, der für die so entstehenden
Verhältnisse die Formeln erfand. Shaftesbury und Hemsterhuis haben pantheistische Systeme auf
diesen Grundlagen entwickelt, Lessing, Herder, Goethe, Schiller waren von diesen Systemen
bedingt, Schleiermacher wuchs in der Lektüre von Shaftesbury, Spinoza und Hemsterhuis
auf.“ (Ebd.)
313
Ebd., S. 14.
314
Ebd.
315
Ebd.
157
Ausdruck eines Zeitalters, in dem der Mensch den Verlust der Transzendenz der
Gottheit durch die Religiosität des Menschen, durch die Immanenz der unendlichen Gottheit in uns zu kompensieren versuche. Hieraus folgt, daß das religiöse
Gefühl – gerade wie Scholtz aufweist – von Dilthey eigentlich nur als eine historische Stimmung verstanden wird, als ein Selbstbewußtsein des historischen Daseins, das sich in einem bestimmten Zeitalter allmählich entwickelt. Es ist unverkennbar, daß Dilthey die Gottesgegenwart im Sinn Schleiermachers für eine innere Gegebenheit (die ideelle Unendlichkeit im Bewußtsein) hält. Schleiermacher
selbst erörtert in seiner Glaubenslehre die Möglichkeit, ob das Gottesbewußtsein
als eine innere Gegebenheit des Selbstbewußtseins zu verstehen ist. Seine Antwort ist allerdings negativ: „Angenommen das höchste Wesen sei uns innerlich
gegeben, so kann dieses Gegebensein nur als ein schlechthin einfaches gedacht
werden, und eben deshalb ist nicht einzusehen, wie dasselbe könnte zu einem
bestimmten die Zeit als eine Reihe von Momenten erfüllenden Selbstbewußtsein
gedeihen. Denn ein solches kann nur stattfinden als ein veränderliches.“ 316
Wir haben gesehen, daß jener Versuch, alle frommen Gefühle auf die sinnliche
Bestimmtheit des Bewußtseins zurückzuführen, für Schleiermacher eine unangemessene und ungläubige Explikation des religiösen Selbstbewußtseins ist.
Gleichzeitig macht Schleiermacher aber ebenfalls deutlich, daß er auch mit dem
Versuch nicht einverstanden ist, für die Explikation des religiösen Selbstbewußtseins „die sinnlichen Gefühle möglichst zu vernichten“. Ein solcher Versuch ist
für ihn auf eine „schwärmerische“ Religionsauffassung zurückführbar, die ebenfalls nicht annehmbar sei. 317 Schleiermachers Diktum ist klar und deutlich. Wie
auch Dilthey zu Recht betont, ist für Schleiermacher die Frömmigkeit des Gefühls untrennbar mit den sinnlichen Gefühlen verbunden: „Soll also Frömmigkeit
als höchste Stufe des Selbstbewußtseins bestehn: so müssen die fromme Erregung
und die sinnlichen Gefühle in jedem Moment, nur in verschiedenem Maaße, eines
werden, d. h. die höhere Stuffe muß die niedere in sich aufnehmen.“ 318 Damit
316
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 36 f.
Ebd., S. 36.
318
Ebd.
317
158
macht aber Schleiermacher zugleich deutlich, daß das religiöse Selbstbewußtsein
für ihn nicht ein immanentes Gottesbewußtsein voraussetzt.
Die Frage, aus welchem Grund die Gottesgegenwart im Selbstbewußtsein für
Schleiermacher nicht die innerliche Gegebenheit Gottes bedeuten kann, wird in
Kapitel 3.4. behandelt werden. Ich möchte hier zuerst weiter erörtern, in welchem
Sinn das religiöse Selbstbewußtsein für Schleiermacher als das ursprüngliche
Bewußtsein zu verstehen ist.
2.1.2. Der Sinn der Ursprünglichkeit des religiösen Selbstbewußtseins bei
Schleiermacher
Schleiermachers Behauptung, daß das fromme Selbstbewußtsein immer mit dem
sinnlichen Selbstbewußtsein zusammen auftritt, impliziert eine Vorstellung, die
auch Diltheys Begriff des Lebenszusammenhangs zugrunde liegt. Dilthey analogisiert Schleiermachers Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins mit seinem
Begriff des ungeteilten Lebenszusammenhangs. Wie schon oben gezeigt, bezeichnet Schleiermachers Ausdruck ‚unmittelbar‘ nach Dilthey die Tatsache,
„daß jeder Zustand der Lebendigkeit nur sofern dem unmittelbaren Selbstbewußtsein angehöre, als er nicht vergegenständlicht, nicht zum Objekt gemacht werde.“ 319 Was meint Dilthey nun mit dieser Aussage? Dilthey ist der Ansicht, daß
der „Zustand der Lebendigkeit“ nicht „vergegenständlicht“ werden kann, und daß
das unmittelbare Selbstbewußtsein, wie er selbst explizit aufweist, bestimmte
„Vorstellungen und Entschlüsse“ 320 zu seiner Voraussetzung hat.
Aber m. E. beinhaltet diese Aussage eine unvermeidliche Doppeldeutigkeit,
wenn man mit ihr auch das Wesen des religiösen Gefühls bestimmen will. Das
religiöse Gefühl ist für Schleiermacher das unmittelbare Selbstbewußtsein. Aber
das unmittelbare Selbstbewußtsein ist, wie gezeigt, nicht an sich schon das religiöse Gefühl. Der Grund dafür ist denkbar einfach. Schleiermachers Ausdruck unmittelbar schließt, wie Dilthey selbst richtig darlegt, die Vorstellungen und Entschlüsse, sinnliche Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins, das Innewerden der
319
320
W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 521.
Ebd.
159
Mannigfaltigkeit des Seienden nicht aus, sondern vielmehr ein. Das heißt nun
aber: Mit dem Ausdruck des unmittelbaren Selbstbewußtseins ist zwar das „Einssein mit der Welt im Selbst“ ausgedrückt, welches „das Bewußtsein seiner selbst
als mitlebenden Theiles im Ganzen“ impliziert,321 aber noch nicht die Frömmigkeit des unmittelbaren Selbstbewußtseins. Diltheys Erklärung des Ausdrucks
‚unmittelbar‘ drückt also zwar aus, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein als ein
Bewußtsein vom Selbst als Sein in der Welt zu bezeichnen ist; hieraus wird aber
noch nicht verstehbar, ob und warum das religiöse Gefühl oder Gottesbewußtsein
als ein unmittelbares Selbstbewußtsein zu bezeichnen ist. 322
Die Behauptung, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein als ein Ausdruck des
ursprünglichen Lebenszusammenhangs vor der Reflexion (Präreflexivität des
unmittelbaren Selbstbewußtseins) verstanden wird, bedeutet nicht, daß das Gefühl
gerade als das unmittelbare Selbstbewußtsein zum frommen Gottesbewußtsein
werden kann. Diese Behauptung kann wahrscheinlich als ein Hinweis interpretiert
werden, daß jeder lebendige Zustand ursprünglich als ein Ausdruck der unmittelbaren Einheit von dem erlebenden Dasein und dem Erlebten zu bezeichnen ist.
Daraus ergibt sich aber nicht, daß das lebendige Dasein kein Gegenstandbewußtsein hätte. Im Gegenteil: Ein Gegenstandbewußtsein ist eine notwendige Voraussetzung für das Leben des Menschen, da alles Lebendige, das ein Selbstbewußtsein hat, die ursprüngliche Teilung von Selbst und Nichtselbst voraussetzt. Man
kann freilich philosophisch versuchen aufzuweisen, daß in diesem Gegenstandsbewußtsein nicht die reine Objektivität als solche repräsentiert ist; alles Gegenständliche ist fundamental vom Urteilsprozeß aus dem jeweiligen Lebensinteresse
abhängig oder von Anfang an durch den sich geschichtlich entfaltenden Sinnzusammenhang einer Kultur durchdrungen usw. Man wird vielleicht ferner behaupten wollen, daß im wirklichen Erleben nicht die Teilung von Ich und Objekt-Welt
wahrnehmbar sei, weil das Erleben durch die unmittelbare Einheit von dem Erle321
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 124.
Auch D. Offermann weist auf, daß für Schleiermacher das unmittelbare Selbstbewußtsein nicht
mit dem höheren Selbstbewußtsein bzw. mit dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl identifiziert werden darf. Nach ihm ist das unmittelbare Selbstbewußtsein „in der ‚Duplizität‘ seiner
Elemente“ zu charakterisieren, da es sowohl als ein Bewußtsein des In-der-Weltseins als auch als
ein Bewußtsein der Abhängigkeit vom Gott interpretierbar ist. (D. Offermann, Schleiermachers
Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 52 ff.)
322
160
benden und dem Erlebten geschieht; das angeblich Objektive ist in diesem Sinn
ein Ausdruck des Lebens, in dem die Teilung von subjektiv und objektiv aufgehoben ist. Das bedeutet aber nur, daß das Ich (das erlebende Selbst) beim wirklichen Erlebnisvorgang latent bleibt; die Welt wird auch in einer solchen Lebenseinheit stets als Mannigfaltigkeit des gegenständlich Seienden bewußt und es wäre absurd anzunehmen, daß wir im Moment des wirklichen Lebenserlebnisses
kein Gegenstandbewußtsein hätten. D. h.: Der Begriff des Lebens bzw. des Lebenszusammenhangs garantiert keineswegs, daß das Selbstbewußtsein über die
Grenze des am Gegenstand orientierten Bewußtseins hinausgeht und sich in der
Abhängigkeit von dem unendlichen Sein selbst wiederfindet. Jeder aktuelle Vorgang des Lebens bleibt auf die Mannigfaltigkeit des gegenständlich Seienden
bezogen, so daß die Dyadik von mittelbar und unmittelbar nicht einfach als Verhältnis zwischen dem unmittelbaren, ungegenständlichen Selbstbewußtsein und
„seiner Erhebung zur Gegenständlichkeit“ durch die „Reflexion“ bestimmt werden kann. 323 Denn es ist gerade das unmittelbare Selbstbewußtsein, das auch vor
der reflexiven Erhebung des erlebenden Selbst zum gesonderten Sein (zum von
der Lebenseinheit abgesonderten Subjekt) an der Mannigfaltigkeit des gegenständlich Seienden orientiert ist.
G. Scholtz zeigt, „daß bei Dilthey Schleiermachers Begriffe Gott und Welt im
Begriff des Lebens verschmelzen.“ 324 Diese Verschmelzung von Gott und Welt
im Leben ist m. E. eine Folge davon, daß Dilthey das Problem der Selbstausrichtung des einzelnen wirklichen Individuums auf das wahre Sein, in dessen Aufklärung das Hauptanliegen der Religionsphilosophie Schleiermachers liegt, nicht
deutlich genug von der theoretischen Reflexion über die Lebensstruktur unterscheidet. Dilthey spricht in seinem Werk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in
den Geisteswissenschaften von der „Idee der Objektivation des Lebens“, die uns
„einen Einblick in das Wesen des Geschichtlichen“ verleihen soll. 325 Damit zeigt
er zugleich, daß er mit der Einführung des Lebensbegriffs in seine Philosophie
323
W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 521.
G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 250.
325
W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M.
1981, S. 179.
324
161
primär ein theoretisches Ziel verfolgt. Er möchte zeigen, wie das Leben sich
selbst objektiviert. Auf diese Art kann man aber nicht verstehbar machen, wie wir
uns von unserem an der weltlichen Vorhandenheit orientierten natürlichen Bewußtsein kritisch distanzieren können.
Es steht allerdings außer Zweifel, daß Dilthey den naturwissenschaftlichen Glauben an die Möglichkeit vollständiger Objektivität als unhaltbar betrachtet. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften weist Dilthey darauf hin, daß sich die
Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften gegenseitig bedingen. Als
ein Beispiel nennt er „Kopernikus“, der eine „Revolution in unserer Weltansicht“ zustandebrachte. „Die Veränderung, welche die schöpferische Macht des
Geistes in der Außenwelt hervorgebracht hat“,326 ist für Dilthey ein Beweis dafür,
daß auch die angeblich objektive Naturerkenntnis doch nicht vom sich historisch
bildenden Geist gänzlich frei ist. „An diesem Punkte kann eingesehen werden,
wie relativ die Abgrenzung dieser beiden Klassen von Wissenschaften voneinander ist“: „Erkenntnisse der Naturwissenschaften vermischen sich mit denen der
Geisteswissenschaften.“ 327
Bei Dilthey gibt es sogar eine Theorie der Alltagserfahrung, die mit Heideggers
These der ursprünglichen Sinnerschließung durch die Alltäglichkeit des Lebens
vergleichbar ist. Allerdings betont Dilthey – anders als Heidegger – den historischen Bildungsprozeß des geistigen Lebens. Für Dilthey gibt es nichts, was nicht
„durch geistiges Tun entstanden“ wäre. 328 Alles, was uns in unserer alltäglichen
Lebensführung begegnet, „trägt daher den Charakter der Historizität“: „Von der
Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße,
dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Gerichtsgebäude ist um uns stündlich geschichtlich Gewordenes.“ 329 Kurzum: Für
Dilthey ist alles, was uns in der menschlichen Kultur umgibt, der Geschichtlichkeit unterworfen, in der sich das Leben objektiviert.
326
W. Dilthey, Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (GS Bd. I), Göttingen 1959, S. 18.
Ebd.
328
Ebd., S. 179.
329
Ebd.
327
162
Es fragt sich nun aber, ob diese Rückführung des Verstehens auf die Geschichtlichkeit des Lebens zugleich die Möglichkeit aufweisen kann, die Ausrichtung
auf das Sein selbst als die fundamentale Lebensweise des Menschen aufzuklären.
Allerdings darf man dabei nicht ignorieren, daß das Leben für Dilthey nie vollständig objektivierbar ist. Das „Prinzip der produktiven Unergründlichkeit“ ist,
wie F. Rodi gegen Gadamers Objektivismus-Kritik an Diltheys Hermeneutik hervorhebt, bereits „bei Dilthey selbst im Begriff des Erlebnisausdrucks und des
Verstehens von Erlebnisausdrücken angelegt“. 330 Es geht hierbei aber nicht darum, ob das Leben in seiner fundamentalen Offenheit zu betrachten ist, die die
vollständige Objektivierung des Lebens unmöglich macht; sondern darum, ob ein
Moment im Leben anzunehmen ist, in welchem sich die einzelnen wirklichen
Individuen von der Orientierung an der Vorhandenheit des gegenständlich Seienden zurückholen und sich auf das Sein selbst, das nicht auf die Vorhandenheit
zurückführbar ist, ausrichten.
2.2. Die Selbstbewußtseinstheorie des jungen Schleiermachers
Es geht also in Schleiermachers Rede über die Religion um die ontologische Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden einerseits und um die Bedeutung
dieser ontologischen Differenz für die wirkliche Lebensführung des Menschen
andererseits.
Vielleicht wird diese Behauptung für viele Kenner der Hermeneutik befremdend
wirken. Gadamer würde z. B., wie in der Einleitung dieser Arbeit bereits erläutert
wurde, nicht damit einverstanden sein, daß Schleiermacher, dessen Hermeneutik
für Gadamer nur eine Variante der romantischen Genieästhetik darstellt, die Heideggersche Unterscheidung von dem Sein und dem Seienden vorweggenommen
habe.
Die Entdeckung der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden kann aber m. E. nicht als eine originäre Leistung Heideggers anerkannt werden. Heideggers Habilitationsschrift zeigt z. B., wie wir im letzten Kapitel gese330
F. Rodi, Erkenntnis des Erkannten, Frankfurt a. M. 1990, S. 97.
163
hen haben, klar und deutlich, daß er in der Scotischen Sprachphilosophie eine
Seinslehre vorfindet, in der die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden
analysiert wird. Man darf daher auch andererseits nicht behaupten, Heidegger
hätte seine Lehre von der ontologischen Differenz von Schleiermacher übernommen. Vielmehr muß man m. E. davon ausgehen, daß der Gedanke einer ontologischen Differenz auf einer Tradition beruht, die als ein gemeinsamer Ursprung der
Philosophie von Schleiermacher und Heidegger gelten kann: ich meine die theologische Tradition.
R. R. Williams weist darauf hin, daß Schleiermachers Gottesbegriff Ähnlichkeiten mit der Gottesvorstellung von Nicolaus Cusanus hat; Gott sei für beide die
Koinzidenz der Gegensätze. 331 Ähnlich wie Schleiermacher betrachtet Cusanus
Gott einerseits als „Deus absconditus“, der nicht mit dem begrifflichen Denken
ergründbar ist, andererseits als „Deus revelata“, also als Gott, der sich offenbart. 332 Diesem Begriff Gottes liegt die Grundidee zugrunde, die auch in der
Seinslehre von Duns Scotus wiederzufinden ist: Das wahre Sein ist nicht auf die
Vorhandenheit zurückzuführen. Freilich kann man einwenden, daß zahlreiche
Unterschiede zwischen den Seinslehren von Schleiermacher, Heidegger, Cusanus
und Duns Scotus bestehen. Ferner kann man darauf hinweisen, daß das Sein im
Heideggerschen Sinn nicht mit der Idee Gottes gleichgesetzt werden könne; bekanntlich wird Gott beim späten Heidegger als ein Seiendes bezeichnet. 333 Ungeachtet dieser Präzisierungen geht man aber m. E. auf jeden Fall nicht fehl in der
Annahme, daß sowohl Schleiermacher als auch Heidegger durch die Tradition
des theologischen Denkens auf die ontologische Differenz zwischen dem Sein
und dem Seienden aufmerksam gemacht worden sind. Von daher ist es keineswegs überraschend, daß auch Schleiermachers Religionsphilosophie – wie Heideggers Existenzontologie – von der ontologischen Differenz zwischen dem Sein
und dem Seienden ausgeht.
331
Vgl. R. R. Williams, Schleiermacher The Theologian, a.a.O., S. 14.
Ebd., S. 15.
333
Vgl. M. Heidegger, ‚Brief über den Humanismus‘, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976,
S. 331 ff.
332
164
Wichtig sind hier eher zwei Fragen, die sich auf das Problem der Entwicklung
des Religionsbegriffs bei Schleiermacher beziehen: 1. Ab wann läßt sich in den
Schriften Schleiermachers das Bewußtsein der ontologischen Differenz nachweisen? 2. Ab wann betrachtet Schleiermacher die ontologische Differenz als Ermöglichungsgrund für das religiöse Selbstbewußtsein, das auf das Sein selbst
ausgerichtet ist? Einerseits kann man mit beiden Fragestellungen deutlich machen,
ob Schleiermachers Begriff der Religion im Verlauf seiner Entwicklung eine
deutliche Veränderung erfährt, wie offenbar Dilthey, Huber und Brunner behaupten. Andererseits wird man auch erkennen können, warum Schleiermachers Religionsphilosophie – trotz der unübersehbaren Unterschiede zu Heideggers Ontologie – als ein wichtiger Wegbereiter für Heideggers Philosophie verstanden
werden kann. Denn nicht in der Entdeckung der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden liegt die besondere Leistung von Schleiermacher und Heidegger, sondern in dem Versuch, die ontologische Differenz durch
eine strenge Analyse des Selbstbewußtseins zu einem Grundmotiv für die Selbstausrichtung des Daseins auf das Sein selbst zu erheben.
2.2.1. Das Verhältnis zwischen der Religion und dem unmittelbaren Selbstbewußtsein
Es wurde bereits gezeigt, daß Dilthey – wie Brunner – Schleiermachers „Begriff
von der Einheit der Anschauung und des Gefühls“ in den Reden „den Charakter
des Mysteriums an sich“ zuweist. 334 Bekanntlich sind viele SchleiermacherKritiker davon überzeugt, daß dieser Begriff mit dem Schellingschen Begriff der
intellektuellen Anschauung identifizierbar ist. Auch für Dilthey steht es außer
Frage, daß „jener geheimnisvolle Augenblick Schleiermachers“ „als Schellings
intellektuelle Anschauung“ zu verstehen ist. 335 Zwar ist Dilthey vorsichtig in Bezug auf die Frage, ob Schleiermacher von der Philosophie Schellings wichtige
Ansätze für seinen Religionsbegriff übernommen hat: „Nur eine genaue historische Untersuchung könnte feststellen, ob in dem einzelnen Schelling oder Schlei334
335
W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 580.
Ebd.
165
ermacher der Abhängige ist.“ 336 Er deutet aber zugleich an, daß sehr wahrscheinlich Schelling der Urheber dieses Begriffs ist und Schleiermacher der Abhängige:
„Schellings Begriff der intellektuellen Anschauung stand schon vor 1799 fest“,
337
also auf jeden Fall vor dem Erscheinen der ersten Auflage der Reden, die die
erste Publikation Schleiermachers sind. Wie viele Schleiermacher-Kritiker weist
auch Dilthey darauf hin, daß für die weiteren Auflagen der Reden eine zunehmende „Vermeidung des Begriffs der Anschauung“338 charakteristisch ist. Schleiermacher will vermeiden, daß sein Religionsbegriff in Analogie mit der spekulativen Philosophie verstanden wird. Dieser Versuch Schleiermachers, sich von der
Schellingschen Philosophie zu distanzieren, führt nun nach Dilthey und vielen
Schleiermacher-Kritikern zu einer zunehmenden Subjektivierung des Religionsbegriffs, die am Ende mit der Identifizierung der Religion mit dem unmittelbaren
Selbstbewußtsein endet.
Aus zwei Gründen scheint mir diese Darstellung Diltheys angreifbar zu sein:
Erstens versteht Dilthey, wie schon gezeigt, das unmittelbare Selbstbewußtsein
Schleiermachers zu sehr im Rahmen der neuzeitlichen Subjektphilosophie, während Schleiermacher in der Tradition des theologischen Denkens seit Augustinus
steht. Daß Schleiermacher die Religion als ein unmittelbares Selbstbewußtsein
darstellt, bedeutet m. E. keineswegs, daß er die Religion auf das rein Subjektive
reduziert. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß Schleiermachers Identifizierung der Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein von einem Augustinschen Ansatz geleitet wird, nämlich daß „über das Innerste der Seele“, wie K.
Jaspers prägnant formuliert, „der Weg zu Gott [führt].“ 339
Zweitens scheint mir die Annahme, Schleiermacher habe erst mit zunehmender
Distanz von der Schellingschen Theorie die Religion mit dem unmittelbaren
Selbstbewußtsein identifiziert, höchst fragwürdig zu sein. Es steht allerdings außer Zweifel, daß Schleiermacher ab der zweiten Auflage der Reden tatsächlich
mit der Absicht den Gebrauch der Ausdrücke ‚Anschauung‘ und ‚Univer336
Ebd., S. 581.
Ebd.
338
Ebd.
339
K. Jaspers, Die großen Philosophen, München / Zürich 1988, S. 327.
337
166
sum‘ vermeidet, den Unterschied zwischen seiner Philosophie und der spekulativen Philosophie hervorzuheben. Es ist auch wahr, daß Schleiermacher erst 1821,
als die dritte Auflage der Reden und die erste Auflage der Glaubenslehre erschienen ist, angefangen hat, das Gefühl explizit mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein zu identifizieren. Betrachtet man aber diese Behauptung näher, kann man
doch erkennen, daß sie von einer grundsätzlichen Annahme abgeleitet ist, die
keineswegs auf die Philosophie Schleiermachers anwendbar ist: Das Selbst gehöre zur Kategorie des Subjektiven; mit dem Gefühl meine Schleiermacher ein subjektives Gefühl, und mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein ein subjektives Bewußtsein vom Selbst, mit dem man keine objektive Wahrheit sichern könne. Das
kann man daraus erkennen, daß Dilthey, wie Huber und Brunner, die zunehmende
Subjektivierung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher als Folge der Vermeidung des Anschauungsbegriffs versteht; die Identifizierung der Religion mit dem
unmittelbaren Selbstbewußtsein beim späten Schleiermacher sei als Subjektivierung der Religion zu verstehen, die durch das Vermeiden des Anschauungsbegriffs für die Definition der Religion zustande komme.
2.2.2. Schleiermachers Jugendschriften über den Spinozismus und das Problem
des Selbstbewußtseins
Das Problem des unmittelbaren Selbstbewußtseins tritt aber bei Schleiermacher
schon in seinen Jugendschriften auf. Besonders in zwei Schriften über den Spinozismus (‚Spinozismus‘ und ‚Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems‘),
die nach den Herausgebern von KGA 1. Abt. 1 (Jugendschriften 1787-1796) vermutlich 1793/94 abgefaßt wurden, kann man deutlich erkennen, daß Schleiermacher schon in seiner Jugendzeit den Begriff des religiösen Gefühls aus der Analyse des unmittelbaren Selbstbewußtseins abgeleitet hat.
Die Annahme, Schleiermacher habe seinen Religionsbegriff vom Schellingschen
Begriff der intellektuellen Anschauung her gewonnen, scheint mir vor allem wegen des Tatbestandes unhaltbar zu sein, daß Schleiermacher schon in dieser frühen Zeit einen Gefühlsbegriff hatte, der auch in seinem späteren Denken seine
167
Gültigkeit beibehält: „Das eigentliche wahre und reelle in der Seele ist das Gefühl
des Seyns, der unmittelbare Begrif wie es Spinoza nennt […]“.340 Obwohl Schleiermacher das Gefühl des Seins hier mit dem unmittelbaren Begriff Spinozas identifiziert, zeigen Schleiermachers Jugendschriften zugleich, daß er sich vom Spinozismus kritisch distanziert. Seine Kritik an Spinozismus ist durch seine gründliche Analyse des Selbstbewußtseins geprägt.
Man wird hier wohl einwenden wollen, daß es sich hierbei um das unmittelbare
Realitätsbewußtsein von F. Jacobi handelt. In der Tat: Schleiermachers These
vom unmittelbaren Seinsgefühl findet sich eigentlich in einer Anmerkung zu Jacobis Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn ausgedrückt; 341 und man darf folglich davon ausgehen, daß der Begriff
des unmittelbaren Seinsgefühls beim jungen Schleiermacher von Jacobi beeinflußt wurde. Aber Schleiermachers Jugendschriften zeigen, daß sich der junge
Schleiermacher in seiner Beschäftigung mit dem Problem des Selbstbewußtseins
sehr kritisch mit Jacobi auseinandersetzt. Ferner berücksichtigt Schleiermacher
bei seiner Analyse des Selbstbewußtseins nicht nur die Position von Jacobi. Er
vergleicht dabei auch die Positionen von verschiedenen Philosophen wie Kant,
Spinoza und Leibniz. Besonders mit der Transzendentalphilosophie von Kant
beschäftigt sich Schleiermacher sehr intensiv, und dadurch gewinnt er die philosophischen Einsichten, die ihn zu einer deutlichen Kritik an Jacobi führen.
M. E. darf man aus zwei Gründen annehmen, daß Schleiermacher schon in dieser
frühen Zeit den ersten Ansatzpunkt dafür gewonnen hat, die Religion als eine
ursprüngliche Form des unmittelbaren Selbstbewußtseins aufzufassen:
340
F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, in: ders., Jugendschriften (KGA 1. Abt. 1), Berlin / New
York 1984, S. 535.
341
Das eigenhändige Manuskript, das Schleiermacher selber mit dem Titel ‚Spinozismus‘ versehen hat, besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil ist das Manuskript nach der Einleitung des Herausgebers des Bandes eine saubere Abschrift der 44 Paragraphen, in denen F. H. Jacobi in seiner
Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (2. Aufl., Breslau 1789) die Philosophie Spinozas zusammenfassend dargestellt hat; Schleiermacher hat nur
einige der von Jacobi beigebrachten Belegstellen aus dem Werk Spinozas weggelassen. Der zweite Teil des Manuskripts ist eine Abfolge von zumeist kurzen Auszügen aus der Jacobischen
Schrift Über die Lehre des Spinoza, die Schleiermacher jeweils in einer eigenen Anmerkung kritisch kommentiert hat. (Vgl. ‚Einleitung des Bandherausgebers‘ von KGA 1. Abt. 1, a.a.O., S.
LXXV f.)
168
1. Schleiermacher unterscheidet unter dem Einfluß von Jacobi das Sein selbst
von dem substantiell Seienden. 342 Einerseits läßt er erkennen, daß sein Begriff des
unmittelbaren Seinsgefühls eine Interpretation der Spinozistischen Substanzlehre
ist: „Spinoza will eigentlich soviel sagen. Das Seyn ist die erste Bedingung aller
Eigenschaften, es hängt also genau mit dem reinen Urstof zusammen, und kommt
diesem vor allen Eigenschaften zu: Der Urstof ist das Seyende, die Ausdehnung
ist die Darstellung dieses Seyenden, an welcher alle fernern Eigenschaften inhärieren müßen, das Bewußtseyn, das Denkende ist das ursprüngliche Gefühl dieses
Seyns.“ 343 Er spricht aber andererseits zugleich von Spinozas „Verwechselung
der Wörter Seyn und Substanz.“ 344 Das Sein soll nach der Jacobi-Abschrift
Schleiermachers „in einem jeden Begrif“ als „etwas absolutes und ursprüngliches“ vorkommen, „welches das Denken unabhängig von seinem Gegenstand
ausmacht“. 345 Dieser Sinn des Seins veranlaßt Schleiermacher, wie er in einer
Anmerkung erklärt, zu einer „Versinnlichung des Verhältnißes des unendlichen
zu den endlichen Dingen“. 346
Jene These, das eigentlich Wahre und Reelle in der Seele sei das Gefühl des
Seins, ist als eine Kritik an der Theorie von M. Mendelssohn gedacht, nach der
das Unendliche nur ein subjektiver Begriff sei, während das Sein nur als Sein des
Seienden bzw. als die Gesamtheit alles Seienden zu verstehen sei: „Mendelssohn
konnte nicht begreifen, daß nichts außer den endlichen Dingen subsistire und
doch eigentlich nur das Unendliche subsistiere. Er meint dann hätten ja die endlichen Dinge eigentlich das reelle Daseyn, und ihr Zusammen, wie er das Unendli342
Jacobi weist im Zuge seiner strengen Unterscheidung von Gott und Substanz darauf hin, daß
Spinozas Begriff der Substanz ein widersprüchlicher Begriff sei. Denn Spinoza verstehe unter der
Substanz den Inbegriff der materiellen Dinge, während er die Unendlichkeit als Eigenschaft der
Substanz geltend machen will; das Unendliche kann aber nicht aus einer Zusammensetzung von
den endlich Seienden abgeleitet werden: „Die grösste Schwierigkeit aber, die ich in dem System
des Spinoza finde, liegt mir darin, dass er aus dem Zusammennehmen des Eingeschränkten das
Uneingeschränkte will entstehen lassen. […]Wie kann durch Vermehrung des Extensiven das
Intensive verstärkt werden? Wenn in allen übrigen Systemen der Übergang vom Unendlichen zum
Endlichen schwer zu begreifen ist, so scheint mir nach diesem System der Rückweg vom Endlichen in das intensive Unendliche schlechterdings unmöglich zu sein.“ (F. Jacobi, Über die Lehre
des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, in: Jacobis Spinoza-Büchlein nebst
Replik und Duplik (hrsg. von F. Mauthner), München 1912, S. 109f.
343
F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 534.
344
Ebd.
345
Ebd., S. 535.
346
Ebd.
169
che sehr gegen den Geist des Spinoza nennt[,] könne nur etwas collektives seyn
und also nur in einem Denkenden existiren.“ 347 Obwohl Schleiermacher Spinozas
Verwechselung von Sein und Substanz kritisiert, distanziert er sich zugleich auch
von dem Versuch, das unendliche Sein lediglich als ein nur im Bewußtsein vorkommendes subjektives Moment des Verstehens aufzufassen. Das Gefühl des
Seins – der unmittelbare Begriff – ist nicht aus den einzelnen Begriffen und
Dingvorstellungen ableitbar. Es ist eher ein wesentlicher Grund der Seele selbst,
von dem alles Denken und Handeln (Verstand und Willen) abhängig ist: „Kann
man sagen jener unmittelbare Begrif existire nur in einem andern Denkenden?
Mitnichten, er ist ja der eigentliche wesentliche Grund der Seele, dasjenige, an
dessen modis (Verstand und Willen) alle jene einzelnen Begriffe inhärieren. Aber
freilich muß man nicht davon ausgehen zu sagen der unmittelbare Begrif sei das
Zusammen der einzelnen Begriffe.“ 348
Rein logisch betrachtet wird man hier wohl behaupten dürfen, daß Schleiermachers Begriff des Seinsgefühls auf ein apagogisches Urteil angewiesen ist; während der Obersatz (das Unendliche ist nicht aus dem Zusammensein von endlichen Seienden ableitbar) durchaus gültig ist, ist der Untersatz (die einzelnen Begriffe inhärieren in dem Gefühl des unendlichen Seins) zwar als glaubwürdig zu
bezeichnen, aber nie logisch zu beweisen. Schleiermachers Anliegen besteht aber
auch nicht darin, das Verhältnis zwischen den einzelnen Begriffen und dem
Seinsgefühl logisch zu beweisen. Er will vielmehr nach dem Ermöglichungsgrund des Denkens und des Bewußtseins fragen, um das Verhältnis zwischen den
einzelnen Begriffen und dem Seinsgefühl durch die Analyse des wirklichen Bewußtseinslebens zu erhellen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum der
Gefühlsbegriff beim jungen Schleiermacher als ein Versuch zu verstehen ist, die
Religion als eine ursprüngliche Form des unmittelbaren Selbstbewußtseins darzustellen.
2. Schleiermacher entwickelt in seinen Jugendschriften über den Spinozismus
durch eine kritische Auseinandersetzung mit Jacobi, Kant und Spinoza einen ei-
347
348
Ebd.
Ebd.
170
gentümlichen Begriff des Selbstbewußtseins. Dabei liegt die Pointe darin, daß
das Selbst, das in jedem aktuellen Bewußtseinsmoment mitgesetzt sein muß, nicht
als ein substanzielles Sein zu verstehen ist.
Schleiermacher erhält einen ersten Anlaß für seine Untersuchung des Selbstbewußtseins wahrscheinlich durch Jacobis Begriff der Person bzw. der Personalität:
„Jacobi definiert die Personalität als Einheit des Selbstbewußtseyns und die Person ist ihm ein Wesen welches das Bewußtseyn seiner Identität hat; da nun die
Personalität formaliter das ganze ist was ein Wesen zur Person macht, so muß
das Bewußtseyn der Identität auf der Einheit des Selbstbewußtseins beruhn.“ 349
Aufgrund der folgenden Passagen kann man aber vermuten, daß eigentlich die
Transzendentalphilosophie Kants von größerer Bedeutung für Schleiermachers
Begriff des Selbstbewußtseins ist: „[…] sie [die Einheit des Selbstbewußtseins]
ist deswegen empirisch gewiß weil ich ein Bewußtseyn immer auf ein voriges
beziehe, und mehrere zusammen als eine verbundene Reihe ansehe, indem die
darin vorkommenden Vorstellungen zwar verschieden und außereinander sind,
die verschiednen Actus des Bewußtseyns aber durch die Identität des Subjekts
worauf die verschiedenen Vorstellungen bezogen werden mit einander verknüpft
sind. So ist also auch gegen den ersten Ausdruck (Bewußtseyn der Identität) kein
Zweifel und es findet kein scheinbares desselben statt insofern darunter bloß die
Identität des Selbstbewußtseyns der transcendenten Einheit, des Ichs verstanden
werden soll. Allein die alte Schule machte nun einen Sprung und sagte: wo diese
transcendentale Einheit identisch ist, da muß auch das Substratum desselben, die
Substanz identisch seyn […].“ 350
2.2.3. Die Unzulänglichkeit des Substanzbegriffs für die Erklärung der Einheit
des Selbstbewußtseins
Es ist insgesamt deutlich geworden, daß Schleiermacher das Ich als die transzendentale Einheit des Bewußtseins für notwendig hält, aber zugleich unter dem Ich
kein substantielles Sein verstehen will. Es scheint mir, daß Schleiermacher sich
349
350
Ebd., S. 540.
Ebd.
171
dabei auf die ursprünglich-synthetische Analyse der Apperzeption bei Kant
(B131-136 bzw. B 399-413 Kritik der reinen Vernunft) bezieht. Schleiermacher
wertet m. E. die Kantische Idee der transzendentalen Einheit des Bewußtseins
stark auf, da sie im Gegensatz zur herkömmlichen Philosophie – wie oben
Schleiermachers Satz Allein die alte Schule machte einen Sprung andeutet – unter dem Begriff des Ich kein substanzielles Sein versteht.
Ähnliche Überlegungen kann man bei der Analyse der Transzendenz des Ego
bei Sartre finden, in der die phänomenologische Annahme des reinen Ich als eines absoluten Seins (Husserl) kritisch überprüft wird. In bezug auf die genannte
Stelle der Kritik der reinen Vernunft fragt Sartre, ob Kant ein reines Ich für die
apperzeptive Einheit des Bewußtseins voraussetzt: „Man wird Kant zugestehen
müssen, daß ‚das ich denke muß alle unsere Vorstellungen begleiten können‘.
Muß man aber daraus schließen, daß ein Ich tatsächlich alle unsere Bewußtseinszustände bewohnt und die oberste Synthese unserer Erfahrung real bewirkt?“ 351 Diese Annahme ist für Sartre unhaltbar. Denn „Kant behauptet gar
nichts über die faktische Existenz des Ich denke“, und behandle mit jener bekannten These eigentlich nur „ein Geltungsproblem“. 352 Nach Sartre muß die
Kantische Analyse der apperzeptiven Einheit des Bewußtseins eher als ein Beweis dafür gelten, daß für Kant Bewußtseinsmomente ohne Ich möglich sind:
„Im Gegenteil scheint es, als habe er vollkommen gesehen, daß es Bewußtseinsmomente ohne ‚Ich‘ gibt, denn er sagt: ‚muß […] begleiten können‘.“ 353 Sartre
behauptet nun – wahrscheinlich unter dem Eindruck von Heideggers Identifikation der Erfahrungsstruktur des Daseins mit der Jemeinigkeit –, daß Kant mit jener
These eigentlich nur die notwendige Form der Wahrnehmung bzw. des Denkens
bestimmt. Das ganze Anliegen der Kantischen Analyse der apperzeptiven Einheit
des Bewußtseins bestehe lediglich darin, zu zeigen, daß die Wahrnehmung und
das Denken notwendig in der Form von (je)meinigen Überzeugungen bzw. Anschauungen vorkommen und daß hierin eine Grundbedingung der Erfahrung liege: „Es geht ja darum, die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung zu bestim351
J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, Reinbek 1997, S. 39 f.
Ebd., S. 40.
353
Ebd.
352
172
men. Eine dieser Bedingungen ist die, daß ich immer meine Wahrnehmung oder
mein Denken als die meinigen betrachten kann: das ist alles.“ 354
Schleiermacher vertritt bei seiner Kant-Auslegung eine ähnliche Position wie
Sartre. Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, daß Schleiermachers Kritik
an Jacobi nicht ohne weiteres auf die phänomenologische Idee des reinen Ich
anzuwenden ist; Husserl versteht unter dem reinen Ich nicht ein reelles Substrat.
Aber man kann aus seinen Auseinandersetzungen mit Jacobi und Kant erkennen,
daß jeder Versuch, das Ich als einen sicheren Erkenntnisgrund zu betrachten, für
Schleiermacher unhaltbar ist. Es gibt für Schleiermacher kein Ich, wenn man unter diesem Begriff etwas Absolutes verstehen will, was absolut in dem Sinn ist,
daß es gegenüber äußeren Einflüssen unveränderlich bestehen bliebe. Schleiermacher ist in dieser Hinsicht sogar radikaler als Sartre, der bekanntlich in Das
Sein und das Nichts die absolute Freiheit des Menschen durch die Einführung
des absoluten, d. h. von äußeren Einflüssen freien Bewußtseinslebens zu begründen versucht. 355
Schleiermachers Kritik an der Darlegung der Einheit des Selbstbewußtseins bei
Jacobi beginnt mit der Bemerkung, daß Jacobi die „Personalität“ von dem „Prinzip der Personalität“ unterscheide. 356 Für die Beantwortung der Frage, was die
Einheit des Selbstbewußtseins ermöglicht, ist diese Unterscheidung nach Schleiermacher von Bedeutung, auch wenn Jacobi diese Bedeutung nur unklar erfaßt
habe: „Jacobi hat hier noch einen Unterschied geahnet, welchen Kant vorbeiläßt;
er hat ihn aber auch nicht recht ausgeführt.“
Vereinfacht gesagt versteht Schleiermacher unter dem Jacobischen Begriff der
Personalität die Eigenschaft, die man dadurch gewinnt, daß man eine Entität als
ein eigenständiges Subjekt betrachtet; diese Entität muß hierbei eine wirkliche
Person sein, weil die Personalität als die Eigenschaft eines handelnden wirkli354
Ebd.
Besonders mit dem Begriff der existentiellen Psychoanalyse betont Sartre, daß das Bewußtseinsleben des Daseins als etwas anerkannt werden soll, was von äußeren Einflüssen absolut frei
ist. Im Gegensatz zur empirischen Psychologie, die das Denken und Handeln von Menschen auf
die Einwirkung des Unbewußten zurückführt, ist das Bewußtsein für die existentielle Psychologie
Sartres vom Gesichtspunkt der absoluten Wahlfreiheit aus zu betrachten. Vgl. J.-P. Sartre, Das
Sein und das Nichts, Reinbek 1994, S. 956 ff.
356
F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 539.
355
173
chen Individuums gedacht ist. Das Prinzip der Personalität ist dagegen auch bei
solchen Entitäten aufweisbar, die keine wirklichen Personen sind, da es hierbei
nur um die Bedingungen geht, die eine Entität erfüllen muß, um eine wirkliche
Person zu sein. Das Prinzip der Personalität ist also dadurch zu gewinnen, daß
man eine Entität objektiv betrachtet: „Er [Jacobi] unterscheidet nemlich zwischen
Personalität und Princip der Personalität; letzteres findet Statt ohne erstere also
auch bei Dingen, welche keine Personen sind. Dieser Unterschied beruht nemlich
darauf daß ich ein Ding als Objekt und auch als Subjekt betrachten kann; die
Personalität ist die charakteristische Eigenschaft eines Dinges als Subjekt betrachtet, das Princip der Personalität die ein Ding als Person charakterisierende
Eigenschaft wenn es bloß als Objekt betrachtet wird.“ 357
Schleiermacher zufolge unterscheidet Jacobi nach dem „Grundbegriff“ der „Identität mit Bewußtseyn“ – genauer: Identität des Selbstseins, die entweder bewußt ist (z.B. bei den Menschen, die das Selbstbewußtsein haben) oder unbewußt bleibt (z.B. bei den Tieren, die kein Selbstbewußtsein haben) – drei Arten
der Person. a) Die „vollkommene Person“: Ein Ding ist eine vollkommene Person, wenn es „sich dieser Identität bewußt ist, und sie auch wirklich besitzt“. Es
ist „in beider Rücksicht“ – „als Subjekt und als Objekt betrachtet“ – eine Person.
Es gibt aber auch die Dinge, die nicht vollkommene Personen sind. b) Ein Ding
ist eine unvollkommene Person, wenn „es sich dieser Identität bewußt ist aber sie
nicht wirklich hat“. Dieses Ding ist „nur subjectiv eine Person“. Es „hat aber
keine objektive Personalität“ c) Ein Ding ist auch in dem Fall eine unvollkommene Person, in dem „es diese Identität wirklich hat, aber sich ihrer nicht bewußt
ist“. Dieses Ding hat zwar „objektive Personalität aber keine subjektive.“. 358
Nun bringt Schleiermacher gegen diese Unterscheidung einen Einwand vor: Jacobi versteht unter der „Identität“ des Selbstseins, die für seine Unterscheidung
der drei Arten der Person als Grundbegriff fungiert, „die reelle Identität der Substanz“; „das erhellt auch aus den Benennungen: er nennt die Identität der Sub-
357
358
Ebd.
Ebd.
174
stanz das Princip der Personalität, als wenn von dieser die Personalität selbst d. h.
die Einheit des Selbstbewußtseyns abhinge […].“ 359
Schleiermacher ist jedoch nicht einverstanden mit Jacobis Unterscheidung der
drei Arten der Person. Schleiermacher weist darauf hin, daß „die zweite
Art“ nicht „eine wahre Person zu nennen“ ist, sondern nur als „die bloß scheinbare“ Person zu bezeichnen sei; „die dritte Art (die Thiere)“ ist dagegen, auch
wenn sie keine vollkommene Person ist, als „eine wirkliche Person“ zu bezeichnen. 360 Warum geht Jacobi von einer Art der Person aus, die nach Schleiermacher keineswegs als eine wirkliche Person anerkannt werden kann? Was bedeutet
es, daß sich ein Ding der Identität des Selbstseins bewußt ist, obwohl es sie nicht
hat? Schleiermacher zufolge ist es auf den Einfluß von Kant zurückzuführen, daß
Jacobi einen solchen unsinnigen Begriff der Person annimmt. Der Zweifel von
Kant darüber, ob das Bewußtsein nicht fließend sein kann, bringe Jacobi zu der
absurden Annahme der scheinbaren Person, die eigentlich keine Identität des
Selbstseins besitzt, obwohl sie sich dieser Identität bewußt ist: „Es fragt sich nun
ob die bloß scheinbare Person möglich ist? Jacobi giebt das der Kantischen Behauptung daß ich zweifeln könne ob mein Bewußtseyn nicht fließend sei, mehr
zu, als daß er es selbst behauptet. Dieser Fall einer scheinbaren Person beruht
also bloß auf der Möglichkeit des Zweifels, daß das Bewußtseyn fließend seyn
könne.“ 361
Nach Schleiermacher besteht der Grund für Jacobis Irrtum darin, daß „er […]
die Grundsätze des kritischen Idealismus nicht annimmt“. 362 Jacobi bleibe, trotz
seiner Unterscheidung von Gott und Substanz, weiterhin einem alten Substanzmodell verhaftet, indem er die Identität der Substanz als das Prinzip der Personalität betrachtet. Ihm gegenüber sei Kant viel konsequenter; Kants Konzept der
Person als Identität des Selbstbewußtseins impliziert keine reelle Identität der
Substanz.
359
Ebd., S. 541.
Ebd., S. 539.
361
Ebd., S. 539f.
362
Ebd., S. 541.
360
175
2.3. Die phänomenale Welt
Worin besteht nun der Grundsatz des kritischen Idealismus, den Jacobi nach
Schleiermacher bei seiner Analyse der Person und der Personalität ignoriere?
Schleiermacher gibt keine klare Formulierung dieses Grundsatzes. Aber aus den
folgenden Passagen kann man zumindest erkennen, daß Schleiermacher darunter
eine Kritik an dem metaphysischen Versuch versteht, die Einheit des Selbstbewußtseins aus dem substantiellen Sein abzuleiten: „Das Selbstbewußtseyn“ muß
„das Vermögen“ haben, „eine Empfindung und eine Erinnerung in einem Bewußtseyn mit einander zu verbinden. Diese Lehre ist nun der Kantischen ganz
parallel, doch wenn wir ihr den kritischen Idealism einpfropfen, so bekommen
wir die Kantische Lehre; nemlich die Einheit des Selbstbewußtseyns, man mag
sie nun als Grund oder als Folge des Bewußtseyns ansehn, bezieht sich immer
nur auf das Phänomenon, die Identität der Substanz hingegen bezieht sich auf
das Noumenon, und ist eben deswegen ein leerer Begriff.“ 363
Es steht außer Zweifel, daß Schleiermachers Begriff des Selbstbewußtseins von
der Transzendentalphilosophie Kants stark beeinflußt worden ist. Schleiermacher
erhält zwar von Jacobis Begriff des unmittelbaren Realitätsbewußtseins eine direkte Anregung für die Entwicklung seiner eigenen Konzeption des Selbstbewußtseins. Aber die Kantische Einsicht, daß sich die Einheit des Selbstbewußtseins immer nur auf das Phänomenon bezieht, veranlaßt Schleiermacher zu einer
radikalen Korrektur der Jacobischen Theorie des Selbstbewußtseins, der in der
Erklärung von Person und Personalität noch an der Idee der Substanz festhält.
G. Meckenstocks Werk über Schleiermachers Deterministische Ethik und kritische Theologie liefert eine gelungene Darstellung davon, wie stark der junge
Schleiermacher von der Transzendentalphilosophie Kants beeinflußt wurde. In
seiner kritischen Auseinandersetzung mit E. Herms, der in seiner Untersuchung
über Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei
Schleiermacher (Gütersloh 1974) „Eberhard bzw. die Hallesche Schulphilosophie und Jacobi stark aufwertet“, 364 betont Meckenstock besonders den Einfluß
363
364
Ebd., S. 542.
G. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, a.a.O., S. 13.
176
Kants auf Schleiermacher. Einerseits ist sich Meckenstock mit Herms darin einig,
daß Dilthey Schleiermachers Philosophie zu sehr vor dem Hintergrund der Lebensphilosophie interpretiert. 365 Meckenstock ist aber nicht damit einverstanden,
daß bei Herms die Bedeutung von Kant für die philosophische Entwicklung
Schleiermachers herabgestuft wird. Denn „Schleiermacher war kein ausschließlicher Anhänger der empirischen Psychologie Hallescher Provenienz, der dann im
Zuge der Jacobi-Lektüre zum Theoretiker des unmittelbaren Realitätsbewußtseins wurde und mit dieser Theorie noch eine aus Spinoza herzuleitende metaphysische Theorie der Individualität verband.“ 366 Meckenstock betont nun, daß
„er [Schleiermacher] viel stärker auf die Seite der Transzendentalphilosophie
[gehörte], die sich von der Kantischen Vernunftkritik herschreibt.“ 367
Es spricht viel für diese These, daß die Ansätze, die der junge Schleiermacher
durch seine Beschäftigung mit Kant gewonnen hat, für die philosophische Entwicklung Schleiermachers von wichtiger und bleibender Bedeutung gewesen
sind. Meckenstocks Kritik an Herms scheint mir aber, obwohl Meckenstock eine
sehr überzeugende Darstellung der philosophischen Beziehung zwischen Kant
und Schleiermacher liefert, etwas zu radikal zu sein. Auch Herms leugnet ja
nicht, daß Schleiermacher durch seine Beschäftigung mit Kant wichtige Ansatzpunkte für seine Kritik an Jacobi einerseits und an der Hallischen Philosophie
andererseits erhalten hat.
Herms spricht von „Schleiermachers Korrekturen an Jacobis unkritischem Realismus“. 368 Den „Grund aller inneren Widersprüche der Jacobischen Theorie“ faßt Herms mit Recht sehr prägnant zusammen: Jacobis „realistisches Interesse [ist] in unkritischer Weise auf die Selbständigkeit der Außenwelt gegenüber dem erkennenden Subjekt gerichtet“; dieser Realismus stehe deswegen im
Widerspruch mit seiner eigenen „Theorie des unmittelbaren Wirklichkeitsbewußtseins“, weil diese Theorie „tatsächlich das unauflösliche Ineinander von
365
Vgl. Ebd., S. 8 ff.; 13 ff.
Ebd., S. 15.
367
Ebd.
368
E. Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, a.a.O., S. 139.
366
177
Welt und Selbst“ aufweise. 369 Die Kantische Einsicht, daß „eine Erkenntnis des
Wesens der Dinge an sich unmöglich“ sei und folglich „das Erkennen vielmehr
strikt auf Phänomene eingeschränkt“ werden solle, würde von Jacobi jedoch
„verfehlt“. 370 Herms weist ferner darauf hin, daß der junge Schleiermacher gerade aus dieser Kantischen Einsicht in die Phänomenalität der Erkenntnis eine
wichtige Unterscheidung gewonnen hat, die auch für sein späteres Denken von
maßgebender Bedeutung sei: „Er unterscheidet den Gehalt des unmittelbar erschlossenen Realitätsbewußtseins auf der einen Seite, die Wirklichkeit des unmittelbaren Erschlossenwerdens dieses Bewußtseins auf der anderen. Während
jener als unmittelbar erschlossenes Bewußtsein des Selbst und der Welt die
Sphäre der Phänomenalität aufmacht, bleibt seine Wirklichkeit selber – das Erschlossensein in seiner Unmittelbarkeit – dem Bewußtsein entzogen und geht
nicht in die Phänomenalität der Erkenntnis ein.“ 371
Diese „Unterscheidung, welche Jacobi unkritisch unterlassen hatte“ 372 , ist m. E.
auch für den Begriff des Selbstbewußtseins beim späten Schleiermacher charakteristisch. Vereinfacht gesagt geht es bei dieser Unterscheidung darum, ob wir
beim erkennenden Akt etwas in seiner vollen Wirklichkeit in unser Bewußtsein
aufnehmen können. Jacobi betont zwar zu Recht, daß nur das unmittelbare
Seinsgefühl das eigentliche und einzige Wahre in unserem Bewußtsein ist. Seine
Neigung zum Realismus hindert ihn aber daran, aus diesem Gedanken die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Seine Theorie ist in unkritischer Weise auf die
selbständige Realität der Außenwelt gerichtet; das phänomenische Wesen des
Weltbewußtseins, das aus jener These des unmittelbaren Seinsgefühls als des einzig Wahren im Bewußtseinsleben notwendig folgt, bleibt bei Jacobi unbeachtet.
Bei Schleiermacher finden wir hingegen eine klare Einsicht in das phänomenische Wesen des Weltbewußtseins, die auch in den Schriften des späten Schleiermachers wiederzufinden ist.
369
Ebd.
Ebd., S. 140.
371
Ebd.
372
Ebd.
370
178
Hiermit legt der junge Schleiermacher einen wichtigen Grundstein für seine
Glaubenslehre, in der der Ursprung des Abhängigkeitsgefühls nicht primär im
Gefühl unseres Seins in der Welt gesucht wird, sondern im Gefühl unseres Seins
in Gott. Das ursprüngliche Seinsgefühl hat bei Schleiermacher nicht die Funktion,
die Welt als selbstverständliche Realität des Seins zu verabsolutieren. Daß eigentlich nur das Seinsgefühl in unserem Bewußtsein als das einzige Wahre anzuerkennen ist, bedeutet für Schleiermacher vielmehr, daß die Existenz der Welt,
die in unserem natürlichen Weltbewußtsein unhinterfragt bleibt, nicht der Strenge der philosophischen Kritik standhalten kann. Ähnlich wie Husserl durch die
phänomenologische Reduktion das Sein der Welt kritisch einklammert, weist
auch der junge Schleiermacher auf das phänomenische Wesen der Welt hin. Allerdings darf der Unterschied zwischen den beiden Denkern nicht ignoriert werden. Husserl erhebt das Ich zum absoluten Sein und vollzieht dadurch die Umgestaltung der Phänomenologie als einer deskriptiven Psychologie zu einer Phänomenologie als einer Transzendentalphilosophie. Schleiermacher hält dagegen
weiter daran fest, daß sich die Einheit des Selbstbewußtseins weder auf die Substanz oder die Seele noch auf die noumenische Person oder das moralische Subjekt Kants oder das absolute Ich bezieht. Gott steht von Anfang an im Zentrum
der Philosophie Schleiermachers.
Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird deutlich werden, daß Schleiermacher in
seinen späteren Schriften – besonders in der Dialektik und in der Glaubenslehre
– aufgrund seiner Einsicht in das phänomenische Wesen der Welt einen spezifischen Begriff des substantiellen Seins entwickelt, der mit Gott gleichzusetzen
ist. 373 Nur das ganze Sein kann als das substantielle Sein anerkannt werden, da es
373
G. Scholtz weist überzeugend nach, daß Schleiermachers Philosophie, besonders im Hinblick
auf ihre dialektische Fundierung, durch seine Rezeption von Platons Ideenlehre maßgeblich beeinflußt wurde. Nach Scholtz entdeckt Schleiermacher in dem Dialog Sophistes eine „Seinslehre“, in
der das Verhältnis zwischen dem Sein und dem Seienden durch „eine bestimmte Struktur, nämlich
die Unterscheidung eines absoluten Seins als Coincidentia oppositorum und dem Seienden als
Reich der Gegensätze“, aufgefaßt wird. (G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 260.) „Was
für Platon ein on, ein Sein ist, das ist Dynamis“, und diese Gleichsetzung des Seins mit dem Dynamis führt Schleiermacher dazu, den angeblichen „Dualismus zwischen den geistigen Ideen und
den sinnlichen Dingen, der für Aristoteles die Grundstruktur des Platonismus bildete, […] in ein
Kontinuum auf[zulösen]: Allgemeine Kräfte erscheinen als besondere Kräfte, auch die Sinnenwelt
ist eine Erscheinung von Kräften.“ (Ebd., S. 263; 280) Die Welt ist in dieser Hinsicht zwar nicht
179
allein den Grund seiner eigenen Existenz in sich schließt. Das Sein des Menschen kann dagegen, da es als ein endliches Sein nicht in sich den Grund der eigenen Existenz einschließt, nicht als das absolute Sein anerkannt werden.
Für Schleiermacher ist das Sein das substantielle Sein. Das bedeutet aber nicht,
daß Schleiermacher das Sein von dem Seienden her denkt. Heutzutage neigt man
unter dem Einfluß der Heideggerschen Kritik an der Metaphysik häufig dazu, die
Verwendung des Begriffs des substantiellen Seins einfach als eine Folge der
Verwechselung des Seins mit dem Seienden zu betrachten. Bei Schleiermacher
ist das Verhältnis des Substanzbegriffs zu dem Sein und dem Seienden jedoch
ganz anders begründet. Gerade das phänomenische Wesen der Welt führt Schleiermacher zur Einsicht, daß das Sein selbst, das den Grund seiner eigenen Existenz in sich schließt und somit als Substanz zu bezeichnen ist, nicht richtig aufgefaßt werden kann, wenn man an der Vorhandenheit des Seienden orientiert
bleibt. Das Sein selbst ist weder als die geteilte Unendlichkeit (Welt) noch als die
Substanz im Spinozistischen Sinn zu verstehen. Denn weder die Teilung des
Seins im Weltbewußtsein noch die Substanz im Spinozistischen Sinn ist von dem
Irrtum frei, das Sein selbst von der Vorhandenheit eines Seienden her zu denken.
Daher muß das ganze Sein nach der Glaubenslehre nur als die ungeteilte Einheit
(„die einfache und absolute Unendlichkeit“), d. h. als Gott, verstanden werden,
aber nicht als die Welt, die „die in sich getheilte und endlich gestaltete Unendlichkeit“ ist. 374 Hierin liegt m. E. der Grund dafür, warum Schleiermachers Phänomenologie nicht einfach mit der Phänomenologie Husserls gleichgesetzt werdas Sein selbst; sie ist aber auch nicht das Nichts, sondern der Inbegriff der verschiedenen Erscheinungen von Kräften. Dies kann auch mit Hilfe der Platonischen Logik vom Wesen und der
Relation gut erklärt werden. „Die Wesensbegriffe bezeichnen das, was dem Seienden selbst (kath’
auto) zukommt; die Relationsbegriffe aber sagen das aus, was dem Seienden in bezug auf anderes
(pros ti) zugesprochen wird.“ (Ebd., S. 267) Daß für Schleiermacher das Sein ein substantielles
Sein ist, bedeutet nun, daß „das wirkliche Sein (on) nur das Wesen [ist]“, ein Sein also, das nicht
in bezug auf das andere Sein gedacht werden kann. (Ebd., S. 268) Diese Identifikation des wirklichen Seins mit dem Wesen impliziert allerdings den Charakter des Nichtseins alles Seienden, das
im natürlichen Weltbewußtsein in Relation mit dem anderen Seienden gedacht ist. Das bedeutet
aber wiederum nicht, daß das Seiende im Weltbewußtsein oder sogar die Welt selbst, die ohne das
Bewußtsein der Relation zwischen den Seienden nicht möglich ist, schlechthin als ein Nichts
umgedeutet werden soll. Denn „Platon hat bekanntlich im Sophistes das Nichtsein als Verschiedenheit bestimmt. Und er hat betont, daß damit keinesfalls das Gegenteil des Seins, das Nichts, als
existierend behauptet wird.“ (Ebd., S. 260)
374
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 32.
180
den kann. Wie Heidegger stellt auch Schleiermacher die Frage nach dem Sein
selbst, das nicht auf das Seiende zurückzuführen ist. Schleiermachers Phänomenologie ist in diesem Sinn zugleich eine Fundamentalontologie, die von der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden ausgeht.
181
3. Das Selbstbewußtsein, die Welt und Gott
Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, zwei Bedeutungen des Selbstbewußtseins
bei Schleiermacher zu erhellen: Das Selbstbewußtsein als Gefühl unseres Seins
in der Welt einerseits und als Gefühl unseres Seins in Gott andererseits. Dieser
Unterschied ist deswegen wichtig, weil Schleiermachers Religionsphilosophie
von der Einsicht geleitet wird, daß das ganze Sein, in dem unser endliches Sein
inhärieren muß, nicht primär als ‚die Welt‘ expliziert werden kann.
3.1. Die Welt als Offenbarung Gottes
Freilich darf man dabei das Verhältnis zwischen der Welt und Gott bei Schleiermacher nicht als das zwischen dem bloßen Schein und dem wahren Sein verstehen. Bekanntlich wird die Welt bei Schleiermacher als Offenbarung Gottes verstanden. Auch in der phänomenologischen Tradition seit Husserl wird der Begriff ‚Phänomen‘ nicht selten auf einen Gedanken bezogen, der mit dem Begriff
der Offenbarung Schleiermachers eine starke Ähnlichkeit hat. Heidegger weist z.
B. in Sein und Zeit darauf hin, daß das Phänomen als das Sichzeigen bzw. als das
Offenbarwerden des Seins zu verstehen ist: „Der griechische Ausdruck
φαινόμενον, auf den der Terminus ‚Phänomen‘ zurückgeht, leitet sich von dem
Verbum φαίνεσθαι her, das bedeutet: sich zeigen; φαινόμενον besagt daher: das,
was sich zeigt, das Sichzeigende, das Offenbare […].“ 375 Es ist zwar möglich,
daß sich das Phänomen als ein Schein erweist: „Die Möglichkeit besteht sogar,
daß Seiendes sich als das zeigt, was es an ihm selbst nicht ist. In diesem Sichzeigen ‚sieht‘ das Seiende ‚so aus wie …‘. Solches Sichzeigen nennen wir Scheinen.“ 376 Aber der primäre Sinn des Phänomens besteht darin, daß es „eine ausgezeichnete Begegnisart von etwas ist“, die sich in der Satzstruktur des „Sichselbst-an-ihm-zeigen[s]“ zum Ausdruck bringt. 377
375
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 28.
Ebd., S. 28 f.
377
Ebd.,
376
182
Die Welt ist für Schleiermacher ein Phänomen. Aber das bedeutet nicht, daß die
Welt für Schleiermacher etwa das rein Subjektive ist, das von meinem subjektiven Akt hervorbracht wird. Es gehört für Schleiermacher zu einer notwendigen
Struktur des Selbstbewußtseins, daß in ihm unser Sein als Sein in der Welt vorkommt. Dieses Selbstbewußtsein als Gefühl unseres Seins in der Welt muß aber
für Schleiermacher notwendig von dem religiösen Selbstbewußtsein begleitet
werden, das darin besteht, sich von diesem natürlichen Weltbewußtsein abzuheben und auf das Sein selbst auszurichten. Gerade hierin liegt der Grund, warum
Schleiermachers Religionsphilosophie nicht nur als eine Phänomenologie zu bezeichnen ist, sondern zugleich als eine Ontologie, wie bereits am Ende des letzten Kapitels angedeutet wurde. Nach Heidegger besteht die „Aufgabe der Ontologie“ in der „Explikation des Seins selbst“, die „die Abhebung des Seins vom
Seienden“ voraussetzt. 378 Die ontologische Differenz zwischen dem Seienden
und dem Sein bedeutet aber nicht, daß das Seiende bloß zu einer Scheinrealität
gehört. Im Gegenteil: Unser religiöses Selbstbewußtsein schließt für Schleiermacher nicht das Weltbewußtsein aus, sondern notwendig ein. Unser Selbstbewußtsein läßt sich zwar unterteilen in das Gefühl unseres Seins in der Welt einerseits
und das Gefühl unseres Seins in Gott andererseits. Aber das bedeutet nicht, daß
sich ein Selbstbewußtsein gegenüber dem anderen als ein falsches Bewußtsein
erweist. Im Gegenteil: Beide bilden für Schleiermacher eine Struktureinheit, in
der das eine nicht ohne das andere möglich sein kann. Dies wird noch in diesem
Kapitel näher behandelt werden.
In der Glaubenslehre weist Schleiermacher auf die Fähigkeit des Menschen hin,
die Welt in sein Selbstbewußtsein aufzunehmen: „Allein das Selbstbewußtsein ist
einer verschiedenen Ausdehnung fähig, und eben sogut als bestimmte einzelne
Sphären, wie Hauswesen und Vaterland, kann der Mensch auch die Welt in sein
Selbstbewußtsein aufnehmen.“ 379 Hierin liegt für Schleiermacher das Kriterium,
mit dem man die wahre Religion von dem Götzendienst unterscheiden könne:
Der „Gözendienst“ ist nach Schleiermacher durch die „Unfähigkeit“ charakteri-
378
379
Ebd., S. 27.
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 49.
183
sierbar, „die Welt mit in das Selbstbewußtsein aufzunehmen“. 380 Vereinfacht
gesagt besteht das Wesen des Götzendienstes bzw. des „Fetischismus“ darin, das
Augenmerk lediglich auf „eine Allheit“ der einzelnen Seienden zu richten, in dem
alles sich nur in seinem Charakter des zufällig Seienden offenlegt; „in dem
fromm erregten Selbstbewußtsein“ ist zwar, „sofern jeder Gott auf das ganze System bezogen wird, die Abhängigkeit alles Endlichen aufgenommen, aber nicht
von Einem Höchsten […]. Dem Gözendiener […] ist die Mehrheit der Gözen nur
etwas zufälliges, und es ist dabei gar nichts vollständiges angestrebt […]“. 381
Was bedeutet nun, daß der Götzendienst durch die Unfähigkeit entsteht, die
Welt in das Selbstbewußtsein aufzunehmen? M. E. sind zwei wichtige Einsichten
Schleiermachers in dieser These vereinigt. Einerseits bringt Schleiermacher mit
dem Ausdruck, die Welt in das Selbstbewußtsein aufzunehmen, das phänomenische Grundwesen des Weltbewußtseins zum Ausdruck, das Schleiermacher von
der Transzendentalphilosophie Kants übernommen hat. Für Schleiermacher kann
man weder beim Erkennen noch beim Handeln einen direkten Zugang zur Welt
als eine eigenständige Realität haben, da kein Weltbewußtsein ohne den wahrnehmenden und vorstellenden Akt des Bewußtseins möglich ist. „In jedem wirklichen Selbstbewußtsein ist immer ein Theil der Welt mitgesetzt“, und das bedeutet nun, daß wir uns nicht direkt zur Außenwelt als einer eigenständigen Realität verhalten, sondern nur zu einer phänomenischen „Welt“, die „wir als Habe
sezen.“ 382 Daraus darf man aber nicht voreilig ableiten, das Weltbewußtsein gehöre für Schleiermacher zur Seinssphäre der bloßen Phänomenalität, die durch
die selbstbestimmende Tätigkeit des apriorischen Bewußtseins zur Welt komme
und von dem wirklichen Sein radikal verschieden sei. Die zweite Einsicht, die
Schleiermacher mit jenem Ausdruck unserer Weltaufnahme ins Selbstbewußtsein
vertritt, besteht gerade darin, daß das phänomenische Wesen des Weltbewußtseins selbst weder den Begriff des Dinges an sich noch die reine Selbstbestimmung des apriorischen Bewußtseins als eine Ursache für das Entstehen des phänomenischen Weltbewußtseins zuläßt. Gerade in dieser kritischen Distanz von
380
Ebd., S. 50.
Ebd., S. 49 f.
382
Ebd., S. 132.
381
184
der Kantischen Transzendentalphilosophie liegt m. E. der wichtigste Grund dafür,
warum Schleiermachers Begriff des Selbstbewußtseins gar nicht als etwas zu
betrachten ist, was, wie Dilthey und viele Schleiermacher-Kritiker meinen, etwas
rein Subjektives wäre.
3.2. Das Leben als Einheit von Spontaneität und Rezeptivität
In der Analyse des Verhältnisses von Spontaneität und Rezeptivität kann man
eine große Kontinuität zwischen dem jungen und dem späten Schleiermacher
feststellen. Schleiermacher vertritt seit seinen Jugendschriften über den Spinozismus stets eine These, die als eine Kritik an Kant zu betrachten ist: alles, was
im Bewußtsein als das Seiende in der Welt vorkommt, sei auf die Einheit von der
Spontaneität und Rezeptivität des menschlichen Lebens zurückführbar.
Um des besseren Verständnisses halber möchte ich zuerst die Position des späten Schleiermachers erörtern, die er bezüglich der Begriffe der Spontaneität und
Rezeptivität in der Glaubenslehre einnimmt. Danach wird Schleiermachers KantKritik in den beiden Jugendschriften über den Spinozismus, die sich auf die Kantische Problematik des Dinges an sich einerseits und der Selbstbestimmung der
Vernunft andererseits bezieht, mit diesen Überlegungen des späten Schleiermachers verglichen.
In der Glaubenslehre behauptet Schleiermacher, daß unsere „Abhängigkeit von
Gott“ nicht von einem Subjekt-Objekt-Schema her zu verstehen sei, bei dem die
Teilung von dem handelnden Selbst und der gegenständlichen Welt angenommen wird. 383 Wir sollen „nämlich gegen unsre Gewohnheit, Sein und Thun und
eben so Thun und Leiden von einander zu sondern, […] das eine von dem andern
nicht sondern.“ 384 Der Grund dafür besteht darin, daß sich jedes einzelne Seiende
im Wirkungszusammenhang mit den anderen Seienden befinde: Jedes Seiende,
das als ein besonderes Sein gegenüber anderen Seienden zu betrachten ist, kann
nur dadurch entstehen und fortbestehen, daß es auf die anderen Seienden aktiv
wirkt und daß umgekehrt von den anderen Seienden auf es eingewirkt wird. We383
384
Ebd., S. 170.
Ebd.
185
der die abstrakte Trennung des Seins von dem Tun noch die der aktiv wirkenden
Tätigkeit von der die Wirkung des anderen Seienden hinnehmenden Rezeptivität
entspricht der wirklichen Seinsweise des Seienden, sondern repräsentiert nur die
Beschränktheit des natürlichen, an der Teilung des einzelnen Seienden orientierten Weltbewußtseins: „Denn wir können doch nur das als ein besonderes Sein für
sich ansehen, in dem irgendwie Leben ist oder Kraft, und damit zugleich ist auch
ein Kreis von Thätigkeit gesetzt, und in sofern fällt die Mitwirkung mit der Erhaltung zusammen.“ 385
Schleiermacher zieht aus dieser Kritik an der „Sonderung des Seins vom Thun
oder Leiden“ im natürlichen Bewußtsein eine Konsequenz, die mit dem Begriff
der Welt als Gesamtheit alles mannigfaltig Seienden nicht vollständig erklärt
werden kann: „Alles was uns als ein Theil der Welt bewegt, besteht als solcher
nur durch Gott.“ 386
3.2.1. Das Selbstbewußtsein als Gefühl unseres Seins in der Welt
Es sieht auf den ersten Blick so aus, als ob diese Aussage eigentlich nur eine
dogmatische Voraussetzung sei, die nicht aus seiner Kritik an der Sonderung des
Seins vom Tun bzw. Leiden im natürlichen Weltbewußtsein abgeleitet werden
kann. Der Grund, warum die Trennung von Sein und Tun nicht der wirklichen
Seinsweise des Seienden entspricht, besteht für Schleiermacher darin, daß „wir
unmittelbar nicht von dem Sein der Dinge bewegt werden, sondern immer nur
von ihren Thätigkeiten und Veränderungen“. 387 Heißt es dann nicht, daß sich
unser Sein selbst im Wirkungszusammenhang mit dem anderen Seienden befindet? Sollen wir die Welt somit primär als einen Platz verstehen, in dem wir uns
in einem Wechselverhältnis mit dem mannigfaltigen Seienden befinden? In der
Tat. Schleiermachers kritische Aufhebung der Sonderung des Seins vom Tun
und Leiden weist auf das kontingent-notwendige Sichbefinden jedes Einzelnen
in einem Wirkungszusammenhang mit dem anderen Seienden hin: Schleierma385
Ebd.
Ebd.
387
Ebd., S. 168.
386
186
cher spricht „von der ursprünglichen Art zu sein des Dinges selbst“ (Fürsichsein
des Einzelnen) einerseits, und „von der Art wie es mit anderem lebendigen und
wirksamen zusammen trifft, also von den Einwirkungen anderer Dinge und von
seinen eigenen leidentlichen Zuständen“ andererseits.“ 388 Entscheidend ist aber,
daß unsere Weltaufnahme ins Selbstbewußtsein im Sinn Schleiermachers keineswegs mit dem Bewußtsein von der Außenwelt endet. Denn es geht Schleiermacher primär um „die Fähigkeit sich im Selbstbewußtsein mit der ganzen Welt zu
einen, d. h., sich selbst schlechthin als Welt oder die Welt als sich selbst zu fühlen.“ 389
Diese These ist m. E. mit der Heideggerschen Konzeption des In-der-Welt-seins
vergleichbar. Im §4 der zweiten Auflage der Glaubenslehre, zu dem Heidegger
in seiner frühen Freiburger Zeit Bemerkungen verfaßt hat, bezeichnet Schleiermacher „unser Selbstbewußtsein“ „als Bewußtsein unseres Seins in der Welt oder unseres Zusammenseins mit der Welt“. 390 Unsere Fähigkeit, die Welt in unser Selbstbewußtsein aufzunehmen, führt uns zur Entdeckung der fundamentalen
Existenzstruktur unseres Daseins: Mein Sein ist in die Welt gehörig, hat die
Struktur des In-der-Welt-seins. Dieses Bewußtsein vom Selbst als einem In-derWelt-sein ist nicht nur als ein Bewußtsein davon zu bezeichnen, daß ich im
Wechselverhältnis mit dem anderen Seienden stehe, in dem das andere Seiende
mir äußerlich gegeben ist. In diesem Bewußtsein finde ich mich auch selbst als
einen Teil von einem Ganzen, von dem das Sein alles einzelnen Seienden abhängig ist.
3.2.2. Das Gefühl unseres Seins in der Welt und das Freiheitsbewußtsein
Es wäre offenkundig absurd zu bestreiten, daß die Welt als die Stätte der Wechselwirkung zwischen den endlich Seienden aufgefaßt werden kann. Wir können
uns vielleicht auch als ein solches Sein verstehen, das nicht nur auf die einzelnen
Dinge, sondern auch auf das Ganze außer mir (die Außenwelt) einwirken kann,
388
Ebd.
Ebd., S. 50.
390
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube², a.a.O., S. 126.
389
187
in dem sich jedes Einzelne befindet. Nach Schleiermacher entsteht gerade dadurch unser Bewußtsein der Freiheit, daß diese Möglichkeit uns bewußt wird:
„Gäbe es nun noch größeres endliches als Vater und Vaterland: so würde auch
mit diesem, wenn gleich in noch geringerem Grade, eine Wechselwirkung möglich sein. Dies gilt auch von der Welt, als der Gesamtheit alles leiblichen und
geistigen endlichen Seins, und das Selbstbewußtsein des Menschen als durch
diese mitbestimmt, ist eben das Bewußtsein der Freiheit. Denn indem er auf jeden Theil derselben Gegenwirkung ausüben kann, übt er Einwirkung auf alle.“391
Wenn es aber um die kontingent-notwendige Struktur des Selbstbewußtseins
geht, daß wir uns selbst nur als ein In-der-Welt-sein, nur als einen Teil der ganzen Welt setzen können, kann von der Freiheit des Menschen, die im Wechselverhältnis zwischen dem handelnden Selbst und dem gegenständlichen Sein ermöglicht werden kann, nicht mehr Rede sein: „Indem aber der Einzelne sich seiner nur als eines Teiles der ganzen Welt bewußt wird, ist aller Gegensatz zwischen dem Einzelnen und anderm einzelnen und endlichen ganz aufgehoben.
Woraus schon hervorgeht, daß die frommen Erregungen an und für sich unter
diesem Gegensaz nicht stehn.“ 392
Man wird hier allerdings einwenden können, daß dieses Bewußtsein vom Selbst
als einem In-der-Welt-sein nicht mit dem Bewußtsein der Freiheit im Widerspruch steht. Ist das Bewußtsein des In-der-Welt-seins, da die Welt immer als
das Ganze der Mannigfaltigkeit des Seienden vorkommt, nicht vielmehr als eine
Grundbedingung für das Bewußtsein von der eigenen Freiheit zu verstehen?
Heißt es dann nicht, daß ich mich gerade durch das Bewußtsein von meinem
Selbst als einem In-der-Welt-sein als ein solches Sein verstehe, das sich in einem
Wechselverhältnis befindet? Darauf hätte Schleiermacher zwei Antworten geben
können.
Erstens versteht Schleiermacher selbst das Abhängigkeitsgefühl gar nicht als
einen Gegensatz zum Bewußtsein der Freiheit, sondern als dessen grundsätzliche
Voraussetzung. Schleiermacher weist darauf hin, daß „das fromme Gefühl […]
391
392
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube., a.a.O., S. 32.
Ebd., S. 35.
188
immer ein reines Gefühl der Abhängigkeit ist, und nie ein Verhältniß der Wechselwirkung bezeichnen kann“. 393 Das Abhängigkeitsgefühl gehört zu der Ermöglichkeitsbedingung des Freiheitsbewußtseins, da ohne das Bewußtsein davon,
daß ich selbst mitsamt den anderen Einzelnen in ein Ganzes gehöre und von ihm
abhängig bin, kein auf die anderen Seienden gerichteter Akt möglich ist: „Mit
diesem Charakter reiner Abhängigkeit hängt aber auch zusammen, daß dasjenige,
wovon wir uns in den frommen Erregungen abhängig fühlen, nie kann auf eine
äußerliche Weise uns gegenüberstehend gegeben werden. Denn was uns so gegeben wird, darauf können wir uns der Gegenwirkung – die an sich immer möglich bleibt, indem ein sinnlich wirkendes auch für sinnliche Rückwirkungen
empfänglich sein muß – nur durch freiwillige Entäußerung begeben, und die
Frömmigkeit muß schon vorausgesetzt werden, um diese Entäußerung hervorzubringen.“ 394 Schon daraus, daß das Freiheitsbewußtsein die Möglichkeit voraussetzt, auf das andere Seiende einzuwirken, kann man erkennen, daß sein begriffliches Korrelat, das Bewußtsein der Unfreiheit, umgekehrt die Möglichkeit voraussetzt, von dem anderen Seienden Einwirkungen zu erfahren. Da aber das reine Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher nicht ein Verhältnis der Wechselwirkung bezeichnet, kann man es nicht als einen Gegensatz des Freiheitsbewußtseins bezeichnen.
Zweitens ist das In-der-Welt-sein für Schleiermacher nur eine unter den zwei
möglichen Definitionen des menschlichen Daseins, die man von der Analyse des
unmittelbaren Selbstbewußtseins ableiten kann; denn jeder Mensch ist für Schleiermacher nicht primär in seiner Abhängigkeit von der Welt zu verstehen, sondern
von dem, was Schleiermacher Gott nennt.
3.2.3. Das Gefühl unseres Seins in der Welt und das Gottesbewußtsein
Allerdings darf man hieraus nicht ableiten, daß das Abhängigkeitsgefühl, wenn es
sich auf das Bewußtsein vom Selbst als einem In-der-Welt-sein bezieht, für
Schleiermacher kein reines Abhängigkeitsgefühl wäre. Das Gefühl der Abhän393
394
Ebd., S. 32.
Ebd., S. 33.
189
gigkeit von der Welt ist nicht rein, wenn die Welt als eine Außenwelt verstanden
wird, auf die ich einwirken kann und von der ich Wirkungen erfahre. Aber wenn
es sich auf jene Fähigkeit bezieht, sich im Selbstbewußtsein mit der ganzen Welt
zu vereinen, ist das Gefühl der Abhängigkeit von der Welt nicht mit dem Wechselverhältnis zwischen mir und dem anderen Seienden verbunden; ich fühle mich
selbst als einen Teil der Welt, und in diesem Gefühl, mit der ganzen Welt eins zu
sein, ist die Teilung von Selbst und Welt (Außenwelt) aufgehoben.
Schleiermacher will nun zeigen, daß das Bewußtsein vom Selbst als einem Inder-Welt-sein notwendig zu einem frommen Gefühl der Abhängigkeit von Gott
wird. Hiermit meine ich nicht, daß das Gottesbewußtsein für Schleiermacher ein
vom Weltbewußtsein abgeleitetes Phänomen wäre, wie Dilthey behauptet. Wir
haben gesehen, daß die Welt, die im Bewußtsein vom Selbst als einem In-derWelt-sein vorkommt, gar nicht als eine Außenwelt gemeint ist, sondern als das
unendliche Ganze, von dem das Sein alles Endlichen abhängig ist. Die richtige
Formulierung des Selbstbewußtseins ist also eigentlich das Bewußtsein vom
Selbst als einem In-dem-unendlichen-Ganzen-sein, und die Welt ist nur ein Begriff, den man diesem unendlichen Ganzen geben kann. Aus den folgenden Passagen kann man deutlich erkennen, daß die Welt für Schleiermacher kein adäquater
Name für das unendliche Ganze ist, von dem das Sein alles Endlichen abhängig
ist: „Wenn daher in dem die frommen Erregungen auszeichnenden Gesetztsein
einer vollkommnen, stetigen, also auf keine Art von einer Wechselwirkung begrenzten oder durchschnittenen Abhängigkeit, die Unendlichkeit des mitbestimmenden nothwendig mitgesetzt ist, so ist dies nicht die in sich getheilte und endlich gestaltete Unendlichkeit der Welt, sondern die einfache und absolute Unendlichkeit.“ 395
Die Welt ist nur ein Inbegriff des mannigfaltig Seienden, und ihre Unendlichkeit
hängt also von der Unendlichkeit des einzelnen, geteilten Seienden ab. Der entscheidende Punkt, den Schleiermacher bei seiner Unterscheidung von Welt und
Gott hervorhebt, besteht nun darin, „daß dasjenige, wovon wir uns in den frommen Erregungen abhängig fühlen, nie kann auf eine äußerliche Weise uns gege395
Ebd., S. 32.
190
nüberstehend gegeben werden.“ 396 Die Welt kann uns, wie Schleiermacher mit
dem Beispiel zeigt, äußerlich gegeben sein, da ihre Unendlichkeit nur die in sich
geteilte und endlich gestaltete Unendlichkeit ist. Das In-der-Welt-sein aber, als
das sich die Menschen in ihrem Selbstbewußtsein wieder finden müssen, bezeugt,
daß sich jedes Einzelne stets in dem unendlichen Ganzen befinden muß. Wir
können im Denken und Handeln die Unendlichkeit als die in sich geteilte Unendlichkeit der Welt setzen, und die Möglichkeit unseres Freiheitsbewußtseins besteht darin, unser Selbst von dieser in sich geteilten Unendlichkeit der Welt als
ein eigenständiges Sein abzusondern. In Wirklichkeit befindet sich unser Sein
aber stets in dem unendlichen Ganzen, und die wahre Unendlichkeit des Ganzen,
von der unser Sein abhängt, ist uns eigentlich nie äußerlich gegeben. Und hierin
liegt der Grund, warum die Unendlichkeit des ganzen Seins die einfache und absolut innerliche Unendlichkeit sein muß.
3.2.4. Das relative und das absolute Abhängigkeitsgefühl
Wir haben schon gesehen, daß Schleiermacher-Forscher wie E. Huber, W. Dilthey und E. Brunner in Schleiermachers Identifizierung des religiösen Gefühls
mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein eine Reduktion der Religion auf das
rein Subjektive erkennen wollen. Nach ihnen ist die Religion bei Schleiermacher
als etwas letztlich rein Subjektives konzipiert, da sie mit dem Selbstbewußtsein
identifiziert wird. Gott wird folglich als eine innerliche Gegebenheit im subjektiven Bewußtsein verstanden. Besonders Brunner übt von dieser Position aus eine
erbitterte Kritik an der Religionsphilosophie Schleiermachers. Nach Brunner habe Schleiermacher mit seinem Versuch, die Eigenständigkeit der Religion vor
der Bedrohung durch den spekulativen Idealismus zu bewahren, „die Immanenzlehre der Spekulation durch die viel schlimmere Immanenzlehre der Gefühlsmystik“ ersetzt. 397
Diese Kritik erweist sich nach dem Gesagten jedoch als unhaltbar. Denn Gott ist
für Schleiermacher, wie wir gesehen haben, nicht eine innerliche Gegebenheit im
396
397
Ebd., S. 33.
E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 375.
191
Bewußtsein, sondern das ganze Sein, in dem ich mich mitsamt allem anderen
Seienden befinde. Gott ist für Schleiermacher nicht das rein Subjektive, da das
Selbstbewußtsein, mit dem die Religion identifiziert wird, das Bewußtsein von
meinem Selbst als In-dem-unendlichen-Ganzen-sein bedeutet.
Schleiermacher stellt drei Formen des frommen Gefühls dar, die notwendig in
der Form des Bewußtseins vom Selbst vorkommen. Dabei geht es um die Unterscheidung des absoluten Abhängigkeitsgefühls von dem relativen. In der ersten
und der zweiten Form ist das Selbst mehr oder weniger als ein gesondertes Sein
gegenüber dem übrigen Sein gedacht, während es in der dritten Form sich seiner
unmittelbaren Einheit mit dem ganzen Sein bewußt ist.
Die erste Form besteht darin, daß sich das Abhängigkeitsgefühl auf das Selbst,
das als das sinnlich Bestimmte aufgefaßt wird, bezieht: „Da das fromme Gefühl
überhaupt nur zur Erscheinung kommt, d. h. wirkliches zeiterfüllendes Selbstbewußtsein wird, indem es sich mit einem bestimmten Moment des sinnlichen
Selbstbewußtseins einigt: so ist auch jede Beschreibung desselben die eines bestimmten innern Gemüthszustandes, und dies ist die ursprüngliche Form.“ 398
Hier handelt es sich um die allgemeine Struktur des Abhängigkeitsgefühls, nämlich daß ich mich nur durch die sinnliche Bestimmtheit meines Selbstbewußtseins als abhängig von etwas fühlen kann.
Die zweite Form besteht darin, daß dieses Bewußtsein vom Selbst, da das Selbst
immer als das sinnliche, d. h. von dem Seienden außer mir beeinflußte Selbst
vorgestellt wird, notwendig die Funktion hat, unsere Aufmerksamkeit auf das
äußere Seiende zu richten. Da jedes Seiende, das einem anderen Seienden äußerlich gegenübersteht, nur als ein Teil des gesamten Seins existieren kann, führt
diese Teilung von meinem Selbst und dem mir Äußeren zum Bewußtsein von
dem ganzen Sein, das, solange das Selbst isoliert betrachtet wird, in der Form
von der Außenwelt vorkommt. Hiermit zeigt sich das Selbstbewußtsein als Bewußtsein vom Selbst als einem Mit-sein, in dem das Selbst neben die Außenwelt
gesetzt ist: „Da aber jede Bestimmtheit des sinnlichen Selbstbewußtseins auf ein
bestimmendes außer dem Bewußtsein zurückweist, welches Aeußere wegen des
398
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 119.
192
allgemeinen Zusammenhanges nur als ein Theil des Gesamtseins auftritt: so kann
der Zustand selbst auch erkannt werden, wenn dasjenige in dem Gesamtsein oder
der Welt beschrieben wird, worauf jener Zustand beruht; und dies ist die zweite
Form.“ 399 Es handelt sich hier also um das relative Abhängigkeitsgefühl, in dem
das Selbst und die Welt getrennt aufgefaßt werden.
Die dritte Form des frommen Gefühls besteht darin, daß das Selbst nicht mehr
isoliert betrachtet wird. Ich fühle mich nicht mehr als ein Subjekt, das sich dem
Außensein gegenüberstellt, sondern als ein In-sein, das mitsamt dem anderen
Seienden zum ganzen Sein gehört. In dieser Form ist das fromme Gefühl als das
absolute Abhängigkeitsgefühl zu bezeichnen, und alle anderen Formen des
frommen Gefühls sind nur als Modifikationen dieses absoluten Abhängigkeitsgefühls möglich: „Endlich da das absolute Abhängigkeitsgefühl, von dem doch alle
frommen Zustände nur Modifikationen sind, sich nicht auf das Subjekt des
Selbstbewußtseins isoliert bezieht, sondern auch auf sein Zusammensein mit allem übrigen endlichen, und also auch dieses Zusammensein in seinen verschiedenen Modifikationen von dem höchsten Wesen abhängig ist, so kann ein jeder
frommer Gemüthzustand auch erkannt werden, indem dasjenige in Gott beschrieben wird, wodurch jedes bestimmte Zusammensein geordnet ist; und das
ist die dritte Form.“ 400
3.3. Der Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt
Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, daß die dritte Form des frommen
Gefühls, die sich auf das Gottesbewußtsein bezieht, auch in der Form des Bewußtseins vom Selbst als einem In-der-Welt-sein möglich ist. Warum sollte man
aber dieses Gefühl, wenn es sich auch auf das Weltbewußtsein beziehen läßt, als
‚frommes‘ Gefühl bezeichnen? Ist es nicht widersprüchlich, daß ein gleiches Gefühl einmal als ein frommes ein andermal als ein unfrommes betrachtet werden
kann? Schleiermacher selbst erkennt an, daß die dritte Form des Abhängigkeitsgefühls nicht nur in bezug auf Gott, sondern auch in bezug auf die Welt gedacht
399
400
Ebd.
Ebd.
193
werden kann. Er nennt die Erklärung, in der das absolute Abhängigkeitsgefühl
„nicht auf die Idee Gott, sondern auf die Idee Welt“ zurückgeführt wird, „die unfromme Erklärung dieses Gefühls.“ 401 Warum kann man aber gewiß sein, daß
diese unfromme Erklärung falsch bzw. unangemessen für das Verständnis des
unmittelbaren Selbstbewußtseins ist? Muß man nicht eher davon ausgehen, daß
wir in unserem Bewußtsein unseres Seins in der Welt das gesamte Sein als einen
Zusammenhang von einzelnen Seienden verstehen? Ist es dann nicht möglich,
daß wir uns gerade im Bewußtsein von unserem Selbst als einem In-demganzen-Sein-sein nicht schlechthinnig abhängig, sondern eher nur relativ abhängig und folglich auch relativ frei fühlen?
3.3.1. Die ungeteilte Unendlichkeit als Existenzgrund des endlichen Seins
Schleiermacher versucht diese Möglichkeit dadurch auszuschließen, daß er die
Einheit der ungeteilten Unendlichkeit als Existenzbedingung alles endlichen, also im Gegensatz begriffenen Seienden darstellt: „Denn wie das Endliche als im
Gegensaz begriffen nur erkannt werden kann mit und aus dem außer und über
den Gegensaz gestellten; und also allem Erkennen des entgegengesetzten das
Bewußtsein der absoluten Einheit zum Grunde liegt, so daß wir auch demjenigen,
der völlig im Gegensatz stehen bleiben und jene Einheit läugnen wollte, kein
Wissen zuschreiben, mithin das eigenthümlich menschliche der Anschauung ihm
absprechen würden […]“. 402
Rein logisch gesehen kann durch diese Überlegung nicht zufriedenstellend geklärt werden, warum sich das Bewußtsein vom Selbst als In-dem-ganzen-Seinsein primär auf Gott beziehen muß und nicht vielmehr auf die Welt. Ein Beispiel:
Ich stelle mir einen Raum vor, in dem es nichts gibt außer zwei Gegenständen.
Ich kann die Beziehung zwischen beiden als gegensätzliche definieren, wenn ich
jedem einzelnen Ding eine Selbigkeit zuweise, die durch die dauerhafte Identität
mit sich selbst charakterisierbar ist; jedes Ding kann nur dadurch als ein eigenständiger Gegenstand betrachtet werden, wenn er eine dauerhafte Identität mit
401
402
Ebd., S. 124.
Ebd., S: 125.
194
sich selbst hat; denn sonst muß er sich nur in einem Fluß der ständigen Veränderungen befinden, für den weder der Begriff des Gegenstandes noch der des Dinges angemessen sein kann. Beide sind also, indem sie in ihrer Gegenständlichkeit
betrachtet werden, durch die dauerhafte Identität mit sich selbst charakterisierbar
und verhalten sich daher wie die gegensätzlich Seienden; ein Gegenstand (A)
kann nur dadurch als A gesondert betrachtet werden, wenn er sich von dem anderen (B) in der Form von Nicht-B abhebt. Kann man nun diese gegensätzliche Beziehung als eine solche verstehen, die notwendig von einer Einheit abhängig ist,
in der der Gegensatz zwischen beiden Dingen nicht mehr gelten kann? Nein. Es
gibt nur zwei Gegenstände in einem Raum, in dem sich die beiden aufeinander
beziehen, und der Raum ist nur eine kontingent-notwendige Voraussetzung für
jedes Denken, das an der Relation zwischen den Gegenständen orientiert ist.
Auch Schleiermacher würde auf diese Frage verneinend antworten: die Unendlichkeit, von der jedes Endliche schlechthinnig abhängig sein muß, kann für ihn
nicht die in sich geteilte Unendlichkeit der Welt sein.
Daher kann man zwei Fragen stellen, die in bezug auf Schleiermachers Begriff
des Selbstbewußtseins von Bedeutung sind: 1. Ist die Beziehung zwischen mir
und dem anderen Seienden in meinem Selbstbewußtsein als eine solche zu verstehen, in der mein Selbst dadurch gesetzt ist, daß es zu einer besonderen Identität erhoben wird und daher mein Sein folglich von den anderen einzelnen Seienden unterschieden ist? 2. Heißt es dann nicht, daß die Einheit, von der nach
Schleiermacher die voneinander als Gegensätze gesonderten Einzelnen abhängen
sollten, eigentlich nur eine räumliche, in sich geteilte Beziehung zwischen den
Einzelnen sein kann? Mit anderen Worten: Ist es nicht ein Denkfehler, wenn man
annimmt, daß das Abhängigkeitsgefühl auf die einfache, d. h. in sich nicht geteilte Unendlichkeit bezogen wird?
195
3.3.2. Das phänomenische Wesen des Weltbewußtseins als Ursache für den
Glauben an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt
Wie Schleiermacher die erste Frage beantworten würde, kann man aufgrund der
Jacobi-Kritik in Schleiermachers Jugendschriften vermuten: Diejenigen, die an
diese Möglichkeit glauben, begehen jenen Fehler, den Schleiermacher in seiner
Jugendschrift über den ‚Spinozismus‘ an Jacobis Unterscheidung von der Personalität und dem Prinzip der Personalität bemängelt: das Selbst wird hier wie ein
reales Substrat behandelt, während sich die Einheit des Selbstbewußtseins keineswegs auf das substantielle Sein bezieht. Auch Schleiermachers Glaubenslehre
geht von demselben Grundgedanken aus. Die Einsicht ins phänomenische Wesen
des Selbstbewußtseins, die der junge Schleiermacher durch seine Auseinandersetzung mit Jacobi, Spinoza und Kant gewonnen hat, bleibt auch für das Denken
des späten Schleiermachers von entscheidender Bedeutung.
Der dritte Abschnitt des ersten Teils der Glaubenslehre beginnt mit der These,
die an Leibniz’ Identifikation der wirklichen Welt mit der besten aller möglichen
Welten erinnert: „Die Allgemeinheit des Abhängigkeitsgefühls enthält den Glauben an eine ursprüngliche Vollkommenheit der Welt.“ 403 Diese These kann nicht
richtig verstanden werden, wenn man Schleiermachers Einsicht in das phänomenale Wesen des Weltbewußtseins nicht berücksichtigt. Der Ausgangpunkt
Schleiermachers ist nicht ein metaphysischer Optimismus, der die Existenz der
Welt auf die freie Schöpfung Gottes zurückführt. Er will vielmehr durch seine
Analyse des unmittelbaren Selbstbewußtseins zeigen, daß dieser Glaube an eine
ursprüngliche Vollkommenheit der Welt zur Grundeigenschaft jedes wirklichen
Bewußtseinslebens gehört, für das die Welt, solange sie in einer konkreten Sachrelation verstanden wird, nur als eine phänomenale Welt gegeben sein kann.
Nach Schleiermacher verhalten wir uns im Denken und Handeln nicht direkt zur
wirklichen Welt, sondern zu einer phänomenalen Welt. Das kann durch eine
leichte Umformulierung seiner These deutlich werden. Daß im Abhängigkeitsgefühl der Glaube an eine ursprüngliche Vollkommenheit der Welt enthalten ist,
bedeutet natürlich, daß unsere Vorstellung der Welt nicht vollkommen ist. Seine
403
Ebd., S. 226.
196
These kann daher folgendermaßen umformuliert werden: Wir haben ein Gefühl,
daß die wirkliche Welt eigentlich vollkommen ist, während die phänomenale
Welt, die wir in unserem Bewußtsein als unseren Gegenstand setzen, nur eine
unvollkommne Welt ist. So ist „die Welt, wie sie in irgend einem Augenblick
zeitlich auf uns einwirkt, nicht der reine Ausdruk jener ursprünglichen Vollkommenheit.“ 404 Allerdings bedeutet das umgekehrt, daß „in dem Begriff der
ursprünglichen Vollkommenheit der Welt auch das, was in dem wirklichen Bewußtsein vorkommt, nicht enthalten [ist]“. 405
Um zu verstehen, was Schleiermacher mit der ursprünglichen Vollkommenheit
der Welt meint, muß man sich vor allem zwei Fragen stellen: a) Was meint
Schleiermacher mit dem Ausdruck vollkommen? b) Was meint Schleiermacher
mit dem Ausdruck ursprünglich?
3.3.3. Die Bedeutung der Vollkommenheit der Welt
Schleiermachers Erklärung des Ausdrucks vollkommen zeigt, daß er unter der
Vollkommenheit einen Seinsmodus versteht, der in der metaphysischen Tradition dem substantiellen Sein zugewiesen wird: „Unter Vollkommenheit wird hier
nichts anders als die Einheit und Vollständigkeit der Zusammenstimmung des
gesetzten in sich, ohne daß dasselbe irgendwie auf etwas anderes bezogen werde,
verstanden.“ 406
G. Scholtz weist in seiner Darstellung von Schleiermachers Rezeption der Platonischen Ideenlehre darauf hin, daß „das Sein“ für Schleiermacher „nicht die
wichtigste formale Kategorie“ ist; das Sein ist bei ihm eher „substantielles Sein
und Seinsfülle.“ 407 Schleiermachers Begriff der ursprünglich vollkommenen
Welt zeigt, daß er tatsächlich von einem Begriff des substantiellen Seins ausgeht;
die Vollkommenheit der Welt besteht darin, daß die Welt außerhalb ihrer selbst
keine Ursache für ihr Sein hat.
404
Ebd., S. 227.
Ebd.
406
Ebd., S. 226.
407
G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 261.
405
197
Hieraus darf man aber nicht ableiten, Schleiermachers Begriff des substantiellen
Seins wäre etwa gegenständlich gemeint. Unter dem Einfluß von Heideggers
Fundamentalontologie neigt man heutzutage nicht selten dazu, beim Begriff der
Substanz allzusehr die Begriffe Vorhandenheit und Gegenständlichkeit zu assoziieren. Die Vorhandenheit und die Gegenständlichkeit sind aber Begriffe, die
nur auf ein bestimmtes Seiendes anwendbar sind, das in Relation mit anderem
Seienden steht. Für Schleiermacher steht aber, wie Scholtz zeigt, fest, daß „jedes
seiende Wesen durch seine Relationen auch in gewissem Sinne ein Nichtseiendes
wird.“ 408 Schleiermachers Begriff der Vollkommenheit der Welt setzt dagegen
voraus, daß die Welt für ihr Sein keine Ursache außerhalb ihres Seinsbereichs hat;
die Welt steht, wenn sie in ihrer Gesamtheit gedacht wird, nicht in einer Relation
mit dem anderen Sein. D. h.: Die wirkliche Welt ist bei Schleiermacher zwar als
ein substantielles Sein gemeint, aber nicht als ein gegenständlich Seiendes.
Der Gedankengang, dem Schleiermacher folgt, kann folgendermaßen wiedergegeben werden: Unsere Weltvorstellung ist durch die Anschauung des Raumes
bestimmt, und die Welt ist uns als Gesamtheit der einzelnen Seienden gegeben,
die zueinander in einem räumlichen Verhältnis stehen. Da aber der Raum einen
Gegensatz von Außen und Innen voraussetzt, während die Gesamtheit der Welt
keineswegs ein Außen haben kann, muß man notwendig die wirkliche Welt als
eine solche verstehen, die mit Hilfe der Raumvorstellung des natürlichen Weltbewußtseins nicht adäquat dargestellt werden kann. Hierin liegt für Schleiermacher die philosophische Notwendigkeit, warum im Weltbewußtsein das Gottesbewußtsein mitgesetzt sein muß. Denn gerade Gott ist für Schleiermacher das
Sein, dem „die räumliche Ausdehnung nicht beizulegen“ ist. 409 Ähnlich wie Heidegger die Ableitung des Seins aus dem (gegenständlich) Seienden als einen fatalen Irrtum des metaphysischen Denkens ablehnt, will auch Schleiermacher einen Denkfehler korrigieren, der durch die „Vermischung des göttlichen Seins mit
dem endlichen“ entsteht. 410 Nach Schleiermacher besteht nun „die beste Correction“ dieses Denkfehlers darin, „das räumliche“ als die Bestimmung des Seins
408
Ebd., S. 268.
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 200.
410
Ebd., S. 201.
409
198
Gottes „ganz zu läugnen, und auf die Frage wo? nur zu antworten, Gott sei in
sich selbst, welches bildlich auch durch die Aufhebung aller räumlichen Gegensäze […] erreicht wird.“ 411
Hieraus ergibt sich nun, daß die Welt, solange sie als räumlich verstanden wird,
nie die ganze Welt sein kann. Ich habe schon gezeigt, daß für Schleiermacher die
phänomenale Welt im Selbstbewußtsein mitgesetzt ist. Genauer ausgedrückt haben wir im Selbstbewußtsein folglich nicht die ganze Welt, sondern nur einen
Teil der Welt als unseren Gegenstand: „In jedem wirklichen Selbstbewußtsein ist
immer ein Theil der Welt mitgesetzt“, der unser Sein in einem „allgemeinen Naturzusammenhang“ erscheinen läßt. 412 Zwar können wir im Denken die ganze
Welt mit einer räumlichen identifizieren, in der jedes Einzelne in einem Naturzusammenhang mit dem anderen Seienden steht. Aber in der konkreten Weltvorstellung ist, indem sie als eine räumliche vorgestellt ist, nicht die ganze Welt gesetzt, sondern nur ein Teil der Welt; die räumliche Welt muß notwendig immer
ein Außen haben, während die ganze Welt nicht ein Außen haben kann. Hieraus
ergibt sich nun, daß die phänomenale Welt, zu der wir uns beim Denken und
Handeln verhalten, immer nur einen Teil der Welt repräsentiert. Nur im Gefühl
können wir einen Zugang zu der ganzen Welt haben; die vollkommene Gesamtheit der Welt kann nicht in unserem konkreten Weltbewußtsein anschaulich vorgestellt werden.
3.3.4. Die Bedeutung der Ursprünglichkeit der vollkommenen Welt
Man wird nun erklären wollen, daß sich Schleiermachers Ausdruck ursprünglich
auf die wirkliche Welt beziehe; die wirkliche Welt sei ursprünglich vollkommen,
während die phänomenale Welt, auf die sich unsere Selbstbewußtsein bezieht, nur
einen Teil der wirklichen Welt repräsentiere. Diese Erklärung ist scheinbar richtig,
da der Ausdruck ursprünglich die Welt betreffen muß, die nicht mit unserer
Weltvorstellung identisch sein kann. Diese Idee der realen Welt, die vollkommen
sein soll, kann aber einer strengen Kritik der Philosophie nicht standhalten; denn
411
412
Ebd., S. 202.
Ebd., S. 132.
199
die Welt kann, verstanden als die Gesamtheit der in einer räumlichen Relation
stehenden Einzelnen, nie von dem Gegensatz zwischen dem Außen und dem Innen frei sein, während das ganze Sein nicht durch diesen Gegensatz charakterisierbar ist. D. h.: Die Welt kann ihrer Definition nach nie das ganze Sein repräsentieren, das im Gegensatz zur Welt nicht als räumliche Relation zwischen den
einzelnen Gegenständen zu verstehen ist.
Daher vermeidet Schleiermacher eine Formulierung der Art Die Welt sei ursprünglich vollkommen. Statt dessen konzentriert er sich auf die Beantwortung
der Frage, woher der Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt
kommt.
Die Definition, die Schleiermacher selbst für den Ausdruck ursprünglich gibt,
wirkt ziemlich befremdend: „Ursprünglich aber heißt diese Vollkommenheit,
sofern sie nicht erklärt werden soll aus dem als Stetigkeit des frommen Wohlgefallens ausgebildeten Selbstbewußtsein, in welchem sich jeder Welteindruk mit
dem einwohnenden Bewußtsein des höchsten Wesens leicht und unmittelbar einigt, sondern schon aus der beharrlichen Richtung auf das absolute Abhängigkeitsgefühl an sich, und der dabei nothwendig vorausgesetzten Immergegenwärtigkeit Gottes in uns.“ 413
Dieser Satz besteht aus den zwei Untersätzen: 1. Die Vollkommenheit der Welt
ist dann als ursprünglich zu bezeichnen, wenn sie nicht aus dem Selbstbewußtsein
abgeleitet wird, sofern dies ein stetes Wohlgefallen an der Welt hat. 2. Die Vollkommenheit der Welt ist dann als ursprünglich zu bezeichnen, wenn sie aus der
beharrlichen Richtung auf das absolute Abhängigkeitsgefühl an sich abgeleitet
wird. Mit dem ersten Untersatz sind zwei Erklärungen des Selbstbewußtseins
gegeben: erstens wird das Selbstbewußtsein als Stetigkeit des frommen Wohlgefallens bezeichnet; zweitens ist das Selbstbewußtsein als ein Ort zu verstehen, in
dem sich jeder Welteindruck mit dem einwohnenden Bewußtsein des höchsten
Wesens leicht und unmittelbar einigt. Dem zweiten Untersatz kann man die Voraussetzung für die beharrliche Richtung auf das absolute Abhängigkeitsgefühl
entnehmen: die Immergegenwärtigkeit Gottes in uns.
413
Ebd., S. 226.
200
3.4. Die Allgegenwart Gottes im menschlichen Bewußtsein als Ursache des
Glaubens an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt
Für die Erklärung dessen, was Schleiermacher mit dieser komplizierten Definition von ursprünglich meint, möchte ich zuerst zwei Begriffe erläutern, die leicht
Mißverständnisse verursachen können: das einwohnende Bewußtsein des höchsten Wesens und die Immergegenwärtigkeit Gottes in uns.
3.4.1. Zwei Mißverständnisse des Schleiermacherschen Begriffs der Gottesgegenwart in uns
Die erste Gefahr, die beim Verstehen dieser Begriffe auftritt, besteht darin, daß
das Gottesbewußtsein als eine innere Gegebenheit mißverstanden wird, die neben
dem sinnlichen Bewußtsein einen festen Ort im wirklichen Bewußtsein hat. Der
Ausdruck innerlich bedeutet hier aber keineswegs, daß wir in unserem Bewußtsein etwas (wie eine Vorstellung Gottes) als eine innere Gegebenheit haben.
Schleiermacher behauptet mit diesem Ausdruck lediglich, daß wir nie in ein äußerliches Verhältnis mit dem höchsten Wesen treten können. Ein Beispiel: Ich
erinnere mich jetzt an einen Baum, den ich gestern gesehen habe. Das setzt freilich voraus, daß ich eine Vorstellung von diesem Baum in meinem Bewußtsein
als eine innere Gegebenheit habe. Das bedeutet aber keineswegs, daß ich nur in
ein inneres Verhältnis mit der Vorstellung des Baums treten kann; die Vorstellung vom Baum ist zwar in meinem Bewußtsein innerlich gegeben, aber in meiner Erinnerung trete ich doch in ein äußerliches Verhältnis zu der Vorstellung des
Baumes, da ich mir den Baum nur als ein solches Seiendes vorstellen kann, das
mir äußerlich gegenübersteht. Eben daher weist Schleiermacher darauf hin, daß
„das höchste Wesen auf eine äußerliche Weise weder jemals gegeben ist noch
gegeben werden kann, sondern nur innerlich.“ 414
414
Ebd., S. 36.
201
Die zweite Gefahr besteht darin, daß man unter dem Begriff des einwohnenden
Bewußtseins des höchsten Wesens ein rein subjektives Prinzip der Erkenntnis
versteht, das der konkreten Welterfahrung schlechthin vorhergehen muß. E.
Brunner parallelisiert z. B. in Anlehnung an C. Sigwart das religiöse Gefühl
Schleiermachers mit dem „Kantischen Apriori“ bzw. dem „Fichteschen Ich“, obwohl „der Unterschied zwischen dem Gefühl und einem Apriori oder auch jenem
Ich“ auch ihm klar ist. 415 Es ist zwar wahr, daß „Schleiermachers Abhängigkeitsgefühl ausdrücklich als reine Passivität bestimmt ist“, während „das Apriori
eine Synthesis schaffende Potenz“ beinhaltet. 416 Aber das Abhängigkeitsgefühl
ist bei Schleiermacher als „ein immer sich selbst Gleichbleibendes und immer
Gegenwärtiges“ gedacht, das dennoch „nie isoliert, sondern immer ‚an anderem‘“ ist. 417 Also ist das religiöse Gefühl Schleiermachers für Brunner eben deswegen mit dem Kantischen Apriori vergleichbar, weil es die reine Allgemeinheit
des Bewußtseins markiert, die bei jeder Erfahrung in der gleichen Form vorkommen muß und als solches schlechthin als ein Apriori zu definieren ist.
Brunners Parallelisierung des religiösen Gefühls mit dem Kantischen Apriori
läßt sich m. E. auf jenes Mißverständnis zurückführen, das darin besteht, daß
Schleiermachers Begriff des im Selbstbewußtsein einwohnenden Gottesbewußtseins als eine innere Gegebenheit zu verstehen sei. Zwar ist das Apriori nicht wie
die Vorstellungen von Gegenständen innerlich wahrnehmbar. Es ist aber das rein
Subjektive, das nicht in der Außenwelt zu suchen ist. In keinem Moment des Lebens tritt das reine Apriori isoliert von der sinnlichen Erfahrung auf. Es ist aber
insofern nur innerlich gegeben, weil es zur reinen Subjektivität gehört und nirgends in der Außenwelt zu suchen ist; es ist insofern als eine angeborene Anlage
zu verstehen, weil es nicht je nach der Person bzw. dem konkreten Erfahrungsmoment verschieden ist, sondern stets allgemein bleibt.
Tatsächlich kann man in der Glaubenslehre verschiedene Stellen finden, in denen das religiöse Abhängigkeitsgefühl von Schleiermacher wie ein Kantisches
415
E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 68. Vgl. C. Sigwart, ‚Schleiermachers psychologische Voraussetzungen, insbesondere die Begriffe des Gefühls und der Individualität‘, in:
Jahrbücher für Deutsche Theologie 2 (1857), S. 859 f.
416
E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 68.
417
Ebd., S. 67.
202
Apriori
beschrieben
wird.
Das
„ursprüngliche
Abhängigkeitsgefühl
er-
scheint“ nach Schleiermacher „an und für sich nicht im wirklichen Bewußtsein,
sondern immer nur mit näheren Bestimmungen, also wie ein allgemeines nur
durch das besondere“. 418 Ferner ist es wie das Kantische Apriori „nicht zufällig,
sondern ein wesentliches Lebensmoment, ja nicht einmal persönlich verschieden,
sondern gemeinsam in allem entwikkelten Bewußtsein dasselbige.“ 419
Wir müssen aber in diesem Zusammenhang berücksichtigen, daß die Welt, die
wir in der Form der konkreten Raum-Relation kennen, für Schleiermacher nur
einen Teil der Welt darstellt. Diese Einsicht führt uns zu einem Paradox unseres
Bewußtseinslebens: wir leben mit dem Bewußtsein von der Welt, in dem diese
Welt zu keinem Zeitpunkt des Lebens als Ganzes in der Form einer konkreten
Sachrelation dem Bewußtsein gegeben ist, stets ist uns nur ein Teil der Welt als
raumzeitliche Welt der Tatsachen bewußt. Nur im Glauben bzw. im Gefühl kann
uns die ganze Welt zugänglich sein, dies ist weder im Denken noch im Handeln
möglich. Unser Bewußtsein bleibt beim Denken und Handeln an der Vorhandenheit orientiert, die ohne ein Bewußtsein von Gegenständen in einer konkreten
Raum-Relation nicht möglich ist. Die ganze Welt erscheint also an und für sich
nicht im wirklichen Bewußtsein, da die Welt, zu der wir uns in unserem wirklichen Leben verhalten, nur als eine räumliche möglich ist. Bedeutet dies, daß wir
kein Bewußtsein der ganzen Welt haben? Hierauf würde Schleiermacher erwidern, daß ein Bewußtsein von einem Teil, das nicht vom Bewußtsein vom ganzen
Sein begleitet würde, unmöglich ist. Zwar haben wir nur einen Teil der Welt im
Selbstbewußtsein als unseren Bezugspunkt, aber gerade dieses Mitgesetztsein
eines Teils der Welt im Selbstbewußtsein ist für Schleiermacher ein Beweis dafür,
daß unser Selbstbewußtsein stets von dem Glauben an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt begleitet werden muß.
Kommen wir nun zurück auf dieThese, im Selbstbewußtsein einige sich jeder
Welteindruck mit dem einwohnenden Bewußtsein des höchsten Wesens. Das
höchste Wesen wird hier explizit als im Bewußtsein einwohnend bezeichnet. Was
418
419
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 123.
Ebd., S. 124.
203
bedeutet dieses Wort einwohnend? Heißt es, daß das höchste Wesen im Bewußtsein als etwas gegeben ist, was von den anderen Vorstellungen abgrenzbar ist?
Wir haben eben gesehen, daß jedes Weltbewußtsein, in dem die Welt als eine
Raum-Relation gegeben ist, eigentlich nur einen Teil der Welt repräsentiert und
daher notwendig von einem Glauben an die Vollkommenheit der Welt begleitet
werden muß. Nun ist die Welt aber bei Schleiermacher als „die geteilte Einheit“ definiert, als „die Gesamtheit aller Gegensätze und Differenzen“, die im
konkreten Sinn nur als eine Raum-Relation zwischen den Einzelnen möglich ist.
Da aber eine Raum-Relation immer einen Gegensatz zwischen dem Außen und
dem Innen voraussetzt, kann die Welt kein adäquater Name für das ganze Sein
sein, von dessen Bewußtsein jedes Bewußtsein von dem Teil begleitet werden
muß. Das ganze Sein muß als die ungeteilte absolute Einheit aufgefaßt werden,
die Schleiermacher Gott nennt. Auf diese Weise wohnt das höchste Wesen in
unserem Selbstbewußtsein ein. Das Abhängigkeitsgefühl von diesem höchsten
Wesen ist ein Ermöglichungsgrund für jedes Bewußtsein von Differenzen überhaupt, der daher in jedem Augenblick des Lebens stets allgemein und gleich bleiben muß: „Daß aber das Abhängigkeitsgefühl an sich in Allen dasselbe ist, zugegeben die größere oder geringere Unvollkommenheit nach dem Maaß der Entwicklung, dies ist darin gegründet, daß es an sich nicht auf bestimmten Differenzen des Selbstbewußtseins beruht, sondern auf der Möglichkeit aller dieser Differenzen, d. h. auf dem Bewußtsein, welches schlechthin das gemeinsamste ist und
weit hinausgeht über das, wodurch die einzelne Persönlichkeit bestimmt wird.“ 420
3.4.2. Die Allmacht Gottes als Inbegriff der Einwirkung des Seins auf den Menschen
Was bedeutet es nun, daß die Vollkommenheit der Welt nicht aus dem Selbstbewußtsein erklärt werden soll, in dem sich jeder Welteindruck mit dem einwohnenden Bewußtsein des höchsten Wesens unmittelbar einigt? Schleiermacher
behauptet, daß die Vollkommenheit der Welt schon aus der „beharrlichen Rich420
Ebd., S. 125.
204
tung auf das absolute Abhängigkeitsgefühl an sich“ 421 erklärt werden soll. Was
bedeutet es, daß unser Bewußtsein eine beharrliche Richtung auf das absolute
Abhängigkeitsgefühl an sich hat? Was bedeutet es, daß diese beharrliche Richtung die Immergegenwärtigkeit Gottes in uns voraussetzt?
Schleiermacher argumentiert hier m. E. wie folgt: Die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt soll nicht aus dem Selbstbewußtsein erklärt werden, in dem ein
Teil der Welt mit dem Bewußtsein der absolut innerlichen Einheit des höchsten
Wesens notwendig verbunden ist. Denn ein Weltbewußtsein, das die Welt nur als
räumliche Beziehung einzelner Elemente repräsentiert, ist nur ein nachträgliches
Phänomen, dem die Einwirkung des Seins auf uns vorhergehen muß. Die Einwirkung des Seins auf uns kann nicht wie eine Wechselwirkung zwischen den einzelnen innerweltlichen Dingen verstanden werden, da die Wechselwirkung eine
Raum-Relation zwischen den Gegenständen voraussetzt, die, wie schon gezeigt,
nur in der phänomenalen Welt gegeben ist. Hieraus folgt, daß die Einwirkung des
Seins auf uns, da sie jedem konkreten Weltbewußtsein vorausgeht, nicht als Einwirkung von einem einzelnen gegenständlichen Seienden wahrgenommen werden
kann; „die ganze Allmacht ist ungetheilt und unverkürzt die thuende und bewirkende.“ 422 Hierin liegt der Grund dafür, daß das absolute Abhängigkeitsgefühl
stets in uns gegeben sein muß: es ist der Ermöglichungsgrund für jedes konkrete
Weltbewußtsein, in dem die Einzelnen als seiend in einem Wechselzusammenhang gesetzt werden. Nun kann man die ursprüngliche Einwirkung des Seins
selbst für Schleiermacher am angemessensten mit dem Begriff der Allmacht Gottes bezeichnen. Sie ist nicht von der in sich geteilten Welt her zu verstehen, sondern von der ungeteilten absoluten Einheit des Seins selbst, die allein den Glauben an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt ermöglichen kann. Hierin
liegt der Grund, warum der Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der
Welt direkt aus dem Gefühl des einwirkenden Seins selbst, des allmächtigen Gottes, erklärt werden soll: „Es ist aber auch dieser Glaube an die ursprüngliche
421
422
Ebd., S. 226. Siehe oben 3.3.4.
Ebd., S. 206.
205
Vollkommenheit der Welt nur die andere Seite zu dem Glauben an die ewig allgegenwärtige und lebendige Allmacht.“ 423
3.4.3. Das religiöse Gefühl und das Kantische Apriori
Betrachten wir noch einmal die Behauptung von Brunner, daß die Gottesgegenwart im Bewußtsein bei Schleiermacher mit dem Kantischen Apriori vergleichbar
sei. Es ist einerseits wahr, daß Schleiermacher tatsächlich von der Allgegenwart
Gottes in uns ausgeht, die unabhängig von den verschiedenen Erfahrungen stets
allgemein bleiben muß. Die Allgegenwart Gottes wird aber bei Schleiermacher
als die ursprüngliche Form der Einwirkung des Seins selbst auf uns verstanden,
von der jede konkrete Welt- und Naturerfahrung abhängig sein muß. Mit dem
„Begriff der göttlichen Allmacht“ meint Schleiermacher, „daß der gesamte Naturzusammenhang in allen Räumen und Zeiten in der göttlichen als ewig und allgegenwärtig aller natürlichen entgegengesetzten Ursächlichkeit gegründet“ ist.424
Warum wir zu dem Glauben kommen müssen, daß die göttliche Kausalität dem
gesamten Naturzusammenhang zugrunde liegen muß, erklärt Schleiermacher damit, daß im Selbstbewußtsein „das Abhängigkeitsgefühl an sich mit jedem sinnlichen Bewußtsein sich einigen kann“: „Da nun in jedem sinnlichen Selbstbewußtsein ein Naturzusammenhang gesetzt ist und umgekehrt: so muß auch die göttliche Causalität überall sein wo die natürliche ist.“ 425 Schleiermacher folgt hier der
gleichen Argumentation, die er für die Erklärung des absoluten Abhängigkeitsgefühls anwendet. Alles, was im Selbstbewußtsein als eine konkrete Sachrelation
zwischen den Einzelnen gesetzt ist, kann nicht die ursprüngliche Bezugsform
zwischen mir und dem Sein selbst repräsentieren. Jede Einwirkung auf uns, die
als Einwirkung von einem einzelnen Seienden aufgefaßt werden kann, kann keine
ursprüngliche Form der Einwirkung des Seins selbst auf uns sein, da alles, was
den Gegensatz von Außen und Innen voraussetzt, nur ein nachträgliches Phänomen ist. „Der Naturzusammenhang nämlich, der sich uns überall als zeitlich dar423
Ebd., S. 227.
Ebd., S. 204.
425
Ebd., S. 193.
424
206
stellt, ist auch eben so ein räumlich bedingter“, 426 und hierin liegt der Grund dafür, warum die ursprüngliche Form der Einwirkung des Seins selbst auf uns nicht
als eine solche verstanden werden kann, der man unsere eigenen Gegenwirkung
entgegensetzen könnte. Da „Zeit und Raum überall die Aeußerlichkeit bezeichnen“, 427 kann die Idee des Naturzusammenhangs nicht das ganze Sein repräsentieren. Hieraus folgt, daß jeder Versuch, die Beziehung zwischen mir und dem
Sein nach dem Modell des Naturzusammenhanges als eine gegenseitig bedingende darzustellen, nicht der strengen Kritik der Philosophie standhalten kann. Gerade wie die wahre Unendlichkeit uns nicht äußerlich gegeben sein kann, muß die
Einwirkung des Seins selbst auf uns ursprünglich durch „die absolute Innerlichkeit“ 428 charakterisiert werden, die für Schleiermacher die Seinsweise Gottes bedeutet.
Aus zwei Gründen ist diese Immergegenwärtigkeit Gottes in uns nicht mit dem
Kantischen Apriori vergleichbar. Erstens ist das Kantische Apriori dadurch charakterisiert, daß die Trennung von dem erkennenden Subjekt und dem Ding an
sich von Anfang an vorausgesetzt ist. Dagegen geht der Begriff der Immergegenwärtigkeit Gottes in uns nicht von der abstrakten Trennung von dem erkennenden Subjektsein und dem zu erkennenden Objektsein aus, sondern von der
ursprünglichen Einheit von meinem Selbst und dem Sein, in der ich nicht in einem äußerlichen Verhältnis mit dem Sein stehe, sondern in einem innerlichen.
Zweitens ist das Kantische Apriori als ein Prinzip der vernünftigen Selbstbestimmung des Menschen gedacht, in dem das Wesen des Menschen als die von
äußeren Einflüssen autonome Freiheit begründet werden soll; dagegen betont
Schleiermacher „die Möglichkeit“ „in der menschlichen Natur“, „das Göttliche
[…] in sich aufzunehmen.“ 429 Die Kantische Idee der selbstbestimmenden Autonomie des vernünftigen Menschen setzt eine zweifache Spaltung des menschlichen Seins voraus: einerseits muß der Mensch in seinem Bewußtsein der Freiheit
sich selbst als ein eigenständiges Sein vom ganzen Sein abheben, andererseits
426
Ebd., S. 194.
Ebd.
428
Ebd.
429
Ebd., S. 79.
427
207
muß er ebenso sein vernünftiges Wesen von seinem Naturwesen trennen. 430 Zwar
hat der Mensch auch für Schleiermacher die Möglichkeit, sich selbst als ein eigenständiges Sein von dem ganzen Sein abzuheben. Wie wir gesehen haben,
gründet sich hierauf das relative Abhängigkeitsgefühl von der Welt, in dem die
Möglichkeit des Menschen, sich selbst als das auf die gesamte Welt einwirkende
Sein zu fühlen, mitgesetzt ist. In unserem absoluten Abhängigkeitsgefühl erfahren
wir uns aber als einen Teil des ganzen Seins, in der ursprünglichen Einheit unseres Seins mit dem ganzen Sein, auf der allein jene Idee der Immergegenwärtigkeit
Gottes in uns gegründet ist.
Nach G. Scholtz „schien für die Philosophen nach Kant dessen praktische Philosophie […] einen permanenten doppelten Konflikt zu simulieren: den Konflikt
zwischen den Interessensphären der Individuen und der Gesellschaft, und den
Konflikt zwischen moralischer Vernunft und sinnlicher Natur in den einzelnen
430
Vgl. „Die Kantische Freiheit der Selbstbestimmung verlangte nach Vollendung: ihr Bestreben
mußte darauf gerichtet sein, die Grenzen, in denen sie festgesetzt war, zu überwinden und zu einer
allumfassenden Bestimmung zu werden. […] Radikale Freiheit schien nur auf Kosten einer Diremtion mit der Natur möglich zu sein, einer Spaltung innerhalb meiner selbst zwischen Vernunft
und Gefühl; und diese Spaltung war radikaler als irgend etwas, das die materialistische, utilitaristische Aufklärung sich hatte träumen lassen: Sie bedeutete Trennung von der äußeren Natur, von
deren Kausalgesetzen das freie Selbst radikal unabhängig sein mußte, auch wenn rein phänomenologisch sein Verhalten mit der Natur konform zu sein schien. Das radikal freie Subjekt war
durch seinen Gegensatz zur Natur und zur äußeren Autorität auf sich selbst, d. h., wie es schien,
auf sein individuelles Selbst zurückgeworfen, und es hatte dadurch eine Entscheidung herbeigeführt, an der kein anderer beteiligt sein konnte.“ (C. Taylor, Hegel, Frankfurt a. M. 1983, S. 54 f.)
In seiner Kritik an der kantischen Ethik, die von der „Selbstbestimmung [des Menschen] durch
den moralischen Willen der Freiheit“ ausgeht, weist C. Taylor darauf hin, daß Kant die Antinomie
von dem Menschen als einem freien Wesen einerseits und als Naturwesen andererseits eigentlich
nie wirklich gelöst habe: „Freiheit wird im Gegensatz zur Neigung bestimmt, und es ist offenkundig, daß Kant das moralische Leben als einen fortwährenden Kampf ansieht. Denn der Mensch als
Naturwesen muß von der Natur abhängig sein und muß demzufolge Wünsche und Neigungen
haben, von denen gerade ihrer Naturabhängigkeit wegen nicht erwartet werden kann, daß sie sich
mit den Forderungen der Moralität zusammenbringen lassen, die ihren gänzlich anderen Ursprung
in der reinen Vernunft haben. Noch gravierender aber ist, daß man das unbehagliche Gefühl hat,
daß ein schließlich zustande gebrachter Frieden zwischen Vernunft und Neigung eher ein Verlust
als ein Gewinn sein würde; denn was würde aus der Freiheit werden, wenn es diesen Gegensatz
zwischen Vernunft und Neigung nicht mehr gäbe? Kant hat dieses Problem nie wirklich gelöst
[…].“ (Ebd., S. 53) Nach Taylor kann man die Philosophie von Schleiermacher und Schelling als
einen Versuch bezeichnen, diese starke Gegenüberstellung von dem Menschen als einem freien
Wesen und als Naturwesen bei Kant durch die Verbindung der Kantischen Transzendentalphilosophie mit dem Spinozistischen Paradigma der Einheit von Subjekt und Universum zu überwinden: „Andere, wie Schleiermacher und Schelling, forderten eine Verbindung von Kant und Spinoza, wobei Spinoza, wie oben erwähnt, in Lebenskategorien transponiert und auf diese Weise zu
einem Paradigma jener Einheit von Subjekt und All wurde, welche die Ausdruckstheorie forderte.“ (Ebd.)
208
Menschen.“ 431 Die Möglichkeit, beide Konflikte zu lösen, scheint bei der Kantischen Philosophie nicht gegeben zu sein; „die nachkantische Philosophie entdeckt
nun einen unseligen Zwiespalt zwischen den Normen und der Wirklichkeit; und
diese Trennung erscheint als prinzipielle Schwäche des Kantischen Standpunktes.“ 432
Schleiermacher zeigt m. E. mit seinem Begriff der Gottesgegenwart in unserem
Sein eine Möglichkeit auf, beide Konflikte zu lösen. „Die Frömmigkeit bildet
sich“ nach Schleiermacher „zur Gemeinschaft durch die erregende Kraft der
Aeußerungen des Selbstbewußtseins“; die „Gemeinschaft der Frömmigkeit ist
überall, wo es anerkannte Gleichheit der frommen Erregungen giebt und eine
Leichtigkeit sie gegenseitig einer in dem andern hervorzubringen.“ 433 Zwar gibt
es im Selbstbewußtsein einen Konflikt zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen, weil zwischen dem am Gegensatz orientierten Weltbewußtsein, das je
nach dem Individuum verschieden sein muß, und dem Gottesbewußtsein ein prinzipieller Unterschied besteht. Die Allgemeinheit der frommen Glaubenserfahrung
aber ermöglicht es, daß sich die Menschen trotz ihrer individuellen Verschiedenheit doch als Teil einer frommen Gemeinschaft betrachten können. Indem sie ihre
individuellen Erfahrungen und Gedanken äußern, bringen die einzelnen Subjekte
nicht nur ihre Differenzen zum Ausdruck, sondern auch die Allgemeinheit des
frommen Abhängigkeitsgefühls, das „weder aufhört noch sich vermindert, wenn
wir unser Selbstbewußtsein zu dem der ganzen Welt zu erweitern suchen“; denn
es sind „alle Abstufungen des Seins, durch welche dasselbe in dieser Erweiterung
durch geht, in das Gefühl selbst mit eingeschlossen“, während das Abhängigkeitsgefühl „überall sich selbst gleich ist.“ 434
431
G. Scholtz, Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, Frankfurt a. M.
1991, S. 61.
432
Ebd.
433
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 40.
434
Ebd., S. 226.
209
3.4.4. Das Natürliche und das Sittliche im Leben
Der auffällige Unterschied, der zwischen Schleiermachers Begriff der Immergegenwärtigkeit Gottes in uns und dem Kantischen Apriori besteht, wird besonders
in Schleiermachers Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Sittlichen erkennbar.
In der Glaubenslehre wird das Natürliche als „das leidentliche Bewegtsein des
Menschen“ definiert; der Mensch zeigt sich hier als abhängig „von den Einwirkungen alles dessen, womit er in Wechselwirkung steht“, und sein Selbstbewußtsein wird hier als „das ohne Bezug auf den Willen bewegte Selbstbewußtsein“ verstanden. 435 Das Sittliche ist dagegen „das bewegte Selbstbewußtsein des
Menschen als einer eigenthümlichen, dem ganzen Gebiet der Wechselwirkung
selbstthätig gegenübertretenden, geistigen Kraft, oder das in Bezug auf die Gesamtaufgabe der menschlichen Thätigkeit bewegte Selbstbewußtsein.“ 436
Das Sittliche steht im Gegensatz zum Natürlichen. Aber dieser Gegensatz darf
nicht nach dem Kantischen Muster als Gegensatz von dem freien Wesen und dem
Naturwesen des Menschen verstanden werden. Schleiermacher hält daran fest,
daß „das ganze Leben ein Ineinandersein und Auseinandersein von Thun und
Leiden ist“. Es gibt kein freies Subjekt, wenn man darunter die reine Selbstbestimmung des Menschen versteht: gerade wie das allgemeine Merkmal des Lebens in jener Einheit von Tun und Leiden besteht, „so ist sich auch der Mensch
seiner selbst bewußt bald mehr als leidend bald mehr als thätig“, und die Idee des
von dem Leiden unabhängig seienden freien Wesen des Menschen ist für Schleiermacher nur eine fiktive Abstraktion. 437
Worin liegt nun nach Schleiermacher die Möglichkeit des Menschen, sich von
dem passiven Erleiden der Einflüsse der Natur abzuheben und sich zu einer sittlichen, dem ganzen Gebiet der Wechselwirkung selbsttätig gegenübertretenden
geistigen Kraft zu erheben? Dies wird für ihn dadurch möglich, daß sich das
Selbstbewußtsein des Menschen auf die ontologische Differenz zwischen dem
Seienden, das im natürlichen Weltbewußtsein als eine Existenzform des Einzel435
Ebd., S. 54.
Ebd.
437
Ebd., S. 55.
436
210
nen vorkommt, und dem Sein selbst, das uns nur durch das fromme Abhängigkeitsgefühl vermittelt werden kann, bezieht: es gibt „die eine Form des Selbstbewußtseins“, die „sich leichter zur frommen Erregung steigert, wogegen die andere
mehr auf der sinnlichen Stuffe zurükbleibt, und dort es sich umgekehrt verhält.“ 438
Man darf freilich nicht annehmen, daß sich der Mensch in seinem natürlichen
Weltbewußtsein als ein rein passives Objekt verstehen soll. Wie wir bei der Unterscheidung des relativen Abhängigkeitsgefühls von dem absoluten gesehen haben, können wir uns nach Schleiermacher gerade in unserem Weltbewußtsein als
ein solches Wesen betrachten, das der Einwirkung der ganzen Welt entgegentreten kann. Gerade hierin besteht das Wesen des Freiheitsbewußtseins.
Diesem Freiheitsbewußtsein liegt aber die Möglichkeit jedes wirklichen Selbstbewußtseins zugrunde, daß „alle leidentlichen Zustände, seien sie nun veranlaßt
durch die äußere Natur oder durch die geselligen Verhältnisse, und angenehm
oder unangenehm, nur das Abhängigkeitsgefühl von Gott auf eine bestimmte
Weise erregen“. 439 Hieraus kann man nun erkennen, daß sich die Einheit von Tun
und Leiden für Schleiermacher nicht nur auf die Abhängigkeit von der Welt bezieht, sondern auch auf die Abhängigkeit von dem unendlichen Sein, das nicht
mit der Gesamtheit der einzelnen Seienden in Raum und Zeit identifiziert werden
kann. Der Grund dafür, warum die Seinsweise des Menschen notwendig in der
Einheit von Tun und Leiden gesucht werden muß, besteht darin, daß das passive
Moment des Leidens zugleich eine Handlung motiviert: In jedem passiven Moment des Leidens „[werden] wir uns bewußt, daß etwas und was zu thun sei“, und
daher sind „die leidentlichen Zustände nur [als] Veranlassung zum Bewußtsein
bestimmter Thätigkeit“ zu bezeichnen. 440 Heißt dies aber dann nicht, daß unser
aktives Bewußtsein durch die Einwirkungen des einzelnen Seienden verursacht
ist? Ist das tätige Wesen des Menschen bei Schleiermacher somit bloß als eine
Form der Reaktion gegen äußere Einwirkungen gedacht? Schleiermacher folgt
hier auch jenem Gedankengang, mit dem er die doppelte Interpretationsmöglich438
Ebd.
Ebd., S. 56.
440
Ebd.
439
211
keit des Abhängigkeitsgefühls erläutert: das Selbstbewußtsein ist einerseits als
Bewußtsein unseres Seins in der Welt zu verstehen, in dem die Möglichkeit des
Freiheitsbewußtseins begründet ist, zugleich aber als ein Bewußtsein unseres
Seins als eines Teils des ganzen Seins, in dem wir uns in der Einheit mit dem
ganzen Sein wiederfinden. Natürlich können wir unsere Handlung als einen Ausdruck davon betrachten, daß wir in einem gegensätzlichen (widerstreitenden)
Verhältnis mit dem anderen Seienden stehen. Neben diesem natürlichen Weltbewußtsein verfügen wir aber auch über das fromme Abhängigkeitsgefühl, in dem
„jeder bestimmte thätige Zustand […] als das Ergebniß der von Gott geordneten
Einwirkungen aller Dinge auf den Menschen gesetzt“ ist. 441 Der Mensch befindet
sich also einerseits in der widerstreitenden Vielheit der einzelnen Dinge der Welt,
andererseits aber auch in der Einheit mit dem ganzen Sein, und hierin liegt der
Grund, warum jede fromme Richtung des Abhängigkeitsgefühls je nach der Person verschieden ausfallen muß: „Diese Betrachtungsweise aber, alles Einzelne
anzusehen als bestimmt durch das Ganze, und jedes danach zu schätzen, wie es
durch dieses Bestimmtsein entweder als Einheit gefördert ist, oder in streitende
Vielheit zerfällt, ist die ästhetische Ansicht als Grundform aller frommen Erregungen, in welcher sich also die andere Richtung auf das bestimmteste vollendet.
In beiden ist natürlich jedes fromme Mitgefühl grade so anzusehen wie das persönliche, weil jedes nur eine Erweiterung des Selbstbewußtseins ist, so wie dieses
eine Zusammenziehung.“ 442
Dem Moment des Überganges vom Leiden zum Tun liegt das fromme Gefühl
der Abhängigkeit von dem ganzen Sein zugrunde, das, wie bereits gezeigt, nicht
schlechthin mit der Gesamtheit des Einzelnen zu identifizieren ist. In diesem
frommen Selbstbewußtsein finden wir uns weder als ein freies Subjekt noch als
ein passives Objekt vor, bei dem die Trennung unseres Seins von dem ganzen
Sein schon vorausgesetzt ist. Gerade das sittliche, d. h. das bewegte Selbstbewußtsein des Menschen als einer dem ganzen Gebiet der Wechselwirkung selbsttätig gegenübertretenden geistigen Kraft ist nun für Schleiermacher auf das
441
442
Ebd.
Ebd.
212
fromme Selbstbewußtsein zurückzuführen, wobei das Selbst nicht als ein vom äußeren Sein gesondertes Sein zu verstehen ist, sondern eher als ein Ort, auf dem
sich die Macht und Wirkung des göttlichen Seins auf eine bestimmte Weise verwirklicht. „In jeder erhebenden frommen Erregung ist sich also alsdann der
Mensch seiner selbst als die sittlichen Zwekke Gottes bewußt“; 443 und das Sittliche läßt sich somit nicht primär auf das Freiheitsbewußtsein des selbstbestimmenden Subjekts zurückführen, sondern auf das fromme Selbstbewußtsein, in
dem wir uns in einer Einheit mit dem ganzen Sein befinden.
Die Immergegenwart Gottes in uns ist also für Schleiermacher gar nicht im
Rahmen des Gegensatzes von Subjekt und Objekt zu verstehen. Gerade da „in den
frommen Erregungen Gott nur auf eine innerliche Weise als die hervorbringende
Kraft selbst gegeben ist“ 444 , ist das Sittliche für Schleiermacher nicht einfach aus
einem Freiheitsbewußtsein ableitbar, das die Trennung von Subjektsein und Objektsein voraussetzt. Das Sittliche wird eher dadurch ermöglicht, daß wir uns von
dem an der Vorhandenheit orientierten Seinsverständnis unseres natürlichen
Weltbewußtseins, in dem sich alles in einem Wirkungszusammenhang zwischen
den Einzelnen zeigt, kritisch distanzieren. Im sittlichen Wesen betrachten wir uns
nicht als ein handelndes Subjekt, das stets von dem Gegensatz von Selbst und
Nichtselbst ausgeht. Das Sittliche verweist eher auf unsere Seinsweise, „als göttliche Werkzeuge und Herolde“ zu leben. 445
443
Ebd.
Ebd., S. 33.
445
Ebd. Hervorhebung von S.-Y. Han.
444
213
4. Die philosophische Kontinuität zwischen den Jugendschriften Schleiermachers und seiner Glaubenslehre
Es wurde schon im ersten Kapitel (besonders in §1.2.2.) erwähnt, daß viele
Schleiermacher-Forscher – darunter W. Dilthey, E. Brunner und E. Huber –
Schleiermachers Glaubenslehre vor dem Hintergrund einer problematischen These interpretieren: nach ihnen wird die Religion in der Glaubenslehre auf das rein
Subjektive reduziert, da die Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein
identifiziert wird. Brunners Behauptung, Schleiermachers Begriff der Gottesgegenwart in uns sei mit dem Kantischen Apriori analogisierbar, zeigt am deutlichsten, worauf diese Annahme beruht: Schleiermachers Begriff des Selbstbewußtseins wird im Rahmen der neuzeitlichen Subjektphilosophie verstanden, in der
die subjektive Welt zu einem eigenständigen Seinsgebiet erhoben wird.
G. Scholtz vergleicht Schleiermachers Begriff des Gefühls mit Diltheys Begriff
des Innewerdens. 446 Dabei zeigt er klar und deutlich, daß das Innewerden für Dilthey „kein ‚Innewerden Gottes‘“ bedeutet, sondern nur „die Selbsterfahrung der
Subjektivität“. 447 Gerade wie „im 19. Jahrhundert Schleiermacher vorgehalten“ wurde, „im unmittelbaren Selbstbewußtsein, im Gefühl, sei nicht das Absolute, sondern nur die Subjektivität sich selbst gegeben (Michelet, Schaller, Sigwart)“, geht auch Dilthey davon aus, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein, „das
Innewerden“, „einen unverkürzten neuen Wirklichkeitsbereich [erschließt].“ 448
Nach Dilthey, Brunner und Huber versuche Schleiermacher erst in der Glaubenslehre, die Religion auf das unmittelbare Selbstbewußtsein zurückzuführen.
Schleiermacher habe nach ihnen die Religion in der ersten Auflage der Reden
zunächst als eine Einheit von Gefühl und Anschauung definiert. Aber der Begriff
der Anschauung werde in den weiteren Auflagen der Reden zunehmend vermieden, da Schleiermacher den Unterschied zwischen seinem Begriff der Religion
446
Siehe oben in §2.1.
G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 241.
448
Ebd.
447
214
und dem Schellingschen Begriff der unmittelbaren Anschauung deutlich machen
wolle. Die Folge ist nun nach ihnen eine zunehmende Subjektivierung der Religion, da Schleiermacher ursprünglich gerade dem Begriff der Anschauung die
Funktion zugewiesen habe, der Religion objektive Aspekte zu verleihen. In der
Glaubenslehre ende dann dieser Prozeß der Subjektivierung der Religion damit,
daß die Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein identifiziert und dadurch auf das rein Subjektive reduziert werde. 449
Schleiermachers Jugendschriften über den Spinozismus, in denen er durch die
Auseinandersetzung mit Jacobi und Kant seinen eigentümlichen Begriff des
Selbstbewußtseins entwickelt, liefern aber einen klaren Beleg dafür, daß diese
Behauptung von Dilthey, Brunner und Huber unhaltbar ist. Aus zwei Gründen
kann man m. E. davon ausgehen, daß zwischen dem Gedanken der Jugendschriften Schleiermachers über den Spinozismus und den Thesen der Glaubenslehre
eine große Kontinuität besteht: Erstens zeigen Schleiermachers Jugendschriften,
daß der junge Schleiermacher den Kantischen Versuch, das Selbstbewußtsein auf
die Selbstbestimmung des vernünftigen Subjekts zurückzuführen, ablehnt. Gerade
wie in der Glaubenslehre wird das Selbstbewußtsein in Schleiermachers Jugendschriften über den Spinozismus als eine Einheit von Tun und Leiden verstanden,
d. h. als ein Bewußtsein von unserem Sein als einem leidensbestimmten Zustand,
der zugleich ein bestimmtes Handeln veranlassen soll. Zweitens zeigen Schleiermachers Jugendschriften, daß der junge Schleiermacher von demselben Seinsbegriff ausgeht, der auch in der Glaubenslehre weiter geltend bleibt. Genauso wie in
der Glaubenslehre das Sein selbst in einem unüberwindbaren Unterschied zur
Gesamtheit des einzelnen Seienden in Raum und Zeit vorgestellt wird, spricht
auch der junge Schleiermacher von dem Sein selbst, dem kein raum-zeitlicher
Gegensatz beigesetzt werden könne. Wie in der Glaubenslehre die absolute Abhängigkeit als eine Bezugsform zwischen dem Selbstbewußtsein und dem Sein
selbst dargelegt ist, so spricht auch der junge Schleiermacher von dem Seinsgefühl, das das einzige wahre im Bewußtsein sei und als solches ursprünglicher als
das Weltbewußtsein sein soll.
449
Sieh oben in §1.2.2.
215
4.1. Die Auseinandersetzung des jungen Schleiermachers mit Kant
Schleiermachers Verhältnis zu Kant ist ambivalent. Wenn er Jacobi vorwirft, daß
dieser bei seiner Erläuterung der Identität des Selbstbewußtseins die reelle Identität der Substanz mitverstehe, 450 nimmt er gegenüber der Kantischen Transzendentalphilosophie eine zustimmende Position ein. Schleiermacher nimmt „die
Kantische Lehre; nemlich die Einheit des Selbstbewußtseyns“ und erklärt: dieses
Selbstbewußtsein „bezieht sich immer nur auf das Phänomenon“ 451 zum Ausgangspunkt seiner eigenen Analyse des Selbstbewußtseins. Schleiermacher wirft
aber Kant zugleich vor, daß dessen Begriff des „vernünftige[n] Subjekt[s]“ in der
moralischen Handlung, nemlich „durch Vernunft sich selbst zu bestimmen“, 452
im unaufhebbaren Widerspruch mit jener Kantischen Lehre von dem phänomenalen Wesen des Selbstbewußtseins stehe.
4.1.1. Kants Kritik an dem Paralogismus der Seelenlehre der rationalen Psychologie
Diese von Schleiermacher als Kantisch bezeichnete Lehre beruht auf Schleiermachers eigener Interpretation der Kantischen Theorie des Selbstbewußtseins, die
besonders in B 309-413 (bzw. B131-136) der Kritik der reinen Vernunft entwickelt wird. Dabei besteht der zentrale Punkt darin, daß die Identität des Selbstbewußtseins nicht aus dem Substanzbegriff abgeleitet werden kann. Es ist ohne
Zweifel richtig, daß das menschliche Bewußtseinsleben die Identität des Selbstbewußtseins voraussetzen muß, da sie eine Ermöglichungsbedingung für die apperzeptive Einheit der Vorstellungen und die Personalität ist. Die Identität des
Selbstbewußtseins kann aber nicht auf irgendeine Substanz wie z. B. die ‚Seele‘ zurückgeführt werden.
450
Vgl. F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 543.
Ebd., S. 542.
452
Ebd., S. 543.
451
216
Kant kämpft hier gegen einen „Paralogism“, der „in dem Verfahren der rationalen Psychologie“ herrsche: „Was nicht anders als Subject gedacht werden kann,
existirt auch nicht anders als Subject und ist also Substanz. Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subject gedacht werden. Also existirt es auch nur als solches, d. i., als Substanz.“ (B 410-411) Dieser
logische Schluß ist für Kant ein „Trugschluß“: Das Wort Substanz im Obersatz
betreffe ein „Wesen“, „das überhaupt, in jeder Absicht, folglich auch so, wie es in
der Anschauung gegeben werden mag, gedacht werden kann“; dagegen bezeichne
das Wort Substanz im Untersatz ein anderes Wesen, „das als Subject nur relativ
auf das Denken und die Einheit des Bewußtseins, nicht aber zugleich in Beziehung auf die Anschauung, wodurch es als Object zum Denken gegeben wird,
betrachtet [wird].“ (B 411)
Diese Erklärung ist unverständlich, wenn man nicht berücksichtigt, was Kant
hier unter dem Begriff der Substanz versteht: Das, was als Substanz bezeichnet
werden soll, muß für Kant zugleich als ein Objekt gedacht werden können. Kant
unterscheidet die Substanz von dem Noumenon. Nach Kant besteht „die allgemeine Anmerkung zur systematischen Vorstellung der Grundsätze […] von den
Noumenen“ darin, „daß der Begriff eines Dinges, was für sich selbst als Subject,
nicht aber als bloßes Prädicat existiren kann, noch gar keine objective Realität bei
sich führe, d. i. daß man nicht wissen könne, ob ihm überall ein Gegenstand zukommen könne, indem man die Möglichkeit einer solchen Art zu existiren nicht
einsieht, folglich daß er schlechterdings keine Erkenntniß abgebe.“ (B 412) Im
Gegensatz zu dem Noumenon, das keine objektive Realität bei sich führt, muß
die Substanz als ein Objekt gedacht werden können: „Soll er [der Begriff eines
Dinges] also unter der Benennung einer Substanz ein Object, das gegeben werden
kann, anzeigen; soll er eine Erkenntniß werden: so muß eine beharrliche Anschauung, als die unentbehrliche Bedingung der objectiven Realität eines Begriffs,
nämlich das, wodurch allein der Gegenstand gegeben wird, zum Grunde gelegt
werden.“ (B 412) Hierin liegt nun der Grund dafür, warum das Wort Substanz im
Obersatz jenes Paralogismus ein Wesen betreffen muß, das überhaupt, in jeder
Hinsicht, folglich auch so, wie es in der Anschauung gegeben werden mag, ge-
217
dacht werden kann: Wenn irgendetwas als eine Substanz zu bezeichnen ist, muß
es zugleich als ein Objekt gedacht werden können, d. h. wie ein solches Ding, das
in der Anschauung als ein Gegenstand gegeben ist.
Kants Erklärung dafür, warum sich die Einheit des Selbstbewußtseins nicht auf
die Substanz beziehen kann, macht nun noch deutlicher, daß der Begriff der Substanz für Kant nicht von dem Begriff der Gegenständlichkeit frei ist: „Nun haben
wir aber in der inneren Anschauung gar nichts Beharrliches, denn das Ich ist nur
das Bewußtsein meines Denkens; also fehlt es uns auch, wenn wir bloß beim
Denken stehen bleiben, an der nothwendigen Bedingung, den Begriff der Substanz, d. i. eines für sich bestehenden Subjects, auf sich selbst als denkend Wesen
anzuwenden; und die damit verbundene Einfachheit der Substanz fällt mit der
objectiven Realität dieses Begriffs gänzlich weg und wird in eine bloße logische,
qualitative Einheit des Selbstbewußtseins im Denken überhaupt, das Subject mag
zusammengesetzt sein oder nicht, verwandelt.“ (B 412-413) Der Grund dafür,
warum jener Paralogismus ein Trugschluß ist, besteht also darin, daß das denkende Wesen überhaupt nicht wie ein beharrlicher Gegenstand gedacht werden kann:
Das, was als Substanz bezeichnet werden soll, muß zugleich als ein Objekt gedacht werden können, während das Ich nur das Bewußtsein meines Denkens ist.
Zwar muß das ich denke all meine Vorstellungen begleiten können. (B 131) Daraus darf man aber nicht schlußfolgern, daß das Ich eine Substanz wäre. Denn das
Ich ist nur das Bewußtsein meines Denkens, das gar nicht wie ein beharrlicher
Gegenstand gedacht werden kann.
4.1.2. Schleiermachers Kritik an dem Kantischen Begriff der noumenischen Person
Indem Schleiermacher jene Kantische Lehre, die Einheit des Selbstbewußtseins
beziehe sich immer nur auf das Phänomenon, emphatisch bejaht, folgt er zweifelsohne diesem Kantischen Gedankengang: Die Einheit des Selbstbewußtseins
setzt auch für Schleiermacher nicht ein substantielles Selbst voraus, da das Ich,
auf dessen Bewußtsein sich die Einheit des Selbstbewußtseins bezieht, nicht wie
218
ein Objekt in der Anschauung hypostasiert werden kann. Schleiermacher akzeptiert nun aber nicht den Kantischen Begriff des moralischen, durch Vernunft sich
selbstbestimmenden Subjekts, weil er für Schleiermacher im Widerspruch mit
jener Kantischen Kritik an dem Substanzbegriff steht.
Kant unterscheidet, wie wir eben gesehen haben, das Noumenon von der Substanz: Die Substanz muß für Kant als ein Objekt gedacht werden können, während das Noumenon ein Begriff ist, der keine objektive Realität bei sich führt.
Das transzendentale Subjekt impliziert zwar bei Kant keine ‚Seelensubstanz‘, wie
Kant ausdrücklich hervorhebt; es kann aber auch keineswegs als ein empirisches
Subjekt verstanden werden, sondern als ein noumenisches, indem es als ein durch
Vernunft sich selbst bestimmendes Subjekt aufgefaßt wird. Kant nimmt nach
Schleiermacher „ein persönliches Subjekt“ an, „welches unabhängig von dem
Mechanismus der Natur sich selbst Zweke vorsezt“; die „Personalität ist in dieser
Rücksicht die Eigenschaft eines Subjekts Zweck an sich zu seyn.“ 453 Das bedeutet nun für Schleiermacher, daß „Kant [bei seiner Rede von dem transzendentalen Subjekt] […] nicht von dem phänomenischen Begriff der Personalität sondern
von dem noumenischen ausgehen [will]“. 454 Schleiermacher weist nun darauf hin,
daß, wenn man der Kantischen Lehre über die Einheit des Selbstbewußtseins
konsequent folge, „ein Wesen welches eine Einheit des Selbstbewußtseyns besizt
[…] in seinen Handlungen völlig passiv und vom Naturmechanismus abhängig
sollte seyn können“; „unstreitig beruht das Selbstbewußtseyn, so wie es Kant
selbst deducirt hat nicht auf der Selbstbestimmung“, indem sich die Einheit des
Selbstbewußtseins weder auf die Substanz noch auf das Noumenon, sondern auf
das Phänomenon beziehe. 455 Wenn man aber, wie es Kant in seiner Kritik der
praktischen Vernunft tut, eine noumenische Vernunft des sich selbst bestimmenden Subjekts voraussetzt, dann muß man aber zugleich anerkennen, daß der
Mensch trotz des phänomenischen Wesens seines Selbstbewußtseins „sich durch
vernünftige Willensäußerung äußern [muß].“ 456 Das ist nach Schleiermacher „ein
453
F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 543.
Ebd., S. 544.
455
Ebd.
456
Ebd.
454
219
wahrer Widerspruch; denn da wir so gar wenig von der Verbindung zwischen
noumenon und phaenomenon wißen, so wäre es lächerlich zu behaupten daß ein
gewisses noumenon nothwendig ein solches phänomenon geben müsse.“ 457
E. Tugendhat weist in seinem Werk Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung
darauf hin, daß „die mit Kant beginnende transzendental-idealistische Tradition
zwar an der Ablehnung einer immateriellen Substanz fest[hielt]“, aber zugleich
auch den „Begriff des Subjektes der inneren Zustände“ entwickelt; und „da sie
[…] auch weiterhin mit Descartes daran festhielt, daß dieses Subjekt nicht jenes
sein darf, was wir, wenn wir reden, natürlicherweise mit ‚ich‘ bezeichnen, nämlich die jeweilige Person, mußte ein besonderes, ‚transzendentales‘ Subjekt angenommen werden, das nun als ‚das Ich‘ bezeichnet wurde.“. 458 Es ist zwar, wie J.P. Sartre in seiner Analyse des Kantischen „Theorie der formalen Präsenz des
Ich“ aufzeigt, eine übertriebene Forderung, wenn man vom Kantischen Begriff
des transzendentalen Subjekts „ein Ich“, das „tatsächlich alle unsere Bewußtseinszustände bewohnt“, ableiten will. 459 Aber von den „Dunkelheiten“, die nach
Tugendhat „mit der Rede von ‚transzendental‘ [im Kontext der idealistischen
Identifizierung des transzendentalen Subjekts mit dem Ich] verbunden sind“, kann
auch die Kantische Philosophie nicht gänzlich frei sein. 460
Kant formuliert in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft die paradoxe
These, daß die noumenischen Begriffe im Hinblick auf die theoretische Erkenntnis zu verneinen sind, während sie im Hinblick auf die praktische Erkenntnis
notwendig anzunehmen sind (V 6). Damit wird deutlich, daß der junge Schleiermacher die Kantische Theorie von der Identität des Selbstbewußtseins insgesamt
richtig versteht. Es ist einerseits richtig, daß man die Kantische Lehre in jener
Formulierung wiedergeben kann, nämlich die Einheit des Selbstbewußtseins beziehe sich immer nur auf das Phänomenon; denn Kant selbst weist auf die zwar
„befremdliche“, aber doch zugleich „unstreitige Behauptung der spekulativen
Kritik“ hin, nämlich „daß sogar das denkende Subjekt ihm selbst in der inneren
457
Ebd.
E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 52.
459
J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, a.a.O., S. 39.
460
E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 52.
458
220
Erscheinung bloß Erscheinung sei“ (ebd.). Andererseits wird von Schleiermacher
m. E. zu Recht betont, daß diese Kantische Zurückführung der Einheit des
Selbstbewußtseins auf das Phänomenon mit der Kantischen Idee des moralischen,
sich selbst bestimmenden vernünftigen Subjekts schwer zu vereinbaren ist. Denn
ein solcher Begriff des vernünftigen Subjekts als einer sich selbst bestimmenden
Freiheit muß als ein übersinnlicher Begriff gelten, der die „im theoretischen Erkenntniß geleugnete und im praktischen behauptete objective Realität der auf
Noumenen angewandten Kategorien“ betrifft (ebd.). Das Leben des Menschen ist
also durch eine „paradoxe Forderung“ geprägt, nämlich „sich als Subject der
Freiheit zum Noumen, zugleich aber auch in Absicht auf die Natur zum Phänomen in seinem eigenen empirischen Bewußtsein zu machen.“ (ebd.)
Hieraus kann man zwei wichtige Voraussetzungen des Kantischen Begriffs des
Subjekts ableiten. Das Subjekt läßt sich einerseits auf den Menschen als ein Naturwesen beziehen, das nicht eine Konstanz der Substanz (Seele) haben kann.
Zwar muß das Ich denke all meine Vorstellungen begleiten können; aber dieses
Ich des Ich denke läßt sich, da es nur ein Bewußtsein meines Denkens ist, eigentlich nicht als ein unveränderliches noumenisches Prinzip der Selbstidentität des
Bewußtseins verstehen. Für Kant gibt es vielmehr auch „Bewußtseinsmomente
ohne ‚Ich‘“, wie Sartre richtig erkennt: „denn er [Kant] sagt, ‚muß … begleiten
können.‘“ 461 Andererseits betrachtet aber Kant, obwohl er von dem phänomenischen Wesen des Selbstbewußtseins ausgeht, die noumenischen Begriffe wie die
selbstbestimmende Freiheit des Menschen als ein Faktum der praktischen Vernunft, das, auch wenn es nicht logisch beweisbar ist, bei der Betrachtung des
Menschen hinsichtlich der moralischen Handlung schlechthin vorausgesetzt werden muß: Kant behauptet, daß die „praktische Vernunft jetzt für sich selbst, und
ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen
Gegenstande der Kategorie der Causalität, nämlich der Freiheit, Realität verschafft (obgleich als praktischem Begriffe auch nur zum praktischen Gebrauche),
also dasjenige, was dort bloß gedacht werden konnte, durch ein Factum bestätigt.“ (V 6)
461
J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, a.a.O., S. 40. Siehe auch oben Abschnitt 2.2.3.
221
Kant leitet also seine Idee der noumenischen Subjektivität bei der moralischen
Handlung nicht aus einer strengen Logik der Philosophie ab. 462 Das sich selbst
bestimmende freie Wesen des menschlichen Subjekts ist hinsichtlich der theoretischen Erkenntnis abzulehnen; hinsichtlich der praktischen Erkenntnis bleibt Kant
aber dogmatisch, indem er die noumenische Subjektivität „gleichsam als ein Factum“ voraussetzt, „das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen
Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht.“ (V 91)
Dagegen lehnt Schleiermacher es ab, die noumenische Subjektivität als eine
wirkliche Seinsweise des Menschen anzunehmen. Es ist für ihn zwar unleugbar,
daß „ein jedes moralisches Subjekt, welches nach Gesezen handeln kann“, eine
gewisse Einheit des Selbstbewußtseins voraussetzen muß, da die Einheit des
Selbstbewußtseins die Ermöglichungsbedingung für das Sein als Subjekt ist. 463
Man könne aber auch in diesem Fall nicht davon ausgehen, daß die Einheit des
Selbstbewußtseins auf die Konstanz der noumenischen Subjektivität zurückzuführen sei. Für Schleiermacher kann auch das moralische Subjekt als eine Person
bezeichnet werden, die „nur im phänomenischen […] Sinn“ des Wortes zu verstehen ist. Schleiermacher weist darauf hin, daß „das Handeln nach der Vorstellung von Gesezen […] die Fähigkeit einer Synthesis unserer Akte des Bewußtseyns in Eins und das Vermögen der Begriffe voraus[setzt]“. 464 Gerade diese Fähigkeit ist nun das, „was die Einheit des Selbstbewußtseyns eint“. Auch das moralische Subjekt verdankt also die Einheit seines Selbstbewußtseins nicht irgendeiner noumenischen Subjektivität, sondern nur der Fähigkeit des sich zur äußeren
Sachrelation verhaltenden Menschen, die Akte des Bewußtseins synthetisch zu
vereinen. 465
462
Mit Recht weist M. Riedel in seiner Darstellung der Kantischen praktischen Philosophie darauf
hin, daß die Kantische „Lehre vom ‚Faktum der Vernunft‘ mit dem Lehrstück von der Applikation des Gesetzes auf unser Tun und Lassen nach seinen verschiedenen Bestimmungsgründen genetisch und systematisch zusammen[hängt].“ (M. Riedel, Urteilskraft und Vernunft, Frankfurt a. M.
1989, S. 104) Nach Riedel ist „das Urteil des gemeinen Menschenverstandes“ der eigentliche
Stützpunkt für die Kantische „Einführung des Sittengesetzes am ursprünglichen Leitfaden des
Programms der moralisch urteilenden Vernunft“. (Ebd.)
463
F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 544.
464
Ebd.
465
Ebd.
222
Da sich die Einheit des Selbstbewußtseins immer nur auf das Phänomenon bezieht, ist es für Schleiermacher nicht akzeptabel, die Fähigkeit des moralischen
Subjekts, die Akte des Bewußtseins synthetisch zu einen, auf die noumenische
Subjektivität zurückzuführen: „Keineswegs kann ich nun aber auch weiter schließen: jedes moralische Subjekt muß eine Person in noumenischer Bedeutung seyn
[…].“ 466 Schleiermacher zufolge ist „das Handeln nach Gesezen und eben so das
Zwek an sich seyn und sich Zweke vorsezen […] nichts anders als eine gewiße
Identität der Regeln des Begehrens“; und auch wenn man annimmt, daß diese
Identität der Regeln des Begehrens „auf das transcendentale Selbstbewußtseyn,
auf das Ich“ zurückzuführen sei, könne man doch nicht umhin, bei der Kantischen
Annahme des noumenischen Subjekts hinsichtlich der praktischen Erkenntnis
eine gewisse „Sprachenverwirrung“ zu bemängeln. 467 Es gäbe keine Notwendigkeit, aufgrund der Fähigkeit des Subjekts, die für das moralische Handeln nötige
Erkenntnis der Handlungsregeln (Handeln nach den Gesetzen) zu erkennen, eine
moralische Subjektivität als eine noumenische Konstanz im menschlichen Leben
anzunehmen; „denn die theoretische und praktische Bedeutung coincidiren ja
doch nicht und es kann sehr viele theoretische Personen geben welche keine praktische sind, und es nie werden können.“ 468
4.2. Die Religion als Ausrichtung des Menschen auf das Sein
Schleiermacher hält auch nach seiner intensiven Beschäftigung mit Kant weiter
an einer Spinozistischen Grundformel fest: Es gibt keine absoluten Individuen.
Auch G. Meckenstock, der sonst in seiner Darstellung der Auseinandersetzung
des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza in den Jahren 1789-1794 den
Kantischen Einfluß auf Schleiermacher stark hervorhebt, behauptet mit Recht,
daß „Schleiermacher den Begriff des Individuums ausschließlich in phänomenologischer Fragestellung [betrachtet].“ 469 Meckenstock charakterisiert „Schleiermachers Fragestellung“ als „eine kritisch-phänomenologische“, die sich zu jeder
466
Ebd.
Ebd., S. 544 f.
468
Ebd., S. 545.
469
G. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, a.a.O., S. 194.
467
223
Art der noumenologischen Bestimmung des menschlichen Subjekts kritisch verhält: Meckenstock weist darauf hin, daß „das principium individuationis“ im Sinne Schleiermachers „seinen Ort nicht beim noumenologischen Substanzbegriff
[hat].“ 470
Die phänomenologische Frage nach dem Wesen des Selbstbewußtseins, die der
junge Schleiermacher unter dem Einfluß von Kant gestellt hat, wird nun durch die
Spinozistische Lehre von der Inhärenz alles Endlichen in Gott ergänzt. Einerseits
gibt die Kantische Lehre von dem phänomenischen Wesen des Selbstbewußtseins
Schleiermacher einen entscheidenden Anstoß dafür, das Wesen der Religion
durch eine phänomenologische Strukturanalyse des Selbstbewußtseins zu erhellen.
Andererseits wäre aber seine phänomenologische Religionsbegründung nicht
möglich, wenn Schleiermacher den Kantischen Begriff der sich selbst bestimmenden Freiheit des Menschen unkritisch übernommen hätte. Die Spinozistische
Lehre, nämlich daß die Individuen als endliche Wesen nur durch ihre Abhängigkeit von dem unendlichen Sein existent sein können, bleibt für Schleiermacher
weiter von maßgebender Bedeutung.
Hierin liegt der Grund, warum Schleiermachers Identifikation der Religion mit
dem unmittelbaren Selbstbewußtsein in der Glaubenslehre nicht als eine Reduktion der Religion auf das rein Subjektive zu verstehen ist. Es ist einerseits wahr,
daß Schleiermacher erst in seiner Glaubenslehre die Religion explizit mit dem
unmittelbaren Selbstbewußtsein bzw. mit dem absoluten Abhängigkeitsgefühl
identifiziert, wie Dilthey, Huber und Brunner einstimmig behaupten. Man kann
aber sicher nicht fehlgehen in der Annahme, daß Schleiermacher schon in seiner
Jugendzeit durch seine Auseinandersetzung mit Kant, Jacobi und Spinoza die
Grundlage dafür gelegt hat, den Ort der Religion im unmittelbaren Selbstbewußtsein zu verankern. Der Mensch ist für Spinoza nicht Substanz, sondern Modus.
Das ist eine philosophische Betrachtung des Existenzgrundes des Menschen. Da
das Sein des Menschen nicht in sich den Grund seiner eigenen Existenz einschließt, kann der Mensch nur dadurch existent sein, in Gott zu bleiben, der den
Grund eigener Existenz in sich schließt und somit als Substanz zu bezeichnen ist.
470
Ebd.
224
Schleiermacher verbindet nun diese Spinozistische Betrachtung über den Existenzgrund des Endlichen und des Unendlichen mit der Kantischen Theorie des
Selbstbewußtseins: In meinem Selbstbewußtsein muß ich mich als ein phänomenales Wesen wiederfinden, das als solches nicht in sich seinen eigenen Existenzgrund schließt. Das Sein des Menschen muß vom unendlichen Seinsganzen abhängig sein, das in sich seinen eigenen Existenzgrund einschließt und insofern
Substanz bzw. Gott zu nennen ist. Diese Entdeckung des eigenen Seins als eines
phänomenalen Wesens im Selbstbewußtsein ist nicht nur als eine philosophische
Betrachtung zu verstehen. Sie ist vielmehr eine Grundmotivation für das am Sein
selbst orientierte Leben, das sich von der praktischen, an der Vorhandenheit orientierten Lebensführung abhebt; das ist die vita religiosa, die durch die Selbstausrichtung des Menschen auf das Sein selbst vollzogen wird.
Es müssen allerdings noch einige Probleme genauer untersucht werden, wenn
man feststellen will, auf welche Art der junge Schleiermacher in seiner Analyse
des Selbstbewußtseins tatsächlich eine Möglichkeitsbedingung für das religiöse
Leben entdeckt hat. In der Glaubenslehre weist Schleiermacher auf die Möglichkeit hin, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein bzw. das Abhängigkeitsgefühl
nicht fromm sein kann. Das Abhängigkeitsgefühl kann relativ sein, und im unmittelbaren Selbstbewußtsein können wir unser Sein nicht nur als das Sein in Gott
verstehen, sondern auch als das Sein in der Welt. D. h.: Die Entdeckung des phänomenalen Wesens des Selbstbewußtseins garantiert noch nicht die Einsicht in
die grundwesentliche Religiosität des Selbstbewußtseins; denn indem ich mich
als ein phänomenales Wesen betrachte, kann ich mich auch als ein Sein in der
Welt verstehen. Neben dem phänomenalen Charakter seines eigenen Seins muß
man sich noch des phänomenalen Wesens des Weltbewußtseins bewußt sein,
wenn das unmittelbare Selbstbewußtsein mit der Religion identifiziert werden
soll.
Diese Problematik ist m. E. in zweierlei Hinsicht näher zu analysieren. Erstens
muß man fragen, welchen Seinsstatus Schleiermacher der Welt zuweist; hierbei
geht es um die philosophische Position, die Schleiermacher in bezug auf das Phänomen der Welt einnimmt. Zweitens ist es dann außerdem wichtig zu fragen, ob
225
diese philosophische Betrachtung über den Seinsstatus der Welt auch für die
Selbstausrichtung des Menschen auf das Sein selbst, das nicht mit der Welt zu
identifizieren ist, von Bedeutung ist. Es geht hier um die Frage, ob die ontologische Differenz zwischen Welt und Sein nicht nur als eine philosophische Betrachtung über Welt und Sein bedeutsam ist, sondern auch als ein wirkliches Bewußtseinsmoment, das für die Lebensführung des Menschen von Bedeutung ist. Diese
zweite Frage ist wichtig, da die Religion im Sinn Schleiermachers ein wirkliches
Lebensmoment des Menschen darstellt.
4.2.1. Schleiermachers Ablehnung der Idee der Vielheit der noumenischen Substanzen
Für die Beantwortung der ersten Frage ist die ‚Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems‘ besonders nützlich. In dieser Jugendschrift argumentiert Schleiermacher, daß man keine Vielheit der Noumenen annehmen darf. Das Noumenische kann nur dem ganzen Sein zugewiesen werden.
Schleiermacher nimmt den Spinozististischen „Satz von der Einheit und Unendlichkeit des existierenden“ 471 als seine eigene Ausgangsposition. Schleiermacher
zieht nun den Kantischen Begriff Ding an sich in Betracht. Er weist darauf hin,
daß dieser Kantische Begriff nicht der strengen Kritik der Philosophie standhalten
kann: „[…] warum kommt Kant nicht dazu [zum Spinozistischen Satz von der
Einheit und Unendlichkeit des existierenden]? Die Dinge sind an sich anders als
sie werden wenn sie durch unser Vorstellungsvermögen und durch unsere Organisation gegangen sind; das ist es wovon Kant ausgeht: natürlich führt das dahin:
jeder Erscheinung liegt also ein Ding zum Grunde; war es aber Recht hierbei
stehn zu bleiben?“ 472 Der Grund, warum man in der philosophischen Frage nach
dem Sein nicht bei dem Begriff des Dinges an sich stehen bleiben darf, besteht
darin, daß das Sein, wie er auch in seinen späteren Schriften ausführt, eigentlich
als Seinsfülle der Kraft zu verstehen ist. Das Ding, das als das gesonderte Sein
471
F. Schleiermacher, ‚Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems‘, in: ‘, in: ders., Jugendschriften (KGA 1. Abt. 1), a.a.O., S. 573.
472
Ebd.
226
vorgestellt wird, ist eigentlich nur eine gewisse Kohäsion der Kräfte, die in einer
kontinuierlichen Seinsfülle der Kräfte stattfindet. Jede Vorstellung des Dinges
bezieht sich daher immer nur auf die Erscheinung, aber keineswegs auf irgendein
substantielles Ding an sich, das in sich den Grund eigener Existenz schließt:
„Was macht die Individualität der Erscheinungen aus? Offenbar nichts anderes
als die Cohäsion, die identische Vereinigung der Kräfte einer gewissen Masse an
einem Punkt. Dieser Grund der Individuation liegt also bloß im vorstellbaren und
kann sich auch bloß auf das vorstellbare beziehn […].“ 473 Schleiermacher fragt
nun, ob die Kantische Annahme, der Erscheinung liege ein Ding an sich zugrunde,
gerade wie jener Paralogismus der rationalen Psychologie nur ein Trugschluß sei,
in dem die Substanz (die Seele) als notwendige Voraussetzung für die Identität
des Selbstbewußtseins deduziert wird: „Ist es denn gewiß, daß jedem Bewußtseyn
ein eignes noumenon zum Grunde liegt? gehört nicht diese Behauptung ebenfalls
zum Paralogism der Vernunft?“ 474 Hierauf antwortet nun Schleiermacher, daß
das Ding, da es nach der Formulierung von Schleiermacher das ‚individualisierende Bewußtsein‘ voraussetzt, nur als eine Erscheinung zu bezeichnen ist, die
man von der Rezeption der Einwirkungen vom Sein her als ein Seiendes vor dem
Hintergrund einer gegenständlichen Beziehung gesonderter Seiender abhebt: „das
individualisierende Bewußtseyn beruht auf der Receptivität und bezieht sich nur
auf die Erscheinung“. 475 Man darf also keine Vielheit des noumenischen Seins
annehmen, die man unter dem Kantischen Begriff des Dinges an sich in der Regel
mitversteht: „Wenn man also gar keinen Grund hat eine Mehrheit der Noumenen
zu behaupten, und wir nichts von ihnen sagen sollen als was sich notwendig auf
die Erscheinung bezieht, so ist es schon eine Anmaßung, wenn wir uns anders
ausdrücken, als das Noumenon, die Welt als Noumenon.“ 476
Schleiermacher lehnt es also auf jeden Fall ab, eine Vielheit der Noumenen anzunehmen. Heißt es dann nicht, daß die Gesamtheit aller Seienden – die Welt –
als ein substantielles Sein betrachtet werden muß, auch wenn die Vorstellung der
473
Ebd., S. 573 f.
Ebd., S. 574.
475
Ebd., S. 574.
476
Ebd.
474
227
Welt – wie erwähnt – je nach Person differiert? Worauf gründet die Existenz des
einzelnen Seienden, wenn die Welt selbst nur als Phänomen zu betrachten ist?
Um des besseren Verständnisses halber möchte ich für die Beantwortung dieser
Frage zuerst von einer Überlegung in der Glaubenslehre ausgehen, in der Schleiermacher die Beziehung zwischen dem Phänomen der Welt und dem Glauben an
die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt erörtert. 477 Danach wird überprüft,
ob man auch in Schleiermachers Jugendschriften den gleichen Gedankengang
finden kann.
4.2.2. Die Welt – ein substantielles Sein?
Es scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein, die Welt als ein substantielles
Sein zu verstehen. Denn wodurch kann die Existenz der einzelnen Seienden ermöglicht werden, wenn die Welt selbst, verstanden als Inbegriff aller Seienden,
bloß als Erscheinung zu bezeichnen ist und folglich nicht den Grund ihrer eigenen
Existenz in sich selbst hat? Sollte man nicht gerade deswegen die ganze Welt als
eine noumenische Substanz annehmen, weil den einzelnen Ding-Erscheinungen
nicht das reale Ding an sich als die noumenische Substanz zugrunde liegt? Für die
richtige Beantwortung dieser Frage muß man zwei grundsätzliche Überzeugungen von Schleiermacher berücksichtigen, die in der Glaubenslehre in seiner These des Glaubens an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt ausgedrückt
werden: 1. Die Welt, die wir in unserem Selbstbewußtsein als Vorstellung haben,
repräsentiert nicht die ganze Welt, sondern nur einen Teil der Welt; da die Welt
als eine räumliche Relation der einzelnen Seienden einen Gegensatz von Innen
und Außen voraussetzen muß, kann eine Vorstellung der Welt, die wir in unserem Selbstbewußtsein erzeugen, nie die ganze Welt repräsentieren, sondern nur
einen Teil der Welt. Nur im Glauben haben wir einen Zugang zu der ganzen Welt
(Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt). 2. Die Welt kann, da sie
stets als eine raum-zeitliche vorzustellen ist und von einem Denken in Gegensät-
477
Siehe oben in 3.3.
228
zen erfaßt wird, eigentlich nie als der adäquate Begriff für das ganze Sein anerkannt werden.
Auf die Frage, ob die Welt als ein substantielles Sein zu bezeichnen ist, kann
man nun zwei Antworten geben. 1. Die Welt ist in unserem Glauben an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt als das substantielle Sein gesetzt, da die
Welt in ihrer Vollkommenheit das Ganze alles Seienden in sich schließt und folglich außer sich selbst keinen anderen Existenzgrund haben kann. 2. Wenn man
aufgrund dieses Glaubens an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt die
Welt mit dem substantiellen Sein identifiziert, begeht man einen Fehler: die Welt
selbst ist immer ein Phänomen, und wir können in unserem Bewußtsein nur einen
Teil der Welt erkennen, aber nie die ganze Welt; wir leben zwar mit dem Glauben
an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt, aber das ganze Sein kann eigentlich nicht mit der Welt identifiziert werden. Jeder Vorstellung der Welt als einer
Raum-Relation liegt ein unüberwindbares Paradoxon zugrunde: Jede Vorstellung
des Raumes setzt den Gegensatz von Innen und Außen voraus, während die ganze
Welt keineswegs ein Außen haben kann.
Was ist nun die Ursache dafür? Wir haben oben (Kapitel 3.3.) gesehen, daß unser
natürliches Weltbewußtsein für Schleiermacher auf einem fundamentalen Irrtum
des Denkens beruht; unser Denken ist zu sehr am Sehen orientiert, so daß das
Sein nach dem Vorbild der raum-zeitlichen Relation der einzelnen Gegenständen
vorgestellt wird. Also ist die Identifikation des ganzen Seins mit der Welt nur
eine Folge der optischen Täuschung, wenn man unter der Welt eine Gesamtheit
der sich aufeinander räumlich beziehenden einzelnen Seienden versteht. Dieser
Gedanke ist auch in Schleiermachers Jugendschriften wiederzufinden. Auch der
junge Schleiermacher betont diesen Irrtum des am Sehen orientierten Denkens.
Um den Irrtum des am Sehen orientierten Denkens zu zeigen, benutzt der junge
Schleiermacher eine Methode, die m. E. durchaus als eine phänomenologische
Reduktion bezeichnet werden kann. Er fordert nämlich, unser natürliches Gegenstandbewußtsein zu verlassen und uns in das Anfangsmoment der Wahrnehmung zu versetzen: „Entäußere dich aller deiner Kenntniße, und stelle dir vor du
fingest jetzt erst an wahrzunehmen. Was würden deine Wahrnehmungen wol
229
seyn?“ 478 In diesem anfänglichen Zustand der Wahrnehmung würden wir nun
nach Schleiermacher nur Zeit und Raum als Unterscheidungsmedien haben, während unser Auge als ein Organ der Wahrnehmung von der räumlichen Relation
der Dinge nicht dazu fähig sein würde, einzelne Objekte voneinander zu unterscheiden: „Du hast für die Objekte im Raum keine andere Unterscheidung als die
Zeit, für die Objekte in der Zeit keine andere Unterscheidung als den Raum. […]
Denn das Auge für sich ist gar nicht geschickt Objekte zu unterscheiden, es zeigt
dem ungeübten Seher alles auf einer Fläche und unterscheidet nur Farben, und
wenn wir es jetzt vornemlich dazu brauchen, so geschieht das nur gleichsam
durch eine verkürzte Rechnungsart, auf deren Regeln wir nur nach langer Uebung
haben kommen können, eben so wenig das Gefühl es unterscheidet nur Grade der
Härte und Flüßigkeit.“ 479 Nach Schleiermacher besteht nun „der einzige Kanon
nach welchem sich [die] Idee von Individuen […] realisiert“, darin, daß man aus
einer „Reihe von Veränderungen“ die Teile des Ganzen als Gegenstände isoliert
betrachtet. 480 Das gegenständlich Seiende setzt also das individualisierende Bewußtsein voraus, in welchem das Bewußtsein des Kontinuums zwischen den Seienden mitgesetzt ist. Wenn aber die Gegenständlichkeit des Seienden für selbstverständlich gehalten wird und das ganze Sein als eine räumliche Relation der
von sich gesonderten Seienden gedacht wird, begeht man hier einen Fehler, auf
den Schleiermacher auch in der Glaubenslehre hinweist. Die Verabsolutierung
der Vorhandenheit beruht nämlich auf dem Irrtum des am Sehen orientierten
Denkens, der vor allem darin besteht, daß die Existenz des leeren Raums als vermeintlich in der Erfahrung gegeben angenommen wird und dadurch das reale
Kontinuum des Seins verkannt wird: „Was deinen Begrif von Individuen über
diesen Kanon hinaus zu erhöhen scheint ist bloß die fallacia optica des durch ein
vermeintliches vacuum gestörten continui des Gesichts sowol als des Gefühls.“ 481
478
F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 552.
Ebd., S. 553.
480
Ebd.
481
Ebd., S. 254.
479
230
4.3. Gott und das Universum
Es steht also fest, wie wir bis jetzt gesehen haben, daß das Selbst und die Welt,
die im Selbstbewußtsein mitgesetzt sind, für Schleiermacher zur Sphäre des Phänomens gehören; beide schließen nicht in sich selbst den Grund ihrer eigenen
Existenz. Daraus darf man aber nicht ableiten, daß der noumenische Begriff des
substantiellen Seins für Schleiermacher nur eine metaphysische Fiktion wäre.
Man muß vielmehr davon ausgehen, daß der noumenische Begriff des substantiellen Seins bei Schleiermacher eher als die adäquate Bezeichnung des wirklichen Seins verstanden wird, während alles Seiende, das eine reale Gegenständlichkeit bei sich führt, vom Denken des räumlichen und zeitlichen Gegensatzes
abhängig ist und daher nur als das phänomenische anzuerkennen sei.
4.3.1. Das Universum als ein phänomenologischer Grenzbegriff
Meckenstock betont Kants Einfluß auf Schleiermacher und definiert Schleiermachers Philosophie insgesamt als eine Phänomenologie, deren Ausgangspunkt in
der Kantischen Einsicht ins phänomenale Wesen des Selbstbewußtseins liege. Es
ist m. E. in der Tat richtig, daß Schleiermacher unter dem Einfluß Kants eine Art
phänomenologischer Philosophie entwickelt. Dabei darf man aber nicht übersehen, daß Schleiermacher seine Entdeckung des phänomenalen Wesens des Selbsts
und der Welt als einen Anlaß versteht, nach dem Sein selbst zu fragen, das nicht
auf die Vorhandenheit zurückzuführen ist.
Es fragt sich nun, wie das Sein selbst zu definieren ist, das nicht mit dem Begriff
der Vorhandenheit erklärbar ist. Man kann bei Schleiermacher zwei Begriffe finden, die das Sein selbst repräsentieren: Gott und das Universum. Nicht wenige
Schleiermacher-Forscher scheinen mir dem Begriff des Universums den Vorzug
zu geben. Dilthey und Brunner halten z. B., wie wir gesehen haben, Schleiermachers Lehre der Gegenwart Gottes im unmittelbaren Selbstbewußtsein für problematisch und betonen, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein das Gegenstandsbewußtsein nicht ausschließt, sondern vielmehr notwendig einschließt. Meckenstock hebt hervor, daß im Begriff des Universums das Noumenale und das
231
Phänomenale schon vermittelt seien, während man für die Vermittlung Gottes mit
dem Phänomenon eine besondere Theorie nötig habe: „Der Universumsbegriff
hat gegenüber dem Gottesbegriff also den großen Vorzug, daß er den Vermittlungsgedanken zwischen Noumena- und Phänomenasphäre impliziert, während
der Gottesbegriff eine besondere Vermittlungslehre nötig macht.“482 Es ist m. E.
zwar richtig, daß im Begriff des Universums tatsächlich das Noumenale und das
Phänomenale vermittelt sind. Aber diese Einheit des Noumena und des Phänomenalen im Universum führt dann aber zu einem weiteren Problem, nämlich was
als das Noumenale im Universum zu betrachten ist und was als das Phänomenale.
Meckenstock betont zu Recht, daß das Universum für Schleiermacher ein phänomenologischer Grenzbegriff ist: „Der Universumsbegriff ist nämlich selbst ein
phänomenologischer Begriff, allerdings ein phänomenologischer Grenzbegriff. Er
impliziert, daß das Ganze schlechterdings nicht abgesehen von seinen Teilen, daß
das Noumenon nicht abgesehen von den Phänomena gedacht werden kann.“483
Der Begriff des Universums aber, verstanden als das Ganze alles Seienden, kann
nicht genau von dem Begriff der Welt unterschieden werden. Die Welt ist nach
der Definition in der Glaubenslehre „die getheilte Einheit, welche zugleich die
Gesamtheit aller Gegensätze und Differenzen ist“, während „Gott die ungetheilte
absolute Einheit“ ist. 484 Folgt man nun jener Argumentation des jungen Schleiermachers, in der die Vielheit der Noumenen abgelehnt wird, dann gelangt man
zu dem Ergebnis, daß jedes individuelle Sein für Schleiermacher ein Phänomen
ist, das selbst wiederum das individualisierende Bewußtsein voraussetzt. Wozu
führt nun diese Einsicht ins phänomenale Wesen des individuellen Seins, das sich
von dem anderen Sein abhebt und daher die Seinsweise als Vorhandenheit notwendig mit sich führt? Offenbar nicht dazu, daß das ganze Sein einfach mit dem
Zusammen alles Seienden identifizierbar ist. Vielmehr möchte Schleiermacher
betonen, daß das ganze Sein als ein Kontinuum zu verstehen ist, das, wie Schleiermacher mit dem Begriff Gottes zum Ausdruck bringt, die ungeteilte, absolut
einfache Einheit sein muß.
482
G. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, a.a.O., S. 217.
G. Meckenstock, a.a.O., S. 216.
484
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 124.
483
232
4.3.2. Die Rolle des Gottesbegriffs für die Religionsphilosophie Schleiermachers
Allerdings wird man nicht ohne Plausibilität auch behaupten können, daß dieser
Gedanke des Kontinuums im Begriff des Universums bereits implizit gegeben sei;
während die Welt bei Schleiermacher schlechthin als die getrennte Einheit definiert sei. Allerdings kann man auf jeden Fall daran festhalten, daß der Begriff
Gottes gegenüber dem des Universums nicht nur Nachteile hat, sondern auch
einen wichtigen Vorteil: mit dem Begriff Gottes kann man die unüberwindbare
ontologische Differenz zwischen dem Sein selbst und dem Seienden deutlich machen, durch deren Bewußtsein wir uns von der an der Gegenständlichkeit orientierten praktischen Lebensführung herausholen und zur ursprünglichen Religiosität des Lebens zurückkehren. Der entscheidende Punkt der Phänomenologie
Schleiermachers besteht m. E. darin, daß das Bewußtsein von dem phänomenischen Wesen alles Vorhandenen zum Bewußtsein des Seins selbst als der ungeteilten Einheit führt.
Ferner kann man hieraus den eigentlichen Grund dafür erkennen, warum Schleiermacher in der zweiten und der dritten Auflage der Reden das Wort Universum
durch andere Worte wie Gott, Gottheit usw. ersetzt. Schleiermachers Betonung
des Gottesbegriffs ist m. E. als ein Versuch zu verstehen, den Unterschied zwischen dem ganzen Sein und der Totalität alles endlichen Seienden deutlich zu
machen. Schleiermacher behauptet in der Vorrede zur dritten Ausgabe der Reden,
daß die Fehlinterpretationen seiner Reden hauptsächlich auf der Verkennung der
rhetorischen Formen beruhen: Hätte man seine eigenen Intentionen nicht vernachlässigt, würde man ihn nicht fast in einem Atemzug gleichzeitig des Spinozismus und des Herrnhutianismus, des Atheismus und des Mytizismus beschuldigen. 485 Schleiermacher betont, daß sein Denken zwischen der ursprünglichen
Auffassung der Reden und der dritten Auflage keine wesentliche Änderungen
aufweise: „Denn meine Denkungsart über diese Gegenstände ist damals schon
mit Ausnahme dessen was bei jedem die Jahre mehr reifen und abklären in eben
485
Vgl. F. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 12.
233
der Form ausgebildet gewesen wie sie seitdem geblieben ist […].“ 486 Diese Behauptung bedeutet freilich, daß zwischen den verschiedenen Auflagen der Reden
nur ein stilistischer Unterschied bestehen soll. Die zunehmende Hervorhebung
des Gottesbegriffs und die hieraus folgende Vermeidung des Anschauungsbegriffs bedeuten dann gar nicht eine Subjektivierung des Religionsbegriffs, wie viele Schleiermacher-Forscher meinen; sondern eher eine stilistische Verbesserung,
durch die der zentrale Ansatzpunkt seiner Religionsphilosophie, daß das ganze
Sein letztlich nicht mit der Totalität alles endlichen Seienden gleichgesetzt werden kann, noch deutlicher werden soll. Daß Schleiermacher hierbei Recht hat,
kann man nun daraus erkennen, daß der junge Schleiermacher das Sein selbst
nicht schlechthin als das Ganze alles Seienden versteht, sondern als ein Kontinuum, das zugleich die nicht geteilte Einheit ist. Alles Seiende, dessen Vorhandenheit das ganze Sein als das Geteilte erscheinen läßt, gehört nur zur Sphäre des
Phänomens, dessen Existenz von der ungeteilten Einheit des Seins selbst abhängig sein muß.
Nach Huber bringt Schleiermacher „die Religion“ zwar auch in der zweiten Auflage der Reden 1806 „unter der Formel ‚Anschauung des Universums‘“ zum
Ausdruck; aber „gelegentlich erscheint sie ihm offenbar ungeeignet.“487 Das Universum wird in der zweiten Auflage weitgehend durch Worte wie Gott, Gottheit,
das Höchste usw. ersetzt: „Bleibt ‚Universum‘ nicht stehen, so wird nach einer
ungefähren Berechnung gerade in der Hälfte der Fälle dafür ‚Gott‘, ‚Gottheit‘ gesagt, in der anderen Hälfte treten wechselnde Begriffe wie ‚das Höchste‘,
‚Geschichte‘, ‚Ewiges‘ ein, während gegen ‚das Unendliche‘ eine Abneigung zu
bestehen scheint.“ 488 Es kann also festgehalten werden: Nicht das Universum,
sondern Gott steht in der zweiten Auflage der Reden im Mittelpunkt. Betrachtet
man nun die Phänomenologie des jungen Schleiermachers, so kann man erkennen,
daß Gott, verstanden als eine Bezeichnung der ungeteilten Einheit des substantiellen Seins, nicht erst nach der zweiten Auflage der Reden, sondern von Anfang
seines Denkens an für Schleiermacher im Zentrum steht. Daher kann von einer
486
Ebd.
E. Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, a.a.O., S. 55.
488
Ebd.
487
234
zunehmenden Subjektivierung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher überhaupt nicht Rede sein. Schleiermacher vermeidet die Begriffe der Anschauung
und des Universums nur deswegen, weil sie von dem Irrtum des am Sehen bzw.
an der Vorhandenheit orientierten Denkens nicht ganz frei sind.
Die Phänomenologie Schleiermachers ist keine endgültige Form der Philosophie
Schleiermachers, sondern eher ein Übergang zu einer Ontologie. Diese Ontologie Schleiermachers ist m. E. als eine Fundamentalontologie zu bezeichnen: Sie
fragt nicht nur nach dem Sein des Seienden, sondern auch nach dem Sein selbst,
das von dem Sein des Seienden grundverschieden ist. Allerdings nimmt Schleiermacher für sein ontologisches Denken keineswegs in Anspruch, die traditionelle Philosophie grundsätzlich erneuert zu haben. Anders als Heidegger versucht
Schleiermacher nicht, die traditionelle Philosophie insgesamt als eine metaphysische Philosophie zu bezeichnen, in der das Sein irrtümlicherweise von dem Seienden her betrachtet worden sei. Er möchte vielmehr, daß sich sein ontologisches
Denken an die unverzichtbaren Errungenschaften der philosophischen Tradition
seit Platon anschließt.
235
III. Sein und Existenz
Das Ziel des dritten Teiles ist es, das philosophische Verhältnis zwischen der
Phänomenologie und der Ontologie bei Schleiermacher zu erhellen. Dabei soll es
nicht um die Frage gehen, ob die Religionsphilosophie Schleiermachers insgesamt eher als eine Phänomenologie oder eher als eine Ontologie bezeichnet werden kann. Das Verhältnis zwischen dem Sein und dem Seienden wird in der Philosophie Schleiermachers durch eine phänomenologische Analyse des Selbstbewußtseins erhellt. Daher geht es hier vielmehr darum zu erklären, aus welchem
philosophischen Grund sich Schleiermachers Religionsphilosophie trotz oder
gerade wegen ihres phänomenologischen Wesens zugleich als eine Ontologie
verstehen läßt.
Das phänomenologische Wesen der Religionsphilosophie Schleiermachers besteht, wie wir durch Heideggers Gleichsetzung der Religion im Sinne Schleiermachers mit der phänomenologischen Epoché erkannt haben, in einem kritischen
Verfahren der Philosophie, das die Betrachtung der Bewußtseinsakte hinsichtlich
ihrer Gegebenheitsweise unter Auslassung aller Seinssetzungen ermöglichen soll:
dieses Verfahren ist die phänomenologische Reduktion. Allerdings kann man
daran zweifeln, ob eine radikale Durchführung der phänomenologischen Reduktion möglich ist; diejenigen Philosophen, welche die Phänomenologie Husserls in
Hinblick auf eine ontologische Dimension weiterentwickeln wollen, gehen meistens davon aus, daß eine vollständige phänomenologische Reduktion eigentlich
nicht möglich ist. 489 Auch Heideggers Ontologie kann insgesamt als ein solcher
Versuch verstanden werden, die philosophische Notwendigkeit der Seinsfrage
aufzuzeigen, da eine vollständige Auslassung aller Seinssetzungen unmöglich ist:
Die intentionale Struktur des Bewußtseins – Bewußtsein als Bewußtsein von etwas – ist für Heidegger ein Indiz dafür, daß eine phänomenologische Analyse des
489
Merleau-Ponty behauptet z. B. in seinem Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung, daß
die wichtigste Lehre der phänomenologischen Reduktion die Unmöglichkeit der vollständigen
Reduktion sei. (M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 11.)
236
Bewußtseins notwendig zu einer Ontologie weiterentwickelt werden muß, da
diese Struktur des Bewußtseins auf das Sein außer mir, auf die notwendig ausstehende Seinsweise des Daseins – auf die Existenz – verweist. 490 Aber Husserl und
Heidegger sind sich dennoch in einem Punkt einig: Die Welt soll in der phänomenologischen Philosophie – im Gegensatz zu unserem natürlichen Weltverständnis – in ihrer fundamentalen Nichtigkeit betrachtet werden. Diese Einsicht in
die Nichtigkeit der Welt ist m. E. gerade das, was sich sowohl für Husserl als
auch für Heidegger notwendig aus der phänomenologischen Reduktion ergeben
soll. 491
Heideggers Bezeichnung der Religion im Sinn Schleiermachers als einer phänomenologischen Epoché bedeutet also, daß auch Schleiermacher die Welt im
Grunde genommen als ein Nichts versteht. Hierbei darf man allerdings nicht einen subjektiven Idealismus wie denjenigen von Berkeley unterstellen, für den die
Außenwelt bloß in subjektive Gegebenheiten aufgelöst wird. Daß die Welt ein
Nichts ist, bedeutet nur, daß die Vorstellung der ‚Welt‘ als einer raum-zeitlichen
490
Daß für Heidegger die Intentionalität des Bewußtseins ein Hinweis auf das ontologische Wesen der phänomenologischen Bewußtseinsanalyse ist, kann man besonders daraus erkennen, daß
Heidegger das transzendente Sein als eine Art der transzendentalen Erkenntnis versteht, die bei
jeder Erfahrung der seienden Bestimmtheit zugrunde liegen muß: „Sein und Seinsstruktur liegen
über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das
transcendens schlechthin. Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete, sofern
in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation liegt. Jede Erschließung
von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas transcententalis.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 38.)
491
Besonders in seiner öffentlichen Antrittsvorlesung (gehalten am 24. Juli 1929 in der Aula der
Universität Freiburg i. Br.) macht Heidegger deutlich, daß er das Seiende im ganzen für nichtig
hält: „Die Angst offenbart das Nichts. […] Die Angst verschlägt uns das Wort. Weil das Seiende
im Ganzen entgleitet und so gerade das Nichts aufdrängt, schweigt im Angesicht seiner jedes
‚Ist‘-Sagen.“ (M. Heidegger, ‚Was ist Metaphysik?‘, in: ders., Wegmarken, a.a.O., S.) Allerdings
darf man hierbei die Nichtigkeit des Seienden nicht als einen begrifflichen Gegensatz des Seins
verstehen: Verstünde Heidegger das Nichts als einen begrifflichen Gegensatz zum Sein, so hätte
das Seiende für Heidegger nicht die Funktion, dem Dasein eine ontologische Frage nach dem Sein
selbst zu ermöglichen. Weil die Seinsfrage nicht ohne die Anerkennung des Seinscharakters des
Seienden möglich ist, bedeutet die Nichtigkeit des Seienden nicht, daß das Seiende einfach als ein
Phantombild zu verstehen wäre, das keinen ontologischen Anspruch auf wirkliches Sein hat.
Vielmehr muß man diese Nichtigkeit als ein Zeichen dafür verstehen, daß dem Dasein in der
Angst bewußt wird, daß das Seiende im ganzen nicht für das Sein selbst stehen kann, auch wenn
das Dasein den Sinn des Seins nicht ohne ein Bewußtsein des Seienden haben kann: „In der Angst
wird das Seiende im Ganzen hinfällig. In welchem Sinne geschieht das? Das Seiende wird doch
durch die Angst nicht vernichtet, um so das Nichts übrigzulassen. Wie soll es das auch, wo sich
doch die Angst gerade in der völligen Ohnmacht gegenüber dem Seienden im Ganzen befindet.
Vielmehr bekundet sich das Nichts eigens mit und an dem Seienden als einem entgleitenden im
Ganzen.“ (Ebd., S. 113.)
237
Relation alles Seienden für die adäquate Bezeichnung des ganzen wirklichen
Seins unzulänglich ist.
Um die philosophische Beziehung zwischen der Phänomenologie und der Ontologie bei Schleiermacher richtig darzustellen, muß vor allem untersucht werden,
ob (und wenn ja, auf welche Weise) Schleiermacher die Nichtigkeit der Welt erweist. Erst danach kann Schleiermachers Ontologie, mit der er m. E. die ontologische Seinsfrage Heideggers vorweggenommen hat, richtig dargelegt werden.
Allerdings wurde schon mehrmals darauf hingewiesen, daß die Welt für Schleiermacher zum phänomenalen Sein gehört. In diesem Teil werde ich nun aber,
besonders im ersten Kapitel, versuchen, die philosophischen Argumente, die
Schleiermacher für den Beweis der Phänomenalität der Welt anführt, noch zu
konkretisieren. Wichtig ist Schleiermachers Analyse der Wahrnehmungsstruktur
in der Dialektik, die m. E. als ein deutlicher Beweis dafür gelten kann, daß
Schleiermacher tatsächlich über eine philosophische Methodologie verfügt, die in
der Tat am besten als eine phänomenologische Reduktion bezeichnet werden
kann. Gerade wie Husserl geht auch Schleiermacher davon aus, daß alles, was wir
als ein Objekt in der Welt wahrnehmen, nur als ein Produkt der urteilenden und
sinnverleihenden Bewußtseinsakte möglich ist. Jegliche Wahrnehmung des weltlich Seienden gibt uns in diesem Sinn weder für Husserl noch für Schleiermacher
ein bloßes Spiegelbild des realen Dinges an sich: Gerade das, was bei einer aktuellen Wahrnehmung als ein so und so seiendes Ansichding gesetzt wird, ist für
beide Denker auf die Leistung des Bewußtseinsaktes zurückzuführen. Hierin liegt
m. E. der Grund dafür, warum Schleiermachers Philosophie mit der Husserlschen
Phänomenologie vergleichbar ist. Die Welt läßt sich ja für Schleiermacher letztlich als ein Auffassungssinn verstehen, der freilich – mit den Worten Husserls –
nur als ein Bewußtseinskorrelat möglich ist. 492 Dies wird im ersten Kapitel in
Detail analysiert und überprüft.
Eine systematische Darstellung von Schleiermachers Dialektik in ihrem ganzen
Umfang kann hier allerdings nicht geleistet werden. Schleiermachers Dialektik ist
492
Vgl. „Die Welt ist […] dasjenige, was durch das Denken schon bestimmt ist.“ (F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 153.
238
ein originelles und sehr reichhaltiges Werk, und es finden sich daher vielerorts
Gedanken, die weder durch das phänomenologische Denken Husserls noch durch
das ontologische Denken Heideggers adäquat erklärt werden können. Es ist allerdings für unsere Aufgabe nicht zweckmäßig, all diese Gedanken Schleiermachers,
die in der Philosophie Husserls und Heideggers eigentlich keinen vergleichbaren
Gegenpol haben, im Detail zu analysieren. Die Arbeit wird sich daher ausschließlich darauf konzentrieren, die phänomenologisch-ontologische Dimension der
Philosophie Schleiermachers, die m. E. auch in der Dialektik eine deutliche Spur
hinterläßt, hervorzuheben und die Eigentümlichkeit dieser Phänomenologie unter
Berücksichtigung seiner Religionsphilosophie zu erhellen.
Hierbei muß zuerst deutlich gemacht werden, daß Glaubenslehre und Dialektik
sich gegenseitig ergänzen. 493 Damit meine ich, daß Schleiermachers Glaubenslehre nur in bezug auf seine Dialektik richtig und vollständig verstanden werden
kann. Mit Recht weist R. Stalder darauf hin, daß man bei der Betrachtung der
Religionsphilosophie Schleiermachers seine Dialektik berücksichtigen muß, da
493
Besonders in §28 der zweiten Auflage der Glaubenslehre macht Schleiermacher deutlich, daß
Dialektik und Glaubenslehre einander ergänzen müssen. Zunächst ist die Dialektik hier nach dem
traditionellen Verständnis des Wortes als eine Kunst der Mitteilung definiert: „Der Ausdruck
dialektisch ist auch hier ganz in dem altertümlichen Sinne genommen; der dialektische Charakter
der Sprache besteht nur darin, daß sie kunstgerecht gebildet sei, um in jedem Verkehr zur Miteilung und Berichtigung der betreffenden Erkenntnis gebraucht zu werden.“ (F. Schleiermacher,
Der christliche Glaube², a.a.O., S. 155.) Einerseits ist die Dialektik für die Glaubenslehre notwendig, weil die „Ausdrücke, in welchen die Glaubenslehre sich bewegt, […] ein besonderes
Sprachgebiet innerhalb des didaktisch-religiösen [bilden]“; die Sprachlichkeit der Glaubenslehre
erfordert also die Kunst der richtigen Mitteilung, die Dialektik. (Ebd.) Wenn man aber das Wesen
der Frömmigkeit erhellen will, ist die Unterscheidung zwischen Welt und Gott im frommen Abhängigkeitsgefühl andererseits notwendig, da man ohne diese Unterscheidung das höhere Selbstbewußtsein nicht vom niederen, durch Sinnlichkeit bestimmten Selbstbewußtsein unterscheiden
kann: „Untauglich aber für die dogmatische Sprache gebraucht zu werden sind zunächst solche
Ansichten, welche die Begriffe von Gott und Welt auf keine Weise auseinanderhalten, einen Gegensatz zwischen gut und böse nicht zulassen, und also auch in dem Menschen nicht bestimmt
Geistiges und Sinnliches unterscheiden. Denn dies sind die ursprünglichen Voraussetzungen des
frommen Selbstbewußtseins, weil ohne diese auch das zum Weltbewußtsein erweiterte Selbstbewußtsein nicht könnte dem Gottesbewußtsein entgegengesetzt werden, und ebensowenig von
einem Unterschied zwischen freiem und gehemmtem höherem Selbstbewußtsein, mithin auch
nicht von Erlösungsbedürftigkeit und Erlösung die Rede sein könnte.“ (Ebd., S. 155 f.) Vgl. „In
§16.1 of the Glaubenslehre ‚dialectical‘ is understood as equivalent to the logical, and in §28, the
diaectical character of its language is, with its systematic arrangement, one of the two conditions
which confirm dogmatic theology as a ,science‘. […] In my view, the discussion of this in
Glaubenslehre is clearer: one speaks Kunstgerecht (according to the rules, i.e., dialectically) in
order to express and communicate knowledge.“ (T. Curran, Doctrine and Speculation in Schleiermacher’s Glaubenslehre, Berlin / New York 1994, S. 160.)
239
der eigentliche Gegenstand der Dialektik mit dem religiösen Begriff des Absoluten – das höchste Wissen als der eigentliche Gegenstand der Dialektik – eng verbunden ist: „Berührt nun die ‚Dialektik‘ auf Grund ihrer ganzen Anlage die Sphäre des Absoluten, und damit auch die des Religiösen […], so können wir sie [bei
der Untersuchung der Theologie Schleiermachers] unmöglich einfach übergehen.“ 494
Schleiermachers Glaubenslehre ist nicht nur eine Lehre über das Wesen der Religion, sondern auch eine phänomenologische Analyse des Selbstbewußtseins,
mit der Schleiermacher das denkende, handelnde und fühlende Bewußtseinsleben
in seinem ganzen Umfang verstehbar zu machen versucht: Die Glaubenslehre hat
eine kritische Funktion, die darin besteht, die Grenze des einseitigen Denkens
deutlich zu machen. Jeder, der bei der Betrachtung des menschlichen Bewußtseinslebens dem Denken oder der Praxis eine absolute Priorität zuweisen will,
verkennt für Schleiermacher den im wirklichen Bewußtseinsleben immer eine
Einheit bildenden Zusammenhang von Denken, Praxis und Gefühl. Das heißt nun
auch umgekehrt, daß man das Gefühl, sei es ein sinnliches oder ein religiöses, nie
isoliert vom Denken und Handeln betrachten darf. Die Glaubenslehre ist daher
nicht als ein Werk zu verstehen, in dem einseitig dem religiösen Gefühl ein absoluter Vorrang gegenüber dem Denken und der Praxis zugewiesen wird. Das Gleiche gilt auch für die Dialektik: Die Dialektik besteht nicht in einer gesonderten
Betrachtung des Erkenntnis- und Denkvorgangs im Bewußtseinsleben, sondern in
einem Versuch, das Denken in seiner unzertrennlichen Beziehung mit der Praxis
und dem Gefühl zu betrachten.
In einer insgesamt sehr überzeugenden Darlegung von Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre weist auch D. Offermann darauf hin, daß die Theologie
und die Dialektik bei Schleiermacher nicht als ganz voneinander getrennte Disziplinen verstanden werden dürfen: „Man kann jedenfalls nicht von ‚der‘ Dialek494
R. Stalder, Grundlinien der Theologie Schleiermachers I, a.a.O., S. 301 f. Vgl.: „Aber auch bei
Schleiermacher selbst fanden sich Ansätze, das Verhältnis von Religion und Philosophie als zwei
komplementäre Beziehungen zum Absoluten zu fassen, wenn Schleiermacher auch mit dem Begriff einer doppelten Offenbarung zurückhielt.“ (G. Scholtz, ‚Braniß über Religion und Philosophie,
in: in: G. Meckenstock (Hrsg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin / New York 1991, S. 22.
240
tik schlechtweg reden (ebensowenig von ‚der‘ Ethik) und diese dann der Theologie […] unterlegen. Jeweils von Fragestellung zu Fragestellung neu wird man die
Beziehung zwischen den beiden Reihen des Schleiermacherschen Denkens zu
erwägen und zu bewerten haben.“ 495 Besonders die Dialektik-Vorlesung von
1822 ist nach Offermann von grundsätzlicher Bedeutung für das Verständnis der
Glaubenslehre: „Für unseren Einstieg gibt es von vornherein keinen Zweifel: Wir
müssen in erster Linie die Dialektik-Vorlesung von 1822 befragen; sie liegt der
ersten Auflage der Glaubenslehre zeitlich am nächsten, und sie bringt (deswegen?)
den ausführlichsten Teil einer Erörterung des Begriffs ‚allgemeines Abhängigkeitsgefühl‘.“ 496 Insofern kann man festhalten, daß Dialektik und Glaubenslehre
bei Schleiermacher in einem engen Zusammenhang stehen.
Welche Folge hat es nun, daß Schleiermacher die Religion mit der Dialektik verbindet? Unter anderem möchte ich hier zwei wichtige Errungenschaften, die
Schleiermacher durch die Verbindung der Religion mit der Dialektik gewinnt,
besonders hervorheben: 1. Der erkennende Akt des Bewußtseins (Denken) wird
in seiner konkreten Beziehung zu dem Abhängigkeitsgefühl erklärt. 2. Die Möglichkeit, wie wir trotz unseres an der Gegenständlichkeit orientierten Bewußtseins
im praktischen Leben doch notwendig das religiöse Abhängigkeitsgefühl empfinden können, wird durch eine Analyse der konkreten Beziehung zwischen meinem
Sein und dem anderen, als individuell erscheinenden Sein erklärt. Hierin liegt der
wesentliche Unterschied zwischen Schleiermacher und Heidegger: Während dieser die radikale Differenz zwischen dem alltäglichen Seinsverständnis (das Sein
als das Seiende) und dem Seinsbewußtsein (Angst als Ruf des Seins) hervorhebt,
ohne dabei die konkrete Beziehung zwischen den beiden zeigen zu können, liefert
jener eine konkrete Erklärung dafür, warum unser Bewußtsein des Seienden notwendig von dem Bewußtsein des Seins selbst, das nicht auf die Vorhandenheit
zurückzuführen ist, begleitet werden muß.
Dieser Unterschied zwischen Heidegger und Schleiermacher wird besonders
deutlich, wenn man betrachtet, wie beide Denker das Verhältnis zwischen dem
495
496
D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 68.
Ebd.
241
praktischen, am Zweck orientierten Alltagsleben und dem Erkenntnisakt verstehen. Heidegger geht bei all seinen Überlegungen davon aus, daß das Denken einen praktischen Ursprung hat. Der rein erkennende Akt des Bewußtseins ist für
Heidegger lediglich nur ein abkünftiger Modus des Denkens, der durch die radikale Abstinenz des praktischen Willens zustande kommt. Das Erkennen soll insgesamt, da es die Vorhandenheit des Seienden zur Voraussetzung hat, nicht imstande sein, dem Dasein den Sinn des Seins selbst, das nicht auf die Vorhandenheit zurückzuführen ist, verständlich zu machen. Dagegen weist Schleiermacher
dem reinen Denken die Funktion zu, dem Dasein die Unmöglichkeit bewußt zu
machen, die Seinsweise des Seienden in seiner von seinem Sein gesonderten
Vorhandenheit adäquat darzulegen. Im zweiten Kapitel werden wir sehen, daß
Schleiermacher den Ursprung des gegenständlichen Seinsverständnisses – wie
Heidegger – in unserem praktischen Alltagsleben sucht. 497 Aber anders als Heidegger weist Schleiermacher zugleich auf den prinzipiellen Unterschied zwischen
dem reinen Denken und dem praktischen Denken hin: Während wir uns beim
praktischen Leben an der Gegenständlichkeit, deren Erkenntnis dem praktischen
Zweck dienlich sein soll, orientieren, betrachten wir beim reinen Denken das Seiende als das Ansichseiende, das heißt als ein Sein, das nicht auf die praktische
Zweckdienlichkeit – die Nützlichkeit des Wissens bzw. das Gebrauchswissen –
zurückzuführen ist. 498 Allerdings darf man unter dem Ansichseienden nicht einfach das Objektding verstehen: Denn in der Frage nach dem Ansich des Seienden
finden wir das Seiende nicht bloß als ein von unserem Sein gesondertes gegenständliches Ding vor (das nach Schleiermacher in unserer praktischen, am Zweck
orientierten Beziehung mit dem Seienden seinen Ursprung hat), sondern als ein
besonderes Sein, mit dem wir in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang stehen: Das Ansich läßt sich in diesem Sinn nicht auf eine gegen497
Vgl. F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 104 ff. Auch W. Pleger weist darauf hin, daß das
Wissen für Schleiermacher nicht isoliert von der alltäglichen Lebenspraxis zu betrachten ist. Nach
Pleger hat Schleiermacher hier Husserls Thematisierung der Lebenswelt vorweggenommen:
„Schleiermachers Rückbesinnung der Wissenschaft auf das Wissen der alltäglichen Praxis eröffnet einen Zusammenhang, der später [in Husserls Werk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie] als ‚Lebensweltproblematik‘ diskutiert wurde.“ (W.
Pleger, Schleiermachers Philosophie, a.a.O., S. 148 f.)
498
Vgl. F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 105 f.
242
ständliche Seinsweise zurückführen, sondern im Gegenteil auf die Seinsweise des
Seienden, die nicht als vorhanden bzw. gegenständlich bezeichnet werden kann.
Hierbei liegt Schleiermachers Überzeugung zugrunde, daß unser Sein mit dem
anderen Sein faktisch in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang
steht, der sich nur durch eine theoretische und praxeologische Objektivierung in
eine Relation zwischen dem Subjekt und dem Objektding verwandelt. Aber die
Möglichkeit, unser Bewußtsein von der einseitigen Orientierung am dinglich Seienden zu befreien und zum ursprünglichen Seinsbewußtsein zurückzuholen, besteht für Schleiermacher nicht in einer radikalen Trennung zwischen dem erkennenden Denken und dem Seinsbewußtsein wie bei Heidegger. Gerade das rein
erkennende, nicht um des praktischen Zweckes willen zustande kommende Denken bietet für Schleiermacher die Möglichkeit, jegliches Seiende, dem wir bei
unserer wirklichen Lebensführung begegnen, als ein solches Sein anzuerkennen,
das an sich seiend auch auf mein Sein einwirkt. Mit anderen Worten: In diesem
Bewußtsein, daß ich in einem konkreten Wirkungszusammenhang mit dem anderen Sein stehe, frage ich nach dem Ansich des Seienden, das nur deswegen als
solches bezeichnet werden kann, weil es nicht auf die in meiner praktischen
Zweckorientierung ihren Ursprung habende Gegenständlichkeit bzw. Vorhandenheit zurückzuführen ist. Gerade durch das reine Denken entlarvt sich also
jegliche Vorstellung der Vorhandenheit, die die räumliche Trennung zwischen
den einzelnen Seienden voraussetzt, als wesentlich inadäquat. Dies soll im zweiten Kapitel ausführlich analysiert und dargelegt werden.
Im dritten Kapitel wird versucht, diesen wichtigen Aspekt des kontinuierlichen
Wirkungszusammenhanges zwischen den Seienden unter besonderer Berücksichtigung des Seinsbegriffs bei Schleiermacher und Heidegger noch deutlicher zu
erklären. Dabei wird die Hauptthese sein, daß das, was bei Schleiermacher und
Heidegger als das sich vom Seienden unterscheidende Sein selbst dargelegt wird,
nur als das transzendente Ansichsein (Gottes) sinnvoll verstanden werden kann.
Mit dem transzendenten Ansichsein Gottes meine ich freilich nicht irgendein substantielles Sein, wenn man unter diesem Begriff – wie es nach Heidegger zu einer
herrschenden Meinung geworden ist – die Ableitung des Seins aus dem Seienden
243
versteht. Zwar versteht Schleiermacher das Sein als das substantielle Sein, aber
hierbei darf man unter dem Ausdruck substantiell nicht eine Vorhandenheit verstehen; denn die Vorhandenheit kann nur einem solchen Sein zugewiesen werden,
das nur in Relation mit dem anderen Sein existieren kann, während das substantielle Sein ein solches Sein bedeutet, das ohne Relation mit dem anderen Sein
existiert.
Daß Heideggers Gleichsetzung der Substanz mit dem Seienden in vielerlei Hinsicht problematisch ist, wurde schon im zweiten Teil ausführlich erläutert. Hier
möchte ich nun besonders hervorheben, daß ich mit dem transzendenten Ansichsein Gottes nicht ein Seiendes meine. Es wurde bereits erwähnt, daß der Ausdruck Ansich bei Schleiermacher nicht die Vorhandenheit bzw. die gegenständliche Seinsweise des Seienden voraussetzt. Im Gegenteil: In der Frage nach dem
Ansich des Seienden orientiert sich unser Bewußtsein an der ontologischen, das
Sein selbst betreffenden Dimension, da diese an sich seiende Seinsweise des Einzelnen nicht auf die Gegenständlichkeit, die nach Schleiermacher in unserem
praktischen Leben ihren Ursprung hat, zurückzuführen ist. An sich seiend zeigt
sich das Seiende in einem kontinuierlichen Wirkungszusammenhang mit dem
anderen Seienden, hört auf in unserem Bewußtsein als das ontische, vom anderen
Sein durch den Raum getrennte Sein zu erscheinen. Insofern wird deutlich, daß
man unter dem Ansichsein Gottes nicht eine träge Substanz verstehen darf, solange der Ausdruck Ansich im Sinne Schleiermachers benutzt wird.
Im zweiten Teil der Arbeit wurde darauf hingewiesen, daß Schleiermacher in der
zweiten und der dritten Auflage der Reden über die Religion das Wort Universum
häufig durch das Wort Gott ersetzt hat. Ich bin der Meinung, daß Schleiermacher
dadurch einen wichtigen Aspekt seiner Philosophie besonders hervorheben wollte:
Das ganze Sein darf nicht als eine raum-zeitliche Relation zwischen den individuellen Seienden verstanden werden. Bei der Verwendung des Wortes Universum
bleibt es noch unklar, ob das ganze Sein als eine Relation alles individuellen Seienden (das All) zu verstehen ist oder eher als eine Einheit, die nicht vom Standpunkt der Differenz zwischen den Seienden adäquat verstanden werden kann.
Daß das ganze Sein als eine Einheit zu verstehen ist, zeigt Schleiermacher durch
244
seine Analyse des reinen Denkens, mit dessen Hilfe wir nach dem Ansich des
Seienden fragen: Wenn das Seiende sich gerade in seiner an sich seienden Seinsweise als ein solches Sein zeigt, das mit dem anderen Sein in einem konkreten
Wirkungszusammenhang steht, dann muß man anerkennen, daß eine absolut kontinuierliche Einheit des ganzen Seins allem endlichen, sich voneinander unterscheidenden Seienden zugrunde liegen muß. Daß das Sein das transzendente Ansichsein Gottes ist, bedeutet in diesem Sinn, daß das Sein als eine Kraftfülle, eine
Dynamis, zu verstehen ist, die für das an der Vorhandenheit orientierte Denken
prinzipiell unergründlich bleibt. Auch dies habe ich schon im zweiten Teil der
Arbeit in Anlehnung an G. Scholtz’ Analyse der Platon-Rezeption von Schleiermacher deutlich gemacht.
Besonders interessant für unseren Zusammenhang ist nun die Frage, ob Schleiermacher und Heidegger einen gemeinsamen Standpunkt bei der Darlegung des
Seinsbegriffs haben. Viele Heidegger-Experten werden dazu neigen, diese Frage
eher negativ zu beantworten. Denn Gott ist für Heidegger bekanntlich nur ein
Seiendes, und Heidegger wird jeden Versuch, das Sein selbst mit Gott zu identifizieren, als ein metaphysisches Unternehmen bezeichnen und ablehnen. Bei genauerer Analyse scheint das Problem aber nicht so einfach zu lösen zu sein: Bereits die Annahme, Gott sei ein Seiendes, paßt nicht zu dem Gottesbegriff Schleiermachers. Ferner muß man, wenn man den Seinsbegriff bei Schleiermacher und
Heidegger vergleichen will, zuerst fragen, welche positiven Merkmale Heidegger
dem Sein selbst zuweist. Hier habe ich nicht die Absicht, die geläufige Meinung
zu wiederholen, daß Heidegger nur die Differenz zwischen dem Sein und dem
Seienden hervorhebe, ohne dabei einen positiven Seinsbegriff erarbeitet zu haben.
Im dritten Kapitel werden wir sehen, daß Heidegger nach der sogenannten Kehre
seines Denkens zwei positive Fassung des Seinsbegriffs angeboten hat: 1. Das
Sein ist „das Einfache“ 499 . 2. Das Sein ist eine (Seins-)fülle. 500 Die spannende
499
M. Heidegger, ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O., S. 362.
Gemeint ist hier der Sinnwechsel des Wortes Licht bzw. Lichtung bei Heidegger, das zuerst im
Sinn der Erleuchtung (als Bezeichnung der abendländischen Lichtmetaphysik) benutzt wird, nach
der Kehre aber im Sinn des Waldlichtens. Allerdings meine ich mit dem Ausdruck Seinsfülle nicht,
daß Heidegger das Sein – wie Leibniz – als eine Kraftfülle verstünde. Zu fragen ist eher, was
Heidegger mit seiner Metaphorik des Lichtens im Sinn der Waldlichtung, des Raumschaffens aus
500
245
Frage ist nun, ob diese Seinsbegriffe etwa zu einem anderen Seinsbegriff als dem
transzendenten Ansichsein Gottes führen können. Diese Frage ist m. E. bereits
dadurch vorentschieden, daß Heidegger das Dasein als Existenz definiert und in
dieser Existenz den Ursprung des Seinsverständnisses vom Standpunkt des Seienden findet: Wenn das Seiende durch die ausstehende Seinsweise des Daseins
als ein von meinem Sein gesondertes Sein zur Erscheinung kommt, ist die Frage
nach dem Sein selbst, das nicht auf dieses Seiende zurückgeführt werden soll,
eigentlich nur durch einen Begriff des Seins zu beantworten, der diese Trennung
zwischen dem Dasein und dem Seienden (Vorhandenheit) wieder zu einer Einheit
bringen kann. Gerade dieses Sein, verstanden als eine absolute Einheit, ist Gott
im Schleiermacherschen Sinn.
Allerdings scheint mir in Heideggers Fassung der Seinsfrage eine unüberwindliche Ambiguität zu liegen: Heidegger spricht vom Sein selbst, ohne dabei aber
eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie das Dasein, dessen Da das Seinsverständnis
und folglich die existenziale Trennung zwischen meinem Sein und dem anderen
Seienden ermöglicht, konkret zu der Einsicht gelangen kann, daß dieses Seinsverständnis kein adäquates Seinsverständnis ist. Zwar weist Heidegger mit seiner
Analyse des Angstphänomens darauf hin, daß wir ein Bewußtsein des Seins
selbst haben, das uns dann zum Bewußtsein der Nichtigkeit der Welt führen soll.
Aber die konkrete Möglichkeit dafür, daß sich die Welt dem Dasein letztlich als
ein Nichts zeigt, wird bei Heidegger nicht erörtert. Der Grund für diesen Mangel
besteht m. E. darin, daß Heidegger – anders als Schleiermacher – das Dasein
lediglich von dem Standpunkt der formal-ontologischen Strukturanalyse aus betrachtet, ohne dabei den konkreten Wirkungszusammenhang zwischen dem Dasein und dem Seienden zu berücksichtigen.
Im vierten Kapitel soll daher gezeigt werden, daß Schleiermacher durch seinen
Versuch, das Selbstbewußtsein in bezug auf den konkreten Wirkungszusammender undurchdringlichen Dichte konkret meint, die allerdings noch eine weitere Metaphorik des
Seins als einer Fülle voraussetzt. Oder man muß vielmehr fragen, aus welchem Grund Heidegger,
auch wenn er die Wahrheit des Seins durch die Metaphorik der Waldlichtung zu erklären versucht,
das Sein nicht explizit als eine Kraftfülle – Sein als Dynamis – versteht. Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 30 f.; 71 ff.; O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische
Philosophie, a.a.O., S. 158 ff.
246
hang zwischen den Seienden zu betrachten, eine wichtige Entdeckung der modernen Phänomenologie vorweggenommen hat, die Rede ist von Merleau-Pontys
Einsicht in die fundamentale Leiblichkeit des Daseins, mit der er seine Phänomenologie der Wahrnehmung sowohl von der Phänomenologie Husserls als auch
von der Ontologie Heideggers kritisch distanziert. 501 Mit seinem Begriff der
Leiblichkeit weist Merleau-Ponty darauf hin, daß das Da des Daseins, durch das
die Räumlichkeit und Zeitlichkeit und somit durch das Seinsverständnis von dem
Standpunkt des Seienden überhaupt erschlossen wird, nicht als eine leere Strukturform der Existenz verstanden werden soll, sondern zugleich als ein Verweis
auf einen konkreten und wirklichen Leib des Daseins, mit dem das Dasein in ein
konkretes Lebensverhältnis mit dem weltlich Seienden tritt. 502 Schleiermacher
hat diese leibliche Dimension des Daseins nicht nur vorweggenommen. Darüber
hinaus hat er auch eine ganz besondere Funktion des intentionalen Bewußtseins
entdeckt, in dem er das Selbstbewußtsein in der Glaubenslehre als ein Bewußtsein definiert, in dem die „Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas als
mitwirkende Ursache“ stattfindet. 503 Die Intentionalität des Bewußtseins führt
Husserl zu einer transzendental-idealistischen Umformung der Phänomenologie,
da etwas, worauf das Bewußtsein bezogen ist (Bewußtsein als Bewußtsein von
etwas) stets nur als ein bereits durch den Akt des Bewußtseins Aufgefaßtes möglich ist: Man darf kein Ding an sich annehmen, da dieser Begriff des Dinges – das
angeblich unbestimmte Etwas – bereits einen auffassenden Bewußtseinsakt voraussetzt, indem es zumindest als ein von dem anderen Sein gesondertes Sein hervorgehoben wird. Dabei übersieht Husserl aber, daß jedes in meinem Bewußtsein
aktuell gegenwärtige Phänomen, auf das mein intentionales Bewußtsein bezogen
ist, eine Vergangenheit hat: Ohne vorhergehende Zusammenwirkungen zwischen
501
Auch W. Pleger weist in einer kurzen Anmerkung zur Psychologie Schleiermachers darauf hin,
daß für Schleiermacher das Denken mit dem konkreten Leib untrennbar verbunden ist: „In dem
Maße, in dem das Denken an die organische Funktion des ‚Leibes‘ gebunden ist, bekommt auch
das Problem des Leibesbewußtseins in Schleiermachers ‚Psychologie‘ eine besondere Bedeutung.“ (W. Pleger, Schleiermachers Philosophie, a.a.O., S. 142) Und direkt nach dieser Zitatstelle
erwähnt Pleger die Phänomenologie der Wahrnehmung Merleau-Pontys als einen zentralen Text
über die ‚Leiblichkeit‘.
502
Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 165 ff.
503
Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31 f.
247
meinem Sein und dem anderen Sein ist die Vergegenwärtigung eines bestimmten
Phänomens, durch die das Bewußtsein zum intentionalen Bewußtsein von etwas
wird, nicht möglich.
Nach Schleiermacher ist das Bewußtsein davon, daß unser Sosein auf ein etwas
als mitwirkende Ursache zurückzuführen ist, ein konstitutives Element jedes
wirklichen Selbstbewußtseins. Damit betont Schleiermacher zwei grundsätzliche
Thesen für eine Ontologie, in der es um das Sein selbst gehen soll: 1. Die phänomenologische Analyse des intentionalen Bewußtseins muß notwendig zur Ontologie führen, da gerade unser intentionales Bewußtsein selbst als ein Hinweis auf
eine mitwirkende Ursache außer mir fungiert. 2. Gerade im intentionalen Bewußtsein erkennen wir uns als ein Sein, das nie von einem anderen Sein isoliert
erscheint, sondern sich stets in einem konkreten Wirkungszusammenhang mit dem
anderen Sein befindet. Somit ist nun auch der konkrete Grund dafür genannt, warum wir über unser natürliches Weltbewußtsein zum Seinsbewußtsein hinausgehen müssen: Im kontinuierlichen Wirkungszusammenhang zeigt sich das ganze
Sein als ein absolut kontinuierliches Kraftfeld, das sich von der raum-zeitlichen
Relation zwischen den voneinander getrennten Seienden (Welt) grundsätzlich
unterscheidet. Und hierin liegt m. E. die wesentliche Überlegenheit der Schleiermacherschen Philosophie gegenüber der Heideggerschen: Einen konkreten Grund
dafür, warum das Dasein über das natürliche Weltbewußtsein hinausgehen soll,
kann man bei Heidegger nirgends finden, während Schleiermacher durch seine
Entdeckung des dynamischen Wesens des intentionalen Bewußtseins eine einleuchtende Erklärung dafür gibt, warum das ganze Sein nicht als eine Relation
der Differenzen (Welt), sondern als eine absolute Einheit (Gott) bezeichnet werden muß.
Daß Heidegger nach der Kehre seiner Philosophie das Sein als das Einfache bezeichnet, ist eine notwendige Folge davon, daß die ausstehende Seinsweise des
Daseins (Ek-sistieren) für die Seinserschlossenheit verantwortlich gemacht wurde:
Wenn das Dasein in dieser Seinserschlossenheit das Sein als das Seiende versteht,
und wenn somit die Seinserschlossenheit durch das Da des Daseins zugleich die
Verdeckung des ursprünglichen Seinssinns (Verborgenheit) bedeutet, kann die
248
Frage nach dem Sein selbst nur dadurch beantwortet werden, daß man einen
Seinsbegriff herausarbeitet, der die existenziale Trennung des Seins durch das Da
des Daseins wieder in eine Einheit bringt. Diese Möglichkeit bleibt für Heidegger
von Anfang an verschlossen, auch wenn er das Sein als das Einfache bezeichnet:
Heidegger gibt nirgendwo einen konkreten Grund dafür an, warum und in welchem Sinn das Sein als das Einfache bezeichnet werden soll. Daß das Sein das
Einfache sei, ist für Heidegger ein begrifflicher Gegensatz der existenzialen Urdifferenz, ein nur aus der Gegenüberstellung des Seins und der existenzialen Urdifferenz abgeleiteter Begriff, der weder im faktischen Bewußtseinsleben des
Daseins noch in einer Entdeckung der konkreten Seinsweise alles Seienden seinen Ursprung hat. Schleiermacher darf also nicht nur als ein Vorgänger für die
Phänomenologie Husserls oder für die Ontologie Heideggers bezeichnet werden.
Er entwickelt vielmehr eine phänomenologische Ontologie, die in vielerlei Hinsicht konsequenter und grundlegender ist als die moderne Phänomenologie bzw.
phänomenologische Ontologie. Die Eigentümlichkeit der Schleiermacherschen
Philosophie muß also besonders hergehoben werden; nicht nur um die Differenz
zwischen Schleiermacher, Husserl und Heidegger deutlich zu machen, sondern
darüber hinaus um den vielversprechenden Ansatz Schleiermachers für die weitere Entwicklung der heutigen Philosophie fruchtbar zu machen.
249
1. Schleiermachers Begriff der Religion und die phänomenologische Reduktion
Schleiermachers Religionsphilosophie unterscheidet sich, auch wenn sie im
Grund genommen als phänomenologisch bezeichnet werden kann, in vielerlei
Hinsicht von der Husserlschen Phänomenologie. Wenn man daher die Beziehung
zwischen der Phänomenologie einerseits und Schleiermachers Philosophie andererseits erläutern möchte, ist es notwendig, daß man die Gemeinsamkeiten beider
Positionen in bezug auf inhaltliche Aussagen und methodische Fragen untersucht.
Da Heidegger in seiner Konzeption sowohl von Husserl als auch von Schleiermacher beeinflußt ist, ist es interessant zu sehen, inwiefern die Methode von Schleiermacher der phänomenologischen Reduktion ähnelt, und in welchen inhaltlichen
Aussagen er etwa mit Husserl übereinstimmt bzw. wo deutliche Unterschiede zu
finden sind.
In diesem Kapitel soll daher zunächst untersucht werden, wie Schleiermacher zu
der Frage der Realität der Welt in der Wahrnehmung steht (1.1.), bzw. inwiefern
die Welt für ihn aufgrund ihres phänomenischen Wesens ein ‚Nichts‘ darstellt
(1.2.). Auch das Verhältnis zwischen dem Denken und seinem Gegenstand bei
Schleiermacher soll analysiert werden (1.3.), so daß abschließend die Frage nach
dem Verhältnis zwischen der Leiblichkeit und der Vernunftbestimmtheit unserer
Welterfahrung erörtert werden kann (1.4.).
Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Schleiermacher und Husserl besteht freilich in der Rolle des ‚Ichs‘. Während Schleiermacher das Wesen des Ichs
als das phänomenale Ich versteht, das nur durch die Inhärenz im unendlichen Sein
existent sein kann, schlägt Husserls Phänomenologie nach dem Erscheinen der
Ideen I (1913) in einen transzendentalen Idealismus um. Husserl geht nun von der
Existenz des reinen Ichs aus, während die Welt als ein Bewußtseinskorrelat bezeichnet wird.
250
Im §47 der Ideen I, der den Titel Die natürliche Welt als Bewußtseinskorrelat
trägt, weist Husserl auf die Möglichkeit der radikalen Ausschaltung aller Seinssetzungen in der natürlichen Einstellung hin: „[…] in der gedanklichen Destruktion der dinglichen Objektivität – als Korrelats des Erfahrungsbewußtseins –
hemmen uns keine Schranken.“ 504 Dagegen ist das reine Ich für Husserl nicht
ausschaltbar. Im §57 (Die Frage der Ausschaltung des reinen Ich) kommt Husserl zu dem Ergebnis, daß „das reine Ich ein prinzipiell Notwendiges“ ist. 505 Die
phänomenologische Idee des reinen Ichs ist mit einem Paradoxon verbunden. Es
kann einerseits „in keinem Sinn als reelles Stück oder Moment der Erlebnisse
gelten“. Es muß aber zugleich „als ein bei allem wirklichen und möglichen
Wechsel der Erlebnisse absolut Identisches“ verstanden werden. 506 Das reine Ich
ist zwar kein Sein, das wie ein dinghaftes Seiendes empirisch als vorhanden konstatierbar wäre; aber man muß nach der konsequenten Durchführung der phänomenologischen Reduktion zu dem Ergebnis kommen, daß letztlich das reine Ich
allein als ein solches Sein verstanden werden soll, das nicht durch die phänomenologische Reduktion ausgeschaltet werden kann. Husserl faßt seine idealistische
Position „in Kantischer Sprache: ‚Das ‚Ich denke‘ muß alle meine Vorstellungen
begleiten können‘“ zusammen. 507
1.1. Das Problem der realen Welt
Trotz dieses wichtigen Unterschieds in Bezug auf die Rolle des Ichs, darf Husserls Position nicht schlechthin als ein Gegenpol zu Schleiermachers Position
verstanden werden. Erstens ist Schleiermachers Philosophie keineswegs als ein
Realismus zu bezeichnen, wenn man darunter den üblichen Sinn dieses Begriffes
versteht. Wie wir im letzten Teil gesehen haben, ist die Welt für Schleiermacher
kein adäquater Name für das ganze Sein: Die Welt ist von dem räumlichen Gegensatz von Innen und Außen abhängig, während das ganze Sein nicht einen sol504
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I,
a.a.O., S. 100.
505
Ebd., S. 123.
506
Ebd.
507
Ebd.
251
chen Gegensatz haben kann. Gott, das ganze Sein, muß absolut innerlich sein,
und man darf daher dem ganzen Sein keine räumliche Ausdehnung beilegen.
Schleiermachers Philosophie ist also kein Realismus, wenn dieser Begriff von der
Frage, ob die Welt als real anerkannt werden soll, abhängig ist. 508 Zweitens
nimmt Husserls Idealismus selbst nicht an, daß die wirkliche Welt von dem Ich
getragen würde. Husserl behauptet zwar, daß wir phänomenologisch, auch wenn
es sich hierbei nur um eine gedankliche Destruktion handelt, die Seinssetzung
aller dinglichen Objektivität außer Geltung setzen können. Wenn es sich aber um
die Ausschaltung der dinglichen Objektivität handelt, kann man ohne Zweifel
davon ausgehen, daß auch Schleiermacher eine ähnliche Position wie Husserl
vertritt. Unser Weltbewußtsein wird für Schleiermacher von einem unaufhebbaren Widerspruch begleitet: Das ganze Sein kann keinen Gegensatz von Innen und
Außen haben, während die Welt notwendig als raum-zeitliche Relation zwischen
den einzelnen Dingen vorkommt. Die Realität der dinglich-seienden Entitäten ist
also auch für Schleiermacher nicht selbstverständlich. Wie wir im letzten Teil
gesehen haben, zeigt sich bereits in seiner Jugendschrift über den ‚Spinozismus‘ der Gedanke, der für eine phänomenologische Philosophie von wesentlicher
Bedeutung ist: Die Welt ist nicht frei von der Möglichkeit, ein Nichts zu sein, d. h.
508
Allerdings darf man hierbei die Position Schleiermachers auch nicht mit dem Kantischen Phänomenalismus identifizieren. Bereits für die Philosophen der Romantik und des Idealismus besteht die Grenze des Kantischen Phänomenalismus darin, daß bei Kant die Vernunft letztlich auf
der Suche nach einer absolut gültigen Wahrheit über das wirkliche Sein zum Scheitern verurteilt
ist. Ebenso versucht auch Schleiermacher durch seine kritische Auseinandersetzung mit Kant zu
zeigen, zu welchem alternativen ontologischen Seins- und Gottesverständnis der Ausgang von
dem Gedanken der Phänomenalität der Welt führen kann. Daß Gott nicht durch ein theoretisches
Denken ergründbar ist, hat in diesem Sinn doch einen rationalen Kern in sich: Es steht nach der
philosophischen Beweisführung der Phänomenalität der Welt fest, daß sich das ganze Sein nicht
als eine raum-zeitliche Relation, die den Ausgangspunkt unseres theoretischen Wissens bildet,
definieren läßt. Erst nach der Anerkennung dieses philosophischen Tatbestandes kann man ein
wahrhaft rationales, vom Vorurteil des natürlichen Weltbewußtseins befreites Denken beginnen.
Wir werden im Verlauf dieses Teiles sehen können, daß Schleiermacher seinem Begriff des reinen Denkens diese Möglichkeit zuweist. Vgl. „Kant sah in dem Selbstwiderspruch ein Scheitern
der Vernunft am Verstande; in der notwendigen Beziehung auf das Unbedingte werde die Vernunft auf die für diesen Zweck untauglichen Mittel des Verstandes zurückgeworfen. Die Konsequenz, die Kant daraus zog, war die Restriktion des Vernunftgebrauchs im transzendentalphilosophischen Sinne. Für Schlegel, Schelling und Schleiermacher dagegen hat es die Dialektik mit der
Hervorbringung objektiv gültigen Wissens zu tun; in ihr werde die Wahrheit erreicht (Schlegel),
das Urwissen (das Unbedingte) ausgedrückt (Schelling) bzw. sei der Unterschied konstitutiver
und regulativer Prinzipien aufgehoben (Schleiermacher).“ A. Arndt, ‚Zur Vorgeschichte des
Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik‘, in: G. Meckenstock (Hrsg.), Schleiermacher und
die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin / New York 1991, S. 331 f.
252
letztlich nichtig zu sein. Das eigentlich Wahre und Reelle in der Seele ist das Gefühl des Seins, behauptet der junge Schleiermacher unter dem Einfluß der Jacobischen Spinoza-Auslegung. Eigentlich existiert nichts außer diesem Gefühl des
Seins und alle einzelnen Begriffe sind nur als seine Offenbarungen möglich. 509
Allerdings impliziert der Begriff der Offenbarung, daß das Weltbewußtsein einen
Seinsgrund hat. Der junge Schleiermacher macht aber zugleich deutlich, daß die
Existenz einzelner Dinge keineswegs selbstverständlich ist. In seiner kritischen
Auseinandersetzung mit Kant (und Spinoza) behauptet Schleiermacher, daß „die
Individualität der Erscheinungen“ „nichts anderes als die Cohäsion, die identische
Vereinigung der Kräfte einer gewissen Masse an einem Punkt“ bedeutet. 510 Allerdings kann diese Formulierung als sehr ungenau kritisiert werden, besonders
weil Schleiermacher keine weitere Erklärung dafür gibt, was er mit dem Ausdruck Kohäsion genau meint. Aber mit einer
jugendlichen Offenheit bringt
Schleiermacher sein Mißtrauen gegen den Ausgangpunkt des Kantischen Phänomenalismus zum Ausdruck. Das Ding an sich ist anders als das Phänomen; eben
„das ist es wovon Kant ausgeht.“ 511 Schleiermacher zufolge erkennt man hieraus,
daß für Kant das Ding an sich die verborgene Realität des Phänomens bedeutet.
Gerade diese Grundvoraussetzung des Kantischen Dinges an sich scheint aber
Schleiermacher fragwürdig: „ […] jeder Erscheinung liegt also ein Ding zum
Grunde; war es aber Recht hierbei stehn bleiben?“ 512
Husserls Einsicht in die transzendentale Möglichkeit, daß die Welt ein Nichts
sein kann, steht also nicht im Widerspruch mit der Grundposition Schleiermachers. Daß Schleiermachers Begriff der Offenbarung den einzelnen Dingerscheinungen einen ontologischen Seinsgrund verschafft, kann auch nicht geradehin als
ein Grund dafür verstanden werden, Schleiermachers Philosophie der Husserlschen Phänomenologie gegenüberzustellen. Husserls Rede von der phänomenologischen Ausschaltung der dinglichen Welt kann keineswegs als eine ontologi-
509
Vgl., F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 535.
F. Schleiermacher, ‚Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems‘, S. 573 f.
511
Ebd.
512
Ebd.
510
253
sche Entscheidung der Frage, ob die reale Welt wirklich existiert, verstanden
werden.
Für Husserl bedeutet die phänomenologische Reduktion nicht die Negation der
wirklich existierenden Welt. Husserl will vielmehr zeigen, daß die Rede von der
realen Welt selbst problematisch ist. Der entscheidende Punkt ist dabei, daß wir
die Welt nur in ihrer subjektiven Gegebenheit erfahren können und nicht in einer
vom Subjekt unabhängigen Realität. Die angebliche Objektivität ist eigentlich der
vom Bewußtsein erfaßte Sinn, unter dem man selbstverständlich nicht irgendeine
bloße Illusion oder sachferne Phantasierei verstehen darf. Das Rote, als das wir
eine Rose wahrnehmen, ist in der Tat keine Illusion. Es ist aber auch keine Realität, sondern eine subjektive Gegebenheit, ohne die unsere Erfahrung nicht möglich ist.
1.1.1. Die Wahrnehmung und das Urteil
Die subjektive Gegebenheit im Husserlschen Sinn ist notwendig mit dem urteilenden Akt des Bewußtseins verbunden. Husserl betont, daß er „unter dem Titel
Gegebenheit […] die Erfaßtheit, und bei der Wesensgegebenheit die originäre
Erfaßtheit“ mitmeint. 513 Die Rede von der realen Welt ist für Husserl schon deswegen widersinnig, weil wir erst dann von der Realität sprechen können, wenn
etwas als das real Seiende aufgefaßt ist. Was wir als etwas Reales erfaßt haben,
ist schon das Wahrgenommene, das im Vermeinen Vermeinte, im Urteilen Geurteilte; es ist immer ein Phänomen, ein Zusammenhang der subjektiven Gegebenheiten, der ohne den sinngebenden Akt des Bewußtseins nicht möglich ist. 514 Daß
Husserl damit weder einen subjektiven Idealismus der Berkleyschen Prägung
noch ein Kantisches Ding an sich mit meint, ist hinreichend bekannt. Das Ding an
sich ist ein Begriff, der erst nach der philosophischen Reflexion über das phänomenale Wesen unseres Weltbewußtseins entsteht. Es entspricht weder der Seinssetzung des natürlichen Weltbewußtseins, die keineswegs mit der philosophi513
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I,
a.a.O., S. 143.
514
Vgl. ebd., S. 120 f.
254
schen Frage nach der verborgenen Realität hinter der Erscheinungswelt verbunden ist; noch dem echt philosophischen Problembewußtsein, da sein Ausgangspunkt die unbefragte Existenz der dinglichen Welt ist. In Wahrheit ist das Ding
an sich selbst ein Begriff, der vom sinngebenden Akt des Bewußtseins abhängig
ist; nur dadurch, daß die Welt als Sachrelation zwischen den einzelnen Dingen
erfaßt wird, können wir von einem Ding an sich sprechen. Eben deshalb sagt
Husserl im §55 der Ideen I, in dem der Unterschied zwischen seiner Phänomenologie und dem subjektiven Idealismus beschrieben wird, daß ein Begriff wie die
„absolute Realität“ ihm wie „ein rundes Viereck“ vorkommt. 515
Husserls These, daß in der Formulierung der subjektiven Gegebenheit der Welt
die vom Erfahrungssubjekt geleistete Erfaßtheit mitgemeint ist, wird auch von
Schleiermacher vertreten. In seiner wichtigen Arbeit über Schleiermachers Musikphilosophie stellt G. Scholtz nicht nur Schleiermachers Theorie der Ästhetik
dar, sondern er analysiert darüber hinaus auch die Wahrnehmungstheorie von
Schleiermacher, die für das phänomenologische Wesen seiner Philosophie von
entscheidender Bedeutung ist. Dabei besteht der entscheidende Punkt, wenn ich
richtig sehe, im Begriff des Bewußtseinsaktes. Nach Scholtz ist das Wahrgenommene für Schleiermacher bereits ein Ergebnis des Bewußtseinsaktes und hierin
liegt der Grund dafür, daß man in der Wahrnehmungstheorie Schleiermachers
eine phänomenologische Stellungnahme in der Frage nach dem Wesen der Welterscheinung erblicken kann: „In seiner phänomenologischen Analyse der Tonwahrnehmung kommt R. Ingarden zu dem Ergebnis, daß bereits der wahrgenommene individuelle Ton nur durch einen Bewußtseinsakt in voller Klarheit
‚vermeint und als identisch derselbe erfaßt‘ wird, während die akustischen Empfindungsdaten nur eine immer wieder verschwindende Mannigfaltigkeit seien.
Die Phänomenologie, die von der Wahrnehmung ausgeht, bestätigt so Schleiermacher, der bei der produktiven Phantasie ansetzt: der Ton als bestimmter ist
bereits Ergebnis eines Bewußtseinsaktes.“ 516
515
Ebd., S. 120.
G. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981, S. 109 f. Vgl. R. Ingarden,
Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, Tübingen 1962, S. 21.
516
255
Für Schleiermacher sind die produktive Einbildungskraft und die Wahrnehmung
untrennbar miteinander verbunden. Einerseits muß man, solange das Wesen der
ästhetischen Kunsterfahrung richtig verstanden werden soll, daran festhalten, daß
die Wahrnehmung eine notwendige Voraussetzung für die Kunsterfahrung ist:
„Kein inneres Sehen und Hören – weder reproduktives noch produktives – kann
ohne organische Tätigkeit, ohne Affektionen und sinnliche Wahrnehmungen gedacht werden. Denn aus der Wahrnehmung ergibt sich ‚der einzige unmittelbare
Stoff aller Combination‘.“ 517 Aber andererseits darf man nicht annehmen, daß die
Wahrnehmung ohne Akte des Bewußtseins stattfände, bevor das Bewußtsein
gleichsam aus den völlig unveränderten irgendwo im Bewußtsein angehäuften
Sinnesdaten bestimmte Bilder und Melodien hervorbringen würde. Denn „andererseits gehört zum Wahrnehmen bestimmter Bilder schon immer innere Tätigkeit,
Kombination hinzu, schon deshalb, da der Wahrnehmungsvorgang nicht ohne
Gedächtnis denkbar ist“. 518
Dieser Gedanke betrifft nicht nur den Fall der ästhetischen Wahrnehmung. Man
muß vielmehr, wie Scholtz überzeugend darlegt, davon ausgehen, daß der erfassende Bewußtseinsakt für Schleiermacher von wesentlicher Bedeutung für alle
Momente der Wahrnehmung ist.
1.1.2. Schleiermachers Analyse der Wahrnehmungsstruktur
In seiner Dialektik weist Schleiermacher auf den „Irrtum“ hin, „daß man sich
denkt, Begriff und Bild wären noch anderweitig verschieden. Das Bild stelle nur
den bestimmten Gegenstand dar, wie die organischen Eindrücke darin vereinzelt
sind, der Begriff dagegen allein das Allgemeine. Das ist unrichtig.“ 519 Sowohl
Begriff als auch Gegenstandbild sind eine Verbindung von dem Allgemeinen und
dem Besonderen: „Der Begriff kann in der mannigfaltigsten Abstufung des All-
517
G. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, a.a.O., S. 99.
Ebd.
519
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 173.
518
256
gemeinen und des Besonderen gesetzt sein“; gleichzeitig ist es aber auch wahr,
daß „[d]as Bild derselben Abstufung fähig [ist].“ 520
Schleiermacher behauptet, „daß auch das allerallgemeinste Denken eine sinnliche Beimischung hat.“ 521 Wenn nun das Gegenstandsbild auch als eine Verbindung von dem Allgemeinen und dem Besonderen verstanden werden soll, muß
man ohne Zweifel davon ausgehen, daß auch das allersinnlichste Gegenstandsbild
eine begriffliche Beimischung hat. Wie ist dies möglich?
1.1.3. Schleiermachers Analyse der Einheit von Bild und Begriff in der Wahrnehmung
Der Grund dafür, warum auch das Bild der Abstufung des Allgemeinen und des
Besonderen fähig ist, besteht darin, daß unsere Wahrnehmung immer eine Einheit
des Selbstbewußtseins und des gegenständlichen Bewußtseins ist. Nach Schleiermacher „gibt es keine Wahrnehmung, worin nicht unser Selbstbewußtsein und
das Bewußtsein des gegenständlichen Seins eins wären.“ 522 Damit meint Schleiermacher, daß das Wahrgenommene nur als eine Einheit des Idealen und des Realen möglich ist: „Das Selbstbewußtsein ist das Bewußtsein des Denkens, das Ideale, das objektive Bewußtsein das Reale.“ 523
Nun darf man nicht annehmen, es gebe für Schleiermacher das ideale Sein einerseits und das reale Sein andererseits. Mit dem Gegensatz von Selbstbewußtsein
und objektivem Bewußtsein, dem Idealen und dem Realen, der bei jeder Wahrnehmung bemerkbar sein soll, versucht Schleiermacher die notwendige Form des
Wissens aufzuzeigen: „Innerhalb desselben müssen alle Denkoperationen begriffen sein und die Totalität aller Beziehungen unserer selbst als Seiender auf das
Denken und als Denkender auf das Sein.“ 524 Weder im Wahrnehmen noch im
Denken können wir über die Grenze dieses im Wissen eine Einheit bildenden
Gegensatzes von dem Idealen und dem Realen hinausgehen. Das Wahrnehmen
520
Ebd.
Ebd.
522
Ebd., S. 178.
523
Ebd.
524
Ebd.
521
257
bedeutet also nicht nur ein passives Hinnehmen äußerer Einwirkung; es ist zugleich ein Tun, ein urteilender Bewußtseinsakt, durch den allein wir die Möglichkeit haben, etwas als etwas Sinnhaftes überhaupt zu erfassen.
Das zeigt sich am deutlichsten in Schleiermachers Unterscheidung von Empfindung und Wahrnehmung: „Beide [Empfindung und Wahrnehmung] beziehen sich
auf die organische Affektion. Aber die Empfindung ist mehr nach innen gekehrt,
eine Aussage über das Affizierte (über das Affiziertsein); die Wahrnehmung mehr
nach außen gewendet, eine Aussage über das Affizierende.“ 525 Schleiermacher
versteht auch hier die Wahrnehmung nicht nur als eine Quelle des Urteils, sondern zugleich – wie Scholtz aufweist – als ein Urteil selbst, d. h. als ein Bewußtseinsakt, durch den etwas als das Wahrgenommene, als das Aufgefaßte, zum Bewußtsein kommt: „Beim Wahrnehmen ist immer schon die intellektuelle Seite
beteiligt, insofern das Wahrgenommene uns zum Bewußtsein kommt.“ 526
Bereits in dieser Theorie der Wahrnehmung kann man deutlich erkennen, daß
Schleiermachers Philosophie in vielerlei Hinsicht die phänomenologische Analyse der intentionalen Grundstruktur des Bewußtseins, die F. Brentano entdeckte
und sein Schüler E. Husserl in Richtung auf die transzendentalphilosophische
Dimension weiter entwickelte, vorweggenommen hat. Das Bewußtsein ist in seinem wachen Zustand immer auf etwas bezogen, kommt immer in der Form des
Bewußtseins von etwas vor. Die Empfindung kann zwar nicht als ein Urteil bezeichnet, und kann daher auch nicht als ein urteilendes Bewußtsein von etwas
aufgefaßt werden. Bereits in dem Moment aber, in dem wir uns einer Empfindung, die notwendig in der Form von meinen Schmerzen, meinen Lustgefühlen
vorkommt, bewußt werden, haben wir uns selbst vergegenständlicht; das Bewußtsein ist hier ein Bewußtsein von sich selbst als dem Empfindenden: „Das Urteil
aber geht nicht von der Empfindung aus. Ein Urteil, das unseren eigenen Zustand
beschreibt, ist bereits ein Akt der Wahrnehmung, in dem wir uns selbst als Empfindende gegenständlich werden.“ 527 Ferner kann man auch davon ausgehen, daß
etwa die reine Empfindung, die von dem urteilenden Bewußtseinsakt unabhängig
525
Ebd., S. 250.
Ebd., S. 158.
527
Ebd.
526
258
wäre und daher nicht in der Form des Bewußtseins von etwas vorkommen würde,
für Schleiermacher kein wirkliches Lebensmoment ist. Daher bezeichnet Schleiermacher das „Empfinden“ als einen Grenzbegriff, d. h. als einen „Begriff“, der
„die Grenze des Denkens nach der Seite der Empfindung“ zeigt. 528
1.2. Die Welt und das Nichts
Es ist nun schwer zu erklären, warum die Positionen von Schleiermacher und
Husserl als philosophisch entgegengesetzt betrachtet werden sollen, obwohl beide
fast in jeder Hinsicht denselben Ausgangspunkt haben. Das Bewußtsein ist sowohl für Husserl als auch für Schleiermacher stets das Bewußtsein von etwas.
Husserl gelangt nun aber nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion
zu einem transzendentalen Idealismus, auch wenn er darunter keine ontologische
Entscheidung über die Frage nach der Existenz der realen Welt versteht. Dagegen
nimmt Schleiermacher, obwohl die Realität der dinglichen Welt auch für ihn
nicht selbstverständlich ist, keine idealistische Position ein. Worin besteht nun
der Unterschied zwischen den beiden Denkern?
Muß man vielleicht in der These Schleiermachers, daß die Wahrnehmung immer
als eine Einheit des Idealen und des Realen möglich ist, eine realistische Position
erblicken, die in einem Gegensatz zum Husserlschen Idealismus steht? Ich nehme
wahr, daß der Stein, den ich jetzt berühre, hart ist. In diesem Wahrnehmungsakt
bilden zweifelsohne das Selbstbewußtsein (das Ideale) und das objektive Bewußtsein (das Reale) eine Einheit: Die Erfahrung der Härte des Steins ist nur dann
möglich, wenn ich etwas als mir hart Vorkommendes erfasse, was gerade als solches außer mir real existieren soll. Ich nehme wahr, daß ein blauer Vogel vorbei
fliegt, dessen Schnelligkeit oder dessen Höhe ohne ein Bewußtsein von mir als
dem sich auf der Erde Befindlichen nicht möglich ist. Die Härte, die Schnelligkeit
und die räumliche Befindlichkeit sind die Ideale, da sie ohne Bezug auf das
wahrnehmende Selbst nicht vorkommen können; sie sind aber notwendig auf das
528
Ebd., S. 188.
259
objektive Bewußtsein bezogen, da sie ohne Seinssetzung von etwas nicht möglich
sind. Heißt das, daß die Wahrnehmung die Realität der dinglichen Welt garantiert?
Erinnern wir uns nur daran, daß bereits in Schleiermachers Jugendschrift ‚Kurze
Darstellung des Spinozistischen Systems‘ seine skeptischen Äußerungen über den
Kantischen Begriff des Dinges an sich enthalten sind; die Voraussetzung, daß
jeder Erscheinung ein Ding an sich zugrunde liegen soll, ist für Schleiermacher
gar nicht selbstverständlich. Auch mit der – dogmatischen – Gleichsetzung der
Erscheinungswelt mit der realen Welt der Dinge an sich kann man nicht der eigentlichen Intention Schleiermachers treu werden. Die Welt wäre dann für
Schleiermacher als real zu bezeichnen, nicht nur in bezug auf ihre Existenz, sondern auch in bezug auf den Geltungsanspruch des natürlichen Weltbewußtseins,
so daß die Welt an sich gerade so, wie sie uns erscheint, real existieren würde. In
diesem Fall müßte man seine Philosophie einen naiven Objektivismus nennen.
Das ist allerdings nicht der Fall. Für Schleiermacher gilt, daß das ganze Sein mit
Hilfe des natürlichen Weltbewußtseins, das notwendig mit dem räumlichen Gegensatz von Innen und Außen verbunden ist, nie richtig aufgefaßt werden kann.
Die Dingwahrnehmung, in der notwendig das Sein eines realen Gegenstandes
mitgesetzt sein soll, garantiert also für Schleiermacher keineswegs die Realität
der dinglichen Welt.
Man muß auf jeden Fall daran festhalten, daß der Unterschied zwischen Husserl
und Schleiermacher nicht in der philosophischen Entscheidung über die Realität
der dinglichen Welt liegen kann; es ist für beide gar nicht selbstverständlich, die
dingliche Welt als real zu setzen. Man kann m. E. sogar davon ausgehen, daß
Schleiermacher mit dem, was Husserl als notwendige Folge der phänomenologischen Reduktion aufweist, einverstanden sein würde: die transzendente Welt kann
phänomenologisch als Nichts gesetzt werden.
Im §49 der Ideen I, in dem das reine oder transzendentale Bewußtsein als das
phänomenologische Residuum nach der phänomenologischen Reduktion bezeichnet wird, weist Husserl darauf hin, daß die Dingwelt für das Sein des Bewußtseins nicht notwendig ist. Husserl behauptet, „daß das Sein des Bewußtseins,
jedes Erlebnisstromes überhaupt, durch eine Vernichtung der Dingwelt zwar
260
notwendig modifiziert, aber in seiner eigenen Existenz nicht berührt würde.“ 529
Die Radikalität dieser Aussage darf wiederum nicht als ein Grund dafür betrachtet werden, Husserls Phänomenologie als einen subjektiven Idealismus zu kennzeichnen. Auch hier wiederholt Husserl seine eigene Position, daß die Frage nach
der realen Welt erst nach der philosophischen Reflexion über das phänomenische
Wesen des Weltbewußtseins entsteht. Sie ist von einem falschen Problembewußtsein motiviert: die Frage, ob es die transzendente Dingwelt außerhalb meines
Bewußtseins geben sollte, beruht auf der Ignoranz des phänomenologischen Tatbestandes, daß die Vorstellung der Welt als Sachrelation zwischen den dinglich
Seienden selbst ohne den sinngebenden Akt des Bewußtseins einfach unmöglich
ist: „Denn Vernichtung der Welt besagt korrelativ nichts anderes, als daß in jedem Erlebnisstrom (dem voll, also beiderseitig endlos genommenen Gesamtstrom
der Erlebnisse eines Ich) gewisse geordnete Erfahrungszusammenhänge und
demgemäß auch nach ihnen sich orientierende Zusammenhänge theoretisierender
Vernunft ausgeschlossen wären. Darin liegt aber nicht, daß andere Erlebnisse und
Erlebniszusammenhänge ausgeschlossen wären.“ 530 Deutlich erkennbar ist hier,
daß die Vernichtung der Welt phänomenologisch nur in bezug auf die theoretisierende Vernunft von Bedeutung ist. Die absolute Realität der dinglichen Welt ist
für Husserl ein rundes Viereck, da die Vorstellung der Welt selbst nur als ein
Korrelat des sinngebenden Bewußtseins möglich ist. Das reale Sein, das sich in
der Erscheinung zeigen soll, ist eben deshalb für Husserl eine unsinnige Annahme, weil es überhaupt nicht zu den Momenten des wirklichen Bewußtseinslebens
gehört: „Also kein reales Sein, kein solches, das sich bewußtseinsmäßig durch
Erscheinungen darstellt und ausweist, ist für das Sein des Bewußtseins selbst (im
weitesten Sinne des Erlebnisstromes) notwendig.“ 531
Hieraus entsteht nun ein phänomenologisches Paradoxon, daß nicht das transzendente Sein, sondern das immanente Sein als das absolute Sein anerkannt werden muß: „Das immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne absolutes Sein,
529
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I,
a.a.O., S. 104.
530
Ebd.
531
Ebd.
261
daß es prinzipiell nulla ‚re‘ indiget ad existendum.“ 532 Was meint Husserl damit?
Damit meint Husserl nichts anderes als die philosophische Unzulänglichkeit des
naiven Glaubens, den Schleiermacher bereits in seiner Jugendschrift an Kant bemängelte: Der Erscheinung liege ein wirkliches Ding an sich zugrunde. Im §90
der Ideen I, in dem die Unterscheidung von immanenten und wirklichen Objekten
in der scholastischen Lehre der Intentionalität kritisiert wird, versucht Husserl
eine psychologistische Abbildtheorie zu widerlegen. Dabei liegt der Ausgangpunkt darin, daß „die scholastische Unterscheidung zwischen ‚mentalem‘, ‚intentionalem‘ oder ‚immanentem‘ Objekt einerseits und ‚wirklichem‘ Objekt andererseits“ 533 auf jener unsinnigen Vorstellung beruht, daß der Erscheinung ein reales
Ding an sich zugrunde liege. Eine solche Unterscheidung zwischen immanentem
und wirklichem Objekt fordert, daß wir „der Wahrnehmung und konsequenterweise dann jedem intentionalen Erlebnis eine Abbildfunktion zumuten“ sollen.534
Husserl behauptet nun, daß sie „unausweichlich […] einen unendlichen Regreß
mit sich führt.“ 535 Sollten wir wirklich intentional auf das wirkliche Objekt gerichtet sein, das sich von seinem Phänomen unterscheidet? Heißt es dann nicht,
daß wir durch den Akt des intentionalen Bewußtseins ein Abbild von diesem
wirklichen Objekt als einen immanenten Bewußtseinsinhalt herausstellen? Was
soll nun passieren, wenn wir intentional auf dieses Abbild, einen immanenten
Bewußtseinsgehalt, gerichtet sind? Stellen wir dann noch einmal ein Abbild von
diesem Abbild heraus, das sich wiederum als einen immanenten Bewußtseinsinhalt, auf das unser Bewußtsein intentional gerichtet sein kann, zeigt? Nein, eine
solche Vorstellung ist widersinnig. Es gilt vielmehr, daß wir eine solche Verdoppelung des intentionalen Objektes vermeiden sollen: „Das ‚wirkliche‘ Objekt ist
[…] ‚einzuklammern‘.“ 536
Jene These, daß das immanente Sein das absolute Sein ist, bedeutet in dieser
Hinsicht, daß wir eigentlich keinen Grund haben, ein wirkliches Objektsein anzu-
532
Ebd.
Ebd., S. 206.
534
Ebd., S. 208.
535
Ebd.
536
Ebd.
533
262
nehmen, dessen Abbild das immanente Objektsein ist. 537 In der natürlichen Einstellung nehmen wir die Existenz einer wirklichen, transzendenten Dingwelt als
selbstverständlich an. In Wahrheit ist die Welt nur als ein Korrelat des sinngebenden Bewußtseins möglich: „Andererseits ist die ganze räumlich-zeitliche Welt,
der sich Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten zurechnen, ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein, also ein solches, das den
bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins für ein Bewußtsein hat.“ 538 Daß die
Welt ein intentionales Sein ist, bedeutet für Husserl freilich nicht, daß es eine
wirkliche Welt hinter unserer Erscheinungswelt gäbe. Husserl meint überhaupt
nicht, daß sich unser Bewußtsein zuerst auf die reale Welt intentional bezieht und
dann durch verschiedene Bewußtseinsakte diese reale Welt als eine phänomenale
Welt rekonstruiert. Die Welt selbst ist lediglich „ein Sein, das das Bewußtsein in
seinen Erfahrungen setzt, das prinzipiell nur als Identisches von motivierten Erscheinungsmannigfaltigkeiten anschaubar und bestimmbar – darüber hinaus aber
ein Nichts ist.“ 539 Mit anderen Worten: Die Unterscheidung von der wirklichen
Welt und der phänomenalen Welt muß aufgehoben werden. Die Seinssetzung und
die Auffassung einer objektiven Welt geschehen in dem selben Moment; schon das
Bewußtsein von etwas Unbestimmten ist mit einem Auffassungssinn verbunden,
da es zumindest als ein vom anderen Sein gesondertes Sein aufgefaßt ist. Es ist
nicht so, daß man zuerst das Sein von etwas setzt und dann die konkreten Eigenschaften als die Merkmale von diesem etwas auffaßt. Vielmehr muß man sagen,
daß weder Seinssetzung von einem Gegenstand ohne Auffassungssinne noch
Auffassungssinn von einem Gegenstand ohne Seinssetzung möglich ist. Die Vorstellung, daß wir zuerst dem Sein der wirklichen Welt begegnen und durch die
537
Mit Recht weist T. Celms darauf hin, daß für Husserl auch das Phänomen des transzendenten
Seins auf den sinngebenden Akt des Bewußtseins zurückzuführen ist: „Alle nichtichliche Transzendenz ist nach Husserl nichts weiter als ein identisch sich durchhaltender intentionaler Pol, d. h.
etwas, das prinzipiell nur durch die Sinngebung da ist. Deshalb gelten letzten Endes nur die geistigen Zusammenhänge, auf die alle anderen Zusammenhänge zurückweisen. Die Transzendenz
gehört zum Bewußtsein wesensnotwendig, aber nicht als dessen Bedingung, sondern als dessen
notwendige Folge, die mit dem Wesen des Bewußtseins zugleich gegeben ist.“ (T. Celms, Der
phänomenologische Idealismus Husserls und andere Schriften 1928 - 1943, Frankfurt a. M. 1993,
S. 145.)
538
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I,
a.a.O., S. 106.
539
Ebd.
263
Akte des intentionalen Bewußtseins eine phänomenale Welt als deren Abbild
erzeugen, ist also falsch. Das Bewußtsein setzt das Sein der Welt gerade im Moment der Erfahrungen, in dem die Welt als Zusammenhang der subjektiven Gegebenheiten aufgefaßt wird: „Gegeben ist ein Transzendentes durch gewisse Erfahrungszusammenhänge.“ 540 Die Rede von der objektiven Welt ist also eigentlich sinnlos. Das Objekt ist lediglich ein Begriff, der zwar in jedem Wahrnehmungs- bzw. Erfahrungsmoment als das objektiv Seiende gesetzt wird. In Wirklichkeit kann aber kein angeblich objektives Sein von einem sinngebenden Akt
des Bewußtseins unabhängig sein; denn die Rede von einem gewissen Objektsein
hat nur in gewissen Erfahrungszusammenhängen Sinn, in denen eine rote Rose,
ein zerbrochener Krug, ein blauer Vogel, ein laufender Hund usw. als die Seienden, die gerade wegen der Auffassungsinne wie rot, zerbrochen, blau, laufend
usw. als etwas Reales gesetzt wird, vorkommen.
1.3. Schleiermachers Frage nach der Beziehung des Denkens zum Gegenstand
Schleiermachers Philosophie steht mit dieser phänomenologischen Negation der
objektiven Welt über weite Strecke im Einklang. In der Dialektik fragt Schleiermacher nach dem Sinn der „Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegenstand“. 541 Er analysiert „die Beziehung des Denkens zum Gegenstande“ und weist
zuerst darauf hin, daß wir beim Denken etwas, was zum Gegenstand des Denkens
gemacht wird, als das vom Denken Verschiedene setzen: „Den Gegenstand des
Denkens setzen wir als vom Denken verschieden.“ 542 Diese scheinbar selbstverständliche Seinssetzung des Gegenstands zeigt sich nach einer philosophischen
Überlegung als nicht mehr so selbstverständlich.
540
Ebd., S. 104.
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 135.
542
Ebd.
541
264
1.3.1. Die Seinssetzung beim Empfinden
Schleiermacher vergleicht das Denken mit dem Empfinden: „Wenn man denkt, so
denkt man etwas. Und dies verhält sich anders, als wenn man sagt: wenn man
empfindet, so empfindet man etwas.“ 543 Worin liegt nun der Unterschied zwischen dem Empfinden und dem Denken? Darin, daß wir den Gegenstand des
Empfindens nicht als das vom Empfinden Verschiedene setzen.
Ich empfinde ein Glas, aus dem Ich Wasser trinke, als kalt. Das Glas ist dann kalt,
und ich habe beim reinen Empfinden keinen Grund dafür, das Glas im Unterschied zu meiner Empfindung als etwas Warmes zu setzen. Zwar kann ich vielleicht durch einige Überlegungen zu dem Ergebnis kommen, daß das Glas eigentlich nur lauwarm war; es wirkte auf mich nur deswegen kalt, weil meine Hände
aus irgendeinem Grund ziemlich warm waren. Dies weist aber nur darauf hin, daß
die Kälte nicht als eine objektive Eigenschaft eines äußeren Gegenstands zu verstehen ist, sondern als etwas, was nur als Zusammenwirken zwischen dem Seienden und mir als dem Empfindenden möglich ist. In jedem aktuellen Moment des
Empfindens setze ich den Gegenstand gerade so wie ich ihn empfinde. Aber die
Kälte, die ich empfinde, ist nicht schlechthin außer mir, auch wenn ich beim
Empfinden der Kälte an das reale Sein eines kalten, auf mich so wirkenden Gegenstandes glaube. Ich denke z. B. beim aktuellen Empfinden nicht über die
Möglichkeit nach, daß das, was mir jetzt kalt erscheint, eigentlich ein lauwarmes
Ding sein kann. Das Empfundene ist nicht das Objekt, sondern die Kälte. Und
von der empfundenen Kälte kann man nicht sagen, daß sie auf etwas von der
empfundenen Kälte Verschiedenes verweist.
1.3.2. Die Seinssetzung beim Denken
Beim Denken ist es ganz anders. Wenn man z. B. beim Empfinden über die Möglichkeit nachdenkt, daß der als kalt empfundene Gegenstand eigentlich nicht kalt
sein kann, ist es schon nicht mehr eine Sache des Empfindens; sondern des Denkens, wie es schon in diesem Konditionalsatz deutlich zum Ausdruck kommt. Wir
543
Ebd.
265
sind nicht selten in der Lage, den Gegenstand des Denkens, das Gedachte, als das
von unserem Denken Verschiedene zu setzen. Es ist ja sogar die notwendige Bedingung des Denkens, daß das Gedachte als etwas von unserem Denken Verschiedenes gesetzt wird. Denn wenn wir völlig davon überzeugt sind, daß das, auf
das sich unser Bewußtsein bezieht, gerade so ist, wie es mir erscheint, brauchen
wir nicht mehr zu denken. Nur deswegen, weil der gedachte Gegenstand von
meinem Denken über ihn verschieden ist bzw. verschieden sein kann, sind wir
zum Denken veranlaßt. Schleiermacher fragt nun: „Wie kommen wir dazu, das
Denken von der Empfindung so zu unterscheiden, daß wir das Gedachte außer
uns setzen, das Empfundene aber nicht?“ 544 Nach Schleiermacher gelangt man
hierbei gewöhnlich zu der Annahme eines real Seienden, das zum Gegenstand des
Denkens, zum Gedachten, gemacht wird: „Wir drücken dies gewöhnlich so aus:
das Denken bezieht sich auf ein Sein, und das Seiende ist überall der Gegenstand
des Denkens, und so wird uns erst darin das Gedachte ein Seiendes.“ 545
Auf den ersten Blick scheint diese gewöhnliche Denkweise selbstverständlich zu
sein. Sollte es das Seiende nicht geben, auf das sich unser denkendes Bewußtsein
bezieht, dann könnten wir nicht von einer Differenz zwischen dem Denken und
dem Gedachten sprechen. Schleiermacher selbst gibt eine Erklärung, die diese
gewöhnliche Denkweise zu bestätigen scheint. In der Betrachtung über den Begriff der Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegenstand kommt Schleiermacher vor allem „auf den alten Streit, wie wir dazu kommen, das Denken auf etwas
außer uns zu beziehen.“ 546 Als Antwort dient Schleiermacher die Pluralität der
Subjekte, die bei einer umstrittenen Vorstellung vorausgesetzt werden muß:
„Man hat gestritten, inwiefern man berechtigt sei, aus unseren Gedanken herauszugehen. Durch unsere Voraussetzung ist diese Frage schon entschieden. Insofern
kann man her-ausgehen, als die streitige Vorstellung eine Mehrheit von Subjekten
setzt. Und durch diese schon ist gesetzt, daß das Denken einen Gegenstand haben
muß, der von ihm unabhängig ist, nämlich das Denken des anderen.“ 547
544
Ebd.
Ebd.
546
Ebd.
547
Ebd., S. 136.
545
266
Wenn es um eine Mehrheit von Subjekten geht, die bei dem Fall der streitigen
Vorstellung vorausgesetzt werden soll, kann man m. E. mit Schleiermacher
durchaus einverstanden sein. Zwar kann man sich auch vorstellen, daß eine fragwürdige Vorstellung unabhängig von einem anderen Menschen hervortritt: ich
betrachte ein blaues Objekt als einen Vogel, aber ich bin aus irgendeinem Grund
selbst nicht sicher über mein Urteil. In diesem Fall muß man aber davon ausgehen, daß mein Selbst bei dem Fall der umstrittenen Vorstellung kein einheitlich
denkendes Subjekt bildet.
Schleiermachers Erklärung ist aber dennoch erklärungsbedürftig. Bei dem Fall
einer umstrittenen Vorstellung ist es klar, daß mein Denken einen Gegenstand
haben muß, der von meinem Denken unabhängig ist. Warum bezeichnet aber
Schleiermacher diesen Gegenstand nicht als das vom Denken unabhängig Seiende, sondern als das Denken des anderen? Man muß bei dem Fall der verschiedenartigen Vorstellungen den Gegenstand des Denkens als das objektive Sein setzen.
Hierin liegt das wesentliche Merkmal der Denkweise, die Schleiermacher gewöhnlich nennt. Worin liegt nun die philosophische Position Schleiermachers?
Aus welchem Grund nennt Schleiermacher den Gegenstand des Denkens, der von
meinem Denken unabhängig ist, nicht das real Seiende, sondern das Denken des
Anderen? Wohl nur aus dem Grund, daß die Rede von einem objektiv Seienden,
das unabhängig von meinem Denken existieren würde, philosophisch nicht begründbar ist. Schleiermacher ist sich hier mit Husserl völlig einig; die absolute
Realität des objektiven Seins, das vom Denken verschieden sein soll, ist auch für
Schleiermacher so absurd wie ein rundes Viereck.
1.3.3. Die Welt als Auffassungssinn
Um des besseren Verständnisses halber hebe ich hier zuerst eine wichtige These
hervor, die Schleiermacher durch eine komplizierte Argumentation zu erklären
versucht: „Die Welt ist nicht der Ort für die unbestimmte Mannigfaltigkeit der
Impressionen, sondern dasjenige, was durch das Denken schon bestimmt ist.“ 548
548
Ebd., S. 153.
267
Mit anderen Worten ist die Welt nichts anderes als der Auffassungssinn, der Begriff, der nicht unabhängig von dem denkenden, begreifenden oder auffassenden
Bewußtsein sein kann: „Beides, Begriff und Welt, in ihrer Totalität für sich, gehören also zusammen, sind dasselbe, nur auf verschiedene Weise angesehen, das
eine reduziert auf den intellektuellen, das andere auf den sensuellen Pol unseres
Denkens. Die Begriffe sind dasselbe als ein Innerliches, was die Welt als ein Äußerliches ist.“ 549
Die Frage, die er am Anfang seiner Analyse des Unterschiedes zwischen dem
Empfinden und dem Denken stellt, wird damit beantwortet. Wir setzen das Gedachte als etwas vom Denken Verschiedenes. Hieraus bildet sich nun die gewöhnliche Denkweise, daß es nämlich einen vom Denken unabhängigen Gegenstand
gibt. Diese gewöhnliche Denkweise bringt zwar eine notwendige Form des Denkens zum Ausdruck: Da das Denken eine aktuell oder potentiell kritisierbare Vorstellung voraussetzt, muß man beim Denken das Sein des von meinem Denken
unabhängigen Gegenstandes setzen. Aber in Wirklichkeit bleibt das, worauf sich
unser denkendes Bewußtsein bezieht, immer ein Begriff, ein Auffassungsinn, der
freilich nicht als das vom Denken unabhängige Sein bezeichnet werden kann:
Begriff und Welt gehören in ihrer Totalität für sich zusammen.
Wie ist dies möglich? Man kann den entscheidenden Punkt zur Lösung dieses
Problems durch die Beantwortung der Frage gewinnen: Warum setzt Schleiermacher als die Bedingung für unser Herausgehen aus unseren eigenen Gedanken die
Mehrheit der Subjekte voraus? Wenn es tatsächlich der Fall wäre, daß man sich
intentional auf das vom Denken unabhängige Objektsein beziehen könnte, müßte
man davon ausgehen, daß man sich auch ohne eine Mehrheit von Subjekten der
Verschiedenheit zwischen dem Denken und dem Gedachten bewußt werden
könnte. Aber wie wenig plausibel dieser Gedanke ist, kann man schon daraus
erkennen, daß das angeblich unbestimmte Etwas, worauf unser Bewußtsein vor
jeder Auffassung zuallererst bezogen sein muß, schon als etwas vom anderen
Sein Gesondertes aufgefaßt wird. D. h.: Es ist faktisch unmöglich, daß man einem
549
Ebd.
268
vom Denken verschiedenen Gegenstand findet, der einen Teil der Beziehung zwischen dem Denken und dem Gedachten ausmachen würde.
1.3.4. Das Verhältnis zwischen dem Denken und dem Gedachten
Wie ist es aber möglich, daß das Gedachte als das von dem Denken Verschiedene
gesetzt wird, obwohl Welt und Begriff letztlich zusammengehören? In diesem
Zusammenhang stellt Schleiermacher selber zwei wichtige Fragen: „Wodurch
kommen wir auf den Gegenstand des Denkens? Was ist dasjenige im Denken
selbst, wodurch es vom Gegenstande getrennt bleibt und beides in der Duplizität
gedacht wird?“ 550 Wir haben also zwei Aufgaben vor uns, die von wichtiger Bedeutung sind, wenn man den Grund für die Unterscheidung zwischen dem Denken und dem Gedachten erklären will: „1. wodurch dieses Zweierlei in Beziehung
aufeinander kommt, und 2. wodurch es doch immer zweierlei bleibt.“ 551 An derselben Stelle gibt Schleiermacher sogleich seine Antwort: Der Grund, warum das
Denken nur in der Duplizität von Denken und Gedachtem möglich ist, ist „so
auszudrücken, daß jedes Denken ein gemeinschaftliches Erzeugnis der menschlichen Vernunft und der menschlichen Organisation sei.“ 552
Das Denken über das gegenständliche Sein setzt das Vermögen, eine Vorstellung zu haben, voraus. Ja, der gedachte Gegenstand, der beim Denken als das
vom Denken Verschiedene gesetzt wird, ist nur als eine Vorstellung möglich, da
wir ohne die Erzeugung einer Vorstellung uns überhaupt nicht eines gegenständlichen Seins bewußt sein können. Wie gelangen wir nun zu der Differenz zwischen dem Denken und dem Gegenstand des Denkens? Hierauf gibt Schleiermacher zunächst eine Antwort, die sich scheinbar kaum von der gewöhnlichen Art
zu Denken unterscheidet: „Wir kommen [zu den Vorstellungen] durch die Einwirkungen, welche die Gegenstände auf unsere Organe machen.“ 553 Hieraus darf
man aber nicht ableiten, Schleiermachers Philosophie ginge von einem naiven
Realismus aus. Dieser Satz ist m. E. aus einem didaktischen Grund so formuliert.
550
Ebd., S. 138.
Ebd.
552
Ebd., S. 138 f.
553
Ebd., S. 139.
551
269
Für Schleiermacher ist die Realität des gegenständlichen Seins gar nicht selbstverständlich, wie ich bereits mehrfach betont habe. Um sich an die gewöhnlichen
Vorstellungen des Lesers anzupassen, benutzt er nicht selten die Sprache des alltäglichen Denkens, das von seinem eigenen Denken verschieden ist. Dann folgen
aber Argumentationen, die die Grenze der alltäglichen Annahmen deutlich machen. So bestätigt Schleiermacher gleich nach jener Erwähnung der auf uns einwirkenden Gegenständen, daß das, worauf das Denken bezogen ist, notwendig
etwas durch die Vernunft Bestimmtes sein muß: „Wenn wir aber das Denken in
seiner Vollständigkeit betrachten, so finden wir, daß darin noch etwas ganz anderes ist als der bloße Eindruck auf den Organismus; und dieses andere nennen wir
Vernunft im weitesten Sinne.“ 554
Der Satz, daß wir durch die Einwirkung der Gegenstände auf uns unsere Vorstellungen der Gegenstände erlangen, ist m. E. nicht als ein Zeichen für eine Inkonsistenz im Denken von Schleiermacher zu bewerten; sondern eher als ein Beweis
für seine Genialität.
Erstens kann man hierin eine bewundernswerte mäeutische Fähigkeit Schleiermachers erkennen. Bei der Erklärung seiner eigenen philosophischen Annahmen
beginnt er damit, seine eigenen Gedanken in der Sprache des gewöhnlichen Denkens zu formulieren. Das geschieht aber nicht deswegen, weil er mit der gewöhnlichen Denkweise einverstanden wäre, sondern, weil er dadurch den Leser besser
überzeugen kann. Genauso wie man sich bei einer lebendigen Gesprächsführung
für die Überzeugung des Andersdenkenden an die Sprache des Gesprächspartners
anpaßt, um dadurch einen gemeinsamen Ausgangspunkt für das Gespräch zu haben, so stellt auch Schleiermacher seine Thesen zuerst in der Formulierung vor,
die an die Sprache des üblichen Denkens angepaßt ist. Dann folgen aber Argumente, die die Leser zwingen, ihre eigene Position zu überprüfen. Indem sie der
dialogischen Reihe der fragenden und antwortenden Sätze folgen, erkennen die
Leser somit allmählich selbst die Grenzen der gewöhnlichen Art zu denken, die
sie vertreten.
554
Ebd., S. 139 f.
270
Zweitens eröffnet Schleiermacher mit dem Ausdruck ‚Einwirkung‘ eine Dimension des am konkreten Leben orientierten Denkens, die dem an der begrifflichen
Abstraktion orientierten Denken versperrt bleibt. Mit diesem Ausdruck macht
Schleiermacher klar, daß das transzendente Sein prinzipiell nicht aus dem Bewußtsein ausgeschlossen werden kann.
Welche Bedeutung dieser Ansatzpunkt, unser Dasein in einem konkreten Wirkungsverhältnis mit dem anderen Seienden zu betrachten, für eine phänomenologische Betrachtung des Bewußtseinslebens hat, kann man auch deutlich daran
erkennen, daß nicht wenige Philosophen Husserl vorwerfen, seine phänomenologische Analyse des Bewußtseins lediglich vom Standpunkt des theoretischen
Denkens aus durchgeführt und dadurch die wirkliche Existenzweise des Bewußtseins verkannt zu haben. Merleau-Ponty kann z. B. als ein Phänomenologe betrachtet werden, der – wie Schleiermacher – die konkrete Leiblichkeit des Daseins zu einem konstitutiven Element des Bewußtseinslebens erhebt. Er wirft
Husserl vor, daß Husserls „intentionale Analyse stillschweigend einen Ort der
absoluten Kontemplation voraus[setzt]“. 555 Damit weist er auf eine entscheidende
Voraussetzung hin, die Husserl letztlich zu einem phänomenologischen Idealismus ge- bzw. verführt habe. Vom Standpunkt der absoluten Kontemplation aus
wird das Ich als das Sehende betrachtet, und das Objekt als das Gesehene. In der
Orientierung am Sehen scheint das Ich schlechthin aktiv zu sein, während das
Objekt schlechthin passiv zu sein scheint.
In den §§55-57 der Ideen I kann man folgende Argumentation Husserls finden:
Wenn die Eigenschaften des Objekts (wie Farbe, Gestalt, raum-zeitliche Position
usw.) eigentlich nur durch den sinngebenden Akt des Bewußtseins zur Erscheinung kommen, und wenn das Objekt als solches nur als Bewußtseinskorrelat
möglich ist, dann kann man davon ausgehen, daß es ein reines Ich geben muß,
dessen Korrelat die Welt ist. Das reine Ich ist ein prinzipiell notwendiges Element,
während von der gesamten Objektwelt nie gezeigt werden kann, ob sie nicht in
555
M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1994, S. 307.
271
Wirklichkeit nur eine Illusion (ein ‚Nichts‘) ist. 556 Was in dieser Argumentation
aber nicht ausreichend zur Geltung kommt, ist meine Vergangenheit, ohne die
mein gegenwärtiges Aktbewußtsein nicht möglich ist.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Schleiermachers Philosophie mit der –
methodologischen – Weltvernichtung durch die phänomenologische Reduktion
nicht im Widerspruch steht: Die Welt ist nach Schleiermacher durch die Vernunfttätigkeit bestimmt und die Frage nach der realen Welt an sich ist sowohl für
Husserl als auch für Schleiermacher von einem unphilosophischen Problembewußtsein motiviert. 557 Damit ist aber nicht gemeint, daß Schleiermacher auch mit
der Ausschließung des transzendenten Seins einverstanden wäre. Für Schleiermacher ist das Ich immer ein Begriff, der notwendig als ein Korrelat des transzendenten Seins verstanden werden muß, gerade wie die Welt nur als ein Korrelat
des Bewußtseins möglich ist. Schleiermacher geht nicht von der Annahme eines
reinen Ichs aus, das in seiner Relation mit Welt stets identisch bleiben würde. Für
ihn hat das Wort ‚Ich‘ vielmehr die Funktion, die auf ein besonderes Seiendes
verweist, das sich stets in einer Relation mit dem transzendenten Sein wiederfindet und nur als ein solches relatives Sein ein selbstseiendes Dasein sein kann.
Gerade in diesem Sinn ist Schleiermachers Philosophie mehr als eine Phänomenologie; sie ist zugleich eine Ontologie. Nicht zufällig also wendet sich Heidegger nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher endgültig von der Phänomenologie Husserls ab: Daß der phänomenologische Idealismus ein rundes Viereck ist,
ist ihm nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher deutlich geworden.
556
Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie
I, a.a.O., S. 120 ff.
557
Diese phänomenologische Einsicht Schleiermachers, daß die Frage nach der Realität der Welt
das phänomenale Wesen der Welt ignoriert, ist m. E. auch für Diltheys Begriff der inneren Erfahrung bzw. des Innewerdens von grundlegender Bedeutung. Für Dilthey gilt, wie für Schleiermacher und Husserl, daß die äußere Wirklichkeit nur als ein relatives Sein zu bezeichnen ist: „Eine
Wahrheit des äußeren Gegenstandes als Übereinstimmung des Bildes mit einer Realität besteht
nicht, denn diese Realität ist in keinem Bewußtsein gegeben und entzieht sich also der Vergleichung. Wie das Objekt aussieht, wenn niemand es in sein Bewußtsein aufnimmt, kann man nicht
wissen wollen. Dagegen ist das, was ich in mir erlebe, als Tatsache des Bewußtseins darum für
mich da, weil ich desselben innewerde: Tatsache des Bewußtseins ist nichts anderes als das, dessen ich innewerde.“ (W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, a.a.O., S. 211. Vgl. H.U. Lessing, Wilhelm Diltheys ‚Einleitung in die Geisteswissenschaften‘, Darmstadt 2001, S. 210
ff.)
272
1.4. Die Leiblichkeit des Bewußtseinslebens und die Vernunft
In seiner Husserl-Kritik weist Merleau-Ponty auf „die Proustsche Leiblichkeit als
Hüterin des Vergangenen, das Eintauchen in ein transzendentes Sein“ hin, „das
nicht auf ‚Perspektiven‘ des ‚Bewußtseins‘ reduzierbar ist.“ 558 Die Leiblichkeit
im Sinn Merleau-Pontys entspricht m. E. der organischen Tätigkeit des Menschen
im Sinn Schleiermachers: Ohne die leibliche oder organische Fähigkeit, die Einwirkung des transzendenten Seins auf uns aufzunehmen, könnten wir überhaupt
nicht wahrnehmen. Die intentionale Struktur des Bewußtseins, nämlich daß das
Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas ist, wird bei Husserl irrtümlicherweise
vom Standpunkt der absoluten Kontemplation des gegenwärtigen Objektseins aus
betrachtet. Für Schleiermacher ist dagegen das Objektsein nicht nur ein jetzt mir
gegenwärtig Seiendes; es verweist zugleich auf das transzendente Sein, das sich
gerade durch das gegenwärtige Vorkommen als ein Sein erweist, das meine Vergangenheit mit bewirkt hat. Und wenn meine Vergangenheit von irgendwelchem
Sein mit bewirkt wurde, kann man das transzendente Sein nie aus dem Bewußtsein ausschließen: Die Husserlsche Idee des reinen Ich, das prinzipiell nicht als
ein Korrelat von etwas gedacht werden könnte, erweist sich somit als haltlos.
Es muß allerdings noch weiter erörtert werden, was der Gegenstand im Sinne
Schleiermachers ist. Beim Denken ist das Gedachte als das vom Denken Verschiedene gesetzt: Der Gegenstand muß als das vom Denken unabhängige Sein
gesetzt werden. Schleiermacher gibt nun als diesen Gegenstand nicht das real
Seiende an, sondern das Denken des Anderen. Heißt es dann nicht, daß der Gegenstand letztlich als ein Denken bezeichnet werden muß? Man kann hier m. E.
eine ähnliche Überlegung wie bei Husserl finden. Husserl beschreibt, wie die
Welt im natürlichen Weltbewußtsein als ein wirkliches Sein gesetzt wird: Das
Bewußtsein setzt das Sein der Welt, das von meinem Bewußtsein unabhängig
sein soll; phänomenologisch gesehen ist die Welt aber nur als Korrelat des Bewußtseins möglich, da die Frage nach der realen Existenz der Welt selbst nur in
einem Erfahrungszusammenhang möglich ist, in dem der Sinn der Welt überhaupt erschlossen wird. Es ist nicht so, daß wir zuerst der von uns unabhängigen
558
M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., S. 308.
273
Welt begegnen und erst später durch besondere Akte in der Auffassung eine Erscheinungswelt erzeugen; sondern die Welt ist gerade das, was unser Bewußtsein
durch seine sinngebenden Akte als etwas so Seiendes setzt. Gerade so ist es auch
bei Schleiermacher: Mit unserer organischen Tätigkeit nehmen wir die mannigfaltigen Sinneseindrücke auf, die durch die intellektuelle Tätigkeit der Vernunft
in eine konkrete Sachrelation zwischen den einzelnen Entitäten umgewandelt
werden. D. h.: Die Vernunft ist diejenige Instanz, die der chaotischen Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke eine Ordnung verschafft. Die Möglichkeit selbst, daß
wir die Welt der Dinge als seiend erfahren können, besteht gerade in dieser Einheit von der menschlichen Organisation und der menschlichen Vernunft. Es ist
also auch für Schleiermacher nicht so, daß man zuerst einer wirklichen Welt begegnen und dann irgendwie eine Erscheinungswelt herstellen würde. Denn die
Welt ist ihrem Wesen nach ein Begriff, der die Bestimmtheit durch die intellektuelle Tätigkeit der Vernunft notwendig voraussetzt.
Dies bestätigt sich durch das Ergebnis, zu dem Schleiermachers Dialektik nach
einer langen Auseinandersetzung mit dem Problem der Duplizität des Denkens
und des Gedachten gelangt. Schleiermacher weist darauf hin, daß das Einzelne,
ohne das kein Gegenstandbewußtsein und folglich auch kein Weltbewußtsein
möglich ist, ein Begriff ist, der ohne die intellektuelle Tätigkeit der Vernunft
nicht möglich ist. Auch hier fängt Schleiermacher zuerst mit der Sprache des üblichen Denkens an. „In der organischen Affektion ist“, so behauptet Schleiermacher, „unmittelbar kein Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem, sondern nur das Einzelne gegeben.“ 559 Hieraus darf man aber keineswegs ableiten,
daß Schleiermacher das Einzelne, sei es ein konkreter Gegenstand oder ein Sinneseindruck, als das Gegebene vor jeder intellektuellen Tätigkeit der Vernunft
annähme. Es ist nach Schleiermacher „die intellektuelle Tätigkeit nach der organischen Seite hin“, die „das Einzelne [entstehen]“ läßt. 560 Ferner ist das Einzelne
selbst notwendig auf den urteilenden bzw. auffassenden Akt des Bewußtseins
bezogen, da es ohne den allgemeinen Gegensatz der Begriffe wie unveränderlich
559
560
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 357.
Ebd.
274
und veränderlich nicht möglich ist: „Das Einzelne ist jedoch selbst wieder ein
Allgemeines, insofern es ein Veränderliches ist. Die verschiedenen Zustände eines Dinges sind im Vergleich mit der Einheit ein Besonderes, während diese Einheit ein Allgemeines ist. Wendet sich nun die Vernunft auf die organische Affektion, so wird das Einzelne auch ein Allgemeines, weil es nur in bezug auf seine
Veränderlichkeit aufgefaßt, d. h. in Beziehung auf Begriffs- und Urteilsbildung
gesetzt wird.“ 561 So scheint Schleiermachers Argumentation zuerst schlicht und
beinahe selbstverständlich zu sein. Aber die Folgen, die Schleiermacher aus einer
so einfachen Argumentation ableitet, sind erstaunlich und höchst anspruchsvoll.
Schleiermacher macht hier geltend, daß das Setzen des Seins des Einzelnen und
die Auffassung des Wesens des Einzelnen durch den Akt des Bewußtseins gleichzeitig geschehen, wie ich es im Vergleich von Husserl und Schleiermacher als
gemeinsame Position von beiden Denkern dargelegt habe: „ […] das wirkliche
Setzen eines Einzelnen als Bestimmten und die Hineinbildung einer allgemeinen
Gestaltung in den Sinn, die einem bestimmten Ort im System der Begriffe entspricht, ist ein und derselbe Moment; und nur insofern ist etwas gesetzt, auf welches die reine Erkenntnis kann gebaut werden.“ 562
Wie kommt es nun dazu, daß wir das Denken und das Gedachte als verschieden
setzen? Schleiermachers Ausgangpunkt besteht darin, daß die Differenz zwischen
dem Denken und dem Gedachten selbst eine Folge der intellektuellen Tätigkeit ist.
Schleiermacher weist darauf hin, daß kein Denken „mit dem bloßen Sein ohne
Beziehung auf die organische Tätigkeit“ anfängt: „Dann ist es kein Gedanke
mehr, sondern die Indifferenz des Setzens und Nichtsetzens; nichts mehr als
Grenze des Denkens, also eigentlich Nichts.“ 563 Das Denken fängt aber nicht mit
den bloß organischen Impressionen an: Das Denken setzt bestimmte Begriffe
voraus, und jeder Begriff enthält „stets die Erinnerung an die Dinge, woraus er
abstrahiert ist.“ 564 Schleiermacher fragt nun: „Was ist nun in einem bestimmten
561
Ebd.
Ebd.
563
Ebd., S. 150.
564
Ebd.
562
275
Begriffe mehr als im bloßen Sein?“ 565 Hierauf gibt Schleiermacher eine klare
Antwort, die letztlich keinen Zweifel daran übrig bleiben läßt, daß die Differenz
zwischen dem Denken und dem Gedachten selbst nur durch die intellektuelle
Tätigkeit der Vernunft ermöglicht werden kann: „Es ist das Gleichsetzen und
Entgegensetzen im Begriffe, und diese Operation ist im bloßen Sein verschwunden. Das Gleich- und Entgegensetzen ist das Resultat der intellektuellen Tätigkeit.“ 566
565
566
Ebd.
Ebd., S. 150 f.
276
2. Das Ich und das Problem des transzendenten Seins
Während, wie gezeigt, zwischen der Phänomenologie Husserls und der
‚Dialektik‘ von Schleiermacher einerseits eine Reihe von Ähnlichkeiten bestehen,
so liegt andererseits ein wichtiger Unterschied in der Rolle der Leiblichkeit bzw.
des reinen Ichs. Die Beziehung zwischen dem Ich und dem transzendenten Sein
soll daher in diesem Kapitel untersucht werden. Es wird sich zeigen, daß Schleiermacher die idealistische Wende von Husserl nicht akzeptieren würde und daß
seine Ontologie daher eine gewisse Nähe zu der ontologischen Transformation
der Phänomenologie durch Schüler und Kritiker von Husserl (wie z.B. Heidegger
oder Merlau-Ponty) hat – wie dies ja bereits im vorangehenden Kapitel ansatzweise deutlich wurde.
Vor dem Hintergrund dieser Kritik an Husserls Idealismus wird auch deutlich,
warum es nach Schleiermacher nötig ist, sich auf das Sein selbst (Gott) auszurichten, und wie er dieses Hinausgehen über das weltliche Bewußtsein begründet.
Dies ist deswegen von Interesse, da Schleiermacher – anders als Heidegger –
schlüssig erklären kann, warum eine solche Ausrichtung für das Dasein notwendig ist.
Daher soll in diesem Kapitel zunächst die transzendental-idealistische Position
von Husserl skizziert (2.1.) und anschließend die Kritik an Husserl untersucht
werden (2.2.). Ein Vergleich der Kritik von Sartre an Husserl mit der Konzeption
von Schleiermacher kann dabei erneut zeigen, inwiefern Schleiermachers Position einen überzeugenderen Ausgangspunkt für eine phänomenologische Philosophie darstellt und inwiefern er viele spätere Kritikpunkte an Husserl vorwegnimmt. Insgesamt wird deutlich, inwieweit sich Schleiermachers Bestimmung des
Verhältnisses von Denken und Praxis von Husserls Idee des reinen Ichs unterscheidet, so daß diese Konzeption von Schleiermacher dann mit Heideggers Daseinsanalyse verglichen werden kann (2.3.).
277
2.1. Die transzendental-idealistische Position Husserls
Die Leiblichkeit des Bewußtseinslebens, die sowohl bei Merleau-Ponty als auch
bei Schleiermacher eine zentrale Rolle für die Erklärung der Trennung zwischen
dem Bewußtseinsakt und dem transzendenten Sein spielt, führt nun zu der Unmöglichkeit, ein reines Ich anzunehmen. Dieses reine Ich kann aber, wie man aus
Merleau-Pontys kritischen Äußerungen über Husserl erkennen kann, als eine Basis für den phänomenologischen Transzendentalidealismus bei Husserl betrachtet
werden.
Ein Husserl-Kenner würde hier verschiedene Einwände geltend machen wollen:
1. Husserl meine mit der Vernichtung der Welt keineswegs eine ontologische
Negation der realen Existenz der Welt; die phänomenologische Einklammerung
der Welt sei für die Gewinnung des sicheren Erkenntnisgrundes methodologisch
in die Phänomenologie eingeführt worden. Mit Recht weist A. Aguirre darauf hin,
daß die phänomenologische Reduktion nicht zu einem Idealismus führt, wenn
man unter diesem Begriff das Ich als Träger der wirklichen Welt meint: „Vorerst
halten wir uns in der skeptischen Natürlichkeit auf: Daß die Welt Korrelat der sie
erfahrenden Subjektivität, der Generalthesis ist, besagt hier nicht, daß sie sich ins
Bewußtsein auflöst. Auf dieser Stufe der Reflexion ist mit dieser Aussage, wie
noch einmal betont sei, nur eine vortranszendentale Feststellung getroffen; es
liegt noch kein Idealismus vor.“ 567 2. Husserl selbst betrachte das Bewußtsein in
seiner Duplizität von der Spontaneität und der Rezeptivität; seine Rede vom reinen Ich bedeute keineswegs, daß die Lebensführung des wirklichen Menschen
ohne die Fähigkeit, fremde Einwirkungen aufzunehmen, möglich sei.
Der erste Einwand, daß es bei Husserl nicht um eine ontologische Entscheidung
über die Existenz der realen Welt geht, spielt hier so gut wie keine Rolle. Denn es
geht hier um die Argumente, mit denen Husserl die Annahme des reinen Ich als
phänomenologische Notwendigkeit zu beweisen versucht. 568 Auch A. Aguirre ist
567
A. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, Den Haag 1970, S. 108 f.
Auch Heideggers Kritik an Husserl geht m. E. davon aus, daß Husserls idealistische Wende
eine Folge davon ist, daß das Wesen des Ich als eines In-der-Welt-seins nicht adäquat erfaßt wird.
Vgl. „Zentral an Husserls transzendentaler Phänomenologie ist die phänomenologische Reduktion,
die das Phänomen als das Bewußtseinsinhalt als unmittelbar gegeben nimmt und von jeglicher
Korrespondenz des Bewußtseinsaktes mit nicht bewußtseinsmäßig Seiendem in der sogenannten
568
278
nicht der Ansicht, daß die Phänomenologie Husserls kein Idealismus wäre. Wie
schon der Satz es liege noch kein Idealismus vor andeutet, will er lediglich den
Idealismus im Husserlschen Sinn von dem üblichen Verständnis dieses Wortes
unterscheiden. In der sogenannten skeptischen Natürlichkeit sind wir nicht so
weit gegangen, die Position des transzendental-phänomenologischen Idealismus
einzunehmen. Wir sind mit der skeptischen Überlegung über das Wesen der real
vorkommenden Welt zu dem Ergebnis gekommen, daß die Welt nur als ein Bewußtseinskorrelat existent sein kann. Daß man dadurch aber nicht automatisch zu
einem transzendentalen Idealismus gelangen muß, zeigt Husserl selbst: In seinen
Logischen Untersuchungen lehnt Husserl die Idee des reinen Ich ab, obwohl die
Logischen Untersuchungen Husserl zufolge „genauso ‚transzendental‘ [ … ]
waren wie die Ideen“. 569 In ihnen ist aber noch keine positive Stellungnahme zum
transzendentalen Idealismus sichtbar. Husserl ist aber schon hier von der Sinnlosigkeit eines Denkens überzeugt, das nach der realen Existenz der Welt fragt.
Diese Einsicht der Logischen Untersuchungen bleibt auch in den Ideen I aktuell;
Husserl möchte mit seiner idealistischen Stellungnahme nicht behaupten, die reale Welt werde vom Ich getragen; eine solche Denkweise ist der Phänomenologie
Husserls vollständig fremd. Aguirre will nun aber zugleich deutlich machen, daß
Husserls Phänomenologie über die Grenze einer skeptischen Natürlichkeit hinausgeht und dadurch zu einem transzendental-phänomenologischen Idealismus
gelangt. Darauf kommen wir später zurück.
Der zweite Einwand ist einerseits richtig. R. Williams, der in seinem Werk
Schleiermacher The Theologian Schleiermachers Religionsphilosophie als eine
Phänomenologie im Husserlschen Sinn darstellt, behauptet, daß Schleiermachers
‚Außenwelt‘ radikal absieht. […] Nicht das Absehen von Welt wie bei Husserl, sondern gerade
das Hinsehen charakterisiert Heideggers hermeneutische Phänomenologie, denn das In-der-Weltsein, das Heidegger entdeckt, ist früher als die Scheidung von Ich und Welt.“ (A. Becke, Der Weg
der Phänomenologie, Hamburg 1999, S. 94 f.)
569
Zitiert nach Karl Schumanns ‚Einleitung des Herausgebers‘ der Ideen Husserls. (E. Husserl,
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. XV.) In
einer Anmerkung der Ideen I macht Husserl deutlich, daß er seine negative Stellungnahme zur
Idee des reinen Ich in den Logischen Untersuchungen zurücknimmt: „In den ‚Log. Unters.‘ vertrat
ich in der Frage des reinen Ich eine Skepsis, die ich im Fortschritte meiner Studien nicht festhalten konnte. Die Kritik, die ich gegen Natorps gedankenvolle ‚Einleitung in die Psychologie‘ richtete, ist also in einem Hauptpunkte nicht triftig.“ (Ebd., S. 124.)
279
Philosophie nicht den methodologischen Idealismus („a methodological idealism“)
Husserls teilt. 570 Aber er weist auch darauf hin, daß sowohl Schleiermacher als
auch Husserl das Bewußtsein in der Dupplizität der Spontaneität und der Rezeptivität betrachten: „Husserl’s discussion in Ideen II resembles that of Schleiermacher. Receptivity and spontaneity are determinate modes of the correlation between consciousness and world.“ 571
Auch A. Aguirre will durch seine entschiedene Kritik an den HusserlInterpretationen von Merleau-Ponty, Sartre und A. Gurwitsch geltend machen,
daß Husserls Phänomenologie nicht von dem Vorrang der Gegenwart bzw. der
Fiktion der absoluten Kontemplation ausgehe. Aguirre hebt gleich in der Einleitung seines Werkes Genetische Phänomenologie und Reduktion den genetischen
Aspekt der Husserlschen Phänomenologie stark hervor. Für Husserl geht der Perzeption die Apperzeption voraus, so daß die Erfahrung auch für Husserl eine geschichtliche Tiefendimension hat: „Das wirklich Erfahrene – das ‚Perzipierte‘ –
wird als etwas apperzipiert, das heißt: es wird als etwas erfahren, das dem Erfahrenden schon in irgendeinerweise bekannt ist, und dieses Etwas wird jeweils einem bestimmten typisch vorbekannten und vertrauten Erfahrungsrahmen eingeordnet, der seinerseits ein habitueller Erwerb aus der Geschichte des Erfahrenden
ist. Apperzepzion ist die Überführung des Gegebenen in seine Geschichte, die in
Gestalt des geschichtlich erworbenen Horizonts das gegenwärtige Leben der
transzendentalen Subjektivität bestimmt; die Apperzeption und das heißt die Intentionalität ist die in der jeweiligen Erfahrung sichtbar werdende genetischgeschichtliche Verfassung der transzendentalen Subjektivität.“ 572 Mit anderen
Worten setzt jede Erfahrung für Husserl eine vorhergehende Vertrautheit mit der
Welt voraus, die habituell erworben ist.
Aber auch in dieser Hinsicht bleibt Husserl durchaus idealistisch. Auch nach der
Auffassung Aguirres steht fest, daß die genetische Phänomenologie, die mit dem
Begriff der Apperzeption eine geschichtliche Dimension des Bewußtseinslebens
eröffnet, letztlich zu einem Idealismus führen soll. Husserl will weiter geltend
570
R. Williams, Schleiermacher The Theologian, a.a.O., S. 7.
Ebd., S. 33.
572
A. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, a.a.O., S. XXI.
571
280
machen, daß das reine Ich als ein absoluter Anfangspunkt dieser genetischen Erfahrungsstruktur phänomenologisch notwendig gesetzt werden müsse: „Wenn die
Vertiefung der Besinnung bis zu dieser genetischen Verfassung vorgedrungen ist,
enthüllt sich die gesamte Wirklichkeit als genetische Differenzierung eines undifferenzierten, absoluten Anfanges. Im Unterschied zur Ungeschichtlichkeit der
urfungierenden Subjektivität erweist sich jegliches Seiende und die Wirklichkeit
im Ganzen als apperzeptives Gebilde, als von Grund auf geschichtliches Resultat.
Die vollkommen durchgeführte Auslegung der transzendentalen Subjektivität, in
der sich alles – die Natur, die Welt, die Anderen, Gott – genetisch konstituiert, ist
der transzendentalphänomenologische Idealismus.“ 573
Dieser transzendentale Subjektivismus Husserls, der auch an der Genesis der Erfahrung festhalten will, ist aber m. E. keineswegs von der Kritik frei, die Merleau-Ponty gegen Husserl richtet. Denn auch in dieser sogenannten genetischen
Phänomenologie bleibt Husserl weiter an der Möglichkeit des reinen erkennenden
Subjekts orientiert. Die Annahme der urfungierenden ungeschichtlichen Subjektivität soll weiter gelten, da alles, was als das Seiende außerhalb dieser Subjektivität gesetzt wird, nur das apperzeptive Gebilde ist: Nur das reine Ich zeigt sich in
dieser genetischen Struktur der Erfahrung als das Sein, das ungeschichtlich und
urfungierend ist. Die transzendentale Subjektivität ist von der äußeren Einwirkung unberührbar. Die wirkungsgeschichtliche Dimension des Bewußtseins, daß
jedem auffassenden Aktbewußtsein die Wirkung des transzendenten Seins auf
dieses Bewußtsein vorausgehen soll, bleibt hier vollständig unberücksichtigt.
2.2. Die Unzulänglichkeit der Idee des reinen Ich
2.2.1. Das Problem des fremden Bewußtseins: Sartres Kritik an Husserl
Auch J.-P. Sartre ist sich dieses Problems der Husserlschen Phänomenologie bewußt. Zwar möchte er mit seiner bekannten Unterscheidung zwischen der empirischen und der existentiellen Psychoanalyse geltend machen, daß das Bewußtsein
573
Ebd., S. XXI f.
281
in Hinsicht auf die existentielle Psychoanalyse als das vom anderen Sein unberührbare absolute Sein verstanden werden soll. 574 Die hieraus folgende Verabsolutierung der Freiheit, die in seiner provokanten These, wir seien zur Freiheit
verdammt, kulminiert, wird aber im letzten Kapitel von Merleau-Pontys Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung entschieden kritisiert. Hier betont Merleau-Ponty die Rolle der sub-personalen Elemente im Leben. Er formuliert eine
These, die als ein zentraler Ansatzpunkt seiner Kritik an Sartres Verabsolutierung
der Freiheit in Das Sein und das Nichts zu verstehen ist: „Freiheit gibt es nicht
ohne ein Feld.“ 575 Die Freiheit ist möglich nur auf dem Feld des konkreten Erlebniszusammenhanges, und Sartres Ausführungen über das Bewußtsein als das absolute Sein oder über die absolute Freiheit seien unhaltbar. Eine solche Verabsolutierung des Bewußtseins ist m. E. auch mit seiner eigenen Kritik an dem transzendentalen Idealismus Husserls nur schwer vereinbar. Denn Sartre selbst weist
in seiner Husserl-Kritik darauf hin, daß das transzendente Sein prinzipiell nicht
aus dem Bewußtsein auszuklammern ist. 576
Aber auf jeden Fall ist sich Sartre klar darüber, daß Husserls Phänomenologie,
die durch die Operation der phänomenologischen Reduktion das reine Ich allein
zum phänomenologisch als notwendig zu kennzeichnenden Sein erhebt, dem faktischen Verhältnis zwischen meinem Sein und dem Sein des Anderen nicht gerecht werden kann.
In seiner existenzontologischen Analyse des Schamgefühls bzw. des fremden
Blicks weist Sartre darauf hin, daß das Phänomen des fremden Blicks überhaupt
nicht im Rahmen des erkennenden Subjekts und des zu erkennenden Objekts erklärbar ist: „Dieser Bezug, den ich ‚Vom-Anderen-gesehen-werden‘ nenne, ist
also keineswegs eine der durch das Wort Mensch bezeichneten Beziehungen unter anderen, sondern stellt ein unreduzierbares Faktum dar, das man weder vom
Wesen des Objekt-Andern noch von meinem Subjekt-sein ableiten kann.“ 577 Damit zeigt Sartre zugleich die Grenze derjenigen Form der Phänomenologie, die
574
Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 956 ff.
M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 469.
576
Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 33 ff.
577
Ebd., S. 464.
575
282
sich an der Möglichkeit einer reinen, erkennenden Subjektivität orientiert: „Im
Phänomen des Blicks ist der Andere grundsätzlich das, was nicht Objekt sein
kann. Zugleich sehen wir, daß er kein Glied des Bezugs von mir zu mir selbst
sein kann, der mich für mich selbst als das Nicht-Enthüllte auftauchen läßt. Der
Andere kann auch nicht durch meine Aufmerksamkeit anvisiert werden: wenn ich
im Auftauchen des Blicks des Andern dem Blick oder dem Andern Aufmerksamkeit schenkte, dann konnte das nur wie bei Objekten sein, denn die Aufmerksamkeit ist intentionale Richtung auf Objekte. Aber daraus darf man nicht schließen,
daß der Andere eine abstrakte Bedingung, eine begriffliche Struktur des ekstatischen Bezugs ist: es gibt hier nämlich kein wirklich gedachtes Objekt, von
dem er eine allgemeine formale Struktur sein könnte.“ 578 Kurz gesagt ist der Sinn
des Anderen nicht im Rahmen der intentionalen Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt erklärbar. Wir können zwar das
Sein eines bestimmten ‚Körperdings‘ lokalisieren und somit in eine intentionale
Beziehung zu diesem Objekt treten. Aber der Grund, warum dieses ‚Körperding‘ nicht bloß als ein Objekt, sondern als ein lebendiger Körper des anderen
Menschen verstanden werden soll, ist dadurch überhaupt nicht geklärt.
Sartres Analyse des fremden Blicks ist insofern interessant, als sie auf ein Phänomen aufmerksam macht, das nicht durch die Operation der phänomenologischen Reduktion auszuklammern ist. Der fremde Blick ist ein Faktum des Lebens,
das nicht von meinem Sein ableitbar ist: „Die Anwesenheit des Blick-Andern bei
mir ist also weder eine Erkenntnis noch eine Projektion meines Seins, noch eine
Vereinigungsform oder Kategorie. Sie ist, und ich kann sie nicht von mir ableiten.“ 579 Hieraus folgt, daß die Husserlsche Idee der phänomenologischen Epoché,
in der das Bewußtsein in seiner absoluten Reinheit erfaßt werden soll, angesichts
des fremden Blicks problematisch wird: „Gleichzeitig kann ich sie [die Anwesenheit des Blick-Andern] auch nicht der phänomenologischen Epoché unterziehen.
[…] Ich schäme mich über mich vor Anderen, sagten wir. Die phänomenologische Reduktion muß das Objekt der Scham aus dem Spiel bringen, um die Scham
578
579
Ebd., S. 483 f.
Ebd., S. 489 f.
283
selbst in ihrer absoluten Subjektivität besser hervortreten zu lassen. Aber der Andere ist nicht das Objekt der Scham: meine Handlung oder meine Situation in der
Welt sind ihre Objekte. Sie allein können allenfalls ‚reduziert‘ werden. Der Andere ist nicht einmal eine objektive Bedingung meiner Scham. Und trotzdem ist er
es wie ihr Sein-selbst. Die Scham ist Enthüllung des Andern, aber nicht so, wie
ein Bewußtsein ein Objekt enthüllt, sondern so, wie ein Moment des Bewußtseins
lateral ein anderes Moment als seine Motivation impliziert.“ 580
Bei der Scham haben wir also nicht den Anderen in der Form eines Objekts gegeben. Das Objekt unseres Schamgefühls ist eine Handlung oder eine Situation,
die wir in der Form der Jemeinigkeit – meine Handlung bzw. Situation im jeweiligen Moment des Lebens – erleben. Die Scham setzt neben einem Objekt, das
meine Handlung bzw. eine bestimmte Situation ist, notwendig die aktuelle oder
potentielle Anwesenheit des Anderen voraus, vor dem ich mich über mich schämen muß. Das Schamgefühl ist deshalb eine Entdeckung des Anderen, da es ohne
Anwesenheit des Anderen nicht möglich ist; das Sein des Anderen ist ein notwendiges Strukturelement des Schamgefühls. Die Entdeckung des Anderen ist
aber nicht eine Entdeckung des Anderen als eines Objektes, sondern es ist vielmehr eine Entdeckung einer Lebensfaktizität, die darin besteht, daß meine Handlung, meine Situation oder sogar mein Sein selbst stets zum Objekt des fremden
Bewußtseins wird und werden kann. Diese Faktizität des Lebens, daß meine
Handlungen zum Objekt eines fremden Bewußtseins werden können, darf in der
phänomenologischen Reduktion nicht ausgeklammert werden. Die Scham betrifft
nicht die Seinssetzung der objektiven Dingwelt, sondern das Bewußtsein meiner
eigenen Seinssituation.
Sartres Argumentation ist m. E. richtig. Durch seine existenzontologische Analyse des Schamgefühls hat Sartre der phänomenologischen Philosophie eine neue
Möglichkeit eröffnet: Es gibt Phänomene, die nicht auf die Relation von Subjekt
und Objekt bezogen oder gar reduziert werden können. Durch die phänomenologische Reduktion gelangt man in Wirklichkeit nicht zu einer scharfen Trennung
des reinen Ich als eines ungeschichtlichen, alles fundierenden absoluten Seins
580
Ebd., S. 490.
284
von dem anderen Sein als einem bloßen Objektsein, sondern zu einer Faktizität
des Lebens, die beinhaltet, daß mein Subjektsein unvermeidlich mit der Möglichkeit meines Objektseins für den Anderen verbunden ist – genauso wie das Objektsein des Anderen zugleich mit der Möglichkeit des Subjektsein des Anderen
verbunden ist.
2.2.2. Schleiermachers Begriff der Liebe als Ermöglichungsbedingung des Bewußtseins vom Mitmenschen
Die Frage ist nun, was die konkrete Bedingung dafür ist. Sartre legt zwar die faktische Möglichkeit meines Objektseins, die angesichts des fremden Blicks offenbar wird, richtig dar; dadurch gelingt es ihm, die Grenze der an der reinen, erkennenden Subjektivität orientierten Phänomenologie Husserls aufzuzeigen. Aber die
konkrete Bedingung dafür, wie ich durch den Blick des Anderen mir der Möglichkeit meines Objektseins bewußt werden kann, bleibt bei Sartre unerörtert. Es
ist zwar richtig, daß ich bei dem Schamgefühl den Anderen als Subjekt und meine Handlung, meine Situation oder mein Sein als Objekt des fremden Bewußtseins betrachten muß. Die Frage ist nun aber, wie ich mich als Objekt und den
Anderen als Subjekt setzen kann. Wie ist es möglich, daß ich den Anderen von
dem üblichen Dingobjekt unterscheide und ihn als ein solches Sein wahrnehme,
das sich als ein von seinem eigenen Bewußtsein her denkendes Subjekt auf mich
bezieht?
Aufmerksame Leser werden bereits erkannt haben, daß diese Möglichkeit nicht
allein aus der Tätigkeit meines eigenen Bewußtseins abgeleitet werden kann: Es
ist die Wirkung des Anderen auf mich, die bei mir ein Bewußtsein eines fremden
Bewußtseins schafft. Diese Aussage mag beinahe trivial erscheinen. Aber weder
Husserl noch Sartre ziehen m. E. hieraus die richtigen Konsequenzen.
Schleiermachers Einsicht, daß der urteilende Akt meines Bewußtseins die Einwirkung des transzendenten Seins auf mich notwendig voraussetzen muß, ist hier
von entscheidender Bedeutung: Gerade dieser allzu selbstverständlich klingenden
Wahrheit des faktischen Lebens tragen weder Husserl noch Sartre gebührend
285
Rechnung. Nur Schleiermacher gibt eine einleuchtende Erklärung dafür, wie ich
zu dem Bewußtsein kommen kann, daß der Andere als ein von den dinghaften
Objekten grundverschiedenes Sein anzuerkennen ist.
Schleiermacher entwickelt sein Denken nicht nur mit Hilfe der abstrakten Sprache der Philosophie. Er versteht, daß man, um richtig denken zu können, sich
zuerst an die Sprache des üblichen Denkens anpassen muß, da im Denken innerhalb der normalen Sprache der Ausgangspunkt jedes wirklichen Denkens liegt.
So nennt Schleiermacher die Möglichkeit, den Anderen als ein von den dinghaften Objekten grundverschiedenes Sein anzuerkennen, die Liebe. Wie unphilosophisch für uns heutige Philosophen dieses Wort klingt! Aber was Schleiermacher
mit diesem Wort meint, ist ein durchaus philosophisches Konzept und zeigt zugleich sein unglaubliches Einsichtsvermögen.
Der Sinn dieses Wortes wird bei Schleiermacher zuerst gerade im Sinn seiner
umgangssprachlichen Anwendung interpretiert. Allerdings bleibt Schleiermacher
nicht auf der Ebene der Philosophie der normalen Sprache stehen. Er versucht
zugleich diesem Wort einen idealen Sinn zu geben, der aber nicht nur eine theoretische und begriffliche Abstraktion ist, sondern ein konstitutives Element des
wirklichen Bewußtseins ist. Der ideale Sinn der Liebe muß für Schleiermacher
auf der wirklichen Lebenssituation des Menschen beruhen, so daß die Möglichkeit, den Anderen als ein von den dinghaften Objekten grundverschiedenes Sein
anzuerkennen, nicht bloß als ein zufälliger Seinsmodus verkannt wird. Es ist
durchaus möglich, daß wir die anderen Mitmenschen bloß als Objekt unserer
Zweckhandlungen betrachten. Aber die Möglichkeit, unsere Mitmenschen als
eigenständige Subjekte zu betrachten, bleibt in jeder wirklichen Lebenssituation
notwendig implizit gegeben.
Schleiermacher gibt eine Erklärung dafür, warum jene Möglichkeit, den anderen
Menschen als ein eigenständig denkendes Sein anzuerkennen, in der Liebe gesucht werden soll: „ […] es ist unmöglich, daß man etwas liebe ohne das Bestreben, es kennenzulernen, unabhängig von dem Gebrauch, den man davon machen
kann.“ 581 In dieser Erklärung sind der normalsprachliche Sinn und der ideal581
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 105.
286
sprachliche Sinn des Wortes Liebe vereinigt: Dem normalsprachlichen Sinn des
Wortes, daß man in der Liebe den Gegenstand der Liebe nicht als Mittel für einen
praktischen Zweck betrachtet, entspricht der idealsprachliche Sinn des Wortes,
daß die Liebe notwendig mit dem Streben nach der reinen Erkenntnis verbunden
ist: „Solange man die Menschen kennenlernen will um des Gebrauches willen,
den man von ihnen zu machen gedenkt, liebt man sie nicht. Sowie sich die Liebe
äußert, strebt man den Gegenstand derselben kennenzulernen, wie er an sich
ist.“ 582 Die Liebe ist notwendig mit dem Bestreben verbunden, den Gegenstand
der Liebe kennenzulernen. Somit zeigt Schleiermacher die Möglichkeit einer reinen Erkenntnis auf, die sich von dem Streben nach der dinghaften Objektivität
grundsätzlich unterscheidet. Ferner ist die Möglichkeit, den anderen Menschen
als ein eigenständig denkendes Sein anzuerkennen, nicht wie bei Sartre (und Heidegger) der erkennenden Tätigkeit des Menschen diametral gegenübergestellt;
sondern sie wird von Schleiermacher eher als ein wahrer Ursprung des menschlichen Strebens nach der reinen, vom praktischen Zweck unabhängigen Erkenntnis
dargestellt.
2.3. Praxis und Denken bei Schleiermacher und Heidegger
Schleiermacher geht hier von einer phänomenologischen Analyse des Lebens aus,
die in vielerlei Hinsicht mit der Heideggerschen Duplizität des uneigentlichen
und des eigentlichen Selbst vergleichbar ist. Allerdings gibt es auch Differenzen,
durch die sich die beiden Philosophen stark voneinander unterscheiden. Aber
Schleiermacher möchte den Ursprung des an der Gegenständlichkeit orientierten
Denkens in der faktischen, praktischen Lebensführung des Menschen finden, und
hierin zeigt seine Philosophie eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Heideggerschen Philosophie.
582
Ebd. Hervorhebung von S.-Y. Han.
287
2.3.1. Praxis und Denken bei Heidegger
Für Heidegger besteht die Lebensfaktizität in der Duplizität des eigentlichen und
des uneigentlichen Selbst. Das uneigentliche Selbst, das Man, ist wesentlich an
praktischen Zwecken orientiert und das Wissen zeigt sich hier als ein Gebrauchswissen. Die angebliche Objektivität des Gegenstandes ist nach Heidegger
unumgänglich mit dem Um-willen unseres Lebens verbunden, so daß jedes Wissen, das auf die Gegenständlichkeit des Seienden gerichtet ist, letztlich nur als ein
Gebrauchswissen möglich ist.
Wenn Heidegger in seiner Angstanalyse das Wovor der Angst von der innerweltlichen Zuhandenheit deutlich trennt, macht er damit zugleich deutlich, daß er die
Zuhandenheit des Wissens als den ursprünglichen Grund unseres Strebens nach
der Objektivität betrachtet. Das Wovor der Angst ist nichts Zuhandenes: „Wovor
die Angst sich ängstet, ist nichts von dem innerweltlichen Zuhandenen.“ 583 Der
Grund, warum das Wovor der Angst nicht in dem innerweltlich Zuhandenen zu
suchen ist, besteht darin, daß das Dasein mit seinem Verfallen an das Man zugleich die Umdeutung der Welt als einer besorgten Welt leistet, in der das Seiende in seinem Zuhandenheitscharakter ausgelegt ist: „Das Verfallen des Daseins an
das Man und die besorgte ‚Welt‘“ nennt Heidegger in einem Atemzug. 584 Das
Gebrauchswissen ist also das Urwissen, da das Wissen für Heidegger im praxeologischen Umwillen des Daseins seinen Ursprung hat. Das Wissen, das für eine
Wissenschaft als das objektive Wissen gelten kann, ist in diesem Sinn nur ein
abkünftiger Modus des Wissens. Denn ein solches Wissen setzt ein theoretisches
Erforschen voraus, das nach Heidegger lediglich durch die Enthaltung von der
praktischen Handlung ermöglicht wird: „Es liegt nahe, den Umschlag vom ‚praktisch‘ umsichtigen Hantieren, Gebrauchen und dergleichen zum ‚theoretischen‘ Erforschen in folgender Weise zu charakterisieren: das pure Hinsehen auf
das Seiende entsteht dadurch, daß sich das Besorgen jeglicher Hantierung enthält.“ 585 Das Interesse für eine reine Erkenntnis, die nicht um des praktischen
Zweckes willen gesucht wird und daher von Schleiermacher als Ziel des lieben583
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 187.
Ebd., S. 185.
585
Ebd., S. 357.
584
288
den Umgehens des Daseins mit dem anderen Sein verstanden wird, wird also nur
dadurch möglich, daß die nach Zweckverwirklichung strebende Seinsweise des
Daseins (das Um-Etwas-willen), die sich gegenüber der theoretischen als die primäre Seinsweise zeigt, der Praxis beraubt wird: „Gerade wenn man als primäre
und vorherrschende Seinsart des faktischen Daseins das ‚praktische Besorgen‘ ansetzt, wird die ‚Theorie‘ ihre ontologische Möglichkeit dem Fehlen der
Praxis, das heißt einer Privation verdanken.“ 586
Das Gebrauchswissen muß für Heidegger ontologisch dem objektiven Wissen
vorausgehen. Das macht Heidegger im §69 von Sein und Zeit deutlich, der mit
Die Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins und das Problem der Transzendenz der
Welt betitelt ist. Hier liegt der entscheidende Punkt von Heidegger darin, daß die
Objektivität die Transzendenz voraussetzt: „Damit die Thematisierung der Vorhandenen, der wissenschaftliche Entwurf der Natur, möglich wird, muß das Dasein das thematisierte Seiende transzendieren. Die Transzendenz besteht nicht in
der Objektivierung, sondern diese setzt jene voraus.“587 Damit meint Heidegger
nichts anderes als die Urbegründung des Wissens durch den besorgenden Umgang des Daseins mit der Welt, d. h. die umwillende Verhaltensweise des Daseins,
durch die die Welt als eine Relation der Zuhandenheiten für das praktische Leben
gedeutet wird: „Wenn aber die Thematisierung des innerweltlich Vorhandenen
ein Umschlag des umsichtig entdeckenden Besorgens ist, dann muß schon dem
‚praktischen‘ Sein beim Zuhandenen eine Transzendenz des Daseins zugrunde
liegen.“ 588 Mit anderen Worten: Die Transzendenz des Seins, die jedem objektiven Wissen zugrundeliegt, ist bereits in dem an der Zuhandenheit orientierten
Seinsverständnis des alltäglichen Daseins erschlossen.
Bei diesen Überlegungen fällt Heideggers Denken jedoch einer irrtümlichen
Deutung der Worte ‚Ursprünglichkeit‘ und ‚Eigentlichkeit‘ zum Opfer. Das Man
ist ein uneigentliches Selbst, so daß sich das Gebrauchswissen, das durch den
besorgenden Umgang des Daseins mit der Welt ermöglicht wird, nicht auf den
ursprünglichen Sinn des Seins bezieht. Gegenüber dem objektiven Wissen zeigt
586
Ebd.
Ebd., S. 363.
588
Ebd., S. 363 f.
587
289
sich das Gebrauchswissen aber als ursprünglicher. Das kann man schon daraus
deutlich erkennen, daß Heidegger die Transzendenz, die dem objektiven Wissen
zugrundeliegen muß, als in der Zuhandenheit bereits erschlossen betrachtet. Das
Gebrauchswissen, das in meinem praktischen Leben durch die umwillenden Verhaltungen meines Daseins erschlossen ist, geht jeglichem Bewußtsein der Objektivität voraus. Nach Heidegger „gründet“ sogar „die Möglichkeit des Überraschtwerdens durch etwas darin, daß das gewärtigende Gegenwärtigen eines
Zuhandenen ungewärtig ist eines anderen, das in einem möglichen Bewandniszusammenhang mit jenem steht.“ 589 Mit anderen Worten kann man nur deswegen
überrascht werden, weil die Welt je schon als das Bewandnisganze des Zuhandenen ausgelegt ist. Alles, was sich nicht im Rahmen des Zuhandenheitsganzen des
Seienden auslegen läßt, verursacht nach Heidegger nur Resignation: „Was der
besorgende Umgang als Herstellen, Beschaffen, aber auch als Abwenden, Fernhalten, Sichschützen vor … nicht bewältigt, das enthüllt sich in seiner Unüberwindlichkeit. Das Besorgen findet sich damit ab. Das Sichabfinden mit … ist aber
ein eigener Modus des umsichtigen Begegnenlassens. Auf dem Gebiete dieses
Entdeckens kann das Besorgen das Ungelegene, Störende, Hindernde, Gefährdende, überhaupt irgendwie Widerständige vorfinden.“ 590 Die Frage ist nun, ob
wirklich das Gebrauchswissen ursprünglicher ist als das Wissen, das nicht mit
dem praktischen Interesse verbunden ist.
Die Annahme, daß das Wissen ursprünglich das Gebrauchswissen sei, ist schon
deswegen wenig überzeugend, weil wir in unserer Lebenswelt stets Gegenständen
begegnen, deren Möglichkeit des Gebrauchtwerdens zunächst unbewußt bleiben.
Peter findet z.B. im Garten eine lange Stange, die neben einem Baum liegt. Schon
in dieser Wahrnehmung der Stange wird ein objektives Merkmal des Gegenstandes bewußt: Die Stange ist lang. Peter weiß aber zunächst nicht, wozu die Länge
der Stange nützlich ist. Ja, er denkt einfach nicht daran, ob die Länge der Stange
für sein Leben irgendwie nützlich sein könnte. Er will jetzt Gitarre spielen, singen
oder einen Roman von seinem Lieblingsautor lesen. Die Länge der Stange ist
589
590
Ebd., S. 355.
Ebd., S. 355 f.
290
freilich mit der Möglichkeit des Gebrauchtwerdens verbunden. Nach einer Weile
kriegt Peter einen leichten Hunger, und nun hat er die Idee, mit der Stange
Früchte aus dem hohen Baum zu pflücken. Aber sein Wissen darüber, daß die
Stange im Garten lang ist, hat Peter offenbar unabhängig von seinem praktischen
Interesse erworben.
Kann man vielleicht davon ausgehen, daß die Länge der Stange nur deswegen
uninteressant bleiben kann, weil sie mit dem gewohnten Weltverständnis, das
durch den besorgenden Umgang des Daseins mit der Welt bereits vor der Begegnung des Daseins mit diesem oder jenem gegenständlichen Sein ermöglicht wurde, nicht im Widerspruch steht? Nehmen wir dann ein anderes Beispiel. Peter
findet im Garten ein sich bewegendes Objekt, das ihm unbekannt und bedrohlich
vorkommt. Wie kann es passieren, daß ein unbekanntes Objekt Peter in Angst
und Schrecken versetzt? Was Peter hier als unbekannt bezeichnet, ist eigentlich
nicht unbekannt. Denn ohne eine Vorstellung, in der die positiven Merkmale eines Objektes vermittelt sind, kann Peter keine Angst vor diesem Objekt haben.
Das Objekt bewegt sich flink, macht seltsame Geräusche, die nur schwer zu ertragen ist. Ohne dieses konkrete Wissen ist es nicht möglich, daß Peter vor einem
angeblich gänzlich unbekannten Objekt Angst bekommt. Er wäre ja nicht einmal
imstande, das Objekt unbekannt zu nennen. Natürlich kann das Wissen, das durch
die Wahrnehmung des Objekts zustande kommt, Peter Nutzen bringen: Das Objekt ist wirklich ein gefährliches Lebewesen, und Peter flieht, weil er die Gefährlichkeit dieses Objekts ahnt, so schnell wie möglich in ein Zimmer und schlägt
die Tür zu. Aber das Wissen, daß sich das Objekt bewegt, ist hier nicht schon als
ein Gebrauchswissen zu verstehen; es bietet nur eine Möglichkeit, gebraucht zu
werden. Denn das tatsächliche Gebrauchtwerden dieses Wissens setzt notwendig
voraus, daß ihm noch weitere Urteilsakte gefolgt sind. Das Wissen, daß sich ein
Objekt bewegt, repräsentiert nur einen Moment der Wahrnehmung. Ein Gebrauchswissen setzt dagegen ein Bewußtsein von der konkreten Sachrelation voraus, von der her ein an einem bestimmten Zweck orientierter Wille entsteht, während wir bereits bei einem simplen Wahrnehmungsakt ein Wissen erhalten, das
ein positives Merkmal des Gegenstandes zum Ausdruck bringt. Es gibt keine
291
Wahrnehmung, die, soweit sie auf das wirklich Seiende bezogen ist, kein Wissen
hervorbringt; die Wahrnehmung ist bereits ein Urteilsakt, wie Schleiermacher und
Husserl klar erkannt haben. Allerdings kann die Wahrnehmung uns täuschen. In
diesem Fall verursacht die Wahrnehmung ein falsches Wissen, das erst nach einer
späteren Überprüfung falsifiziert werden kann. Das Wissen, das eine Wahrnehmung hervorbringt, ist zwar notwendig mit der Möglichkeit verbunden, benutzt
zu werden. Es ist jedoch nicht an sich ein Gebrauchswissen, sondern eine Ermöglichungsbedingung dafür, daß wir in einer konkreten Lebenssituation einen besorgenden Umgang mit dem Seienden haben können.
2.3.2. Praxis und Denken bei Schleiermacher
Die Frage, ob alles Wissen auf den Modus des Um-etwas-willen zurückgeführt
werden kann oder soll, ist also bereits negativ entschieden. Wir wollen nun aber
noch weiter fragen, ob vielleicht das Denken notwendig mit dem Um-etwaswillen des besorgenden Daseins verbunden ist. Kann man Heideggers’ These
über den praktischen Ursprung des gegenständlichen Bewußtseins akzeptieren,
wenn es hierbei nicht um konkretes Wissen, sondern um das Denken als Ganzes
geht? Ist es wahr, daß unser Denken an ein Seiendes eine praktische Motivation
hat? Schleiermachers Philosophie verhält sich zu diesem Problem ambivalent.
Einerseits geht er davon aus, daß das reine Denken, das um des Denkens selbst
willen vollzogen wird, möglich ist; andererseits steht Schleiermacher aber darin
Heidegger nahe, daß er den praktischen Ursprung des gegenständlichen Denkens
anerkennt: „ […] das Denken kommt unter zweierlei Umständen bei uns vor.
Einmal, daß es der Zweck unserer Geistestätigkeit ist, und dann, daß es das Mittel
zu etwas anderem ist. Alles Denken im Gebiet der Erfahrung ist durchaus praktisch, d. h. es bezieht sich auf unser Handeln in bezug auf die Gegenstände, und
hier ist die Richtigkeit des Vorstellens vollkommen gleichgültig, solange es auf
die Richtigkeit des Handelns keinen Einfluß hat.“ 591
591
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 104.
292
Es steht also fest, daß das gegenständliche Denken auf dem Gebiet der Erfahrung
einen praktischen Ursprung hat. Das bedeutet aber für Schleiermacher keineswegs, daß der rein erkennende Akt nur als ein derivates Phänomen von dem ursprünglich praktischen Denken, der „Umsicht“, möglich ist, die „sich in den Bewandtnisbezügen des zuhandenen Zeugzusammenhanges [bewegt.]“ 592 Vielmehr
geht Schleiermacher davon aus, daß unser Streben nach der reinen, vom praktischen Lebensinteresse unabhängigen Erkenntnis mit unserem Streben nach der
Utilität des Wissens gleichursprünglich ist: „Sind nun die Menschen, welche auf
dem Gebiete stehen, wo das Denken zum Behufe des Handelns benutzt wird, des
eigentlichen Bestrebens auf dem Gebiet des Wissens unfähig? Offenbar nicht; der
Unterschied wird nur der sein, daß hier das eine überwiegt, dort das andere; hier
das eine zurückgedrängt wird, dort das andere. Ein Mensch, dem eine dieser beiden Tätigkeiten fehlte, wäre eine geistige Mißgeburt.“593
Der Grund dafür, warum unser Streben nach der Objektivität mit unserem Streben nach der Utilität des Wissens gleichursprünglich sein muß, besteht für
Schleiermacher in der Gemeinschaftlichkeit des Denkens, die von der Heideggerschen Alltäglichkeit bzw. Öffentlichkeit grundverschieden ist. Schleiermacher
erkennt einerseits an, daß unser Umgang mit den Gegenständen einen praktischen
Ursprung hat, gerade wie Heidegger im umsichtigen Besorgen des Daseins den
Ursprung des gegenständlichen Wissens sieht: „Jeder Mensch ist von seiner Existenz an auf den Verkehr mit den Gegenständen, d. h. auf das praktische Gebiet
gewiesen.“ 594
Nun weist Schleiermacher darauf hin, daß das Denken, das um des praktischen
Zweckes willen vollzogen wird, zum „Gebiet des unvollkommenen Denkens“ gehört, „da wir das Denken nicht um seiner selbst willen vornehmen.“ 595
Daß unser Streben nach dem objektiven Wissen mit unserem Streben nach dem
Gebrauchswissen gleichursprünglich ist, bedeutet also, daß wir nicht nur zum
unvollständigen Denken (dem geschäftlichen Denken), sondern auch zum voll592
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 359.
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 104.
594
Ebd.
595
Ebd.
593
293
ständigen Denken (dem reinen Denken), das um des Denkens selbst willen vollzogen wird, fähig sind. Wie ist dies möglich? Nach Heidegger garantiert uns die
Möglichkeit des Überraschtwerdens keineswegs, daß wir nach der reinen, vom
praktischen Lebensinteresse unabhängigen Erkenntnis streben; wir finden uns
lediglich damit ab, daß wir nicht alles im Rahmen unseres Gebrauchswissens
erklären können. Das theoretische Interesse entsteht erst dadurch, daß die umwillende Lebensweise des Daseins der Praxis beraubt wird: Das Streben nach der
reinen Erkenntnis ist somit nur als ein Nachher des Gebrauchswissens möglich.
Dagegen will Schleiermacher geltend machen, daß gerade das gemeinschaftliche
Wesen des Denkens eine solche einseitige Fixierung des Denkens auf das praktische unmöglich macht. Wir haben schon gesehen, daß die Möglichkeit, das Gedachte als das vom Denken Verschiedene zu setzen, für Schleiermacher nicht in
der Beziehung meines Denkens zu dem realen Ding besteht, sondern in der meines Denkens zu dem des Anderen. Dieses dialogische Wesen des Denkens ist für
Schleiermacher der Grund dafür, daß wir, obwohl unser Umgang mit den Gegenständen einen praktischen Ursprung hat, notwendig das Streben nach der von
meinem Lebensinteresse unabhängigen Objektivität als ein gleichursprüngliches
Prinzip des Lebens neben dem Streben nach dem praktischen Wissen annehmen
müssen: „Es gibt Menschen, die sich aus dem Gebiet der gemeinsamen Tätigkeit
zurückziehen und überwiegend das Denken nur um seiner selbst willen treiben.
Bringt es nun ein solcher Mensch dahin, sich ganz allein damit zu beschäftigen?
Das ist unmöglich; er kann sein Leben nicht aus dem Gebiet der gemeinsamen
Tätigkeit ausscheiden; eine gänzliche Trennung beider Gebiete ist nicht denkbar.“ 596
Diese Einsicht, daß unser Streben nach dem vollkommenen Denken gleichursprünglich mit unserem Streben nach dem praktischen Wissen sein muß, ist keineswegs trivial. Wir haben schon im ersten Teil dieser Arbeit gesehen, daß die
Unheimlichkeit des Lebens für Heidegger die Funktion hat, das Dasein von seinem Verfallen an das Man und die besorgte Welt zur ursprünglichen Geschichtlichkeit des Lebens zurückholt. Solange aber Heidegger das alltägliche Sein des
596
Ebd., S. 105.
294
Da und das Verfallen des Daseins zur einzig ursprünglichen Quelle des Wissens
macht, unterminiert er zugleich die ontologische Möglichkeit der seinsgeschichtlichen Fundierung des Daseins selbst. Das Wissen hat nach Heidegger im praktischen Leben seinen Ursprung. Und gerade die um-etwas-willen verrichteten Besorgungen des Daseins sind der Grund dafür, daß die Faktizität der Lebensbewegung im Verfallen bzw. in der Ruinanz (nach dem Ausdruck des frühen Heideggers) liegen soll. Was passiert nun aber, wenn wir dem Ruf unseres Gewissens
letztlich folgen? Wie können wir ein seinsgeschichtliches Leben führen, nachdem
wir uns zum eigenen Sein entschlossen haben? Die ontologische Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden liefert hier keine Antwort. Denn dieser Unterschied bleibt bei jedem Bewußtsein vom Seienden gleich, da das Sein selbst nicht
nach dem Maß dieses oder jenes Seienden unterschiedlich verstanden werden
kann. Für ein seinsgeschichtliches Leben müssen wir den Sinn des konkret Seienden neu bestimmen, da allein im Bereich des Seienden eine geschichtliche Dimension des Seins möglich ist. Aber wie können wir den Sinn des konkret Seienden neu bestimmen, wenn das Wissen letztlich nur das Gebrauchswissen sein soll?
Wie können wir das konkret Seiende über die Grenze des am praktischen Zweck
orientierten Alltagslebens hinausführen, wenn wir kein Streben nach der reinen
Erkenntnis haben, in der das Seiende nicht bloß als Mittel zum praktischen
Zweck bestimmt wird?
Es wurde bereits erwähnt, daß Schleiermacher von einer phänomenologischen
Analyse des Lebens ausgeht, die mit der Heideggerschen Duplizität des eigentlichen und des uneigentlichen Selbst vergleichbar ist. Schleiermacher versteht die
Lebensbewegung des Daseins gerade wie Heidegger in der Duplizität des eigentlichen und des uneigentlichen Selbst: Während der Mensch im praktischen Leben
am Zweck orientiert ist, ist er in seiner liebenden Beziehung mit dem Seienden an
der reinen Erkenntnis orientiert, in der das Seiende so gezeigt werden soll, wie es
an sich ist. Gerade wie Heidegger in der Unheimlichkeit des Lebens den eigentlichen Grund für die Abkehr des Daseins von seinem faktisch verfallenen Alltagsleben findet, so betrachtet auch Schleiermacher die Liebe als eine Ursache für die
Unruhe des Lebens, die letztlich zu einer Kritik an der gewöhnlichen, am prakti-
295
schen Zweck orientierten Denkweise des alltäglichen Bewußtseins führen soll:
„Sowie er auf einen Gegenstand der Liebe stößt, gerät er in Unruhe über die
Richtigkeit seiner Vorstellungen und will höher und reiner überzeugt sein. So
erregt die Liebe zuerst den Skeptizismus, d. h. das Streben, uns nicht mit dem
traditionellen Resultate zu begnügen, sondern uns überzeugen zu wollen über alle
Vorstellungen von der Liebe aus.“ 597 Für Heidegger zeichnet sich die Alltäglichkeit, die die Daseinsorientierung am praktischen Leben charakterisiert, durch das
Fehlen der Unruhe aus: „Das Dasein kann an der Alltäglichkeit dumpf ‚leiden‘, in
ihrer Dumpfheit versinken, ihr in der Weise ausweichen, daß es für die Zerstreutheit in die Geschäfte neue Zerstreuung sucht.“ 598 Auch für Schleiermacher ist das
praktische Leben durch seine Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrhaftigkeit der
gegebenen Vorstellungen charakterisierbar: „Es kommt [auf dem praktischen
Gebiet] nun darauf an, die Reihe von Vorstellungen zu fixieren. Dabei kann es
sein, daß seine Vorstellungen von den Dingen falsch sind. Aber wenn sie nur in
gleichem Verhältnis stehen, und er weiß, daß er damit dies oder jenes bewirken
kann, so ist ihm diese Unwahrheit ganz gleich. Er läßt die Vorstellung so, wie er
sie bekommen hat, bis er auf Zweifel stößt.“ 599 Das Alltagsdasein läßt sich nach
Heidegger durch das Gerede bestimmen, so daß die öffentliche Meinung kritiklos
übernommen wird. In genau diesem Sinn führt Schleiermacher das praktische
Leben auf die Herrschaft der Tradition zurück, während er der Liebe die Möglichkeit zuweist, die Tradition ins Wanken zu bringen: „Es gibt ein Gebiet der
Praxis mit dem Charakter der ruhigen Herrschaft des Traditionellen, und ein Gebiet der Liebe mit dem Charakter der Unruhe, wo wir nach immer richtigeren
Verstellungen bis zu einer gewissen absoluten Höhe des Überzeugungsgefühls
streben.“ 600
Es gibt nun aber einen Unterschied zwischen Schleiermacher und Heidegger, der
von folgenreicher Bedeutung ist: Schleiermacher betrachtet das Sein des Menschen in seinem konkreten Wirkungsverhältnis mit dem anderen Sein, während
597
Schleiermacher, Dialektik, a.a.O, S. 105.
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 371.
599
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 104.
600
Ebd., S. 106.
598
296
Heideggers Begriff des In-der-Welt-seins nicht über die Grenze der abstrakten
Trennung des eigentlichen Selbst und des uneigentlichen Selbst hinausgeht. Diese
Differenz kann in zweierlei Hinsicht betrachtet werden. Erstens geht Heideggers
Begriff der Zuhandenheit von einer absoluten Priorität der zweckmäßigen Verrichtungen des Daseins aus, während die konkrete Wirkung des transzendenten
Seins auf das menschliche Sein für Schleiermacher gar nicht auf die zweckmäßigen Handlungen des Daseins im praktischen Leben reduzierbar ist. Hierin liegt m.
E. die wesentliche Leistung von Schleiermachers Offenbarungsbegriff. Meine
Wahrnehmung eines Seienden bringt ein Wissen hervor, in dem das Wesen dieses
Seienden offenbar wird. Dieses Wissen bietet zwar die Möglichkeit, für den praktischen Zweck gebraucht zu werden. Es ist an sich aber für Schleiermacher kein
Gebrauchswissen. Zweitens birgt Heideggers Dualismus der Eigentlichkeit und
der Uneigentlichkeit die Gefahr einer vollständigen Nivellierung des Anderen,
der zu einem bloß durchschnittlichen Menschen degradiert wird, während gerade
das Mitsein des Daseins mit dem Anderen für Schleiermacher die Möglichkeit
beinhaltet, sich vom praktischen Lebensinteresse frei zu machen und sich somit
auf die liebende Beziehung mit dem Anderen auszurichten. Gerade darin, daß das
Denken einen gemeinschaftlichen Ursprung hat, gründet für Schleiermacher die
fundamentale Seinsmöglichkeit des Daseins, sich zu einem der reinen Erkenntnis
dienenden, von jeglichem privaten Lebensinteresse unabhängigen Leben zu entschließen. Die Liebe im Sinne Schleiermachers betrifft in diesem Sinn nicht nur
das emotionale Leben des Menschen; sie repräsentiert zugleich die Möglichkeit
der Entschlossenheit zu einem der reinen Erkenntnis dienenden Leben, eine Liebe
zur echten Weisheit, die nichts anderes ist als Philosophie.
297
3. Der ontologische Ursprung der Frage nach dem Sein selbst
Nachdem dargestellt wurde, inwiefern sich Schleiermachers philosophischer Ansatz von Husserls idealistischer Phänomenologie unterscheidet, stellt sich die
Frage, wie das Sein selbst (Gott) von Schleiermacher konzipiert wird. In diesem
Kapitel soll die Bestimmung des ontologischen Ursprungs der Frage nach dem
Sein bei Schleiermacher und bei Heidegger behandelt werden. Dabei spielt die
Frage nach dem ‚An sich‘ eine zentrale Rolle. Sie ist für Schleiermacher nicht
bloß eine theoretische Frage, sondern ein Ausdruck des wirklichen Bewußtseinslebens. Denn unser Bewußtsein hat nach Schleiermacher das reine Denken als ein
konstitutives Strukturelement, fragt daher notwendig nach der wirklichen Seinsweise eines Seienden, die durch die gegenständliche Auffassung im praktischen
Leben eher verdeckt bleibt (3.1.). Für den Kontext dieser Arbeit ist hierbei besonders die Kritik des jungen Heideggers an Schleiermachers Begriff des ‚religiösen Abhängigkeitsgefühls‘ von Bedeutung. Betrachtet man Heideggers Kritik am
Abhängigkeitsgefühl im Hinblick auf Schleiermachers Untersuchung des Problems des Ansichseins, wird man deutlich erkennen können, daß Heideggers Kritik
am Abhängigkeitsgefühl auf einem unzureichenden Begriff des Daseins beruht;
das Dasein wird für Heidegger beinahe in allen Überlegungen als ein formalontologischer Strukturbegriff konzipiert, ohne daß dabei auf den konkreten Wirkungszusammenhang zwischen dem Dasein und dem anderen Sein hinreichend
Rücksicht genommen wird (3.2.). Zudem soll dafür argumentiert werden, daß
Heideggers Kehre in der Seinsfrage keinen radikalen Standpunktwechsel darstellt.
Zwar versucht Heidegger erst nach der Kehre, das Sein positiv zu bestimmen,
diese Versuche stehen aber, wie gezeigt werden soll, nicht unbedingt in einem
Widerspruch zu der Fundamentalontologie von Sein und Zeit (3.3.).
Im Zentrum dieses dritten Kapitels soll insgesamt zum einen die Frage stehen, ob
Schleiermacher und Heidegger ein vergleichbares Seinsverständnis haben und ob
Schleiermachers Gottesbegriff eine angemessene Antwort auf die ontologische
298
Frage nach dem Sein selbst darstellen kann. Durch einen Vergleich des Seinsbegriffs Heideggers nach der Kehre mit Schleiermachers Gottesbegriff wird deutlich,
daß Heidegger, auch wenn seine formal-ontologische Strukturanalyse des Daseins
für eine überzeugende Beantwortung der Frage nach dem Sein selbst unzureichend ist, nach der Kehre einen positiven Seinsbegriff erarbeitet hat, der mit dem
Gottesbegriff Schleiermachers in einem wichtigen Punkt übereinstimmt.
3.1. Die Frage nach dem Sein an sich
Schleiermachers Begriff der Liebe ist m. E. ein Beweis dafür, daß Schleiermacher,
auch wenn er die Verabsolutierung des Denkens bei zeitgenössischen Philosophen stark kritisiert, keineswegs ein Befürworter eines Irrationalismus ist. Der
gemeinschaftliche Ursprung des Denkens, in dem die Anerkennung des Anderen
als eines Selbstdenkenden notwendig impliziert ist, ermöglicht uns, den Gegenstand des Denkens als das Ansichseiende anzuerkennen. Dies bedeutet für Schleiermacher, daß der Gegenstand unseres Denkens nie auf das Gebrauchswissen
reduziert werden kann. Dabei betrachtet Schleiermacher die Beziehung zwischen
meinem Sein und dem anderen Seienden in einem konkreten Wirkungsverhältnis.
Es ist nicht so, daß wir zuerst einem passiven Gegenstand begegnen und danach
durch eine rein subjektive Urteilsbildung diesem Gegenstand irgendeinen Sinn
verschaffen. Vielmehr ist jedes Seiende ein auf mich wirkendes Sein. Jedes Seiende ist, solange es sich in einem konkreten Wirkungsverhältnis befindet, zugleich eine Provokation zum Denken, eine Ursache dafür, daß ich über die Grenze meiner selbstgenügsamen Daseinsführung im praktischen Leben zum rein erkennenden Leben hinausgehe.
Die Liebe ist m. E. als das zu verstehen, was Schleiermacher als die konkrete
Bedingung für unser frommes Abhängigkeitsgefühl darstellt, in dem ich mich als
ein Sein in der Welt oder in dem ganzen Sein betrachte. Gerade in dieser rein
erkennenden Beziehung der Liebe, in der ich nach der von meinem praktischen
Interesse unabhängigen Erkenntnis strebe, hört das Seiende auf, bloß ein Mittel
zu einem praktischen Zweck zu sein. Jedes Seiende ist nun nicht mehr ein Ge-
299
genstand, sondern ein an sich Seiendes, das genauso wie ich ein Teil des ganzen
Seins ist. Mit dem anderen Seienden stehe ich in einer höheren Einheit, die von
der Sinneinheit des praktischen Lebens grundverschieden ist.
Dadurch, daß Schleiermacher unser Streben nach reiner Erkenntnis zu einem
fundamentalen Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseins erhebt, stellt er
damit zugleich die konkrete Bedingung dafür dar, warum das fromme Abhängigkeitsgefühl als unser unmittelbares Selbstbewußtsein verstanden werden muß. Im
praktischen Leben betrachte ich mich als ein Handlungssubjekt, das dem Gegenstand, der ein Mittel zu meinem praktischen Zweck ist, eigenständig gegenübersteht. Ich bleibe vom Gegenstand getrennt, und ich kann auf dieser Ebene des
praktischen Bewußtseins kein frommes Abhängigkeitsgefühl haben. Erst dann,
wenn ich nach dem auf das Gebrauchswissen nicht reduzierbaren Ansichsein dieses Gegenstandes frage, kann ich mich als ein solches Sein verstehen, das mit
dem anderen Seienden gemeinsam zu einem ganzen Sein gehört. Darum vertritt
das Bewußtsein Gottes für Schleiermacher immer ein Moment, in dem ich mich
als gebunden an anderes Sein wiederfinde: „Das Bewußtsein Gottes haben wir
immer mit dem Bewußtsein der Gemeinschaftlichkeit alles Seins in unserem
Selbstbewußtsein, d. h. nicht anders als in dem Moment, wo unser Sein mit dem
Sein außer uns verknüpft ist. Nur in Beziehung auf den Komplexus des Denkens,
als der Totalität des Seins entsprechend, haben wir den transzendenten Grund
gesucht und könnten ihn auch nicht anders als in diesem Zusammenhang suchen.“ 601
Gerade hierin ist die Philosophie Schleiermachers der Existenzontologie Heideggers m. E. in einem wesentlichen Punkt überlegen. J. Brechtken weist in seiner
Analyse der geschichtlichen Transzendenz Heideggers auf die „Unzulänglichkeit
der Sorgestruktur“ für die Frage nach dem Sein selbst hin. 602 Das Sein sei bei
Heidegger in einer der transzendentalphilosophischen Reflexion vergleichbaren
Methode vom Dasein her als Ganzheit und Fundament eben dieses Daseins gedacht. Über die Qualität dieses ‚Seins‘ sei hier somit bereits vorentschieden. Es
601
602
Ebd., S. 301.
J. Brechtken, Geschichtliche Transzendenz bei Heidegger, Meisenheim am Glan 1972, S. 103.
300
sei das Sein des sorgend-besorgten Daseins, des Daseins unter der Herrschaft des
Willens. 603
Zwar greifen diese Behauptungen von Brechtkens zu kurz, um den Begriff der
Sorge bei Heidegger richtig zu verstehen. Denn die Sorge bedeutet für Heidegger
nicht nur ein Prinzip des praktischen Lebens, sondern sie ist auch eine fundamentale Seinsweise des Daseins, die auch das Leben des zum eigenen Sein entschlossenen Daseins begleiten muß: Die Herrschaft des Willens, wenn man darunter
eine Zweckorientierung im praktischen Leben versteht, kann nicht die Sorgestruktur des Daseins im ganzen Umfang vertreten. Aber wenn es um die Unzulänglichkeit der Sorgestruktur für die Frage nach dem Sein selbst geht, muß man
allerdings mit Brechtken anerkennen, daß die Sorge keine konkrete Bedingung
dafür sein kann, daß das Dasein über die Grenze des praktischen Lebens hinausgeht. Wie wir gesehen haben, erzeugt das Phänomen des Überraschtwerdens, das
die Grenze des Sinnzusammenhanges des Alltagslebens offenbar macht, nach
Heidegger lediglich Resignation. Wie kann sich dann das Dasein, das sich durch
die Selbstgenügsamkeit des durchschnittlichen Daseins charakterisieren läßt, zum
eigentlichen Sein entschließen? Die Sorge ist, auch wenn sie die Lebensführung
mit der Entschlossenheit zum eigenen Sein (Gewissen) betrifft, nur ein Modus
des Lebens. Wie sich das Dasein trotz seiner selbstgenügsamen Lebensführung
im praktischen Leben zum eigenen Sein entschließt, kann mit dem Begriff der
Sorge nicht überzeugend erklärt werden.
3.1.1. Das In-der-Welt-sein des Daseins und das transzendente Sein
F. Brecht macht in seinem Vergleich von Heidegger und Jaspers eine interessante
Bemerkung: „Heidegger könnte ungefähr als der Fichte der Existenzontologie,
Jaspers als ihr Schelling charakterisiert werden.“ 604 Was Brecht damit konkret
meint, ist, daß Jaspers das Problem der Transzendenz zum Thema seiner Existenzphilosophie mache, während es bei Heidegger unberücksichtigt bleibe: „Heidegger scheint von Gott, von allem transzendenten Ansichsein abzusehen. Das
603
604
Ebd.
F. Brecht, Heidegger und Jaspers, Wuppertal 1948, S. 7.
301
Rätsel des Daseins soll aus ihm selbst gelöst werden; die Betrachtung bleibt daseinsimmanent.“ 605 Gegenüber der Philosophie von Jaspers, die sich mit den drei
Themenbereichen „Weltorientierung, Existenzerhellung, Metaphysik“ auseinandersetzt, „ist die Philosophie Heideggers einheitliche ontologische Deduktion.“ 606
Heideggers Frage nach dem Sinn des Seins löst sich demnach in die Frage nach
der Seinsweise des Daseins auf. Während „Heideggers Philosophie auf allen ihren Stufen von der einen Frage nach dem Sinn von Sein bewegt ist“, ist „das
Sein“ für Jaspers „von vornherein in drei verschiedenen Grundweisen“ darzustellen, nämlich „als Weltsein, als Selbstsein und transzendentes Ansichsein.“ 607
Nach Brecht ist die „Existenz“ sowohl für Jaspers als auch für Heidegger „ein
Sich-zu-sich-selbst-Verhalten.“ 608 Nun wird die ‚Existenz‘ aber Brecht zufolge
bei Jaspers zugleich als ein Verhalten des Daseins zur Transzendenz verstanden,
während sie bei Heidegger als ein reines Verhältnis des Daseins zu sich selbst
aufgefaßt wird: „Existenz bei Jaspers ist, was sich zu sich selbst und darin zur
Transzendenz verhält; für Heidegger kann sich Existenz als Seinkönnen und
Möglichkeit wie auch als Seinmüssen und Geworfenheit nur im Verhältnis zu
sich selbst bewegen.“ 609
Diese Behauptung von Brecht ist allerdings eine zu einseitige Darstellung von
Heidegger. Es ist zwar richtig, daß Heidegger seine Frage nach dem Sein nicht
mit einer Frage nach dem transzendenten Ansichsein (Gott) verbinden möchte.
Das Sein ist dennoch auch für Heidegger primär als das transzendente Sein zu
verstehen, und das Sein des Daseins ist nicht ein Inbegriff des Seins, sondern nur
ein besonderes Beispiel dafür, daß das Sein nur im Sinn des transzendenten Seins
gedacht werden kann: „Das Sein als Grundthema der Philosophie ist keine Gattung eines Seienden, und doch betrifft es jedes Seiende. Seine ‚Universalität‘ ist
höher zu suchen. Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das transcendens
schlechthin. Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete,
605
Ebd., S. 15.
Ebd., S. 14.
607
Ebd.
608
Ebd., S. 16.
609
Ebd., S. 16 f.
606
302
sofern in ihr die Möglichkeit und die Notwendigkeit der radikalsten Individuation
liegt. Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas
transcendentalis.“ 610
Der Grund dafür, warum sich Heidegger in Sein und Zeit trotz seiner Anerkennung des transzendenten Seins auf die Analyse der Daseinsstruktur konzentriert,
besteht darin, daß er das Da des Daseins als Ermöglichungsbedingung der Transzendenz betrachtet. 611 Die Welt, in der ich mich als ein bei dem anderen Seienden
ausstehendes Sein (Ekstase) wiederfinde, ist nicht ohne das Da des Daseins möglich: „Die Welt ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern zeitigt sich in der
Zeitlichkeit. Sie ‚ist‘ mit dem Außer-sich der Extasen ‚da‘. Wenn kein Dasein
existiert, ist auch keine Welt ‚da‘.“ 612 Das Da des Daseins, das sich als ein in der
Zeit befindliches Sein wiederfinden muß, ist also die Bedingung dafür, daß das
Sein, das das transcendens schlechtin ist, zum Bewußtsein kommt. Nun ist das
transzendente Sein, das keine Gattung eines Seienden ist, nicht bloß ein Sein, das
außer mir ist. Das Wesensmerkmal des Daseins liegt in der Geworfenheit, das
Dasein muß sich ohne vorhergehende Möglichkeit der freien Wahl als ein sich in
der Welt Befindliches wiederfinden: „Mit der faktischen Existenz des Daseins
begegnet auch schon innerweltliches Seiendes. Daß dergleichen Seiendes mit
dem eigenen Da der Existenz entdeckt ist, steht nicht im Belieben des Daseins.
Nur was es jeweils, in welcher Richtung, wie weit und wie entdeckt und erschließt,
ist Sache seiner Freiheit, wenngleich immer in den Grenzen seiner Geworfenheit.“ 613 Als ein Sein, das notwendig die Struktur des In-der-Welt-seins hat, kann
das transzendente Sein nicht bloß das Sein außer sich haben. Das Dasein selbst
gehört zum Sein, ist ein Sich-im-Ganzen-befindliches-sein.
610
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 38.
Vgl. „Die Seinsfrage [Heideggers] fragt nicht nach der individuellen Auslegung des in der
Geschichte immer anders erscheinenden Lebens, sondern nach einer Universalstruktur, die das
Leben als Leben bestimmen und zugleich die Möglichkeit des philosophischen Erkennens selbst,
d. h. den transzendentalen Horizont der Seinsfrage zeigen muß.“ (D. Sargentis, Das differente
Selbst der Philosophie, a.a.O., S. 76 f.)
612
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 365.
613
Ebd., S. 366.
611
303
Heideggers Analyse der ausstehenden Seinsweise des Daseins (Ek-sistenz) kulminiert in dieser dynamischen Beziehung zwischen der Geworfenheit des Daseins
und der Transzendenz des Seins. Ohne die Welt, die sich erst durch das Da des
Daseins als da-seiend zeigt, kommt das transzendente Sein nicht zum Bewußtsein.
Aber die Transzendenz des Seins bedeutet nicht schlechthin ein außer mir Seiendes, sondern meint das Sein, das auch mein Sein umfaßt. Ich bin geworfen in eine
Welt, und nur in dieser Geworfenheit, die mein Sein als das In-sein bedeutet, habe ich das Bewußtsein des transzendenten Seins.
Das Sein des Daseins tritt nicht in eine ‚äußerliche Beziehung‘ mit dem Sein,
wenn man diesen Gedankengang Heideggers mit einem Begriff von Schleiermacher darstellt. Das Sein des Daseins kann nur in eine rein innerliche Beziehung
mit dem Sein treten, und gerade hierin liegt m. E. der Grund dafür, warum Heidegger trotz seiner Definition des Daseins als eines In-der-Welt-seins weiter nach
dem Sinn des Seins fragen muß. Die Welt vertritt freilich die Sachrelation zwischen den einzelnen Seienden, mit denen ich in eine äußerliche Beziehung trete.
Da aber jedes einzelne Seiende nur als ein In-sein möglich ist, kann die Welt, in
der alles Seiende miteinander in eine äußerliche Beziehung tritt, nicht das Sein
selbst vollständig zum Ausdruck bringen. Wir müssen zuerst nach dem Moment
fragen, in dem mein Dasein und die Welt eine Einheit bilden: „Die Bedeutsamkeitsbezüge, welche die Struktur der Welt bestimmen, sind […] kein Netzwerk
der Formen, das von einem weltlosen Subjekt einem Material übergestülpt wird.
Das faktische Dasein kommt vielmehr, ekstatisch sich und seine Welt in der Einheit des Da verstehend, aus diesen Horizonten zurück auf das in ihnen begegnende Seiende.“ 614 Diese Einheit von Welt und Dasein bedeutet für Heidegger, daß
man für die ontologische Strukturanalyse des In-der-Welt-seins als einer Grundverfassung des Daseins nach dem Sinn des Seins fragen muß. Die Welt setzt das
Da des Daseins notwendig voraus. Das In-der-Welt-sein kann daher nicht ein
ursprünglicher Sinn des Seins sein, da das Sein alles innerweltlich Seiende umfassen soll. Der ontologische Sinn des Seins muß geklärt werden, wenn man das
In-der-Welt-sein des Daseins und die Weltstruktur richtig verstehen will: „Durch
614
Ebd.
304
die Rückführung des In-der-Welt-seins auf die ekstatischhorizontale Einheit der
Zeitlichkeit ist die existenzial-ontologische Möglichkeit dieser Grundverfassung
des Daseins verständlich gemacht. Zugleich wird deutlich, daß die konkrete Ausarbeitung der Weltstruktur überhaupt und ihrer möglichen Abwandlungen nur in
Angriff genommen werden kann, wenn die Ontologie des möglichen innerweltlichen Seienden hinreichend sicher an einer geklärten Idee des Seins überhaupt
orientiert ist.“ 615
In diesem Gedankengang Heideggers kann man m. E. eine Nachwirkung von
Heideggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher in seiner frühen Freiburger
Zeit finden. Daß das transzendente Sein nicht mit der Dyadik von Subjekt und
Objekt angemessen ausgelegt werden kann, ist der Ausgangpunkt des Gefühlsbegriffs bei Schleiermacher. Ich erfahre mich in meinem Abhängigkeitsgefühl als
einen Teil des Ganzen. Das Abhängigkeitsgefühl ist das Selbstbewußtsein unseres Seins in der Welt (oder in dem ganzen Sein). Wir haben gesehen, daß das
transzendente Sein für Heidegger nur durch das Da des Daseins zum Bewußtsein
kommt, d. h. immer in der Verbindung mit dem Weltbewußtsein steht, in dem ich
mich als ein ausstehendes Sein-bei verstehe. Analog argumentiert auch Schleiermacher: „Wir haben kein anderes Interesse am transzendenten Grunde als immer
in Beziehung auf die Idee der Welt; und auch in unserem unmittelbaren Selbstbewußtsein ist er uns nie anders als in Verknüpfung mit demselben gegeben. In
der Trennung von der Welt wäre er etwas, was wir weder kennten noch wollten.
Jeder Versuch, den transzendenten Grund in solcher Verbindungslosigkeit mit der
Idee der Welt darzustellen, zerstört immer sich selbst.“ 616
3.1.2. Das Problem des Ansichseins
Heidegger-Kenner würden hier einwenden wollen, daß in diesem Vergleich vom
Abhängigkeitsgefühl und der Extase der Unterschied der jeweiligen Seinsbegriffe
bei Schleiermacher und Heidegger nicht genügend berücksichtigt werde. Das
fromme Abhängigkeitsgefühl setze eine Beziehung zwischen einem Seienden und
615
616
Ebd.
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 301.
305
dem ganzen Sein voraus, wobei das ganze Sein nun nichts anderes als das Ansichsein (Gottes) bedeuten könne. Dagegen meine Heidegger mit dem Sein selbst
nicht das Ansichsein Gottes. Daß die Struktur des Daseins das In-der-Welt-sein
sei, bedeute daher nicht, daß Heidegger ebenso wie Schleiermacher das alles endliche Seiende umfassende ganze Sein voraussetze, in dem sich auch das Sein des
Daseins befinde.
Dieser Einwand ist einerseits berechtigt, da der Abhängigkeitsbegriff tatsächlich
eine Beziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen voraussetzt. Allerdings übersieht dieser Einwand, daß das Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher als ein
fundamentales Moment des wirklichen Bewußtseinslebens konzipiert wird und
nicht bloß als eine Folge der philosophischen Reflexion verstanden wird.
Heidegger fragt nach dem Sein selbst, das im Unterschied zur traditionellen
Seinsauffassung nicht als das Ansichsein bezeichnet werden soll. Das Ansichsein
ist der Definition nach das Sein, das unabhängig von meinem Bewußtsein ist. Das
Sein im Heideggerschen Sinn ist dagegen nie unabhängig vom Seinsverständnis
des Daseins möglich: „Seiendes ist unabhängig von Erfahrung, Kenntnis und Erfassen, wodurch es erschlossen, entdeckt und bestimmt wird. Sein aber ‚ist‘ nur
im Verstehen des Seienden, zu dessen Sein so etwas wie Seinsverständnis gehört.“ 617 Diese Erklärung Heideggers scheint mir aber in zweierlei Hinsicht problematisch zu sein: 1. Gerät man hier nicht in einen naiven Objektivismus, wenn
man daran glaubt, daß das Seiende unabhängig von Erfahrung, Kenntnis und Erfassen ist? 2. Ist die These, daß das Sein ohne das Seinsverständnis des Daseins
nicht möglich ist, nicht ein Ergebnis der philosophischen Reflexion, das nicht der
wirklichen Lebensführung des Daseins entspricht? Es wurde bereits mehrfach
betont, daß für Schleiermacher das Gottesbewußtsein nicht isoliert von unserem
Weltbewußtsein vorkommen kann. Hieraus kann man nun schlußfolgern, daß
auch für Schleiermacher das Bewußtsein Gottes nicht ohne ein Verständnis des
Seienden möglich ist. Das bedeutet aber nicht, daß das Seiende auch ohne das
verstehende, auffassende, urteilende Bewußtsein möglich ist. Im Gegenteil: Das
Seiende setzt das Denken in raum-zeitlichen Gegensätzen voraus, das sich ange617
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 183.
306
sichts der Idee des ganzen Seins, das keinen solchen Gegensatz haben kann, als
widersprüchlich erweist. In unserem Gefühl unseres Seins im ganzen Sein können
wir also nicht davon ausgehen, daß das Seiende schlechthin ist.
Allerdings fragen wir in unserem Denken notwendig nach dem Ansichsein des
Seienden, wie wir anhand der Analyse von Schleiermachers Begriff der Liebe
gesehen haben. Aber das bedeutet nicht, daß Schleiermacher selbst dem einzelnen
Seienden den Status des real Seienden verleiht. Alles einzelne Seiende gehört für
Schleiermacher zum Phänomenon, das freilich nicht mit dem Nichts als einem
begrifflichen Korrelat des realen Seins verwechselt werden darf. D. h.: In der
natürlichen Lebensführung gehen wir stets davon aus, daß das Seiende unabhängig von unserem Bewußtsein existiert. Schleiermacher kommt nun nach einer
phänomenologischen Analyse des Selbstbewußtseins zu dem Ergebnis, daß unsere Vorstellung der voneinander getrennt seienden Dinge problematisch ist. Ferner
gibt sich Schleiermacher nicht damit zufrieden, die Relativität des dinglichen
Seins philosophisch aufzuweisen. Er versucht auch nachzuweisen, daß wir stets
mit einem Seinsverständnis leben, in dem das Sein nicht auf die Totalität alles
einzelnen Seienden reduzierbar ist. Gerade hierin liegt die primäre Bedeutung der
Religion für Schleiermacher.
Daß das Sein eigentlich das dynamische Sein ist, in dem die einzelnen Seienden
in einem konkreten Wirkungsverhältnis stehen, ist für Schleiermacher der Grund
dafür, warum die Rede von der Realität der dinglichen Objekte nicht einer strengen Untersuchung durch die Philosophie standhalten kann. 618 Das ganze Sein ist
eigentlich Seinsfülle, alle einzelnen Seienden stehen in einer absoluten Kontinuität der Kraft und Wirkung; nur deswegen, weil unser Denken vorwiegend am
Sehen orientiert ist, betrachten wir das Seinsverhältnis zwischen den Seienden
irrtümlicherweise als eine raum-zeitliche Relation zwischen den voneinander
getrennten Seienden, die in Wirklichkeit in einem wechselseitigen Wirkungsverhältnis miteinander verbunden sind. 619 Es ist zwar freilich absurd, wenn man nun
Heideggers Ontologie als einen naiven Objektivismus auffassen möchte. Heideg-
618
619
Vgl. G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 262 f.
Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 201 f.
307
ger gibt aber, anders als Schleiermacher, keine konkrete Erklärung dafür, wie wir
uns von unserem natürlichen Glauben an die Realität der Dinge kritisch distanzieren können. Heideggers Ontologie behandelt nicht explizit das Problem des ganzen Seins.
Heideggers Ontologie hat aber doch diese Dimension des ganzen Seins durchaus
zum Thema, auch wenn sie nicht deutlich zum Ausdruck kommt. 620 Heideggers
These, daß das Sein ohne das Seinsverständnis des Daseins nicht möglich sei, ist
nur eine philosophische Reflexion, die auch mit seiner eigenen Analyse der ekstatischen Seinsstruktur des Daseins nur schwer zu vereinbaren ist. Denn das Dasein
ist nach Heidegger zugleich ein In-sein, und dieses In-sein des Daseins darf nicht
auf das In-der-Welt-sein reduziert werden, auch nicht im Rahmen der Heideggerschen Analyse der ekstatischen Seinsstruktur des Daseins. Es wurde bereits gezeigt, daß für Heidegger das faktische Dasein ekstatisch sich und seine Welt in
der Einheit des Da versteht. Hieraus darf man zwei Thesen ableiten: 1. Das Dasein steht mit der Welt in einer ekstatischen Beziehung, in der das Dasein sein
eigenes Seins und die Welt als etwas Getrenntes vorfindet. Auch Schleiermacher
weist in der Glaubenslehre auf die Möglichkeit hin, daß sich die Menschen als
ein von der übrigen Welt abgesondertes Sein betrachten. 621 2. Das Dasein fühlt
sich aber doch in der Einheit mit der Welt, als ein In-sein, für das die Trennung
von den anderen Seienden aufgehoben ist. Dieses In-sein bedeutet für Heidegger
mehr als das In-der-Welt-sein.
In seiner Unterscheidung von dem In-der-Welt-sein und dem In-sein weist Heidegger darauf hin, daß das In-der-Welt-sein für die Definition des Daseins nicht
ausreichend ist: „Das In-der-Welt-sein ist zwar eine a priori notwendige Verfassung des Daseins, aber längst nicht ausreichend, um dessen Sein voll zu bestimmen.“ 622 Der Grund hierfür besteht vor allem darin, daß das In-der-Welt-sein die
Vorhandenheit voraussetzt, während das In-sein nicht auf die Beziehung zwischen dem Dasein und dem Vorhandenen zurückzuführen ist: „Das In-sein meint
620
Auch F. Brecht weist darauf hin, daß die Dimension des „transzendenten Ansichseins“ bei
Heidegger „nicht ausdrücklich [thematisiert wird].“ (F. Brecht, Heidegger und Jaspers, a.a.O., S.
15.)
621
Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 32 f.
622
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 53.
308
so wenig ein räumliches ‚Ineinander‘ Vorhandener, als ‚in‘ ursprünglich gar nicht
eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet […].“ 623 Heidegger betrachtet nun das In-sein als eine ontologische Basis für das In-der-Welt-sein: „Das
‚Sein bei‘ der Welt, in dem näher auszulegenden Sinne des Aufgehens in der
Welt, ist ein im In-sein fundiertes Existenzial.“ 624
Das In-sein weist, auch wenn Heidegger es primär als eine notwendige Seinsstruktur des Daseins verstehen will, auf die Dimension des transzendenten Ansichseins hin, zu dem das Dasein nie in ein äußerliches Verhältnis treten kann.
Dies kann besonders daraus erkannt werden, daß das In-sein nach Heidegger auch
beim intentionalen Gerichtetsein des Bewußtseins auf das ontisch Seiende notwendig vorauszusetzen ist: „Im Sichrichten auf … und Erfassen geht das Dasein
nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist,
sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ‚draußen‘ bei einem
begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der
inneren Sphäre, sondern auch in diesem ‚Draußen-sein‘ beim Gegenstand ist das
Dasein im rechtverstandenen Sinne ‚drinnen‘, d. h. es selbst ist es als In-derWelt-sein, das erkennt.“ 625 Hier kann man nun, auch wenn es bei Heidegger nicht
ausdrücklich formuliert wird, nicht umhin, einen Begriff des Ansichseins anzunehmen, zu dem mein Sein und alles andere Seiende gehören sollen. Denn wenn
ich mich trotz meines intentionalen Gerichtetseins auf das äußerliche Seiende
doch als ein In-sein verstehen muß, drückt das In-sein nicht nur eine Seinsstruktur
des Daseins aus, sondern auch die Zugehörigkeit des Daseins und des anderen
Seienden zu einem Ganzen. 626 Für die Definition dieses Ganzen gibt es m. E. nur
623
Ebd., S. 54.
Ebd.
625
Ebd., S. 62.
626
Im Begriff des In-seins, das sich von dem In-der-Welt-sein unterscheidet, liegt zugleich die
Grenze des intentionalen Bewußtseins, das als Bewußtsein von etwas auf etwas Seiendes bezogen
sein muß. D. Lange weist mit Recht darauf hin, daß Schleiermachers Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls nicht als Bewußtsein von etwas (intentionales Bewußtsein) verstanden
werden darf: „Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit wird nun [in der zweiten Auflage der
Glaubenslehre] in außerordentlich sorgfältig differenzierter Form mit dem Gottesbegriff in Verbindung gebracht. Schleiermacher setzt es [das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl] in der 2.
Auflage der Glaubenslehre – im Unterschied zur ersten – nicht einfach gleich mit dem Gefühl der
624
309
zwei Möglichkeiten: Das Ganze muß entweder als die Welt ausgelegt werden, in
der alles einzelne Seiende zueinander in ein äußerliches Verhältnis tritt; oder als
das Sein, dem eine äußerliche Trennung zwischen den Seienden nicht beizumessen ist. Mit anderen Worten muß man entweder dem einzelnen Seienden den Status des realen Seins geben, oder nach einem Begriff des Seins fragen, der alles
einzelne Seiende in sich schließt, ohne dabei bloß die Totalität alles endlichen
Seienden zu meinen. Dieses Sein darf allerdings nicht bloß als ein Ausdruck der
Seinsstruktur des Daseins verstanden werden, da sowohl das Dasein als auch das
Seiende nur als das faktisch Seiende in der Seinsstruktur des ‚Seins bei …‘, des
‚Seins in …‘ erscheinen können. Kann man nun dieses Sein, das die Zusammengehörigkeit alles Seienden zum gemeinsamen Ganzen zum Ausdruck bringt, anders bezeichnen als das transzendente Ansichsein?
In seiner ‚Einleitung zu: ‚Was ist Metaphysik?‘‘ formuliert Heidegger eine zentrale Frage seiner Philosophie: „Was bedeutet ‚Existenz‘ in S. u. Z.?“ 627 Heideggers Antwort lautet: Die Existenz bedeutet „eine Weise des Seins, und zwar das
Sein desjenigen Seienden, das offensteht für die Offenheit des Seins, in der es
steht, indem es sie aussteht.“ 628 Mit anderen Worten zeigt sich das Sein in seiner
Offenheit durch das Da des ‚eksistierenden‘ Daseins. Heidegger betont, daß das
Ausstehen des Daseins nicht das Hinausgehen des Bewußtseins aus der geistigen
Innenwelt zu einer Außenwelt bedeutet: „Das ekstatische Wesen der Existenz
Abhängigkeit von Gott, sondern drückt sich vorsichtig aus: ‚daß wir uns unsrer selbst […] als in
Beziehung mit Gott bewußt sind‘. Diese Differenzierung soll ein gewissermaßen weltliches Verständnis Gottes als eines Seienden, von dem man abhängig ist, verhindern – eine solche Abhängigkeit könnte allemal nur eine relative Abhängigkeit sein – und Gott als das von aller welthaften
Herkunft kategorial verschiedene und dennoch als dieses Ganz-andere-unserer-Selbst benennbare
‚Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins‘ begreifen lehren.“ (D. Lange, ‚Das
fromme Selbstbewußtsein‘, in: G. Meckenstock (Hrsg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, a.a.O., S. 191 f. Allerdings darf der Unterschied zwischen der ersten
und der zweiten Auflage der Glaubenslehre in der Definition des frommen Abhängigkeitsgefühls
nicht überbetont werden. Als Schleiermacher bereits in seinen Reden über die Religion auf die
Grenze der Metaphysik und der Ethik bei der Thematisierung des Absoluten hinwies, lag der
zentrale Ansatzpunkt darin, daß Gott nicht wie etwas in einer Relation mit dem anderen Sein
Seiendes gedacht werden kann. Daß Schleiermacher in der zweiten Auflage der Glaubenslehre
das fromme Abhängigkeitsgefühl anders formuliert, weist m. E. keineswegs auf die inhaltliche
Veränderung dieses Begriffs hin, sondern lediglich darauf, daß Schleiermacher eine stilistische
Verbesserung vorgenommen hat, um das Wesen des frommen Abhängigkeitsgefühls noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen.
627
M. Heidegger, ‚Einleitung zu: ,Was ist Metaphysik?‘‘, in: ders., Wegmarken, a.a.O., S. 374.
628
Ebd.
310
wird […] dann noch unzureichend verstanden, wenn man es nur als ‚Hinausstehen‘ vorstellt und das ‚Hinaus‘ als das ‚Weg von‘ dem Innern einer Immanenz
des Bewußtseins und des Geistes auffaßt; denn so verstanden, wäre die Existenz
immer noch von der ‚Subjektivität‘ und der ‚Substanz‘ her vorgestellt, während
doch das ‚Aus‘ als das Auseinander der Offenheit des Seins selbst zu denken
bleibt.“ 629 Heidegger formuliert nun eine paradoxe These für die Definition des
Ekstasis: „Die Stasis des Ekstatischen beruht, so seltsam es klingen mag, auf dem
Innestehen im ‚Aus‘ und ‚Da‘ der Unverborgenheit, als welche das Sein selbst
west.“ 630
Diese These kann m. E. existenzontologisch akzeptiert werden, da das In-derWelt-sein schon das Ausstehen des Daseins voraussetzt; das Dasein ist in bezug
auf die Welt das Innestehende und das Ausstehende zugleich. Wenn es aber um
die Rede der Unverborgenheit und der Anwesenheit des Seins geht, bleibt Heideggers Denken hier lediglich auf der Ebene der theoretischen Reflexion. Die
Einheit von Innestehen und Ausstehen in der Daseinsstruktur ist schon in der Definition des Daseins als eines In-der-Welt-seins notwendig impliziert. Wie das
Dasein über diese Einheit hinaus zu dem Bewußtsein des wesenden Seins selbst
gehen kann, bleibt hier aber unerörtert. Wie erwähnt, ist das Weltbewußtsein für
Schleiermacher mit der Möglichkeit verbunden, daß ein einzelnes Dasein sich der
ganzen äußerlichen Welt gegenüberstellt. Jeder hat also mit seinem Weltbewußtsein zugleich die Möglichkeit, sich als ein ausstehendes Dasein wahrzuhaben. Im
schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl aber, in dem wir uns als abhängig vom
ganzen Sein fühlen, ist diese Möglichkeit nicht mehr sichtbar. Nicht die Einheit
von Innestehen und Ausstehen charakterisiert hier das Dasein, sondern die reine
Inhärenz im ganzen Sein. Gerade hierin liegt der Grund dafür, warum es für
Schleiermacher unmöglich ist, daß wir mit dem ganzen Sein in eine äußerliche
Beziehung treten.
629
630
Ebd.
Ebd.
311
Dieser Sinn des ganzen Seins (als des transzendenten Ansichseins Gottes), 631
das Schleiermacher für seinen Begriff des religiösen Abhängigkeitsgefühls voraussetzt, ist m. E. auch für Heideggers Existenzontologie notwendig. Ja, Heidegger geht stillschweigend von diesem Begriff des ganzen Seins aus, auch wenn er
an keiner Stelle seinen eigenen Begriff des Seins explizit mit dem Begriff des
ganzen Seins (Sein als Seinsfülle, Dynamis) verbindet. 632 So läßt sich die Existenz nach Heidegger zugleich durch das Wort Inständigkeit charakterisieren, das
das Innestehen des Daseins in der Offenheit des Seins bezeichnen soll: „Das, was
im Namen ‚Existenz‘ zu denken ist, wenn das Wort innerhalb des Denkens gebraucht wird, das auf die Wahrheit des Seins zu und aus ihr her denkt, könnte das
Wort ‚Inständigkeit‘ am schönsten nennen. Nur müssen wir dann zumal das Innestehen in der Offenheit des Seins, das Austragen des Innestehens (Sorge) und
das Ausdauern im Äußersten (Sein zum Tode) zusammen und als das volle Wesen der Existenz denken.“ 633
631
F. Flückiger bezeichnet das ganze Sein im Sinn Schleiermachers, betrachtet in seiner absoluten
Einheit, als die All-Einheit, in der die Trennung zwischen dem erfahrenden Dasein und dem erfahrenen Gegenstandsein nicht mehr möglich ist: „Das All-Eine kann ja an sich gar nicht Gegestand sein, denn wenn es ein Bewußtsein außerhalb dem All-Einen gäbe, welchem dieses als
Gegenstand gegenübersteht, dann wäre dieses Bewußtsein ein Sein für sich, und das All-Eine
wäre gar nicht mehr die absolute Totalität.“ (F. Flückiger, Philosophie und Theologie bei Schleiermacher, Zollikon / Zürich 1947, S. 32.
632
Daß Heidegger auch die Frage nach Gott gestellt hat, der nicht als ein Seiendes verstanden
werden darf, zeigt B.-C. Han in seiner überzeugenden Darlegung des Heideggerschen Gottesbegriffes: „Heidegger räumt Gott eine Autorität ein: ‚Die Unaufhaltsamkeit dieses Geschickes müßte
dann dem Menschen einen Aufenthalt verweigern, der sich Ansprüchen entgegenhält, die den
Sterblichen ein Bilden und Wirken im Dienste des Gottes abverlangen.‘ Die Autorität, die den
Menschen zum Dienst verpflichtet, ist jedoch nicht die des Schöpfers. Wenn jener ‚Garten‘ das
Haus wäre, in dem der Mensch ‚wohnt‘, so hat Gott nicht das Haus gebaut, denn Gott als Schöpfer oder als Hausbauer entspringt der ‚Auslegung der Seiendheit als hergestellter und herstellender
Anwesenheit‘, die Heidegger radikal in Frage stellt.“ (B.-C. Han, Martin Heidegger, München
1999, S. 120.) In diesem Zusammenhang ist auch ein Text von E. Wolz-Gottwald (Transformation der Phänomenologie ) interessant, in dem, wie der Untertitel dieses Textes (Zur Mystik bei
Husserl und Heidegger) zeigt, die mystischen Elemente der Husserlschen Phänomenologie einerseits und die der Heideggerschen Ontologie andererseits dargestellt werden. Nach Wolz-Gottwald
stimmen die philosophische Mystik und das Denken Heideggers darin überein, „daß es sowohl der
Mystik wie auch Heidegger um die Erfahrung der Paradoxie der Einheit von Immanenz und
Transzendenz, von Zeitlichkeit und Ewigkeit geht.“ (E. Wolz-Gottwald, Transformation der Philosophie, Wien 1999, S. 375.)
633
M. Heidegger, ‚Einleitung zu: ,Was ist Metaphysik?‘‘, a.a.O., S. 374.
312
3.2. Die Schleiermacher-Kritik des frühen Heideggers und deren Bedeutung für
den Seinsbegriff Heideggers
Der Grund dafür, warum das ganze Sein im Sinne Schleiermachers bei Heidegger
nie explizit zum Ausdruck kommt, besteht m. E. darin, daß Heidegger das Dasein
nicht in einem konkreten Wirkungsverhältnis mit dem anderen Sein betrachtet:
Heideggers Ausgangspunkt besteht in der formal-ontologischen Analyse der
Seinsstruktur des Daseins.
Man kann bei Heideggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher in seiner frühen Freiburger Zeit deutlich erkennen, daß Heidegger Schleiermachers Religionsphilosophie vom Standpunkt der Husserlschen Strukturanalyse des Bewußtseins aus betrachtet. Hier behauptet Heidegger, daß Schleiermachers Begriff der
schlechthinnigen Abhängigkeit zu sehr Ausdruck einer seinstheoretisch objektivierenden Richtung sei – besonders in Bezug auf die Realität der Natur. 634 Heidegger meint damit, daß das Selbstbewußtsein bei Schleiermacher – wie ein Naturobjekt – auf die wechselseitige Bestimmung zwischen den Seienden bezogen
wird: „‚Die wechselnde Bestimmtheit unseres Selbst‘ besagt: unser lebendiges
Bewußtsein ist ein stetiges Sichfolgen und Sichdurchdringen von Situationen.
Auch so ist alles noch zu sehr naturtheoretisch charakterisiert.“ 635 Heidegger behauptet nun, daß gegenüber dieser naturtheoretischen Bestimmung des Selbstbewußtseins die phänomenologische Strukturanalyse des Aktbewußtseins bei Husserl ein großer Fortschritt sei: „Die Zusammenhänge sind vielmehr solche, daß
sie sich aus der Grundstruktur des Bewußtseins aufbauen. Hierfür ist der von
Husserl stark bezogene Begriff der Fundierung ein außerordentlicher Schritt vorwärts in die wahren Zusammenhänge. Situationen können sich ablösen rein auf
Grund der Bewußtseinsgehalte und deren immanenter Zusammenhänge, oder
motiviert durch bestimmte Stufung und Lebendigkeiten der spezifischen Aktcharaktere.“ 636
Allerdings ist Heideggers Schleiermacher-Kritik einseitig: Auch für Schleiermacher ist der fundierende Akt des Bewußtseins für das richtige Verständnis unseres
634
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 331.
Ebd.
636
Ebd.
635
313
wirklichen Bewußtseinslebens notwendig vorauszusetzen, wie wir bei der Betrachtung seiner These der letztlichen Identität von Begriff und Welt, von Denken
und Sein in unserem Selbstbewußtsein gesehen haben. 637 Man darf also m. E.
nicht davon ausgehen, daß das Wesen des Bewußtseins bei Schleiermacher, wie
Heidegger andeutet, naturtheoretisch bestimmt wäre. Ein Bewußtseinsakt ist für
Schleiermacher aber erst dann möglich, wenn sich unser Sein in einem konkreten
Wirkungsverhältnis mit dem anderen Sein befindet. Die Farben wie rot, blau,
gelb usw. sind zwar einerseits subjektive Gegebenheiten, die ohne Bewußtseinsakte nicht möglich sind. Es hängt aber andererseits schließlich auch nicht von
unserem Belieben ab, ob wir eine Rose als rot empfinden. Man kann davon ausgehen, daß wir mit unserer Einbildungskraft gewisse Objekt-Vorstellungen aus
einer chaotischen Mannigfaltigkeit der Empfindungen erzeugen. Niemand kann
aber bei der Wahrnehmung einen Ball in einen Würfel, ein glühendes Eisen in
einen kalten Stein verwandeln. Die Wahrnehmung hat daher für Schleiermacher
ein doppeltes Bezugssystem: Sie kommt immer als eine Einheit des transzendenten Seins und des Denkens in unserem Selbstbewußtsein zustande, die sich durch
die Beziehung zwischen einem rein aktiven Subjekt und einen rein passiven Objekt nicht angemessen charakterisieren läßt. Ohne unsere Fähigkeit, die Einwirkung des transzendenten Seins auf uns zu verarbeiten, ist keine Wahrnehmung
möglich.
Man muß vielmehr fragen: Gerät man mit einer Strukturanalyse des Aktbewußtseins, die nicht das konkrete Wirkungsverhältnis zwischen den Seienden berücksichtigt, nicht in einen subjektiven Idealismus? Heideggers Ontologie ist zwar
freilich kein subjektiver Idealismus. In der Überwindung des subjektiven Idealismus ist Heidegger, indem er die Seinsfrage als eine Frage nach der Transzendenz stellt, einen Schritt weiter gegangen als Husserl; dieser berücksichtigt nach
der Auffassung seiner kritischen Nachfolger wie Sartre und Merleau-Ponty das
transzendente Wesen des Seins nicht hinreichend. Zieht nun Heidegger aus dem
transzendenten Wesen des Seins die angemessenen Konsequenz? Nein, im Gegenteil: Heideggers Ontologie zeigt sich in gewisser Hinsicht als solipsistisch, da
637
Vgl. F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 153; ebd., S. 270 f.
314
die Beziehung zwischen dem Sein und dem Dasein einerseits und zwischen dem
Dasein und dem anderen Seienden andererseits nur vom Standpunkt der formalontologischen Analyse der Daseinsstruktur aus betrachtet wird. Hierin liegt der
Grund dafür, warum sich das Heideggersche Dasein zwischen zwei Extreme wie
das eigentliche Selbst und das uneigentliche, die Selbstgenügsamkeit des durchschnittlichen Alltagsdaseins und die Unruhe des zum eigenen Sein entschlossenen
Daseins hin und her bewegt. Mein Mitdasein spielt hier nur die Rolle eines Agenten, der mein Bewußtsein als ein Spiegelbild des Zeichensystems der am praktischen Zweck orientierten Alltagswelt konstituiert (Gerede); das Entschließen zum
eigenen Sein bleibt eine Sache des einzelnen Daseins. Hierin liegt der Grund dafür, daß Heidegger, worauf E. Tugendhat hinweist, bei der Beantwortung der
Seinsfrage letztlich unschlüssig und dunkel bleibt. Tugendhat behauptet mit
Recht, daß Heideggers Seinsfrage von einer schlechten Ambiguität belastet ist;
Heidegger fragt einerseits nach dem Sein selbst, das einen ontologischen Grund
bilden soll, während er andererseits nur verschiedene Sinndeutungen dieses Wortes gibt, ohne dabei eine klare Definition des Seins selbst zu geben: „Die Frage
nach dem Sinn des Seins soll [bei Heidegger] keineswegs nur als Frage nach dem
Sinn dieses Wortes verstanden werden, sondern als Frage nach dem Sinn des
Seins selbst. Was das aber heißen soll, nach dem Sinn des Seins zu fragen und
was dann überhaupt ‚Sein‘ heißen soll, wenn die Frage nicht als Frage nach dem
Sinn des Wortes ‚Sein‘ verstanden wird, bleibt dunkel.“ 638 Es gibt nach Tugendhat die „für Heidegger so typischen Verschiebungen, bei denen einem durch eine
harmlose erste Formulierung suggeriert wird, man verstehe etwas, was dann in
der zweiten Formulierung nicht mehr so gemeint wird, ohne daß uns gesagt wird,
wovon denn nun die Rede ist.“ 639
Es ist allerdings m. E. übertriebene Spitzfindigkeit von Tugendhat, wenn er die
Existenz im Sinn Heideggers (Zu-sein) von der Existenz im traditionellen Sinn
(Vorhandenheit) unterscheidet und behauptet: „Heidegger hätte sich viel klarer
verständlich gemacht, wenn er einen allgemeinen Gattungsbegriff Existenz zuge638
E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 167.
E. Tugendhat, ‚Heideggers Seinsfrage‘, in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.
1992, S. 109.
639
315
standen hätte und dann unterschieden hätte zwischen Existenz im Sinn von
Vorhandenheit und Existenz im Sinn von Zu-Sein.“ 640 Der Grund dafür, warum
Heidegger „das nicht tat“, besteht Tugendhat zufolge darin, daß „das Zugeständnis einer Gattungseinheit Heideggers Tendenz zur totalen Entgegensetzung seiner
Konzeption zu der traditionellen widersprochen hätte.“ 641 Es ist allerdings richtig,
daß Heidegger zu einer vollständigen Entgegensetzung seiner Philosophie zur
herkömmlichen Philosophie neigt, wie man aus seinem bekannten Anspruch, die
abendländische Philosophie gründlich erneuert zu haben, gut erkennen kann.
Wenn es aber um die Entgegensetzung des Heideggerschen und des traditionellen
Existenzbegriffs geht, ist Tugendhats Kritik an Heidegger m. E. problematisch.
Denn das Sein selbst ist auch nach Heidegger nicht ohne das Bewußtsein vom
Seienden möglich, da das Sein erst durch das Da des Daseins sich öffnet. Nun ist
das Sein dieses Seienden für Heidegger nicht einfach durch die Vorhandenheit zu
charakterisieren, da dieses Seiende ein Seinsverständnis hat, in dem es sein Sein
zugleich als eine Einheit von Ausstehen und Innestehen versteht. Tugendhat zeigt
kein Verständnis für das eigentliche Anliegen der Existentontologie Heideggers,
er kehrt daher Heideggers Argumentation um und behauptet, auch Heideggers
Begriff der Existenz setze die Idee der Vorhandenheit voraus: „Wäre ein Mensch
nicht etwas Vorhandenes, Konstatierbares, so würde er überhaupt nicht existieren.“ 642 Diese Argumentation ist gegenstandlos. Denn die ek-sistierende Seinsweise des Daseins setzt auch für Heidegger ohne Zweifel das Bewußtsein des
Seienden voraus.
Tugendhat weist aber mit Recht auf die grundsätzliche Unklarheit der Seinsfrage
bei Heidegger hin. Heidegger fragt nicht nur nach dem Sinn des Wortes sein,
sondern auch nach dem Sinn des Seins selbst. Und gerade in dieser entscheidenden Frage nach dem Sinn des Seins selbst bleibt Heideggers Ontologie unschlüssig.
Heideggers Kritik am Abhängigkeitsgefühl darf nicht ohne weiteres als ein Zeichen dafür verstanden werden, daß Heidegger die Seinsfrage noch gründlicher
640
Ebd., S. 173.
Ebd.
642
Ebd., S. 185.
641
316
behandelt habe als Schleiermacher. Im Gegenteil: Gerade deswegen, weil bei
Heidegger der Begriff der Wirkung fehlt, scheitert seine Ontologie daran, einen
positiven Begriff des Seins selbst herauszuarbeiten; gerade deswegen, weil Heidegger fast keinen positiven Begriff des Seins selbst hat, scheitert seine Ontologie
daran, den konkreten Grund für die Entschlossenheit des Daseins zum eigenen
Sein darzustellen. Ferner darf man nicht davon ausgehen, daß Schleiermacher
keine (formal-ontologische) Analyse der Seinsstruktur des Daseins leiste. Denn
das Abhängigkeitsgefühl ist ein Bewußtsein unseres Seins in der Welt bzw. in
dem ganzen Sein, das nicht ohne das Bewußtsein unserer ontologischen Daseinsstruktur möglich ist. Diese grundwesentliche Struktur des Daseins wird nun bei
Schleiermacher mit der Analyse des Wirkungsverhältnisses zwischen den Seienden ergänzt. Diese Dimension, die bei Heidegger einfach fehlt, ist von entscheidender Bedeutung. Denn gerade im konkreten Wirkungsverhältnis zeigt sich jedes Seiende nicht als ein isoliertes Seiendes. Gerade hieraus wird es möglich, die
Identifikation des ganzen Seins mit der raum-zeitlichen Relation der voneinander
getrennten Dinge (Welt) kritisch zu überwinden. Allerdings: Das Sein ist in diesem Sinn das transzendente Ansichsein. Aber wenn man nach dem Sinn des Seins
selbst fragen will, darf man auf diese Dimension des transzendenten Ansichseins
nicht verzichten.
3.3. Heideggers Definition des Seins nach der Kehre und deren Ursprung
Schleiermachers Seinsbegriff bleibt aber bei Heidegger nicht ohne Wirkung, auch
wenn er nicht ausdrücklich thematisiert wird. Dafür gibt es zwei Beispiele bei den
verschiedenen Definitionen des Seins, die Heidegger nach der Kehre zugrunde
legt:
Erstens charakterisiert Heidegger das Sein als das Einfache.
Zweitens beschreibt Heidegger das Sein wie eine Fülle. Dies wird durch die
Verschiebung der Bedeutung des Wortes ‚Lichtung‘ deutlich: Die Lichtung, die in
Sein und Zeit im Sinn des Erleuchtens gebraucht wird, hat nach der Kehre nun
317
den Sinn des Raumschaffens, was man anhand des Beispiels der Waldlichtung
veranschaulichen kann. 643
Ferner darf man nicht annehmen, daß Heideggers Seinsbegriff nach der Kehre
im Widerspruch mit der Existenzontologie in Sein und Zeit stünde. Eine solche
Behauptung entspricht nicht der wirklichen Entwicklung des Heideggerschen
Denkens. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß Heideggers Seinsbegriff nach
der Kehre auch der existenzontologischen Rede über das Sein selbst in Sein und
Zeit zugrunde liegt.
3.3.1. Das Sein als das Einfache
In seiner Antwort auf einen Brief des Pariser Philosophen J. Beaufret, in dem die
Frage nach dem Sinn des Wortes Humanismus im Zentrum steht, lehnt Heidegger
für die Definition des Seinsdenkens zwei Konzeptionen ab: zum einen den Humanismus (im Sinne Sartres) und zum anderen die Verwendung des Begriffs
‚Gott‘ für das Sein selbst.
643
In dieser Definition des Seins als einer (Seins)fülle liegt für Schleiermacher, wie schon erwähnt, der Grund dafür, warum die Definition des ganzen Seins als einer Welt (also als einer
raum-zeitlichen Relation zwischen den von einander gesonderten Seienden), philosophisch unzulänglich ist. Das Sein als Seinsfülle ist also eine notwendige Bedingung dafür, daß das Sein als
das Einfache bzw. als das Eine verstanden wird. Im Verlauf dieses Kapitels wird deutlich werden,
daß auch Heidegger nach seiner Kehre das Sein gelegentlich wie eine Seinsfülle beschreibt. Aber
weil seine Sprache hierbei metaphorisch bleibt und Heidegger daher keine logische Verbindung
zwischen den beiden Definitionen des Seins (Sein als das Einfache und das Sein als die Seinsfülle)
herstellen kann, ist es für Heidegger schwierig an seiner ontologischen Unterscheidung zwischen
dem Sein und dem Seienden festzuhalten. In seiner kritischen Analyse des Seinsbegriffs bei Heidegger macht H. Givsan deutlich, daß der späte Heidegger eigentlich gar nicht über ein begriffliches Instrumentarium verfügt, mit dem er das Sein vom Seienden scharf unterscheiden könnte.
Besonders im 15. Kapitel seiner Abhandlung zeigt er überzeugend, daß es Heidegger mit seiner
Definition des Seins als des Einen keineswegs gelungen ist, einen prinzipiellen Unterschied zwischen seiner Philosophie und der traditionellen Metaphysik deutlich zu machen. Allerdings erkennt Givsan nicht die logische Notwendigkeit, daß die Definition des Seins als des Einen die
Definition des Seins als einer Seinsfülle zur Folge hat. Daher beginnt er seine Kritik an Heidegger
mit dem Vorurteil, daß Heideggers Rede von der ontologischen Differenz eigentlich keinen Sinn
hätte: „Freilich wird Heidegger jetzt [nach der Definition des Seins als des Anwesenden] sagen:
eben, denn ‚Sein‘ ist ‚Seiendes‘, und zwar nur ‚Sein‘ ist ‚Seiendes‘. Dann ist, wie gesagt, die
Rede von der ‚ontologischen Differenz‘ ein Schwindel. Oder das ‚ist‘ kann ‚nur vom Sein‘ gesagt
werden, und zwar in dem Sinne, daß es nicht vom ‚Seienden‘ gesagt werden kann, dann mißbraucht Heidegger das Wort ‚Seiendes‘.“ (H. Givsan, Heidegger – das Denken der Inhumanität,
Würzburg 1998, S. 394 f.)
318
Heidegger unterscheidet seinen Begriff der Existenz von dem der existentia im
herkömmlichen Sinn. Der existenzontologische Sinn der Existenz bedeutet nach
Heidegger das Hinausstehen des Daseins in die Wahrheit des Seins selbst, während die existentia im herkömmlichen Sinn primär als Wirklichkeit verstanden
wird, die als ein begrifflicher Gegensatz der Möglichkeit der Ideen ebenfalls an
die metaphysische Ableitung des Seins aus dem Seienden gebunden sei: „Die Eksistenz, ekstatisch gedacht, deckt sich weder inhaltlich noch der Form nach mit
der existentia. Ek-sistenz bedeutet inhaltlich Hin-aus-stehen in die Wahrheit des
Seins. Existentia (existence) meint dagegen actualitas, Wirklichkeit im Unterschied zur bloßen Möglichkeit als Idee. Ek-sistenz nennt die Bestimmung dessen,
was der Mensch im Geschick der Wahrheit ist. Existentia bleibt der Name für die
Verwirklichung dessen, was etwas, in seiner Idee erscheinend, ist.“ 644 Heidegger
lehnt nun den Sartreschen Humanismus ab, da Sartre den Begriff der Existenz
noch zu sehr im Rahmen des begrifflichen Gegensatzes zwischen Wesen und
Existenz verstehe: „Sartre spricht dagegen den Grundsatz des Existentialismus so
aus: die Existenz geht der Essenz voran. Er nimmt dabei existentia und essentia
im Sinne der Metaphysik, die seit Plato sagt: die essentia geht der existentia voraus. Sartre kehrt diesen Satz um. Aber die Umkehrung eines metaphysischen Satzes bleibt ein metaphysischer Satz.“ 645
Heidegger lehnt nun auch die Idee Gottes für seine Existenzontologie ab, da
Gott keine adäquate Bezeichnung für den ursprünglichen Sinn des Seins ist: „Erst
aus der Wahrheit des Seins läßt sich das Wesen des Heiligen denken. Erst aus
dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von Gottheit zu denken. Erst im Lichte
des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt werden, was das Wort
‚Gott‘ nennen soll.“ 646 Heidegger zufolge darf „das Denken, das in die Wahrheit
des Seins als das Denkende vorweist“, nicht mit dem theistischen Denken verwechselt werden: „Theistisch kann es so wenig sein wie atheistisch.“ 647 Heidegger will nun einen dritten Weg des Denkens vorschlagen, der weder theististisch
644
M. Heidegger, ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O., S. 326.
Ebd., S. 328.
646
Ebd., S. 351.
647
Ebd., S. 352.
645
319
noch humanistisch im Sinne Sartres ist: „Die Wahrheit des Seins denken, heißt
zugleich: die humanitas des homo humanus denken. Es gilt die humanitas zu
diensten der Wahrheit des Seins, aber ohne den Humanismus im metaphysischen
Sinne.“ 648 Diese Aussage darf nicht mit einer anti-humanistischen Erklärung
verwechselt werden, durch die der Wert der Humanität verloren gehe. Im Gegenteil: Das Seinsdenken bedeutet für Heidegger die Möglichkeit, daß sich das Dasein aus der am praktischen Zweck orientierten Lebensweise im Alltag, deren
Verabsolutierung uns im extremen Fall zu einem blinden Pragmatismus oder Biologismus führen kann, kritisch distanzieren kann. Das Seinsdenken läßt sich nach
Heidegger nicht durch den Aufstieg zu höheren Ideen charakterisieren, sondern
eher durch den Abstieg zum Leben des alltäglichen Durchschnittsmenschen, mit
dem die Armut der praktischen Lebensführung anerkannt werden soll: „Das Denken überwindet die Metaphysik nicht, indem es sie, noch höher hinaufsteigend,
übersteigt und irgendwohin aufhebt, sondern indem es zurücksteigt in die Nähe
des Nächsten. Der Abstieg ist, zumal dort, wo der Mensch sich in die Subjektivität verstiegen hat, schwieriger und gefährlicher als der Aufstieg. Der Abstieg
führt in die Armut der Ek-sistenz des homo humanus. In der Ek-sistenz wird der
Bezirk des homo animalis der Metaphysik verlassen. Die Herrschaft dieses Bezirkes ist der mittelbare und weitzurückreichende Grund für die Verblendung und
Willkür dessen, was man als Biologismus bezeichnet, aber auch dessen, was man
unter dem Titel Pragmatismus kennt.“ 649
Wenn Heidegger die Idee Gottes für seine Existenzontologie ablehnt, dann meint
er zugleich, daß die Idee Gottes eine ‚aufsteigende Tendenz‘ des geistigen Lebens
voraussetzt. Gott vertritt nicht die Wahrheit des Seins selbst, sondern eine höhere
Idee, die außerdem eine dreistufige Steigerung der geistigen Tätigkeit voraussetzt:
Man muß zuvor, wie schon erwähnt, vor dem Hintergrund der Wahrheit des Seins
das Wesen des Heiligen denken, und dann vor dem Hintergrund des Heiligen das
Wesen der Gottheit. Was Gott ist, kann dann nur aus dem Wesen der Gottheit her
verstanden werden.
648
649
Ebd.
Ebd.
320
Heidegger strebt nach der Wahrheit des Seins selbst, die nicht erst nach einem
geistigen Aufstieg des Daseins möglich ist, sondern sich auch in der niedrigsten
Stufe des bloß am praktischen Zweck orientierten Daseins zeigt. Das bedeutet nun
m. E., daß die Wahrheit des Seins für Heidegger zum fundamentalen Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseinslebens gehört: Die Idee Gottes kann nur
von denjenigen erkannt werden, die sich für ein höheres Leben des philosophischen Geistes entschieden haben; aber die Wahrheit des Seins charakterisiert das
Sein des Daseins selbst, das Dasein ist seinem Wesen nach ein solches Seiendes,
das mit der Wahrheit des Seins lebt. Nun besteht die Wahrheit des Seins für Heidegger darin, daß das Sein das Einfache ist: „Das Befremdliche an diesem Denken des Seins ist das Einfache.“ 650 Diese Wahrheit des Seins, daß das Sein das
Einfache ist, ist nach Heidegger eben deswegen für uns befremdend, weil wir den
Wert unseres Denkens oder Handelns gewöhnlich je nach der besonderen theoretischen oder praktischen Anstrengung bemessen, die für das Ergebnis nötig war:
„Gerade dieses [das Einfache des Seins] hält uns von ihm ab. Denn wir suchen
das Denken, das unter dem Namen ‚Philosophie‘ sein weltgeschichtliches Ansehen hat, in der Gestalt des Ungewöhnlichen, das nur Eingeweihten zugänglich ist.
Wir stellen uns das Denken zugleich nach der Art des wissenschaftlichen Erkennens und seiner Forschungsunternehmen vor. Wir messen das Tun an den eindrucksvollen und erfolgreichen Leistungen der Praxis. Aber das Tun des Denkens
ist weder theoretisch noch praktisch, noch ist es die Verkoppelung beider Verhaltungsweisen.“ 651 Mit anderen Worten beginnt das Denken des Seins gerade in
dem Moment, wo der thetische Akt des Bewußtseins aufhört: Das Sein ist das
Einfache, während der thetische Akt des Bewußtseins Differenzierung des einzelnen Seienden bedeutet. Wir haben im ersten Teil gesehen, daß Heidegger gerade
ein solches Moment des Bewußtseins, in dem der thetische Akt des Bewußtseins
aufhört, in seiner Auslegung der zweiten Rede über Religion von Schleiermacher
eine phänomenologische Epoché nennt. 652 Nicht von ungefähr stellt also Heidegger das Denken des Seins dem wissenschaftlichen Denken einerseits und der Pra650
Ebd., S. 362.
Ebd.
652
Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 319 ff.
651
321
xis andererseits gegenüber. Gerade wie das wahrhaftige religiöse Gottesbewußtsein für Schleiermacher nicht zum Gegenstand des theoretischen Denkens und
des praktischen Handelns gemacht werden kann, so möchte auch Heidegger mit
seiner Gleichsetzung des Seins mit dem Einfachen deutlich machen, daß wir zu
einem angemessenen Verständnis des Seins weder durch das Errichten von komplexen Theorien noch durch die besonderen Leistungen des praktischen Handelns
gelangen können. Erst dadurch, daß wir die befremdliche Einfachheit des Seins
akzeptieren, können wir mit dem Seinsdenken beginnen. 653 Erst hierdurch können wir ein Leben führen, das Heidegger durch die Entschlossenheit zum eigenen
Sein charakterisiert.
Hieraus kann man nun deutlich erkennen: Was Heidegger Gott nennt, ist nicht
identisch mit dem, was Schleiermacher Gott nennt. Man muß dennoch davon
ausgehen, daß Heideggers Denken auch in seinem ‚Brief über den Humanismus‘,
in dem die erste eigene Stellungnahme Heideggers über die Bedeutung der Kehre
seiner Philosophie enthalten ist, weiter unter dem Einfluß Schleiermachers bleibt.
3.3.2. Heideggers eigene Stellungsnahme zu seiner ‚Kehre‘
Heidegger behauptet, daß seine Kehre überhaupt keinen Standpunktwechsel bedeute: „Diese Kehre ist nicht eine Änderung des Standpunktes von ‚Sein und
Zeit‘, sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Dimension, aus der ‚Sein und Zeit‘ erfahren ist, und zwar erfahren in der Grunderfahrung der Seinsvergessenheit.“ 654 Die Kehre von Sein und Zeit zu Zeit und Sein
653
Damit ist allerdings gemeint, daß Begriffe wie ‚Gott‘ und das ‚Sein selbst‘ nicht so zu verstehen wären, als ob jeder je nach seiner persönlichen Erfahrung etwas anderes damit meint. Nun
besteht die Gemeinsamkeit zwischen Schleiermacher und Heidegger darin, daß diese absolute
Identität des Seins bzw. Gottes als ein konstitutives Element des wirklichen Bewußtseinslebens
verstanden und folglich das Dasein als ein solches Sein definiert wird, das sich auf das Sein selbst
(bzw. auf Gott), das unabhängig von seiner individuellen Erfahrung absolut allgemein und identisch bleiben soll, ausrichtet. Vgl. „The God-consciousness is presupposed as an ontologically
given element in all men because it cannat be explained by any of the multifarious particularized
instances of Dasein (actual-self-conciousness). It must rather be reckoned as the universally singular determination of the person’s essential being (Wesen) as such, that is only ‘represented‘ into the actual process of self-conciousness as the feeling of absolute dependence.” (R.
Vance, Sin and Self-conciousness in the Thought of Friedrich Schleiermacher, Lewiston, New
York: The Edwin Mellen Press 1994, S. 52.)
654
M. Heidegger, ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O., S. 328.
322
wird bekanntlich in Heideggers Vortrag ‚Vom Wesen der Wahrheit‘, der 1930
entstand, aber erst 1943 gedruckt wurde, zum ersten Mal vollzogen. Nach der
eigenen Aussage von Heidegger steht das Denken nach der Kehre in einer durchgehenden Kontinuität mit dem Denken vor der Kehre.
Dies bedeutet nun m. E., daß die Spannung zwischen Alltagsbewußtsein und
Seinsbewußtsein (Sorge und Angst) in Sein und Zeit für Heideggers Existenzontologie auch nach der Kehre weiterhin Gültigkeit hat. 655 Auf jeden Fall kann man
anhand der Behauptung von Heidegger, das Befremdliche an dem Seinsdenken
sei das Einfache, erkennen, daß sich Heideggers Denken weiterhin auf den Gegensatz zwischen dem eigentlichen Selbst und dem uneigentlichen Selbst bezieht,
der in Sein und Zeit ein zentrales Thema war. Allerdings wirken Heideggers Analysen des Seins aus der Zeit nach dem ,Brief über den ‚Humanismus‘‘ primär auf
diejenigen befremdlich, die die gewöhnlichen Maßstäbe für Denken und Handeln
anlegen und das ‚Einfache‘ daher gering schätzen. Diese Bewertungen sind aber
für Heidegger ein Zeichen für das Leben des uneigentlichen Selbst. Heidegger
behauptet daher, daß die Philosophie, die sich als eine theoretische Wissenschaft
versteht, bloß eine Kompensation für den Verlust des ursprünglichen Seinsdenkens darstellt: „Wenn das Denken zu Ende geht, indem es aus seinem Element
weicht, ersetzt es diesen Verlust dadurch, daß es sich als τέχνη, als Instrument der
Ausbildung und darum als Schulbildung und später als Kulturbetrieb eine Gel655
Auch H. Declève macht in einer zusammenfassenden Darstellung des Aufsatzes ‚Vom Wesen
des Grundes‘, der bekanntlich die Kehre im Heideggerschen Denken markiert, deutlich, daß das
Bewußtsein des Daseins von der Nichtigkeit des eigenen Seins die Voraussetzung der Kehre ist:
„La méditation sur l’essence du fondement en vient ainsi à nommer la différence ontologique. Le
‚ne pas‘ entre l’être et l’étant est cet abîme sans fond du Dasein, cette liberté vouée au monde
dans laquelle l’étant trouve la liberté de se manifester comme différent de l’ être. Mais en même
temps – l’expression devant se prendre ici en toute rigueur – la non-essence du Dasein annonce le
rien de l’être: au terme de Vom Wesen des Grundes, nous sommes parvenus au point où est en
train de s’opérer le revirement de la pensée, die Kehre.“ (H. Declève, Heidegger et Kant, La
Haye 1970, S. 306.) An einer anderen Stelle macht Declève ebenfalls deutlich, daß dieses Bewußtsein des Daseins von der Nichtigkeit des eigenen Seins auch nach der Kehre weiterhin –
genauso wie in Sein und Zeit – als Angst zu bezeichnen ist: „D’une part en effet c’est dans
l’angoisse que nous est donnée authentiquement la temporalité dévoilée et cachée par
l’imagination transcendentale, c-à-d la différence ontologique; et d’autre part se tenir dans
l’angoisse, c’est se tenir dans le rien de l’être. L’angoisse rend ainsi manifeste que la différence
ontologique et le rien sont le même. Et l’on pourait estimer que Kant et le problème de la metaphysique s’était efforcé de penser ce même que Vom Wesen des Grundes et Was ist Metaphysik?
tentaient de rendre plus proche sans y parvenir, ce même qui attend depuis que les gens de sens
(die Besinnlichen) y pénètrent et le pensent.“ (Ebd., S. 300.)
323
tung verschafft. Die Philosophie wird allgemach zu einer Technik des Erklärens
aus obersten Ursachen. Man denkt nicht mehr, sondern man beschäftigt sich mit
der ‚Philosophie.“ 656 Nach Heidegger weichen wir mit einer solchen Philosophie
gar nicht von dem am praktischen Zweck orientierten Alltagsleben ab, sondern
leiden weiter unter der „Diktatur der Öffentlichkeit“.657 Mit der Philosophie als
einer theoretischen Beschäftigung leben wir weiter das Leben eines uneigentlichen Selbst, des Man.
Es kann folglich festgehalten werden, daß das seinsgeschichtliche Denken nach
der Kehre nicht in einem Widerspruch mit Heideggers Angstanalyse in Sein und
Zeit steht. Ja, die Geschichtlichkeit bzw. das Historische ist bei Heidegger stets
mit einer Form des Seinsbewußtseins verbunden, in der die Unterscheidung und
Absonderung vieler einzelner Entitäten durch den thetischen Akt des Bewußtseins aufhört. Wir haben gesehen, daß das Dasein für Heidegger auch nach der
Kehre in der Ek-sistenz liegt. Diese Ek-sistenz ist zugleich das Innestehen im Da
und Aus des Daseins. Mit anderen Worten leben wir mit der Offenheit des Seins,
die als Differenz zwischen den Seienden durch das Da und Aus des Daseins ermöglicht wird. In dieser Offenheit des Seins betrachten wir uns zugleich als das
Innestehen im ganzen Sein, für das jede Unterscheidung und Absonderung an
Bedeutung verliert.
Heidegger hat in seiner frühen Freiburger Zeit den spezifischen Sinn des Historischen erarbeitet. In der Einleitung und dem ersten Teil dieser Arbeit wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß dieser Sinn des historischen Lebens in Heideggers Hermeneutik mit der Daseinsanalyse in Sein und Zeit in einem engen Zusammenhang steht: In der existenzontologischen Daseinsanalyse in Sein und Zeit
wird der Sinn der Geschichtlichkeit von der existenzialen Grundstruktur des sich
zum Nichts verhaltenden Daseins abhängig gemacht.
Nicht alle Heidegger-Forscher werden mit dieser Deutung einverstanden sein.
Der vierte Band des Dilthey-Jahrbuchs beispielsweise widmet sich der Frage
nach dem Verhältnis des frühen Heideggers zu Dilthey. Für die Analyse dieses
656
657
M. Heidegger, ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O., S. 317.
Ebd.
324
Verhältnisses ist es von entscheidender Bedeutung, die Entstehung der Gedanken,
die Sein und Zeit zugrunde liegen, bei Heidegger zu untersuchen, wobei man vor
allem Begriffe wie Faktizität und Geschichtlichkeit näher untersuchen muß. In
diesem Band finden sich Aufsätze, die nachdrücklich auf die Diskontinuität zwischen der Hermeneutik des faktischen Lebens und der Existenzontologie von Sein
und Zeit hinweisen. 658
Gadamer betrachtet Sein und Zeit als einen Rückgang von der praxeologisch orientierten Hermeneutik des geschichtlichen Lebens zu einer transzendentalphilosophischen Phänomenologie, die von Husserl beeinflußt ist. Nach Gadamer muß
man Sein und Zeit „als eine sehr schnell zusammenmontierte Publikation ansehen,
in der Heidegger gegen seine tiefsten Intention sich noch einmal der transzendentalen Selbstauffassung Husserls angepaßt hat.“ 659 In Marburg „wollte die Fakultät
ihn [Heidegger] unbedingt auf das durch Hartmanns Weggang nach Köln freigewordene Ordinariat befördern, und das Berliner Ministerium wollte ihn durchaus
nicht berufen, weil er seit 1917, seit seiner Habilitationsschrift, nichts Neues vorgelegt habe.“ 660 Unter diesem Umstand war es für Heidegger wichtig, mit Husserl „nicht in Konflikt zu geraten.“ 661 Gadamer zufolge kommt also das eigentliche Anliegen Heideggers nicht in Sein und Zeit zum Ausdruck: „Vielmehr war
anderes in Heidegger noch nicht gereift, als er Sein und Zeit komponierte.“ 662 Für
Gadamer ist Sein und Zeit für den eigentlichen Denkweg Heideggers unerheblich,
ja irreführend. Gadamer spricht von Heideggers „Rückgang auf den Anfang“, der
dem späten Heidegger „als sein eigener wirklicher Weg erschien, den er an der
Physik und Metaphysik des Aristoteles wiedererkannte.“ 663 Gadamer weist nun
darauf hin, daß „schon in den frühesten Versuchen [Heideggers] die Untrennbarkeit von Entbergung und Verbergung sein Thema war“, die bekanntlich ein zentrales Thema für Heideggers Denken nach der Kehre ist.664 Die „Untrennbarkeit
658
Vgl. dazu C. F. Gethmann, ‚Philosophie als Vollzug und als Begriff‘, in: Dilthey-Jahrbuch 4
(1986/87), 28 ff.
659
H.-G. Gadamer, ‚Erinnerungen an Heideggers Anfänge‘, in: Dilthey-Jahrbuch 4, S. 16.
660
Ebd., S. 16 f.
661
Ebd., S. 16.
662
Ebd.
663
Ebd., S. 20.
664
Ebd., S. 21.
325
von ‚Neigung‘ und ‚Ruinanz‘ von der gegenruinanten Bewegtheit des philosophischen Interpretationsvollzuges“ trat hier als ein „Vollzugssinn“ des Lebens auf,
den der frühe Heidegger „gegen die metaphysisch-idealistische Tradition“ richtete. 665
Diese negative Einschätzung von Sein und Zeit durch Gadamer scheint kein
Einzelfall zu sein. „Die im Jahre 1929 anfangende Kehre“ Heideggers wird von T.
Kisiel als „eine Rückkehr zu dem Nullpunkt im KNS [Kriegsnotsemester]
1919“ bezeichnet, die nun allerdings bedeuten soll, daß „die Schematisierung der
ekstatischen Entwürfe auf temporale Horizonte hin“ in Sein und Zeit für den eigentlichen Denkweg Heideggers weniger wichtig sei, wie auch Gadamer behauptet. 666
Es wird allerdings auch die Gegenposition vertreten: „Sein und Zeit ist“ nach C.
F. Gethmann „keineswegs eine bloß publikationspolitisch zu verstehende ‚Improvisation‘ (H.-G. Gadamer), sondern ein systematischer Neuentwurf, in den Heidegger die in seinen Vorlesungen erarbeiteten phänomenologischen Analysen
unter Modifikation einfügt.“ 667 Damit behauptet Gethmann, daß Heideggers Denken zwischen seinen frühen Freiburger Vorlesungen und Sein und Zeit keine wesentliche Diskontinuität zeigt.
Daß Sein und Zeit nur ein ‚Fehlversuch‘ ist, steht im offenen Widerspruch zu
Heideggers eigenen Aussagen über die Kehre seines Denkens. Die Existenzontologie von Sein und Zeit bietet an vielen Stellen genügend Anlaß für Kritik. So ist
es Heidegger nicht gelungen, eine konkrete, positive Bestimmung des Seins
selbst herauszuarbeiten. Ferner wird das Dasein in Sein und Zeit zwar als eine
Einheit von dem eigentlichen Selbst und dem uneigentlichen definiert. Aber wie
das Dasein über die Grenze des selbstgenügsamen Alltagsbewußtseins hinausgehen kann, wird nicht ausreichend erläutert. Entscheidend ist aber letztlich Heideggers eigene Absicht, wenn man die Kehre als einen Standpunktwechsel Heideggers bezeichnen will. Es wurde bereits gezeigt, daß die Kehre für Heidegger
665
Ebd.
T. Kisiel, ‚Das Entstehen des Begriffsfeldes ‚Faktizität‘ im Frühwerk‘, in: Dilthey-Jahrbuch
Bd. 4, S. 119.
667
C. F. Gethmann, ‚Philosophie als Vollzug und als Begriff‘, in: Dilthey-Jahrbuch 4, S. 51 f.
666
326
selbst keinen Standpunktwechsel darstellt. Oder muß man davon ausgehen, daß
Heideggers Kehre, auch wenn Heidegger dies bestreitet, dennoch einen Standpunktwechsel darstellt? Will Heidegger vielleicht nicht wahrhaben, daß Sein und
Zeit ein fehlerhafter Versuch ist?
Die Beantwortung dieser Frage hängt allerdings davon ab, wie man die Beziehung zwischen dem Denken in Heideggers früheren Vorlesungen und in Sein und
Zeit interpretiert. Nach Gadamer und Kisiel ist die Entdeckung des Vollzugscharakters der Lebensbewegtheit, die Heidegger schon vor dem Erscheinen von Sein
und Zeit leistete, von wegweisender Bedeutung für die weitere Entwicklung der
Philosophie Heideggers. Dagegen sei Sein und Zeit für den eigentlichen Denkweg
Heideggers nicht aussagekräftig, da Heidegger hier die Analyse der vollzugsmäßigen Bewegtheit des faktischen Lebens nicht konsequent durchführe, sondern
sich der transzendentalen Selbstanalyse Husserls stark anpasse. Diese Einschätzung von Gadamer und Kisiel ist aber m. E. problematisch. Die Aussage, daß das
Leben in seiner vollzugsmäßigen Bewegtheit betrachtet werden soll, ist irrelevant,
solange die ontologische Bedingung für den Lebensvollzug des Daseins nicht
erörtert wird.
M. E. betonen Gadamer und Kisiel die Bedeutung des Vollzugsbegriffs für Heideggers Ontologie viel zu stark. Der Vollzug des Lebens führt für Heidegger,
solange er nicht mit dem Seinsdenken verbunden ist, zur ruinanten Bewegung des
uneigentlichen Selbst (Man). Gadamer selbst behauptet mit Recht, daß die Einheit von Ruinanz und Gegenruinanz im Denken des frühen Heideggers „die Vorgestalt von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit“ ist.668 Wenn also der Vollzugssinn durch die Einheit von Ruinanz und Gegenruinanz charakterisiert werden soll,
muß man doch davon ausgehen, daß sich das Dasein in einem Spannungsverhältnis zwischen dem (am praktischen Zwecken orientierten) Alltagsbewußtsein und
dem Seinsbewußtsein befindet. Das Historische beim frühen Heidegger kann also
nicht schlechthin durch die vollzugsmäßige Lebensbewegtheit charakterisiert
werden, sondern durch eine spezifische Bewußtseinsstruktur: durch die untrennbare Einheit des Alltagsbewußtseins und des Seinsbewußtseins.
668
H.-G. Gadamer, ‚Erinnerungen an Heideggers Anfänge‘, in: Dilthey-Jahrbuch 4, S. 21.
327
Ferner steht auch die Behauptung, daß man in Sein und Zeit eine Anpassung von
Heidegger an Husserls Analyse der transzendentalen Selbstauffassung erkennen
könne, mit Heideggers eigenem Urteil über dieses Werk im Widerspruch. Gadamer selbst berichtet über eine eigene Stellungnahme von Heidegger über die Beziehung zwischen seinem Werk Sein und Zeit und der Phänomenologie Husserls,
in der dieser nachdrücklich betont, daß Sein und Zeit unabhängig von der Husserlschen Phänomenologie verfaßt wurde: „Ich hielt ein Seminar über Husserls
Zeitabhandlung, in dem eine ganze Menge Leute saßen, deren Namen heute bekannt sind, so Herr Fulda, Herr Wiehl, Herr Cramer u.a.. Heidegger kam aus irgendwelchem Anlaß in dieses Seminar zu Besuch und fragte, ‚Meine Herren, was
hat Sein und Zeit mit Husserls Zeitabhandlung zu tun?‘ Alle klugen Antworten,
die er erhielt, wurden von ihm zurückgewiesen. ‚Ich will es Ihnen sagen: gar
nichts!“ 669 Es wird ersichtlich, daß für Heidegger selbst – anders als für Gadamer
und Kiesel – Sein und Zeit mit der Husserlschen Phänomenologie so gut wie
nichts zu tun hat. Muß man nun davon ausgehen, daß die Zeitanalyse in Sein und
Zeit nur eine Ausnahme in einem Werk ist, das ansonsten von einer starken Anpassung Heideggers an Husserls Phänomenologie geprägt sei? Dies kann aber m.
E. nicht der Fall sein. Bekanntlich ist „der ursprüngliche ontologische Grund der
Existenzialität des Daseins“ in Sein und Zeit als „die Zeitlichkeit“ bezeichnet. 670
Die Zeit ist also der zentrale Begriff in Sein und Zeit, dies soll aber nach Heidegger mit der Phänomenologie Husserls keine Verwandtschaft haben.
Sein und Zeit ist, wie Gethmann mit Recht behauptet, ein systematischer Neuentwurf einer Philosophie, deren Ansätze man schon in Heideggers Hermeneutik
in seiner frühen Freiburger Zeit finden kann. Nicht in der Darstellung der vollzugsmäßigen Lebensbewegtheit des Daseins liegt das eigentliche Anliegen des
frühen Heideggers, sondern in der philosophischen Erörterung der ontologischen
Bedingung für den Lebensvollzug, der vom Bewußtsein des Seins selbst gleitet
wird. Das Leben des Daseins ist historisch, und der Ausdruck historisch bezeichnet für Heidegger nicht nur die Lebensbewegtheit, sondern die Existenzstruktur
669
670
Ebd., S. 25.
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 234.
328
des Daseins, die dem Dasein das Hinausgehen aus der selbstgenügsamen Bewegung des Alltagslebens, der Ruinanz, möglich macht. Diesen Begriff des Historischen hat Heidegger, wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit mehrmals betont
wurde, durch seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher gewonnen. In seiner
Bemerkung zur zweiten Rede Schleiermachers betont Heidegger, daß die Religion nur in Bezug auf die Geschichtlichkeit des Lebens richtig betrachtet werden
kann: „Geschichte im eigentlichsten Sinne ist der höchste Gegenstand der Religion, mir ihr hebt sie an und endigt mit ihr.“ 671
Dies ist m. E. ein wichtiger Punkt für das richtige Verständnis der Kehre. Das
Historische besteht darin, daß das Dasein über die Grenze seines Alltagslebens
hinausgeht. Die ontologische Bedingung dafür ist das Seinsbewußtsein des Daseins, das Bewußtsein von der grundwesentlichen Nichtigkeit seines Seins
(Angst). Die ontologische Bedingung für das historische Leben ist also das
Seinsbewußtsein, durch das die Verabsolutierung der weltlichen Vorhandenheit
im Alltagsleben vermieden wird. Daß das Sein das Einfache ist, für das jeder thetische Akt des Bewußtseins sinnlos ist, ist für den Begriff des historischen Lebens
von maßgebender Bedeutung. Ich fühle mich als ein Sein in einem ganzen Sein dieses Gefühl ist etwas, das nicht mit dem Denken aus der Differenz, die durch
den thetischen Akt des Bewußtseins ermöglicht wird, verstanden werden kann.
Hierin liegt nun die zeitliche Dimension des Da-seins im existenzialen Sinn. Die
Ruinanz des Alltagslebens, die der frühe Heidegger als den „Grundsinn der Bewegtheit des faktischen Lebens“ 672 bezeichnet, ist nicht das Historische. In der
Frage nach dem Sinn des historischen Lebens begnügt sich Heidegger nicht damit,
das Leben als eine Lebensbewegung zu definieren. „Die Ruinanz“, die der
Grundsinn der Bewegtheit des faktischen Lebens ist, „nimmt die Zeit weg, d. h.
aus der Faktizität sucht sie das Historische zu tilgen.“ 673 Das Bewußtseins des
Seins selbst, das das Dasein zum Bewußtsein der Nichtigkeit seines Seins (Angst)
führt, gehört also zu der Grundstruktur des historischen Lebens.
671
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 322.
M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles, a.a.O. S. 131.
673
Ebd., S. 140.
672
329
Diese zeitliche Dimension des Da-seins steht allerdings mit dem Begriff des
Seins, den Heidegger in dem ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘ als das Einfache
bezeichnet, nicht in einem Widerspruch. Es ist einerseits klar, daß das einfache
Sein selbst keine zeitliche Dimension haben kann, da die Zeit Differenz voraussetzt: Das Historische ist nicht ohne das Weltbewußtsein möglich. Aber andererseits hat das Weltbewußtsein für Heidegger einen praktischen Ursprung. Die Lebensbewegtheit des Daseins ist durch die Ruinanz zu kennzeichnen, solange das
Dasein über die Grenze der Weltlichkeit des Seins, die im Alltagsleben als ein
Seinssinn erschlossen ist, nicht hinausgeht. Das Historische im existenzialen Sinn
setzt also eine dynamische Beziehung zwischen dem Weltbewußtsein und dem
Seinsbewußtsein voraus. Ohne das Bewußtsein des Seins, das als das Einfache zu
kennzeichnen ist, bleibt die Lebensbewegtheit des Daseins unhistorisch.
Das Historische bzw. die Zeitlichkeit im existenzialen Sinn ist das Thema des
Heideggerschen Denkens vor der Kehre. Um den Sinn des historischen Lebens zu
erfassen, muß man die Seinsstruktur des Daseins analysieren. Denn das Historische bezeichnet nun die fundamentale Seinsweise des Daseins, das im Spannungsverhältnis zwischen dem Alltagsbewußtsein und dem Seinsbewußtsein steht.
Nach der Kehre konzentriert sich das Denken Heideggers auf die Seinsfrage, die
nicht mehr vom Dasein aus betrachtet werden soll. Mit Recht weist O. Pöggeler
darauf hin, daß der Sinn des Seins selbst, den Heidegger als die zentrale Frage
seiner Philosophie in Sein und Zeit stellt, erst nach der Kehre konkret analysiert
wird: „So vollzieht sich die Kehre: nicht mehr das Dasein als In-der-Welt-sein,
sondern das Sein in seinem Sinn und seiner Wahrheit und damit das Sein als Ermöglichung von ‚Welt‘ steht im Zentrum der Denkbemühungen. Nicht mehr wird
vom Seienden her auf das Sein hin gedacht, sondern vom Sein her auf das Seiende.“ 674 Dieser Hinweis entspricht exakt den eigenen Aussagen Heideggers über
die Kehre. Auf der vorletzten Seite von Sein und Zeit weist Heidegger selbst darauf hin, daß die Frage nach dem Sinn des Seins selbst noch offen bleibt: „Der
Streit bezüglich der Interpretation des Seins kann nicht geschlichtet werden, weil
er noch nicht einmal entfacht ist. Und am Ende läßt er sich nicht ‚vom Zaun bre674
O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 117.
330
chen‘, sondern das Entfachen des Streites bedarf schon einer Zurüstung. Hierzu
allein ist die vorliegende Untersuchung unterwegs.“ 675
3.3.3. Das Sein und die Seinsfülle
Bei der Erörterung der Frage, was das Sein selbst ist, steht Heidegger unter dem
Einfluß von Schleiermacher. Zwar definiert Heidegger das Sein selbst nirgends
als das transzendente Ansichsein. Heideggers Denken geht aber, auch wenn es
nicht ausdrücklich so formuliert wird, von einem Seinsbegiff aus, der dem Seinsbegriff von Schleiermacher entspricht: Sein als Seinsfülle.
O. Pöggeler weist darauf hin, daß Heideggers Wort Lichtung vor und nach der
Kehre jeweils eine andere Bedeutungen hat. Die „Lichtung“ wird ursprünglich als
das verstanden, „was in der Wahrheit als Unverborgenheit zu denken ist“. 676 Heidegger hat vor der Kehre, also in Sein und Zeit das Wort Lichtung im Sinn der
Erleuchtung benutzt: „Bei dem deutschen Wort ‚Lichtung‘ fällt uns nun gleich
ein, die Frage nach der Wahrheit als der Unverborgenheit könne von der abendländischen Lichtmetaphysik und Lichtmetaphorik her angegangen werden. Sogar
Heidegger selbst hat ja in ‚Sein und Zeit‘ das Dasein als Lichtung in diesem Sinn,
nämlich als das Gelichtete und Erleuchtete, verstanden. Heidegger hat damals nur
gemahnt, das Licht nicht allzu kurzschlüssig auf eine ‚ontisch vorhandene Kraft
und Quelle‘, einen Gott als Erleuchteter, zurückzuführen.“ 677 Die Lichtung bedeutet nun für Heideggers Denken nach der Kehre nicht Erleuchtung in dem Sinn,
auf die die Metapher des Lichts verweist. Die Lichtung soll nun vielmehr im Sinn
der Waldlichtung verstanden werden, d. h. das Schaffen eines offenen Raums
durch den Wald, das es möglich macht, daß nun das Licht hereinfällt: „Die spätere Rede von der Lichtung darf jedoch nicht mehr vom Licht her verstanden werden, sondern etwa von jener Waldlichtung her, die aus dem verschlossenen und
sich verschließenden dichten Wald sich als eine offene und freie Raum herausringt. […] Den Wald lichten heißt, ihn so offen machen, daß dann auch Licht
675
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 437. Vgl. Ders., ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O.,
S. 344.
676
O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 160.
677
Ebd., S. 160. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 350.
331
hereinfallen kann.“ 678 Das Seinsdenken ist nun zur Topologie des Seins geworden, in der nicht mehr das Licht im Sinn der Erleuchtung im Zentrum steht, sondern die Ortschaft für die Seinswahrheit: „Diese Lichtung nennt Heidegger auch
Ort oder Ortschaft (für die Wahrheit des Seins). Sein Denken soll (als Topologie
des Seins) die Wahrheit des Seins als jenen letzten ‚Ort‘ eigens zur Sprache bringen, an dem alle Wege des Denkens enden.“ 679
O. Pöggeler hat Recht, wenn er die Sinnverschiebung bei der Verwendung des
Wortes Lichtung bei Heidegger beschreibt als Übergang von der Lichtung im
Sinn der Erleuchtung auf die Lichtung im Sinn des Raumlichtens beim späten
Heidegger. Dennoch ist es hier nötig, um ein mögliches Mißverständnis zu vermeiden, darauf hinzuweisen, daß die Veränderung des Sinnes des Worts Lichtung
vor und nach der Kehre nicht überbetont werden darf. Zwar ist die Lichtung im
Sinn der Waldlichtung ursprünglicher als die Lichtung im Sinn der Erleuchtung,
da das Licht erst dann hereinfallen kann, wenn der Wald gelichtet ist. Aber die
Lichtung bedeutet sowohl im Sinn der Erleuchtung als auch im Sinn des Raumlichtens die Möglichkeit der Offenheit für das Sein.
Pöggler weist darauf hin, daß Heidegger in der Einleitung zu: ‚Was ist Metaphysik‘ das Dasein als die Ortschaft der Wahrheit des Seins bezeichnet: „Vielmehr ist
mit ‚Dasein‘ solches genannt, was erst einmal als Stelle, nämlich als die Ortschaft
der Wahrheit des Seins erfahren und dann entsprechend gedacht werden soll.“ 680
Am Anfang des Textes stellt Heidegger sogar fest, daß die Metaphysik auf das
Licht des Seins zurückzuführen ist: „Sie [Metaphysik] denkt das Seiende als das
Seiende. Überall, wo gefragt wird, was das Seiende sei, steht Seiendes als solches
in der Sicht. Das metaphysische Vorstellen verdankt diese Sicht dem Licht des
Seins. Das Licht, d. h. dasjenige, was solches Denken als Licht erfährt, kommt
selbst nicht mehr in die Sicht dieses Denkens; denn es stellt das Seiende stets und
nur in der Hinsicht auf das Seiende vor.“ 681 Wenn aber die Wahrheit des Seins
für Heideggers Denken nach der Kehre im Dasein ihren Ort hat, muß man doch
678
O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 160.
Ebd. Vgl. M. Heidegger, ‚Einleitung zu: ‚Was ist Metaphysik?‘‘, a.a.O., S. 373.
680
M. Heidegger, ‚Einleitung zu: ‚Was ist Metaphysik?‘‘, a.a.O., S. 373.
681
Ebd., S. 265.
679
332
davon ausgehen, daß die Wahrheit des Seins, die nun mehr in bezug auf die Topologie des Seins gedacht werden soll, immer noch das Da des Daseins als ihre
ontologische Bedingung hat. In einem beleuchteten Raum befindet sich alles in
einer raum-zeitlichen Relation. Dieser Möglichkeit, alles in einer raum-zeitlichen
Relation zu erfahren, muß die Lichtung des Seins (Waldlichtung) vorausgehen, da
erst durch sie das Licht hereinfallen kann. Aber auch die Lichtung im Sinn der
Waldlichtung läßt sich auf die existenzontologische Grundeinsicht Heideggers in
Sein und Zeit zurückführen, daß die Offenheit des Seins nicht ohne das Da des
Daseins möglich ist. Die Lichtung im Sinn der Waldlichtung setzt die Existenz
des Daseins voraus, und Heideggers Denken bleibt somit auch nach der Kehre der
formalontologischen Strukturanalyse des Seins des Daseins treu. Es ist also kein
Wunder, daß Heidegger direkt nach jener Stelle, in der von der Ortschaft der
Wahrheit des Seins Rede ist, eine ausführliche Erläuterung eines zentralen Satzes
in Sein und Zeit gibt: „Das ‚Wesen‘ des Daseins liegt in seiner Existenz.“ 682
Wir haben gesehen, daß Heideggers Kehre nach Gadamer und Kisiel eine radikale Abwendung von der Existenzontologie (Sein und Zeit) hin zu einem reinen
Seinsdenken (nach der Kehre) darstelle. Dagegen betont Pöggeler zu Recht, daß
die Kehre keinen Standpunktwechsel darstellt: Es gebe keinen Heidegger I und
Heidegger II. 683
Was bedeutet nun die Kehre? Wie ist die Beziehung zwischen der Existenzontologie in Sein und Zeit und dem Seinsdenken nach der Kehre zu bestimmen? Wie
bezieht sich das Denken des frühen Heideggers auf die Existenzontologie in Sein
und Zeit einerseits und auf das Seinsdenken nach der Kehre andererseits? Der
entscheidende Punkt besteht m. E. darin, daß der frühe Heidegger durch seine
Beschäftigung mit Schleiermacher den existenzontologischen Sinn des Historischen erkannt hat: Das Historische im Denken des frühen Heideggers, das als
Urbegriff der existenzialen Zeitlichkeit gedacht werden soll, setzt das Bewußtsein
des Seins selbst voraus, das nicht auf die Differenz des Seienden verweist. Heidegger konzentriert sich in Sein und Zeit auf die Analyse der existenzialen Zeit-
682
683
Ebd., S. 373. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 373.
Vgl. O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 24 ff.
333
lichkeit. Diese Zeitanalyse in Sein und Zeit steht nicht im Widerspruch mit Heideggers Seinsdenken nach der Kehre, da die Zeitlichkeit des Daseins das Bewußtsein des Seins selbst voraussetzt. Mit Recht spricht Pöggeler vom „Vollzug der
Kehre [Heideggers], auf die ‚Sein und Zeit‘ nicht nur hinauslief, sondern aus der
dieses Werk schon gedacht war“. 684 Der Grund dafür wurde bereits genannt: Die
Zeitlichkeit des Daseins setzt das Seinsbewußtsein voraus – dies hat Heidegger
durch seine Beschäftigung mit Schleiermachers Begriff des religiösen Gefühls
gelernt. Das bedeutet nun allerdings, daß Heideggers Denken nicht nur vor der
Kehre, sondern auch nach der Kehre wesentlich unter dem Einfluß Schleiermachers bleibt.
Der wichtigste Unterschied zu Sein und Zeit, den man aus jener Bedeutungsverschiebung des Wortes ‚Lichtung‘ erkennen kann, besteht m. E. darin, daß erst
durch die Lichtung im Sinn der Waldlichtung eine positive Bestimmung des Seins
zutage tritt, auch wenn diese bei Heidegger nirgendwo explizit thematisiert wird:
Das Sein als die Seinsfülle. Die Lichtung im Sinn der Erleuchtung impliziert dagegen nicht notwendig eine solche positive Seinsbestimmung: Denn durch das
Licht wird ein dunkler Raum beleuchtet, aber das Sein, das sich als reine Seinsfülle bezeichnen läßt, kann überhaupt nicht beleuchtet werden, da es nicht auf
Räumlichkeit verweist. Heideggers Denken orientiert sich nicht mehr an der Analyse der Zeitstruktur des eksistierenden Daseins, nachdem er das Dasein als Ortschaft der Wahrheit des Seins festgelegt hat. Hieraus darf man aber nicht schlußfolgern, der späte Heidegger wolle nun die räumliche Dimension des Seins des
Daseins stärker berücksichtigen. Denn das Sein, das erst durch die Lichtung (im
Sinn der Waldlichtung) offenbar wird, verweist überhaupt nicht auf eine räumliche Dimension. Die Räumlichkeit ist eher das, was die Lichtung im Sinn der Erleuchtung notwendig voraussetzt.
684
Ebd., S. 113.
334
3.3.4. Das Phänomen des Ansichseins
Das Wort Lichtung bezieht sich in Sein und Zeit primär auf die Zeitlichkeit des
Da-seins: „Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, das heißt die Einheit des ‚Außer-sich‘ in den Entrückungen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, ist die
Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Seiendes sein kann, das als sein
‚Da‘ existiert. Das Seiende, das den Titel Da-sein trägt, ist ‚gelichtet‘.“ 685 Die
Lichtung hat hier zwar den Sinn der Erleuchtung, aber die Gelichtetheit des Daseins ist nur in bezug auf die Welt möglich, auf die Räumlichkeit des einzelnen
Seienden, die die Existenzstruktur des Daseins als eines In-der-Welt-seins voraussetzt: „Was dieses Seiende wesenhaft lichtet, das heißt es für es selbst sowohl
‚offen‘ als auch ‚hell‘ macht, wurde vor aller ‚zeitlichen‘ Interpretation als Sorge
bestimmt. In ihr gründet die volle Erschlossenheit des Da. Diese Gelichtetheit
ermöglicht erst alle Erleuchtung und Erhellung, jedes Vernehmen, ‚Sehen‘ und
Haben von etwas.“ 686 Zwar betont Heidegger, daß die Lichtung nicht auf das
Wirkungsverhältnis zwischen den vorhandenen Dingen zurückgeführt werden
soll: „Das Licht dieser Gelichtetheit verstehen wir nur, wenn wir nicht nach einer
eingepflanzten, vorhandenen Kraft suchen, sondern die ganze Seinsauffassung
des Daseins, die Sorge, nach dem einheitlichen Grunde ihrer existenzialen Möglichkeit befragen. Die ekstatische Zeitlichkeit lichtet das Da ursprünglich. Sie ist
das primäre Regulativ der möglichen Einheit aller wesenhaften existenzialen
Strukturen des Daseins.“ 687 Aber um die Lichtung im Sinne der Erleuchtung, die
primär auf die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins zurückgeführt werden soll,
angemessen zu verstehen, muß man auch die Offenheit des Seins im Sinne der
Waldlichtung berücksichtigen, die das Gesehenwerden der einzelnen Seienden in
ihrer räumlichen Relation umfaßt: auch die Zeitlichkeit – der primäre Sinn der
Existenz in Sein und Zeit – setzt die räumliche Offenheit des Seins voraus. Die
Zeitlichkeit der Existenz (vor der Kehre) kann nur im Hinblick auf die Ortschaft
des Seins (nach der Kehre) richtig verstanden werden kann. Anders als Gadamer
meint, bedeutet Heideggers Kehre also keinen Standpunktwechsel, sondern eher
685
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 350.
Ebd., S. 350 f.
687
Ebd., S. 351.
686
335
eine Ergänzung der einseitig an der Zeitlichkeit orientierten Existenzanalyse in
Sein und Zeit durch die Hervorhebung der topologischen Dimension des Seinsdenkens. Darum ist die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins, die die Lichtung im
Sinn der Erleuchtung des Daseins ermöglicht, für Heidegger nur in bezug auf das
In-der-Welt-sein des Daseins möglich: „Erst aus der Verwurzelung des Da-seins
in der Zeitlichkeit wird die existenziale Möglichkeit des Phänomens einsichtig,
das wir zu Beginn der Daseinsanalytik als Grundverfassung kenntlich machten:
des In-der-Welt-seins.“ 688
Heideggers Betonung, daß die Lichtung nicht auf das Wirkungsverhältnis zwischen den Seienden, sondern primär auf die ekstatische Zeitlichkeit zurückgeführt
werden soll, hat also eine phänomenologische Grundeinsicht ins phänomenische
Wesen alles dinglich Seienden zur Voraussetzung: Heidegger will nicht die reale
Existenz der Dinge als Ausgangspunkt seiner Daseinsanalyse nehmen. Vielmehr
will er zeigen, daß die Offenheit des Seins, die raum-zeitliche Relation zwischen
den weltlich Seienden, erst durch das Da des Daseins möglich ist. Die Lichtung
im Sinn der Erleuchtung ist also nicht nur auf die zeitliche Dimension des Daseins zurückzuführen. Ohne Verbindung mit der Räumlichkeit des Seienden ist
sie sinnlos; sie muß auch, wie schon oben gezeigt wurde, jedes Vernehmen, Sehen und Haben von Etwas ermöglichen. Nicht von ungefähr trägt der Paragraph
69 von Sein und Zeit, in dem die Lichtung im Sinn der Erleuchtung erläutert wird,
den Titel die Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins und das Problem des Transzendenz der Welt. Die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins, auf die sich die Lichtung
im Sinn der Erleuchtung zurückführen läßt, ist ohne das Bewußtsein der transzendenten Welt nicht möglich. Die Lichtung kommt also notwendig in der Form
des Vernehmens des transzendenten Seienden vor: Die Gelichtetheit ermöglicht
dem Dasein, das Sein des Seienden als das Sein in der transzendenten Welt zu
betrachten.
Hieraus kann man nun ableiten: Durch die Lichtung im Sinn der Erleuchtung
kommt das Dasein zu der Idee einer transzendenten Welt. Die Welt ist die Transzendenz, die außer mir existiert. Ohne diese Annahme ist die Definition des Da688
Ebd.
336
seins als eines ek-sistierenden (ausstehenden) Daseins nicht möglich: Ohne das
Bewußtsein davon, daß die Welt eine transzendente Welt ist, läßt sich das Dasein
nicht als Existenz definieren.
Man darf allerdings nicht davon ausgehen, daß die Welt für Heidegger bloß eine
Vorhandenheit wäre. Denn für Heidegger ist die Welt keine Ansichwelt, die auch
ohne das Dasein ist: „Die Welt ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern zeitigt sich in der Zeitlichkeit. Sie ‚ist‘ mit dem Außer-sich der Ekstasen ‚da‘. Wenn
kein Dasein existiert, ist auch keine Welt ‚da‘.“ 689
Aber die Welt ist, solange sie die Welt des Seienden ist, doch auf die Vorhandenheit verwiesen: Das faktische Dasein erfährt die Welt als Welt des vorhandenen Seienden. Die Aussagen wie: Die Welt sei weder vorhanden noch zuhanden,
oder: Ohne das Dasein sei keine Welt da, beziehen sich auf die philosophische
Reflexion Heideggers, daß die Welt nicht bloß die Welt außer mir bedeuten kann.
Wie Schleiermacher mit seiner Analyse des (relativen) Abhängigkeitsgefühls
deutlich macht, ist jedes Weltbewußtsein zugleich ein Bewußtsein meines Seins
in der Welt. Wenn Heidegger behauptet, daß die Welt weder vorhanden noch
zuhanden sei, möchte er somit zugleich darauf hinweisen, daß der existenzontologische Begriff der Welt nicht bloß als die Gesamtheit des vorhandenen bzw.
zuhandenen Seienden definiert werden kann: Denn eine solche Definition der
Welt setzt die reale Existenz des einzelnen Seienden voraus, und man gerät somit
in die Position eines naiven Realismus. Die Welt ist nur als eine phänomenale
Welt möglich, die erst durch das Da des Daseins fundiert wird, und alles, was
vorhanden bzw. zuhanden ist, ist ein nachträgliches Phänomen, das nur durch das
Erschließen der Welt durch das Da des Daseins entdeckt werden kann. Hier tritt
nun aber das Rätsel des Seins auf. Die Welt, die das Da des Daseins voraussetzt,
wird notwendig als je schon seiend entdeckt: „Die Erschlossenheit des Da erschließt gleichursprünglich das je ganze In-der-Welt-sein, das heißt die Welt, das
In-sein und das Selbst, das als ‚ich bin‘ dieses Seiende ist. Mit der Erschlossenheit von Welt ist je schon innerweltliches Seiendes entdeckt. Die Entdecktheit des
Zuhandenen und Vorhandenen gründet in der Erschlossenheit der Welt; denn die
689
Ebd., S. 365.
337
Freigabe der jeweiligen Bewandtnisganzheit des Zuhandenen verlangt ein Vorverstehen der Bedeutsamkeit.“ 690
Fassen wir nun den Gedankengang Heideggers zusammen. Die Welt ist nach
Heidegger keine Ansichwelt, die ohne das Da des Daseins möglich wäre. Wir
entdecken in der Welt das Seiende, das vorhanden ist. Wir entdecken im praktischen Umgang mit der Welt das Seiende, das zuhanden ist. Die Welt kann dem
faktischen Dasein nur als eine Relation zwischen einzelnen Seienden erscheinen,
die vorhanden bzw. zuhanden sind. Wir dürfen aber die Welt nicht als eine Ansichwelt verstehen, die vom Dasein unabhängig ist: Durch diesen Glauben an die
an sich seiende Welt würden wir in einen naiven Realismus geraten.
Dieser Gedankengang ist m. E. im wesentlichen richtig. Das bedeutet aber keineswegs, daß das Dasein im faktischen Leben das Seiende nicht als das an sich
Seiende versteht. Im Gegenteil: Auch Heidegger geht davon aus, daß das Dasein
das Seiende als das an sich Seiende entdeckt. Darum wird die Welt nicht erfunden
oder konstruiert, sondern erschlossen. Darum wird das Seiende als je schon innerweltlich seiend entdeckt.
Typisch für Heidegger ist die einseitige Richtung seiner Argumentation. Heidegger argumentiert, daß das Seiende, das im faktischen Leben als vorhanden erscheint, nicht ohne die Erschließung der Welt möglich ist: Er gibt aber keine Erklärung dafür, warum das Seiende dem faktischen Dasein als je schon innerweltlich seiend erscheint. Ist der existenzontologische Tatbestand (Faktizität), daß das
Seiende dem Dasein als je schon innerweltlich seiend erscheint, nicht ein Hinweis
dafür, daß das Sein letztlich nur als das Ansichsein möglich ist, das von meinem
Dasein unabhängig ist? Heidegger argumentiert, daß die Welt nur durch das Da
des Daseins erschlossen werden kann und folglich nicht die Ansichwelt ist: Der
konkrete Grund dafür, warum die Welt dennoch dem faktischen Dasein als eine
von seinem Bewußtsein unabhängig (je schon) seiende Ansichwelt erscheint,
bleibt bei Heidegger ungeklärt. Mit der Aussage, daß die Welterschlossenheit
durch das Da des Daseins für die Entdeckung des Vorhandenen und Zuhandenen
notwendig ist, stellt man eine Bedingung für das Phänomen des An-sich dar: Das
690
Ebd., S. 297.
338
Phänomen des An-sich kann nicht ohne das Für-sich des Daseins entdeckt werden,
das allerdings für Heidegger nicht auf das reine Ich verweist, sondern auf die sorgende Seinsweise des Daseins, dessen Sein die Existenz ist. Darüber hinaus muß
man aber dennoch akzeptieren, daß das Phänomen des An-sich auf etwas verweist, was ursprünglicher ist als die Welterschlossenheit. Man wird akzeptieren
können, daß das An-sich zum Seinsverständnis des Daseins gehört, das ohne das
existenziale Da des Daseins nicht zustande kommt. Wenn aber im Seinsverständnis des Daseins die Auslegung des Seins als eines je schon Seienden notwendig
impliziert ist, muß man doch nach dem Sinn des Seins fragen, das ursprünglicher
als mein Sein ist und daher am besten als das Ansichsein bezeichnet werden kann.
Das Sein, das an sich ist, ist nicht nur ein philosophischer Begriff. Es ist vielmehr
ein Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseins, ohne das die Frage nach dem
Sinn des Seins nicht möglich ist. Das An-sich ist nicht einfach ein Phänomen, das
nur als ein korrelativer Begriff des Für-sich des Daseins möglich ist; es ist vielmehr ein Grenzbegriff, der bei jedem Sinn des Seins impliziert sein muß.
339
4. Das Sein und die Leiblichkeit des Daseins
Es ist nun also deutlich geworden, daß Schleiermachers Begriff des Ansichseins
im radikalen Unterschied zu den Begriffen wie Vorhandenheit, Gegenständlichkeit usw. steht. Interessant ist nun die Frage, warum Heidegger nicht zu dieser
Konzeption des Ansichseins gelangen konnte. In dieser Hinsicht ist die Unterscheidung von dem Seinsphänomen und dem Sein des Phänomens wichtig. In
diesem Kapitel wird deutlich, daß Heideggers Philosophie bei der Unterscheidung der beiden Begriffe nicht konsequent genug ist. Heidegger erkennt zwar an,
daß das Phänomen der Welt nicht einfach mit einem Bewußtseinsinhalt identifiziert werden kann, da wir die Welt als je schon seiend entdeckt haben. Hierbei
geht aber Heidegger davon aus, daß das Ansich des Seienden die Entdeckung der
Welt voraussetzt und daher der Sinnerschließung des Seins durch das Da des Daseins (Vorhandenheit) nachgelagert ist. Das bedeutet nun m. E. nichts anderes als
die Gleichsetzung des Seinsphänomens (das Phänomen der an sich seienden Welt,
die eine gewisse Vorhandenheit voraussetzt) mit dem Sein des Phänomens (4.1.).
Hieraus folgt die einseitige Orientierung an der Zeitlichkeit bei Heideggers Analyse des Daseins. Heidegger fragt nicht nach dem Ansichsein des Phänomens, da
für ihn das Ansich ein von der Vorhandenheit abhängiger Begriff ist. Statt dessen
sucht er nach einem anderen Begriff, der angeblich von der Vorhandenheit unabhängig sein soll. Dies ist die Zeitlichkeit, die nach der bekannten These Heideggers das Sein des Daseins ist. Es soll nun überprüft werden, ob diese Hervorhebung der Zeitlichkeit bei der ontologischen Seinsfrage wirklich sinnvoll ist (4.2.
und 4.3.).
Im Gegensatz zu Heidegger weist Schleiermacher der Zeit keine privilegierte
Stellung für seine Ontologie zu: Die Zeit ist – genauso wie der Raum – von einem
Gegensatz (innen und außen bzw. vorher und nachher) geprägt. Die Zeit erweist
sich daher als unangemessen für das Verständnis des Seins selbst. Dies bedeutet
aber nicht, daß Schleiermacher seine Frage nach dem Sein durch eine reine abs-
340
trakte philosophische Theorie zu beantworten versucht. Er will vielmehr, gerade
wie Heidegger, zeigen, warum das wirkliche Dasein trotz des an der Vorhandenheit gebunden Weltbewußtseins nach dem Sein selbst fragt. Dafür führt Schleiermacher nicht nur eine formal-ontologische Strukturanalyse des Daseins aus,
sondern darüber hinaus erarbeitet er auch eine Konzeption der Leiblichkeit des
Daseins, die das konkrete Verhältnis des Menschen zu dem anderen Seienden
betrachtet. Somit kann eine der wichtigsten Thesen dieser Arbeit belegt werden:
Schleiermacher hat den Begriff des leiblichen Daseins der modernen Phänomenologie (Merleau-Ponty) vorweggenommen.
4.1. Das Seinsphänomen und das Sein des Phänomens
Auch Heidegger akzeptiert, daß eine Vorstellung einer Welt ‚an-sich‘ notwendig
für das Verständnis des Seienden ist. Seine Argumentation ist aber auch in bezug
auf das An-sich wiederum von einer gewissen Einseitigkeit gekennzeichnet. Er
behauptet auch hier, daß die Vorstellung eines An-sich-Seienden erst durch die
Welterschlossenheit möglich ist: „In der primären und ausschließlichen Orientierung am Vorhandenen ist das ‚An-sich‘ ontologisch gar nicht aufzuklären. Eine
Auslegung jedoch muß verlangt werden, soll die Rede von ‚An-sich‘ eine ontologisch belangvolle sein. Man beruft sich meist ontisch emphatisch auf dieses Ansich des Seins und mit phänomenalem Recht. Aber diese ontische Berufung erfüllt nicht schon den Anspruch der mit solcher Berufung vermeintlich gegebenen
ontologischen Aussage. Die bisherige Analyse macht schon deutlich, daß das Ansich-sein des innerweltlichen Seienden nur auf dem Grunde des Weltphänomens
ontologisch faßbar wird.“ 691 Mit anderen Worten ist das Seiende nicht das reale
Ansichsein, auch wenn das Seiende ontisch und phänomenal als das an sich Seiende erscheint. Denn das Seiende ist schließlich das, was erst durch die Welterschlossenheit entdeckt wird. Das ist m. E. richtig, und man darf sich hier nicht
unphilosophisch verhalten und behaupten, daß die Entdeckung des Seienden das
Ansichsein des einzelnen Seienden voraussetze. Aber wie kann die Welt als eine
691
Ebd., S. 76.
341
je schon seiende, von uns unabhängige Welt entdeckt werden? Wie kann das Seiende – ontisch und phänomenal – als das an sich Seiende entdeckt werden, auch
wenn die Zurückführung des An-sich auf das Vorhandene ontologisch nicht richtig ist?
Aus diesem Problem gibt es m. E. keinen Ausweg, solange man die Existenz
eines transzendenten Ansichseins nicht akzeptiert. Heideggers Behauptung, daß
das An-sich nicht durch die Orientierung am Vorhandenen erklärt werden könne,
weil das Vorhandene die Erschlossenheit der Welt durch das Da des Daseins
voraussetze, ist zirkulär und fehlerhaft. Sie ist zirkulär, weil das An-sich des Vorhandenen von Anfang an schon als das nachträgliche Phänomen festgelegt wurde,
das nicht ohne die Welterschlossenheit durch das Da des Daseins möglich ist. Sie
ist fehlerhaft, weil der ontologische Grund für das Phänomen des an sich Seienden, das transzendente Ansichsein im ursprünglichen Sinn, nicht unterschieden
wird von dem Phänomen des Ansichseins, das sich auf das Vorhandene bezieht
und daher ohne die Welterschlossenheit durch das Da des Daseins nicht möglich
ist. Eine Erschlossenheit der Welt, die ohne die Entdeckung des vorhandenen
Seienden geschehen soll, ist eine widersprüchliche Vorstellung. Es ist nicht so,
daß die Welt je schon erschlossen ist und erst hiernach das Seiende als vorhanden,
zuhanden oder an sich seiend entdeckt wird. Denn eine Ekstase des Seienden, die
nicht die Entdeckung des an sich Seienden voraussetzt, ist unmöglich; das Ausstehen des Daseins ohne das Sein, das unabhängig von mir - an sich - ist, hat keinen Sinn. Eben daher weist auch Heidegger darauf hin, daß das Seiende als je
schon seiend entdeckt wird. Daß die Welt, so wie wir sie erfahren, die Welt-ansich ist, ist ein naiver Gedanke, der das phänomenale Wesen der Erscheinungswelt ignoriert. Insofern hat Heidegger sicherlich Recht, wenn er die Identifizierung des Seienden mit dem Ansich-Sein zurückweist. Aber die Aussage, daß das
Sein selbst das Ansichsein ist, hat mit diesem naiven Realismus, der die reale
Welt als das ‚Ansich‘ betrachtet, überhaupt nichts zu tun.
Vielleicht wird man mit Heidegger gegen diese These – das Sein ist das ‚Ansich‘ – einwenden wollen, auch diese Aussage sei immer noch an der Vorhandenheit orientiert. Hätte Heidegger aber seine Suche nach dem Sinn des Seins
342
selbst, das nicht auf das Seiende zurückzuführen ist, nicht mit einem Versuch anfangen sollen, zu zeigen, welche Probleme durch die Orientierung am Seienden
bei der Seinsfrage entstehen können? Bei Schleiermacher kann man eine klare
Stellungnahme zu dieser Frage finden: Das ganze Sein kann nicht mit der Totalität alles Seienden gleichgesetzt werden, da die Totalität alles Seienden von der
Raumvorstellung abhängt; der Raum ist notwendig mit dem Gegensatz von innen
und außen verbunden, während dem ganzen Sein kein solcher Gegensatz
beizumessen ist. Dagegen finden wir bei Heidegger keine klare Stellungnahme zu
dieser Frage. Heidegger behauptet zwar, daß das Sein nicht auf das Seiende zurückzuführen ist und daß die Entdeckung des Seienden die Welterschlossenheit
voraussetzt, die nur durch das Da des Daseins möglich ist. Er hat aber den eigentlichen Grund dafür, warum das Sein selbst nicht auf das Seiende zurückzuführen ist, nicht genannt.
4.2. Die Mehrdeutigkeit der Zeitlichkeit bei Heidegger
In seinem Werk Neue Wege mit Heidegger fragt Pöggeler, „ob der Versuch [Heideggers], Philosophie durch temporale Interpretation neu zu begründen, nicht im
ganzen auf unhaltbare Voraussetzungen gebaut ist.“ 692 Gemeint ist, daß Heidegger seinem Wort Zeit bzw. Zeitlichkeit keine präzise Definition gibt. Das Sein hat,
solange es wie bei Heidegger Anwesenheit bedeutet, zugleich eine zeitliche Dimension: „Sein – das war Heideggers Ausgangspunkt – ist als Anwesenheit gedacht worden, Anwesenheit aber meint Gegenwart, Gegenwart ist nur eine der
Dimensionen der Zeit. Lassen wir einmal die wörtliche Übersetzung von Ousia
als Anwesenheit gelten, dann müssen wir auch zugestehen, daß die Worte ‚Anwesenheit‘ und ‚Gegenwart‘ vertauscht werden können.“ 693 Der Ausdruck: „In
Anwesenheit zahlreicher Gäste“ kann durch den Ausdruck: „In Gegenwart zahlreicher Gäste“ ersetzt werden; die Gegenwart bedeutet hier aber nicht nur die
Zeitlichkeit, sondern auch „die Zugehörigkeit anderer zu einer Handlung; diese
692
693
O. Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, Freiburg / München 1992, S. 134.
Ebd.
343
Gegenwart wird eben durch den Raum wie durch die Zeit ermöglicht.“ 694 Pöggeler stellt in bezug auf Sein und Zeit daher die kritische Frage: „Muß also die Entdeckung, daß das Sein als Anwesenheit und damit als Gegenwart gedacht worden
sei, zur Frage nach Sein und Zeit führen? Sicherlich nicht.“ 695 Heideggers Frage
nach Sein und Zeit ist also Pöggeler zufolge von einem ungenauen Gebrauch des
Wortes Zeit bzw. Zeitlichkeit abgeleitet: „Nun kann man darauf hinweisen, daß
Heidegger der Zeitlichkeit, von der er spricht, gerade diese ungewöhnliche weite
Bedeutung gibt. Dazu glaubt er sich berechtigt, weil die philosophische Tradition
immer schon in dieser Weise gesprochen habe, wenn sie z. B. das Sein als Apriori,
also im Licht von Zeit charakterisierte.“ 696
Pöggeler behauptet also, daß Heidegger aus der Bestimmung des Seins als Anwesenheit, die die Zugehörigkeit des Seienden zu einer Seinssituation ausdrückt,
irrtümlicherweise eine ontologische Frage nach dem Verhältnis von Sein und Zeit
abgeleitet habe. Der Teil, in dem Pöggeler diese Kritik ausführt, trägt den Titel:
Unstimmigkeiten in Heideggers Analyse [der Zeit].
Welches Problem entsteht nun durch diese Unstimmigkeiten in Heideggers Zeitanalyse? Auch hierauf gibt Pöggeler eine klare Antwort: Daß das Seiende stets als
etwas konkret Bestimmtes erscheint, wird durch Heideggers Orientierung an einer
formal-ontologischen Seinsstruktur des Daseins verdeckt. Die Gegenwart ist ein
Ausdruck, der immer nur in bezug auf das Seiende möglich ist, welches dann
nicht nur formal-ontologisch bloß als seiend bestimmt ist, sondern auch konkret
und gehaltvoll als so oder so seiend bestimmt werden muß: „Zu dem, was man z.
B. Europa als Gegenwart zuspricht, gehört auch Christus, sofern Europa christlich,
antichristlich oder unchristlich ist, gehört die Französische Revolution, die ebenfalls unser Schon-sein bestimmt. Diese Gegenwart ist als individuierte endlich
und stets im Vergehen des Überkommens sich wandelnd. So ist Europa jetzt das
Europa von 1987; nicht aber ist 1987 oder diese Sekunde jetzt die Gegenwart
694
Ebd.
Ebd.
696
Ebd.
695
344
Europas im genannten Sinn. Die Gegenwart Europas ist etwas gehaltlich bestimmtes, ein artikuliertes dynamisches Was.“ 697
Heidegger versucht die Frage nach dem Sinn des Seins durch eine ontologische
Beschreibung der Seinsstruktur des Daseins zu lösen. Zwar weist auch Heidegger
darauf hin, daß das Seiende immer das Seiende in einer bestimmten Seinssituation ist. Weil aber für ihn alles, was auf die konkrete Bestimmung dieses oder jenes
Seienden bezogen ist, zum Bereich der Uneigentlichkeit, des Geredes, des Verfallsphänomens gehört, versucht er eine Möglichkeit zufinden, das Dasein unabhängig von dem inhaltlichen Bestimmung des Daseins als Entwurf zum eigentlichen Sein zu bestimmen. Gerade hierin liegt m. E. der Grund dafür, warum die
Dimension des transzendenten Ansichseins bei Heidegger, worauf auch F. Brecht
hinweist, nicht hinreichend berücksichtigt wird. 698 Heidegger abstrahiert von der
Anwesenheit des Seins, die sich sowohl auf die Zeitlichkeit eines Seienden als
auch auf die Zugehörigkeit dieses Seienden zu einer konkreten Seinssituation
beziehen läßt, und er entwickelt so einen sehr abstrakten Sinn der Zeitlichkeit, der
nicht mehr in Beziehung mit dem Seienden verstanden werden soll.
4.3. Heideggers Aporie der Eigentlichkeit des existenzialen Daseins
Dabei gerät Heidegger wiederum in die unlösbare Aporie der Eigentlichkeit des
existenzialen Daseins. Einerseits will Heidegger den existenzontologischen Sinn
der Zeitlichkeit zeigen, der nicht in bezug auf das ontisch Seiende zu verstehen ist;
andererseits ist diese Zeitlichkeit selbst doch nur von einer konkreten Seinssituation her ableitbar, die Heidegger als Rede bezeichnet.
4.3.1. Die Rede als Existenzial
Die Rede ist für Heidegger nicht ein Phänomen, das erst durch das Erlernen einer
bestimmten Sprache nachträglich ermöglicht wird. Die Rede gehört für Heidegger
zur Grundstruktur des existenzialen Seins des Daseins, bedeutet daher „die Arti697
698
Ebd., S. 130.
Vgl. F. Brecht, Heidegger und Jaspers, a.a.O., S. 15.
345
kulation der Verständlichkeit des Da“: Sie ist Heidegger zufolge ein „ursprüngliches Existenzial der Erschlossenheit“, die „mit Befindlichkeit und Verstehen existenzial gleichursprünglich [ist]“. 699 Was ist nun diese Rede als ein ursprüngliches Existenzial der Erschlossenheit? Sie ist für Heidegger eine formalontologische Struktur des Verstehens, die nicht auf die Vorgänge in einer bestimmten Seinssituation des ontisch Seienden zurückzuführen ist. Sie ist eine ontologische Grundbedingung dafür, daß die alltägliche Rede, die sich auf die Vorgänge in der Seinssituation des ontisch Seienden bezieht, möglich wird: „Die
volle, durch Verstehen, Befindlichkeit und Verfallen konstituierte Erschlossenheit
des Da erhält durch die Rede die Artikulation.“ 700
Diese Artikulation durch die Rede ist für Heidegger nicht auf die Aussage zurückzuführen, die als Mitteilung über etwas auf das empirisch konstatierbare,
ontisch Seiende bezogen ist. Das kann man aus Heideggers Kritik an der Sprachwissenschaft am deutlichsten erkennen. Die Griechen hätten nach Heidegger kein
Wort für Sprache und verständen das Phänomen des Sprechens zunächst nur als
Rede. Weil jedoch für die philosophische Besinnung der λόγος vorwiegend als
Aussage in den Blick käme, vollzöge sich die Ausarbeitung der Grundstrukturen
der Formen und Bestandstücke der Rede am Leitfaden dieses Logos. 701 Nun folgt
eine für Heidegger typische Argumentation. Die Rede ist nach ihm nicht ohne die
ursprüngliche Erschlossenheit der Welt und der Entdeckung der Vorhandenheit
möglich: Die Rede ist Artikulation, die freilich die Welterschlossenheit durch das
Da des Daseins voraussetzt. Heidegger lehnt aber ab, der Vorhandenheit eine
konstitutive Rolle für die Rede im existenzialen Sinn zuzuweisen. Heidegger
weist zunächst darauf hin, daß die Sprachwissenschaft an der Logik der Aussage
orientiert ist, die sich auf die Vorhandenheit aufbaut: „Die Grammatik suchte ihr
Fundament in der ‚Logik‘ dieses Logos. Diese aber gründet in der Ontologie des
Vorhandenen. Der in die nachkommende Sprachwissenschaft übergegangene und
grundsätzlich heute noch maßgebende Grundbestand der ‚Bedeutungskatego-
699
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 161.
Ebd., S. 349.
701
Ebd., S. 165.
700
346
rien‘ ist an der Rede als Aussage orientiert.“ 702 Heidegger betont hingegen, es
bestehe „die Notwendigkeit einer Umlegung der Sprachwissenschaft auf ontologisch ursprünglichere Fundamente.“ 703
Was sind die Fundamente der Rede, die ontologisch ursprünglicher als die Logik
der Aussage sein sollen? Sie sind, wie wir gleich sehen werden, die Zeitekstasen
des Daseins. Heidegger versucht in der existenzialen Zeitlichkeit des Daseins die
Fundamente der Rede zu begründen, die angeblich ursprünglicher sein sollen als
die auf das Vorhandene bezogene Aussagenlogik. Dieser Versuch ist m. E. allerdings ein höchst fragwürdiges Unternehmen. Denn eine Zeitlichkeit, die ursprünglicher wäre als das Seiende, ist an sich schon ein Widerspruch. Nach Heidegger gibt es drei „Ekstasen der Zeitlichkeit“, nämlich „Zukunft, Gewesenheit,
Gegenwart“. 704 Alle diese Zeitextasen sind m. E. nicht ohne einen Bezug auf das
Bewußtsein des Seienden möglich: gewesen ist nur das Seiende in einer konkreten Seinssituation, die das Vorhandene voraussetzt, Gegenwart und Zukunft sind
nur als Zeitmodus eines Seienden möglich, das die Zeitlichkeit des ontisch Seienden schon erfahren hat. Mit anderen Worten: Man wird zwar akzeptieren können,
daß die Zeitextasen nicht als ontische Eigenschaften des Vorhandenen zu charakterisieren sind; aber die Rede von Zeitextasen, die ursprünglicher als das Vorhandene sein sollen, ist sinnlos..
Die Artikulation durch die Rede muß m. E. zumindest zwei verschiedene Dimensionen haben: 1. Die Rede setzt die Zugehörigkeit mehrerer Teilnehmer zu
einer gemeinsamen Redesituation voraus, muß daher eine räumliche Dimension
haben, da die Rede nicht ohne die Anwesenheit eines Redenden und eines Angesprochenen möglich ist. 2. Jede Rede impliziert notwendig ein Verständnis der
Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, sie muß daher eine zeitliche Dimension haben. In gewisser Hinsicht ist sich auch Heidegger dieser zwei Dimensionen der Rede bewußt. Er glaubt aber zugleich daran, daß eine ursprüngliche
Zeitlichkeit des existenzialen Daseins angenommen werden kann, die ursprüng-
702
Ebd.
Ebd.
704
Ebd., S. 329.
703
347
lich in dem Sinn ist, daß sie nicht die Zeitlichkeit des Vorhandenen ist, sondern
deren ontologische Bedingung.
Heidegger betrachtet die Rede primär in bezug auf die zeitliche Dimension, in
der dann das Gegenwärtige die zentrale Rolle spielt. Zwar „zeitigt sich die Rede“,
solange sie eine Artikulation ist, „nicht primär in einer bestimmten Ekstase.“ 705
Da aber die Rede zunächst in der Form des Ansprechens ermöglicht wird, das
freilich die Gegenwart des Ansprechenden voraussetzt, spielt das Gegenwärtige
unter den drei Zeitextasen eine besondere Rolle für die Rede: „Weil jedoch die
Rede […] zunächst in der Weise des besorgend-beredenden Ansprechens der
‚Umwelt‘ spricht, hat allerdings das Gegenwärtigen eine bevorzugte konstitutive
Funktion.“ 706
Man kann hier wiederum deutlich erkennen, daß der Heideggersche Begriff der
Zeitlichkeit ungenau und mehrdeutig ist, was auch Pöggeler bemängelt. Das, was
Heidegger mit dem Wort Gegenwärtigen als eine Zeitextase zum Ausdruck bringt,
bedeutet in Wirklichkeit die Anwesenheit, die die Zugehörigkeit des Daseins und
des in der Form der Umwelt begegnenden Seienden zu einer gemeinsamen Seinsbzw. Handlungssituation voraussetzt.
Allerdings darf man trotz dieser Ungenauigkeit des Heideggerschen Zeitbegriffs
nicht annehmen, daß Heidegger die Anwesenheit des Anderen bei der Rede einfach ignoriere. „Die Rede ist“ Heidegger zufolge „die bedeutungsmäßige Gliederung der befindlichen Verständlichkeit des In-der-Welt-seins“. Sie muß also ein
innerweltliches Geschehen sein, das nicht ohne das Bewußtsein des anwesenden
Seienden möglich ist. Die Frage ist nun aber, warum Heidegger trotz seiner Anerkennung dessen, daß die Rede ein innerweltliches Geschehen ist, die Rede als
die existenziale Zeitlichkeit bestimmen will: „Die Rede ist an ihr selbst zeitlich,
sofern alles Reden über…, von… und zu… in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gründet.“ 707
Der Grund dafür besteht m. E. in Heideggers Überzeugung, daß der Sinn der
Existenz ursprünglicher sei als das Vorhandene. Die Existenz setzt freilich eine
705
Ebd., S. 349.
Ebd.
707
Ebd.
706
348
Differenz voraus, da die Existenz das Ausstehen bedeutet. Heidegger sucht eine
ursprüngliche Differenz, die nicht auf die ontische Differenz des Vorhandenen
zurückzuführen ist. Wenn Heidegger sagt: „Der ursprüngliche ontologische
Grund der Existenzialität des Daseins aber ist die Zeitlichkeit“, 708 möchte er damit zugleich deutlich machen, daß der Zeitlichkeit im existenzialen Sinn eine
besondere Rolle zukommt: Die Analyse der existenzialen Zeitlichkeit des Daseins
soll die eigentliche Existenzweise des Daseins zum Ausdruck bringen, die zwar
Differenz voraussetzt, dennoch nicht auf die Vorhandenheit zurückzuführen ist.
Diese existenziale Differenz in der ursprünglichen Daseinsstruktur ist für Heidegger die Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit muß gegenüber der Räumlichkeit Vorrang haben, weil sie die sorgende Existenzstruktur des Daseins zum Ausdruck
bringt: „Die gegliederte Strukturganzheit des Seins des Daseins als Sorge wird
erst aus ihr [Zeitlichkeit] existenzial verständlich.“ 709
4.3.2. Der konkrete Leib als Bedingung der Zeitlichkeit: Eine Kritik an Heideggers Zeitanalyse
Heideggers Präferenz für die Zeitlichkeit gegenüber der Räumlichkeit, die im
Verlaufe seiner Daseinsanalyse deutlich wird, ist m. E. problematisch: Auf dieselbe Weise und mit gleichem Recht könnte man auch die Räumlichkeit nicht
bloß ontisch, sondern auch ontologisch auslegen. Man wird einerseits mit Heidegger damit einverstanden sein, daß die Zeitlichkeit nicht bloß als ein ontischer
Begriff zu verstehen ist. Zwar kann das ontisch Seiende selber als zeitlich bezeichnet werden, weil es notwendig als eine Einheit der Gewesenenheit, der Zukunft und des Gegenwärtigen auszulegen ist: Aber ohne die Welterschlossenheit
durch das Da des existenzialen Daseins wäre die Auslegung des Seienden als
eines zeitlich existierenden nicht möglich. Wie verhält es sich nun mit der Räumlichkeit? Zwar kann man die Räumlichkeit als einen Ausdruck der Relation zwischen den ontisch Seienden verstehen. Dennoch muß man aber zugleich zugeben,
daß auch die Räumlichkeit nicht bloß als ein ontisches Konzept zu verstehen ist.
708
709
Ebd., S. 234.
Ebd.
349
Ohne die existenziale Seinsweise des Daseins, das sein Da als eingegliedert in
den Gegensatz von Oben und Unten oder Links und Rechts verstehen kann, ist
die Rede von der Räumlichkeit nicht verständlich, ja im Prinzip unmöglich. Wie
die Zeitlichkeit der Ausdruck der sorgenden Seinsweise des Daseins ist, ist die
Räumlichkeit ebenfalls der Ausdruck der sorgenden Seinsweise des Daseins; ohne die Sorge des Daseins um die Orientierung ist das Phänomen des Raums nicht
möglich.
Einen ähnlichen Gedanken kann man auch bei Merleau-Ponty finden. In seinem
Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung weist er darauf hin, daß das Wort
Sein nur in Verbindung mit der Orientierung des für sich seienden Daseins einen
bestimmten Sinn haben kann: „Sein hat nur Sinn durch seine Orientierung.“ 710
Die Orientierung ist für Merleau-Ponty die Faktizität unseres Seins, die Faktizität
unseres In-der-Welt-seins, die notwendig eine räumliche Dimension haben muß.
Nach Merleau-Ponty gibt es keinen Raum, der wie ein Gegenstand beobachtet
werden könnte. Der Raum ist vielmehr das, durch das wir die Faktizität unserer
Existenz erfahren: „der Raum ruht auf unserer Faktizität. Er ist weder ein Gegenstand, noch ein Verbindungsakt des Subjekts, er ist weder beobachtbar, da in
aller Beobachtung schon vorausgesetzt, noch in seinem Entspringen aus einer
konstituierenden Leistung sichtbar, da ihm je schon konstituiert zu sein, wesentlich ist; und so vermag er auf magische Weise einer jeden Umgebung ihre räumliche Bestimmtheit zu verleihen, ohne je selbst zu erscheinen.“ 711
Merleau-Pontys These, daß der Raum auf unserer Faktizität ruht, kann man als
eine Erläuterung eines zentralen Begriffs seiner Philosophie verstehen, der auf die
Gleichursprünglichkeit der Vorhandenheit und der existenzialen Seinsstruktur des
Daseins verweist: die Leiblichkeit. Zwar spricht auch Merleau-Ponty – unter dem
Einfluß Heideggers – von der Zeitigung. Aber in seiner Analyse der Zeitigung
betont Merleau-Ponty doch die Leiblichkeit des für sich seienden Daseins, die bei
Heidegger nicht genügend berücksichtigt wird. Heidegger hebt bei seiner Anaylse
des existenzialen Sinns der Gegenwart, wie erwähnt, einseitig die zeitliche Di-
710
711
M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 294.
Ebd., S. 297.
350
mension hervor, obwohl die Gegenwart die Räumlichkeit (Anwesenheit des Seienden / die Zugehörigkeit mehrerer Seiender zu einer gemeinsamen Seinssituation) und die Zeitlichkeit (Gegenwart als eine Zeitextase) zugleich umfaßt. Einerseits behauptet auch Merleau-Ponty, daß „Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart verbunden sind in der Bewegung der Zeitigung.“ 712 Aber für Merleau-Ponty
ist dies kein Grund dafür, von einer ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins zu
sprechen, die ohne weiteres den Sinn des Seins des Daseins ausmachen soll. Die
Zeitlichkeit verweist vielmehr auf die Leiblichkeit des Daseins: „Es gehört mir so
wesentlich zu, einen Leib zu haben, wie es wesentlich zur Zukunft gehört, Zukunft einer bestimmten Gegenwart zu sein.“ 713 Ferner ist dieser Leib nicht die
leere Struktur, die Heidegger mit dem Da des existenzialen Daseins zum Ausdruck bringt. Sie ist ein konkreter und wirklicher Leib, ohne den die Definition
des Daseins als eines In-der-Welt-seins keinen Sinn ergibt: „Nicht nur ist es mir
wesentlich, überhaupt einen Leb zu haben, sondern sogar, diesen bestimmten
Leib zu haben. Nicht nur der Begriff des Leibes ist es, der im Durchgange durch
den der Gegenwart notwendig mit dem des Für-sich-seins verbunden ist, sondern
die wirkliche Existenz meines Leibes ist es, die derjenigen meines ‚Bewußtseins‘ unentbehrlich ist. Daß alles Für-sich-sein nur Krönung eines leiblichen
Daseins ist, kann ich letzten Endes nur wissen aus der Erfahrung eines besonderen Leibes und eines besonderen Für-sich-seins, aus dem Befinden meiner Gegenwart bei der Welt.“ 714 Allerdings ist diese Gegenwart meines Daseins bei der
Welt nicht zeitlich gemeint, sondern eher räumlich: Mein Sein ist anwesend bei
der Welt, als ein konkreter und wirklicher Leib, der die Vorhandenheit des weltlich Seienden voraussetzt. D. h.: Die Räumlichkeit hat genau sowie die Zeitlichkeit zugleich eine ontische und eine existenziale Dimension. Die Anerkennung
der existenzialen Räumlichkeit, die nicht auf die ontische Dimension zurückzuführen ist, führt nun nicht automatisch zu dem Ergebnis, daß die existenziale
Räumlichkeit als die Vorhandenheit ursprünglicher wäre. Im Gegenteil: Die exi-
712
Ebd., S. 490.
Ebd.
714
Ebd.
713
351
stenziale Räumlichkeit ist nicht ohne das Bewußtsein der Welt möglich, in der
das Seiende als je schon seiend, als an sich seiend und vorhanden, erschlossen ist.
Merleau-Pontys Analyse der Zeitigung durch das Fürsichsein des Daseins führt
also einerseits zur Gleichursprünglichkeit von der Vorhandenheit (das anwesende
Sein in der Welt) und der Zeitlichkeit einerseits; andererseits zu der phänomenologischen Notwendigkeit, das Da des Daseins, durch das die Räumlichkeit und
Zeitlichkeit erschlossen wird, nicht als eine leere Strukturform der Existenz zu
verstehen, sondern zugleich als einen Verweis auf einen konkreten und wirklichen Leib aufzufassen. Einen ähnlichen Standpunkt kann man bei Tugendhats
Kritik an Heidegger finden. In seiner achten Vorlesung über Selbstbewußtsein
und Selbstbestimmung, mit der er seine drei Vorlesungen Heidegger über Sichzusichverhalten beginnt, weist Tugendhat darauf hin, „daß [Heideggers] Auffassung
vom Sein des Menschen als zu vollziehendem der Auffassung widerspreche, dieses Seiende sei eine Substanz mit Eigenschaften, ein Subjekt von Prädikaten.“ 715
Damit meint Tugendhat, daß Heidegger die Definition des Daseins unter Ausschließung des Vorhandenseins durchführen will: „Scheinbar meinte er [Heidegger], ein Seiendes könne nur entweder das eine oder das andere sein, es könne nur
entweder als Vorhandenes oder als Seiendes im Seinsmodus der Existenz als Zusein aufgefaßt werden.“ 716 Tugendhat behauptet nun, daß eine solche scharfe Unterscheidung des existenzialen Daseins und des Vorhandenseins unplausibel ist:
„Wenn wir die Chance wahrhaben wollen, uns Heideggers neue Einsichten produktiv anzueignen, müssen wir sie von diesen sachwidrigen Existenzialitäten
befreien. Wäre ein Mensch nicht etwas Vorhandenes, so würde er überhaupt nicht
existieren.“ 717
715
E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 185.
Ebd.
717
Ebd.
716
352
4.4. Schleiermachers Vorwegnahme des phänomenologischen Begriffs der Leiblichkeit und Heideggers formal-ontologische Analyse der Existenzstruktur des
Daseins
Merleau-Pontys Hinweis, daß die Zeitigung einen konkreten und wirklichen Leib
voraussetzt, ist sehr aufschlußreich, wenn man die Bedeutung von Schleiermachers Religionsphilosophie für Heideggers Existenzontologie verstehen will. Wir
haben im ersten Kapitel gesehen, daß Heideggers Verhältnis zu Schleiermacher
ambivalent ist. Zunächst äußert sich Heidegger durchaus positiv über die zweite
Rede über die Religion: In der Religion im Sinne Schleiermachers erkennt er eine
grundsätzliche Möglichkeit des historischen Lebens im existenzialen Sinn, die
von zentraler Bedeutung für das Dasein sei. Aber unmittelbar nach dieser positiven Würdigung ergänzt er eine kritische Bemerkungen über die Glaubenslehre
Schleiermachers: Schleiermachers Begriff der schlechthinnigen Abhängigkeit
impliziere eine zu starke Objektivierung der Realität der Natur und verkenne das
wahre Wesen des Seins. Schleiermachers These von der wechselnden Bestimmtheit unseres Selbst besage, daß unser Bewußtsein durch eine stetige Abfolge und
Durchdringung von einzelnen Situationen bestimmt sei. Ingesamt sei Schleiermachers Konzeption des Selbstbewußtseins an der Natur bzw. dem endlichen
Seienden orientiert und erfasse daher dessen wahre Struktur nicht. Aus dieser
Kritik, daß Schleiermacher das Selbstbewußtsein (Abhängigkeitsgefühl) naturtheoretisch verstehe, leitet Heidegger ab, daß eine formale Strukturanalyse des
Bewußtseins notwendig sei. Die Zusammenhänge des historischen Lebens würden sich auf der Grundstruktur des Bewußtseins aufbauen. Hierfür sei der von
Husserl besonders in den Vordergrund gestellte Begriff der Fundierung ein wichtiger Schritt in die Richtung einer zuverlässigen Erkenntnis der wahren Zusammenhänge des Bewußtseins. 718
Wenn man aber den Standpunkt von Merleau-Ponty berücksichtigt (der Leib als
Grundbedingung für die Existenz) und der Heidegger-Kritik von O. Pöggeler und
E. Tugendhat Recht gibt, muß man allerdings vielmehr davon ausgehen, daß gerade in Heideggers Distanzierung von Schleiermacher in diesem Punk ein ent718
Ebd.
353
scheidender Mangel seiner Konzeption liegt, die ja davon ausgeht, daß der Sinn
der Existenz ohne Bezug auf die leibliche Vorhandenheit meines Da-seins zu verstehen wäre. Heideggers Beantwortung der Frage nach der ursprünglichen Existenzstruktur des Daseins, die er durch die Hervorhebung der existenzialen Zeitlichkeit unter Ausschließung der Vorhandenheit zu beantworten versucht, erweist
sich somit als unbefriedigend. Das Dasein muß in bezug auf den konkreten und
wirklichen Leib betrachtet werden, wenn die wahre Struktur seiner Existenz geklärt werden soll. Das Dasein steht notwendig in einem konkreten Wirkungszusammenhang mit anderen Seienden, der freilich auf die fundamentale Leiblichkeit
des existenzialen Daseins verweist; das Dasein kann nicht ohne eigenen Leib die
Wirkung des anderen Seienden erfahren.
4.4.1. Die Leiblichkeit des Daseins als die Grundbedingung für die ontologische
Frage nach dem Sein selbst
Sowohl der frühe als auch der späte Heidegger betrachten das Dasein nicht als ein
Sein, das in einem konkreten Wirkungszusammenhang mit anderem Seienden
steht. ‚Dasein‘ ist für ihn vielmehr ein Strukturbegriff, der ausschließlich unter
dem Gesichtspunkt des fundierenden Aktbewußtseins zu betrachten ist. Gerade
hierin liegt nun m. E. der Grund dafür, daß Heidegger stets vom Sein des Daseins
oder vom Sein selbst spricht, aber nirgendwo einen Begriff des Seins entwickelt,
mit dem man die Existenzweise des konkreten und wirklichen Daseins verstehen
kann. Für Schleiermacher eröffnet hingegen die rezeptive Fähigkeit des Menschen, die Einwirkung der Dinge oder anderer Menschen am eigenen Leibe zu
erfahren, zugleich die Möglichkeit, daß mein Sein und das andere Sein, die
scheinbar in einer raum-zeitlichen Relation getrennt bleiben (die gegenständliche
Vorhandenheit), in Wirklichkeit in einem absolut kontinuierlichen Kraftfeld (Sein
als Dynamis) stehen, dem nicht die Räumlichkeit beizumessen ist. Die fundamentale Leiblichkeit meines Daseins fungiert also als eine notwendige Bedingung für
die Rede vom Sein selbst, das nicht auf die Vorhandenheit des Seienden zurückzuführen ist: Die Vorhandenheit setzt das Denken mit raum-zeitlichen Gegensätzen
354
voraus, während die Rezeptivität meines Leibes auf die absolute Kontinuität alles
Seienden verweist. Dagegen fehlt Heideggers Denken diese leibliche Dimension
des Daseins: Heideggers Dasein hat eigentlich keine Möglichkeit, die raumzeitliche Trennung zwischen seinem Sein und dem anderen Sein zu relativieren.
Heideggers Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls besteht
darin, daß das Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher auf die leibliche Bestimmtheit des Daseins bezogen ist. In der Tat ist die intentionale Struktur unseres Bewußtseins für Schleiermacher nicht nur als eine Struktur des Bewußtseins
(Bewußtsein = Bewußtsein von etwas) gedacht, sondern als ein Selbstbewußtsein,
in dem „die Zurükschiebung unseres Soseins auf ein etwas als mitwirkende Ursache“ stattfindet. 719 Hierin liegt der eigentliche Grund dafür, daß Schleiermacher,
wie Heidegger mit dem Ausdruck, dies sei noch zu sehr naturtheoretisch formuliert, andeutet, es strikt ablehnt, das religiöse Selbstbewußtsein isoliert von dem
Naturbewußtsein zu betrachten. 720 Einerseits will Schleiermacher geltend machen,
daß das Naturbewußtsein ohne Gottesbewußtsein nicht möglich ist: „Ein gänzliches Losgerissensein des Gefühls von dem allgemeinen Naturzusammenhang von
dem Bewußtsein Gottes kann der Gläubige nur als einen das Wesen der menschlichen Natur in dem Einzelnen partiell zerstörenden organischen Geistesfehler
ansehn.“ 721 Andererseits weist er darauf hin, daß ein religiöses Selbstbewußtsein,
das isoliert vom Bewußtsein des einzelnen Seienden vorkommen würde, nicht
719
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31.
Mit Recht betont H. Schnur in seiner Darlegung des Schleiermacherschen Systems des Wissens, daß Schleiermacher, etwa im Unterschied zu Schelling, das absolute Wissen nicht vom realen Wissen abtrennt. Er weist auch darauf hin, daß hierbei Schleiermachers Festhalten am Individuellen eine entscheidende Rolle spielt: „Die gegenüber der Schellingschen Konzeption tiefgreifende Folge dieses Festhaltens am Individuellen ist, daß Schleiermacher das absolute Wissen
nicht vom realen Wissen (den wissenschaftlichen Disziplinen) ablöst – ‚es gibt keine Anschauung
der Ideen als im realen Wissen – und das absolute Wissen als ihr ‚zeitenthobener‘ Gravitationspunkt der Identität verharren, sondern erst das entfaltete, vollendete Wissenschaftssystem mit ihm
zusammenfallen läßt. Deshalb ist das Wissen stets ein sich bildendes, ein werdendes.“ (H. Schnur,
Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert, Stuttgart / Weimar
1994, S. 163.) Die Leiblichkeit des Daseins ist nun m. E. ein wesentliches Merkmal dieses Individuellen im Verständnis von Schleiermacher, da dieser in der Leiblichkeit des menschlichen Bewußtseinslebens die Möglichkeit erkennt, die Einheit des realen Wissens mit dem absoluten Wissen herzustellen: Ohne die fundamentale Seinsweise des Menschen, als ein leibliches Dasein mit
dem anderen Sein in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang zu stehen, ist es
nicht möglich, daß uns die absolute Einheit Gottes als transzendenter Grund für unser am endlichen Seienden orientiertes Denken bewußt werden kann.
721
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O.,131.
720
355
möglich ist: „ […] nur sofern wir schon ein zeitlich bestimmtes werden, d. h. im
sinnlichen Selbstbewußtsein begriffen sind, kann jenes Mitgegebene [das Mitgegebensein des höchsten Wesens] mit unserm Ich ein bestimmtes Selbstbewußtsein erzeugen, welches dann, wie oben, die mit einem sinnlichen Gefühl eins gewordene fromme Erregung ist.“ 722
Heidegger fordert für die Definition des eigentlichen Seins des Daseins ‚Ursprünglichkeit‘ und d. h. ein Absehen von der Dimension der Vorhandenheit.
Dieser Gedanke ist Schleiermacher fremd. Genauer gesagt: Das Bewußtsein des
Seins selbst entsteht für Schleiermacher nicht dadurch, daß man von der Vorhandenheit absieht; sondern gerade das Seiende, das für mein Denken und Handeln
als etwas Vorhandenes erscheint, verweist zugleich auf die Zugehörigkeit alles
Seienden zu einem Seinsganzen. Die Zeit ist für Schleiermacher nicht jene Zeitlichkeit im Heideggerschen Sinn, die als das Sein des Daseins zu verstehen ist;
ein solcher Begriff der Zeit verweist auf die leere Seinsstruktur des Daseins, die
ohne die konkrete Bestimmung eines wirklichen Seienden lediglich eine sinnlose
Abstraktion ist. Daher ist die Zeit für Schleiermacher stets „die Zeit als eine Reihe
von Momenten erfüllenden Selbstbewußtsein“. 723 Diese Zeit setzt die konkrete
Leiblichkeit des Daseins voraus: „Denn ein solches kann nur stattfinden als ein
veränderliches.“ 724
Heidegger will dagegen dem Sein des Daseins einen Sinn der Existenz verschaffen, der angeblich ursprünglicher sein soll als die leibliche Vorhandenheit des
Daseins. Die Folge ist nun aber m. E. eine endlose Verwirrung zwischen verschiedenen Seinsbegriffen, in der Heidegger an keiner Stelle zu einer expliziten
Definition davon, was er unter dem Ausdruck Sein selbst versteht, gelangt. 725
Vor allem Heiderggers Verwendung des Wortes ursprünglich ist dabei irreführend. Schon die Existenz, das Ausstehen, setzt die Trennung des Daseins von dem
übrigen Sein voraus. Alles, was zur Existenzstruktur des Daseins gehört (wie die
Zeitextasen Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart), kann daher nicht als ur722
Ebd., S. 37.
Ebd. Vgl. zu Schleiermachers Begriff der Zeit: S.-H. Choi, Vermitteltes und unvermitteltes
Selbstbewußtsein, Frankfurt a. M. / Bern / New York / Paris 1991, S. 149 ff.
724
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 37.
725
Vgl. E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 167 ff.
723
356
sprünglich bezeichnet werden, wenn man damit die Dimension der Vorhandenheit für die Bestimmung des ursprünglichen Sinnes der Existenz ausschließen
möchte. Man kann von der Ursprünglichkeit des Seins des Daseins erst dann
sprechen, wenn man einen Begriff des Seins entwickelt, für den die existenziale
Differenz zwischen dem Dasein und dem anderen Sein an Geltung verliert. Man
kann z. B. mit Schleiermacher von dem ganzen Sein sprechen, zu dem alles Seiende gehört. Dieses Sein ist ursprünglicher als die Vorhandenheit, da die Faktizität des Daseins, daß es nur als ein Sein im ganzen Sein existieren kann, einen
Begriff des Seins voraussetzt, der meinem Sein, dem Da des eksistierenden Daseins, vorausgeht. Dieses Sein ist das Ansichsein, das sich weder durch räumliche
noch durch zeitliche Kategorien definieren läßt. Dieses Ansichsein ist das, was
Schleiermacher mit der Idee Gottes zum Ausdruck bringt. Die Idee Gottes, für die
die Trennung von meinem Sein und dem anderen Sein oder die Differenz zwischen den vorhandenen Seienden ihre Gültigkeit verliert, ist ursprünglicher als
die Idee der Existenz, da die Existenz die Zugehörigkeit meines Seins zu dem
Seinsganzen voraussetzt, das nur als je schon an sich seiend verstanden werden
kann. Sie kommt nie als ein wirkliches Seinsmoment zum Bewußtsein, wenn man
damit wirklich dasjenige meint, das auf die empirisch als seiend konstatierbare
Vorhandenheit des einzelnen Seienden bezogen ist. Sie muß aber jedes Bewußtsein vom Seienden begleiten. Denn das Sein, soweit es auf die empirische
Vorhandenheit des endlichen Seienden zurückzuführen ist, muß zum Seinsganzen
gehören, um überhaupt existieren zu können: Das Vorhandene, das nicht ein über
es selbst hinausgehendes einheitliches Sein voraussetzt, ist eine unmögliche Vorstellung. Die Idee Gottes ist also, wie Schleiermacher erklärt, ein terminus a quo
unseres Bewußtseins, der auf die Ursprünglichkeit des an sich seienden ganzen
Seins vor jeder existenzialen Differenzierung verweist: „Der transzendente Grund
muß das Wirkliche, wie dieses in Raum und Zeit gesetzt ist, auf eine zeitlose
Weise begleiten; oder: Die Idee der Gottheit begleitet immer unser Denken als
terminus a quo. Der transzendente Grund bleibt immer außerhalb des Denkens
357
und wirklichen Seins, aber ist immer die transzendente Begleitung und der Grund
beider.“ 726
Alles, was das Dasein nach seiner existierenden Seinsweise als eine Artikulation
der Differenzen versteht, ist nicht ursprünglicher als das Vorhandene, sondern
streng genommen gleichursprünglich mit der Entdeckung des Vorhandenen.
Auch die drei Zeitextasen, die Gewesenheit, die Zukunft und die Gegenwart, sind
nicht ursprünglicher als das Vorhandene, sondern gleichursprünglich mit der Entdeckung des Vorhandenen. Allerdings ist die existenziale Zeitlichkeit keine abmeßbare ontische Zeit. Aber auch die Entdeckung des Seienden im Raum führt
das Dasein nicht primär zu der ontischen Zeitlichkeit. Der Raum fungiert für das
faktische Dasein als eine konkrete Umwelt, in der alles nur in bezug auf die ekstatische Einheit der Gewesenheit, der Zukunft und der Gegenwart verstanden
werden kann. Die abmeßbare Zeitlichkeit ist in diesem Sinn ein abkünftiger
Zeitmodus, der nicht direkt auf die ekstatische Einheit des Daseins und des außer
sich Seienden im Raum zurückzuführen ist, sondern auf die theoretische Abstraktion, die die Zeitlichkeit in der Umwelt in die lineare Reihe der abmeßbaren Momente verwandelt. Sowohl der Raum als auch die Zeit haben also für das Dasein
zugleich eine existenziale und eine ontische Dimension. Es gibt für eine Existenzontologie keinen Grund, der Zeitlichkeit des Daseins – gegenüber seiner
Räumlichkeit – den Vorrang zu geben.
Nun mag man einwenden, daß mit diesem Vorrang nur gemeint sein soll, daß
das Dasein bereits vor der Entdeckung des vorhandenen Seins diese ontologische
Existenzstruktur besitzt. Ist die Existenzstruktur des Daseins folglich eine Vorbedingung der Entdeckung des Seienden? Ein solcher Einwand entspricht jedoch m.
E. nicht der wirklichen Seinssituation des Daseins und steht darüber hinaus auch
mit Heideggers Ontologie im Widerspruch. Die Existenz ist die Bezeichnung der
Seinsweise des Daseins, die erst nach der Selbstbestimmung des Daseins als eines In-der-Welt-seins zustande kommen kann. Die Welterschlossenheit ist die
Voraussetzung für diese Selbstbestimmung des Daseins. Was das Dasein vor der
726
F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 307. Vgl. R. Stalder, Grundlinien der Theologie Schleiermachers I, a.a.O., S. 301 f.
358
Welterschlossenheit gewesen ist, ist eine sinnlose Frage. Denn gleich wie die
Welterschlossenheit nicht ohne das Da des Daseins möglich ist, ist auch das Dasein nicht ohne die Welterschlossenheit möglich. Die Beziehung zwischen der
Welterschlossenheit und der da-seienden Seinsweise des Daseins darf also nicht
als eine Beziehung zwischen etwas Ursprünglichem und etwas Nachträglichem
verstanden werden.
4.4.2. Heideggers Definition des Daseins als eines Seins zum Ende
Die Leiblichkeit des Daseins hat für Schleiermacher letztlich die Funktion, das
Denken in raum-zeitlichen Gegensätzen zu relativieren. Die Entdeckung des endlichen Seienden erzeugt nicht nur das Bewußtsein der Trennung zwischen meinem Sein und dem anderen Sein, sondern ist zugleich auch eine ontologische
Grundbedingung dafür, daß ich mich als seiend in einem kontinuierlichen Wirkungszusammenhang betrachte: Das Dasein entdeckt das Seiende nicht nur als
das außerhalb seiner selbst liegende Seiende, sondern als das Sein, das mit seinem Sein in einem kontinuierlichen Wirkungsfeld steht. Das Bewußtsein des einzelnen Seienden bildet also eine dynamische Einheit: In ihm sind das Bewußtsein
vom Selbst als einem vom anderen Sein gesondert Seienden (Existenz als Ausstehen) und das Bewußtsein vom Selbst als einem zum dynamischen Seinsganzen
gehörig Seienden (In-sein) vereinigt. Das Seiende ist also nicht nur ein abkünftiger Modus des Seins, sondern spielt die Rolle eines Kundgebers, der mich zum
Bewußtsein des Seins selbst führt. Ohne einen Bezug meines Bewußtseins auf
das Seiende findet also kein Denken des Seins selbst statt.
Daß Heidegger das Sein des Daseins nicht in einem konkreten Wirkungsverhältnis mit dem übrigen Sein betrachtet, hat zur Folge, daß die ontologische Grundbedingung für die existenziale Möglichkeit des Daseins, vom Bewußtsein seines
In-der-Welt-seins zum Denken des Seins selbst zu gelangen, verdeckt bleibt. 727 In
727
M. E. kann man Heideggers Analyse über die Bedeutung des Kunstwerkes als ein Beispiel
dafür anführen, daß auch Heidegger stillschweigend davon ausgeht, daß sich das Dasein in einem
konkreten Wirkungszusammenhang mit anderen Seienden befindet. Allerdings verfügt er – anders als Schleiermacher – nicht über eine angemessene Begrifflichkeit (wie die Leiblichkeit des
Daseins; oder den absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang zwischen den Seienden), um
359
meinem Bewußtsein der Welt zeigt sich jedes Seiende als ein von dem anderen
getrenntes, einzelnes Seiendes (Ausstehendes). Heidegger gibt nun aber keinen
Grund an, warum das Dasein nicht bei dieser Betrachtung des Seins (als eine
Summe von einzelnen, gesonderten Seienden) stehen beleiben kann und warum
es diese Seinsweise für eine uneigentliche Seinsweise halten soll. Das führt weiterhin dazu, daß das eigentliche Sein des Daseins für Heidegger nur in einer
Seinssituation möglich ist, die streng genommen zugleich keine wirkliche Seinssituation mehr sein kann: im Tod. Weil die einseitige Ausrichtung des Daseins am
endlichen Seienden für Heidegger lediglich zu einem Verfall führt, muß sich das
Dasein, um die eigenste Möglichkeit seines Seins erreichen zu können, als der
existenziale Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode verstehen. „Der Tod ist
eigenste Möglichkeit des Daseins“, und der Grund dafür besteht für Heidegger
darin, daß der Tod eine Seinssituation ausdrückt, die schlechthin unbezüglich ist:
„Die eigenste Möglichkeit ist [eine] unbezügliche“, sagt Heidegger in seiner Analyse der existenzialen Möglichkeit des Daseinsentwurfs zum Tode. 728
Warum jedoch der Tod für Heidegger als die eigenste Seinsmöglichkeit zu verstehen ist, bleibt in vielerlei Hinsicht unklar. Ist der Tod nicht das Ende der Existenz? Ist es dann aber nicht angemessener, den Tod nicht als die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins zu betrachten, sondern vielmehr als die fundamentalste
Bedrohung für das Seinkönnen des Daseins? In der Tat ist der Tod Heidegger
zufolge nicht ohne die vorhergehende Existenz des Daseins möglich: „Existenz,
Faktizität, Verfallen charakterisieren das Sein zum Ende und sind demnach konstitutiv für den existenzialen Begriff des Todes. Das Sterben gründet hinsichtlich
deutlich zu machen, wie das Dasein zu dem Bewußtsein gelangen kann, sich nicht nur als etwas
von den anderen Seienden Isoliertes zu betrachten (im Weltbewußtsein), sondern die Einheit mit
den anderen Seienden zu erkennen (im Bewußtsein des Seins selbst). D. Thomä weist in dem
Kapitel 4.1.2. seines Werkes Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, in dem es um eine Kritik der
Textgeschichte Heideggers geht, darauf hin, daß die Handlung des Heideggerschen Daseins im
Moment der Kunsterfahrung eine Bewegung „vom Hantieren zum ‚sich selbst vernichtenden‘ Handeln“ vollzieht. (D. Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, Frankfurt a. M.
1990, S. 690.) Der Grund hierfür besteht darin, daß ein Kunstwerk ein passives Moment des Daseins zum Ausdruck bringt, das allerdings nicht einfach auf die Intention des handelnden Daseins
zurückführbar sei: „Beim Geschaffenen wird […] des ‚Schöpfers‘ eigene Absicht unkenntlich. […]
So wird ein erster wichtiger Effekt deutlich, der mit Heideggers Wendung zur Kunst zu erzielen
ist: nämlich die Wendung zu einem sich vernichtenden Handeln.“ (Ebd., S. 692 f.)
728
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 263.
360
seiner ontologischen Möglichkeit in der Sorge.“ 729 Mit anderen Worten: die sorgende Seinsweise des Daseins, die in der alltäglichen Seinssituation die Orientierung des Daseins am praktischen Leben veranlaßt, ist die ontologische Bedingung
für das Sein zum Tode. Der Tod ist also nicht nur die eigenste Seinsmöglichkeit
des Daseins, sondern zugleich die Möglichkeit der ausstehenden Seinsweise des
Daseins.
Was Heidegger damit zum Ausdruck bringen möchte, kann m. E. folgendermaßen wiedergegeben werden: Die Existenz des Daseins setzt voraus, daß dieses
sich mit den innerweltlichen Gegebenheiten auseinandersetzt, da die Existenz auf
die ausstehende Seinsweise des Daseins gründet. Solange aber das Dasein sein
Sein in bezug auf das Seiende denkt oder solange das Dasein sich für den Zweck
der Erhaltung seiner Existenz zum Seienden verhält, führt es ein uneigentliches
Leben. Das Dasein muß sich als ein Sein zum Ende begreifen, damit für das Dasein die Möglichkeit besteht, sich von der Tendenz des Verfallens im Alltagsleben zu befreien und sich auf das eigene Sein hin zu bewegen. Darum ist der Tod,
der Heidegger zufolge unbezüglich sein soll, die eigenste Seinsmöglichkeit des
Daseins.
Es fragt sich nun, warum das Dasein in seiner Existenz, die an der Vorhandenheit
und an der Zuhandenheit ausgerichtet ist, nur ein uneigentliches Leben führen
kann? Warum gilt das Sichverstehen des Daseins als eines ausstehenden Seins,
das die Entdeckung des Seienden voraussetzt, als das uneigentliche Seinkönnen
des Daseins? Was bedeutet es, daß das eigenste Sein unbezüglich sein soll? Kann
man etwas Unbezügliches überhaupt als Sein bezeichnen? Heideggers These, daß
der Tod die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins ist, ist m. E. ein Ausdruck für
die Ausweglosigkeit des Heideggerschen Denkens. Für die da-seiende Seinsweise
des Daseins kann es für Heidegger eigentlich keinen anderen Ausweg aus der
ruinanten Bewegtheit des Alltagslebens geben, da die Existenz den Seinsbezug
des Daseins auf das Seiende notwendig voraussetzt.
Auch hier bemerkt man den Vorrang der zeitlichen Dimension in Heideggers
Daseinsanaylse. Daß die eigenste Seinsmöglichkeit unbezüglich ist, bedeutet
729
Ebd., S. 252.
361
allerdings, daß die existenziale Differenz, die zwischen meinem Dasein und dem
anderen Seienden besteht, für die Charakterisierung des Seins selbst ungeeignet
ist: Die Existenz ist die ausstehende Seinsweise des Daseins und setzt daher stets
relationale Beziehungen zwischen dem Dasein und anderem Seienden voraus. 730
Wenn es so ist, muß man für die Möglichkeit des eigensten Seins vor allem nach
einem Seinsbegriff fragen, in dem diese Differenz aufgehoben bzw. relativiert ist.
Hierbei kann es nur darum gehen, einen Seinsbegriff herauszubilden, für den die
existenziale Trennung von meinem Sein und dem anderen Sein, die allerdings
einen raum-zeitlichen Gegensatz voraussetzt, an Geltung verliert. Das transzendente Ansichsein Gottes, auf das ich mich in meinem religiösen Selbstbewußtsein
ausrichte, kann z. B. als ein solcher Seinsbegriff gelten, da diesem Sein ein raumzeitlicher Gegensatz nicht beizumessen ist: Da ich mich in meinem frommen Abhängigkeitsgefühl nur als einen Teil des ganzen Seins verstehe, setzt mein Gottesbewußtsein keine Trennung von mir und Gott voraus, wenn man unter dieser
Trennung irgendeinen Gegensatz zwischen den einzelnen Seienden versteht. Heideggers These, daß der Tod die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins sei, liefert
m. E. keine bedeutsamen Hinweise für einen adäquaten Seinsbegriff. Mit dem
Tod hört das Dasein auf zu existieren. Somit wird auch die Trennung zwischen
meinem Dasein und dem anderen Sein sinnlos, da das Dasein, durch dessen Existenz die Trennung zwischen dem Dasein und dem anderen Sein entsteht, nicht
mehr existiert. Aber diese Sinnlosigkeit bedeutet keine wirkliche Möglichkeit des
Daseins, sich aus der uneigentlichen Lebensbewegtheit im Alltagsleben (Verfallen) herauszuholen. Mit dem Tod geht der Lebenslauf eines Daseins, der freilich
die Zeitlichkeit des Daseins voraussetzt, zu Ende und damit auch die ruinante
Lebensbewegtheit des am Seienden orientierten uneigentlichen Daseins – das ist
alles, was man aus Heideggers These vom Tod als der eigensten Seinsmöglichkeit des Daseins ableiten kann. Heidegger versucht das Problem der Seinsganzheit, das durch die existenziale Trennung des Daseins und des anderen Seins
730
Das ist m. E. auch der Grund dafür, warum für Heidegger die Entschlossenheit zum eigenen
Sein gehaltlos bleiben soll. Vgl. „Die Entschlossenheit wird von Heidegger zu Recht als gehaltlos
im Sinne materialer Werte oder Zwecke des Handelns konzipiert.“ (C. Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln, Berlin / New York 1993, S. 315.)
362
durch das Da des Daseins entsteht, durch den Hinweis auf das mögliche Ende des
zeitlichen Lebensverlaufs des faktischen Daseins zu lösen. Das ist allerdings keine wirkliche Lösung des Problems.
Der Grund für diese unbefriedigende Charakterisierung des ‚eigensten
Seins‘ besteht m. E. darin, daß Heidegger, wie schon erwähnt, das Dasein primär
als einen formalen Strukturbegriff versteht. Da Heidegger bei seiner Analyse des
Daseins von der konkreten Leiblichkeit des Menschen abstrahiert, bleibt die Faktizität des leiblichen Daseins, daß es sich gemeinsam mit allem anderen einzelnen
Seienden in einem absolut kontinuierlichen Kraftfeld (Sein als Dynamis) befindet,
verdeckt: Die formal-ontologische Trennung zwischen dem Dasein und dem anderen Seienden verabsolutiert sich.
Heideggers Ontologie ist daher nicht von jenem Fehler frei, den Schleiermacher
auf die optische Täuschung beim Denken zurückführt. 731 Für das am Sehen orientierte Denken ist das Dasein von einem anderen Seienden durch den Raum getrennt. Aber indem ich das andere Seiende wahrnehme, muß ich mich als ein solches Dasein betrachten, das sich in einem kontinuierlichen Wirkungsverhältnis
mit dem anderen Seienden befindet. Da Heidegger diese Dimension der Leiblichkeit des Daseins für die Definition des existenzialen Daseins außer acht läßt, ist es
für Heidegger eigentlich nicht möglich, die räumliche Trennung zwischen dem
Dasein und dem anderen Seienden zu relativieren: das Seiende bleibt stets das
vom anderen Sein gesonderte Seiende, es verweist nicht auf die absolute Kontinuität alles Seienden in einem konkreten Wirkungsverhältnis.
4.4.3. Die Ausweglosigkeit des Heideggerschen Daseins, aus der ruinanten Lebensbewegtheit zu entfliehen
Das Fehlen der Leiblichkeit des Heideggerschen Daseins führt nun m. E. dazu,
daß es für das Dasein letztlich keinen Ausweg aus der ruinanten Lebensbewegtheit des Daseins (Verfallen) gibt. Das Dasein ist, wenn man Heideggers Ontologie konsequent zu Ende denkt, zum Verfallen verurteilt. Seine Lebensbewegtheit
731
Vgl. F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 554; ders., Der christliche Glaube, a.a.O., S.
198 ff.
363
ist nur als Ruinanz möglich, da die Existenz notwendig eine Beziehung des Daseins zu dem Seienden voraussetzt, die nur durch den Tod aufgehoben werden
kann. O. Pöggeler weist besonders überzeugend auf diese Ausweglosigkeit des
Heideggerschen Daseins hin.
Es wurde bereits gezeigt, daß Heidegger das Wesen der Rede als eine existenziale Zeitlichkeit versteht. Die Rede setzt dennoch die Anwesenheit des Anredenden
und des Angeredeten voraus, hat also auch eine räumliche Dimension. Das wird
auch dadurch deutlich, daß die zeitliche Artikulation der Rede als Einheit von
Gewesenheit und Zukunft auf das innerzeitige 732 Geschehen in der Welt anwendbar ist, das allerdings den Bezug der Rede zu einem konkreten Seienden voraussetzt: „Da das Dasein von der Endlichkeit der Individuation absehen und Geschichtlichkeit zugunsten der Innerzeitigkeit vergessen kann, ist die Artikulation
[der Rede] als Einheit von Gewesenheit und Zukunft modifikabel.“ 733
Genau betrachtet darf man diese Beziehung der Rede auf ein innerzeitiges Geschehen nicht bloß als eine Möglichkeit der Rede verstehen; man muß vielmehr
davon ausgehen, daß eine Rede ohne einen Bezug zum innerzeitigen Geschehen
nicht möglich ist. Denn die Rede ist immer eine Artikulation der Differenzen, die
die Entdeckung des Seienden voraussetzt. Die Rede ist also auf das Seiende bezogen (bezüglich), auch wenn Heidegger die Rede im existenzialen Sinn von der
Rede als Aussage unterscheiden will: Die Rede ist immer eine Rede zwischen
verschiedenen Gesprächspartnern, die ein gemeinsames Weltverständnis haben.
Daraus aber, daß die Rede notwendig mit dem innerzeitlichen Geschehen verbunden ist, ergibt sich nun, daß die Rede für Heidegger eigentlich nur als ein Gerede möglich ist. Die Artikulation der Rede, die Heidegger als die Artikulation
der drei Zeitekstasen versteht, verbindet sich mit dem innerzeitlichen Geschehen.
Hieraus resultiert nun, daß die Gegenwart unter den drei Zeitekstasen eine zentra732
Die Innerzeitigkeit ist für Heidegger eine Bezeichnung der Zeitlichkeit des innerweltlich Seienden, aus der der vulgäre Begriff der Zeit als einer abzurechnenden entspringt. Vgl. „Das Rechnen mit der Zeit ist konstitutiv für das In-der-Welt-sein. Das besorgende Entdecken der Umsicht
läßt, mit seiner Zeit rechnend, das entdeckte Zuhandene und Vorhandene in die Zeit begegnen.
Das innerweltliche Seiende wird so als ‚in der Zeit seiend‘ zugänglich. Wir nennen die Zeitbestimmtheit des innerweltlichen Seienden die Innerzeitigkeit.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O.,
S. 333.)
733
O. Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, a.a.O., S. 129.
364
le Rolle spielt, da die Rede die Gegenwart von einem Gesprächspartner voraussetzt. Diese Gegenwart bei einer Redesituation hat natürlich nicht nur eine zeitliche Dimension, sondern sie hat auch den Sinn der Anwesenheit, da die Rede immer als ein Gespräch zwischen verschiedenen Gesprächspartnern über etwas geschieht. Die Gegenwart bei einer Redesituation hat also neben der Zeitlichkeit
mindestens zwei Bezugspunkte, die nicht bloß als zeitlich zu bezeichnen sind:
Die Anwesenheit von einem Gesprächspartner und das Seiende, das entweder der
Gegenstand der Rede ist oder, falls die Rede nicht direkt auf das bestimmte Seiende bezogen ist, als ein notwendiger Hintergrund für die Rede fungiert. Ich rede
z. B. mit einem Freund über ein historisches Ereignis wie die Französische Revolution, das nicht zu dem (gegenwärtig) ‚Seienden‘ gezählt werden kann; aber ohne das bestimmte Verständnis des Seienden, das empirisch als vorhanden (oder
als dereinst geschehen) konstatierbar ist, ist diese Rede nicht möglich. Die Rede,
die sich in der wirklichen Lebenssituation notwendig mit einem innerzeitlichen
Geschehen verbindet, ist bei Heidegger nur als ein Gerede möglich, da sie nur
bezüglich des Seienden geschieht: „Wenn Heidegger diese modifikable Artikulation mit den drei Zeitextasen parallelisiert, dann geschieht etwas Merkwürdiges:
nicht die Rede […] wird auf die dritte Ekstase der Gegenwart bezogen, sondern
das Verfallen, das doch eine Modifikation der Grundstruktur im ganzen ist. […]
Bei der Rede wird überhaupt nur die uneigentliche Zeitigung berücksichtigt, so
daß der Grundstruktur des Daseins das alltägliche Gerede, nicht aber das Gespräch zugesprochen wird. (Nur im Schweigen soll die Stimme des Gewissens
reden.)“ 734
Der Grund hierfür ist Heideggers Aporie der Eigentlichkeit bzw. der Ursprünglichkeit. Einerseits macht Heidegger selbst geltend, daß die Existenz als die ausstehende Seinsweise des Daseins die Entdeckung des Seienden voraussetzt; dennoch gehört alles, was den Seinsbezug zum Seienden hat, zur Sphäre der Uneigentlichkeit. Es wurde bereits erwähnt, daß die Rede immer eine notwendige Beziehung zu einem innerzeitlichen Geschehen hat. Die Rede ist eine Artikulation,
unter der Heidegger primär die Artikulation der Zeitekstasen verstehen will; aber
734
Ebd., S. 129 f.
365
die Artikulation der Zeitextasen, die nicht auf das innerzeitliche Geschehen in der
Welt bezogen ist, ist nur eine philosophische Abstraktion, die keineswegs der
wirklichen Redesituation entspricht. Für Heideggers Denken, das den Seinsbezug
des Daseins zum Seienden als die Ursache für die uneigentliche Lebensführung
des Daseins betrachtet, ist es daher schwer, die faktische Differenz zwischen der
Rede und dem Gerede ausfindig zu machen: „Die Artikulation als Rede kann mit
dem Verfallen zusammenrinnen, weil alles Sein-bei-Seienden oder Gegenwärtigen als ein Verfallen erscheint und gar nicht gefragt wird, wie das Mitsein mit
Anderen oder das Tragen eines Ringes auf Eigentlichkeit verweist. Auf der anderen Seite erscheint das Umwillen der Zukunft oder das Wovor der Gewesenheit
dem Gegenwärtigen und dem Behalten als ein Gegenwärtiges.“ 735
4.4.4. Die Leiblichkeit des Daseins, die Liebe und das Sein
Das ist ein Beispiel für die Ausweglosigkeit eines Denkens, das nach dem Sein
selbst fragt, ohne dabei der leiblichen Bestimmung des Daseins gebührend Rechnung zu tragen. Der Weg zum Sein selbst kann nicht dadurch erreicht werden,
den wirklichen Seinsbezug des Daseins zum Seienden bloß als ein Verfallsphänomen zu definieren. Er kann nur durch eine Lebenseinstellung erreicht werden,
die Schleiermacher ‚Liebe‘ nennt. Das Sein selbst zeigt sich nicht durch ein philosophisches Gedankenexperiment, dessen Ausgangspunkt in der formalontologischen Strukturanalyse des Daseins liegt. Wir müssen vielmehr, um das
Sein selbst zu denken, lernen, alles weltlich Seiende zu lieben. Diese Liebe bedeutet nicht nur eine affektive Zuneigung zu einem bestimmten Seienden, sondern auch ein Lebensmoment, in dem wir über die Grenze unseres am praktischen
Zweck orientierten Seinsverständnisses hinausgehen. Das Seiende ist in dieser
Liebe nicht mehr der Gegenstand meiner praktischen Handlung, dessen Auslegung von meinem praktischen Willen abhängt. In der Liebe frage ich, wie dieses
Seiende an sich ist.
735
Ebd., S. 129.
366
Diejenigen, die in dieser Frage nach dem Ansich eines Seienden einen bloß theoretischen Erkenntnisakt erblicken wollen, haben nicht das volle Potential der Philosophie Schleiermachers verstanden. Der theoretische Erkenntnisakt befestigt die
Gegenständlichkeit des Seienden, die durch meinen praktischen Umwillen als
einen Seinssinn dieses Seienden ausgelegt ist. Was für meine praktische Handlung als das Zuhandene erscheint, kommt für ein theoretisches Bewußtsein als
das Vorhandene vor. Aber sowohl das Zuhandene als auch das Vorhandene wird
durch eine Distanz bestimmt: Das Seiende wird nicht nur vom Standpunkt der
Praxis aus, sondern auch vom Stanspunkt der Theorie aus als das von meinem
Sein isolierte Seiende betrachtet, als das mir gegenüber gegenständlich Seiende.
Unser Denken ist hierbei immer noch an der Gegenständlichkeit orientiert. Das
Denken, das durch die Liebe veranlaßt wird, erhält jedoch eine ganz andere Richtung. Wir fragen, wie das Seiende an sich ist. Dieses Seiende ist aber nicht ein
Gegenstand, sondern ein konkretes Sein, das auf mein Leben wirkt. Mein Sein ist
durch dieses Seiende bestimmt, und in diesem Bewußtsein, in dem ich mein eigenes Selbst als ein durch das andere Seiende beeinflußtes und bestimmtes Sein
betrachte, verliert der gegenständliche Sinn des Seienden an Geltung. Die Trennung meines Daseins von dem anderen Sein, die in meinem praktischen Leben
unbefragt hingenommen wird, wird nun problematisch. Die Liebe ist in diesem
Sinn Liebe zur Weisheit, die mich von meiner blinden Verabsolutierung der Gegenständlichkeit des Seienden befreit. Sie ist die Philosophie im eigentlichsten
Sinn, die meine alltägliche Bindung an das dinghaft Seiende überwindet. Durch
diese Liebe gerate ich in eine Unruhe, die durch den Zweifel an der Sinnhaftigkeit
des praktischen Lebens verursacht wird. In dieser Unruhe verlasse ich nicht das
Seiende. Das ist ja für mich als ein endliches Dasein gar nicht möglich, da jedes
endliche Sein nur in bezug auf das andere Sein existieren kann. Ich bestimme
vielmehr den Sinn des Seienden neu. Das Seiende ist nicht mehr ein Gegenstand,
der von mir isoliert ist. Solange ich mir bewußt bin, daß dieses Andere mein Bewußtsein mitbestimmt, erkenne ich vielmehr an, daß ich und dieses Seiende gemeinsam in einem konkreten Wirkungsverhältnis stehen.
367
Jedes Seiende ist in meiner liebenden Beziehung zu ihm weder als das bloß Vorhandene noch als das bloß Zuhandene gegeben, sondern es ist ein eigenständiges
Sein, und ich fühle mich als ein konkretes Sein, das durch den Bezug zu diesem
Seienden konkret bestimmt ist. Die Leiblichkeit des Daseins, die Schleiermacher
mit seiner Entdeckung der Intentionalität des Bewußtseins zum Ausdruck bringt,
ist eine ontologische Voraussetzung dafür, daß ich das, was in meinem am praktischen Zweck orientierten Alltagsleben bloß als zuhanden bzw. vorhanden vorkommt, als ein eigenständiges Ansichsein anerkenne. Die Leiblichkeit des Daseins, durch die ich die Wirkungen der Dinge der Außenwelt auf mich spüre, ist
in diesem Sinn die Grundmöglichkeit des Daseins, sich aus der ruinanten Lebensbewegtheit des alltäglichen Daseins herauszuholen. Die Leiblichkeit des Daseins macht es notwendig, daß sich das Dasein mit dem anderen Sein durch die
Liebe verbindet. Das Dasein fragt nach dem Ansich des Seienden, das über die
Grenze meines praktischen Umwillens weit hinausgeht. In der Liebe zu einem
konkreten Seienden aktualisiert das Dasein ein Denken, das nicht um des praktischen Zweckes willen, sondern um des Denkens selbst willen vollzogen wird: das
reine Denken. Mit der Aktualisierung des reinen Denkens, das nach dem Ansich
des Seienden fragt, zeigt sich alles Seiende als etwas, was mit mir in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang steht. Ich bin nicht nur ein ausstehendes Sein, sondern ein innestehendes, und diese Inständigkeit meines Daseins
charakterisiert sich dadurch, daß alles endlich Seiende nur durch die Zusammengehörigkeit zum ganzen Sein existieren kann, das nicht bloß als die Totalität alles
Seienden zu betrachten ist. Mit anderen Worten: Die Leiblichkeit des Daseins, die
Liebe und das Sein selbst sind fundamentale Strukturmomente für die Existenz
des Daseins; eine Ontologie, die am Leitfaden einer formal-ontologischen Strukturanalyse des Daseins durchgeführt wird, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt, solange der konkrete Leib des Daseins nicht berücksichtigt wird. Denn
ansonsten fehlt letztlich die existenziale Grundlage dafür, daß die Trennung zwischen den einzelnen Seienden aufgehoben bzw. relativiert wird.
368
IV. Die Existenz und das Abhängigkeitsgefühl
Im Mittelpunkt des vierten Teils dieser Arbeit soll die These stehen, daß das Abhängigkeitsgefühl im Sinne Schleiermachers ein Ausdruck des existenzialen
Seinsverhältnisses des Daseins ist. Diese These läßt sich nicht nur mit philosophischen Argumenten verteidigen, sondern auch zwei philologische Indizien
sprechen für sie: Schleiermachers eigene Ausführungen über seinen Begriff des
Abhängigkeitsgefühls und die Schleiermacher-Interpretation von zwei wichtigen
Husserl-Schülern, Martin Heidegger und Adolf Reinach, stützen diese These.
Schleiermacher selbst versteht das Abhängigkeitsgefühl als einen Ausdruck des
existenzialen Seinsverhältnisses des Menschen, und auch Reinach und Heidegger
gelangen nach ihrer Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie Schleiermachers zu demselben Ergebnis. Dies soll in den folgenden Kapiteln näher erläutert werden.
Allerdings darf man nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß Schleiermachers
Religionsphilosophie ausschließlich als Existenzontologie – und nicht als eine
Form der Phänomenologie – zu interpretieren sei, auch wenn ihr zentraler Begriff
des Abhängigkeitsgefühls das existenziale Seinsverhältnis des Daseins zum Ausdruck bringt. Das philosophische Verhältnis zwischen der Phänomenologie und
der Existenzontologie darf keineswegs als eine Entweder-Oder-Frage verstanden
werden. G. Marcel z. B., der unabhängig von Husserl eine eigenständige Phänomenologie entwickelt hat, kommt bei seinen Analysen bekanntlich zu dem Ergebnis, daß die leibliche Existenz des Daseins für jedes wirkliche Bewußtseinsleben vorausgesetzt werden muß. Unter dem Einfluß von Marcel betont auch Merleau-Ponty die leibliche Existenz des Daseins, die für ihn aber keineswegs als ein
Zeichen der Unzulänglichkeit der Phänomenologie als Philosophie verstanden
werden dürfe. 736 Vielmehr soll man die Existenzontologie als einen Versuch verstehen, die Phänomenologie über die Grenze der klassischen Bewußtseinstheorie
736
Vgl. B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a. M. 1987, S. 150 ff.
369
hinauszuführen. Für viele Phänomenologen, die an Husserl anknüpfen, hängt
Husserls eigener Entwurf der Phänomenologie immer noch zu stark von der klassischen Bewußtseinstheorie ab. Auch die existenzontologische Dimension
Schleiermachers kann m. E. als ein Indiz dafür gewertet werden, daß die phänomenologische Analyse des Bewußtseins bei Schleiermacher von Anfang an von
einer Kritik an der klassischen Bewußtseinstheorie geleitet ist.
Daß Heidegger selbst Schleiermachers Religionsphilosophie als eine Existenzanalyse des Daseins verstanden hat, kann m. E. als ein wichtiger Beleg dafür bewertet werden, daß Heideggers Philosophie im ganzen unter dem Einfluß der
Anregungen bleibt, die er in seiner frühen Freiburger Zeit durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher erhalten hat. Durch die bisherige Untersuchung wissen
wir nun, daß Schleiermacher eine fundamentalontologische Frage nach dem Sein,
die durch unser natürliches Seinsverständnis – für welches das Sein das Seiende
ist – nicht adäquat beantwortet werden kann, von einer phänomenologischen
Analyse des Selbstbewußtseins abgeleitet hat. Was Schleiermacher durch diese
Verbindung von Phänomenologie und Ontologie erhält, ist die Notwendigkeit,
daß die Existenzstruktur des Daseins für eine angemessene Analyse der Struktur
des Selbsbewußtseins berücksichtigt werden muß. Dies werden wir durch die
kurze Analyse der Auseinandersetzung Schleiermachers mit dem Theologen
Bretschneider deutlich erkennen können. Auch Heidegger gelangt zu dem Ergebnis, daß Schleiermachers Religionsphilosophie als eine existenzontologische
Analyse des Daseins bezeichnet werden kann. Dies wird im Folgenden ausführlich begründet werden..
Wenn sich dies aber so verhält, dann kann man auch festhalten, daß Heideggers
Beschäftigung mit Schleiermacher nicht bloß als eine Vorstufe für eine spätere
existenzontologische Analyse des Daseins verstanden werden darf. Somit haben
wir nun einen Beleg für eine der Hauptthesen der Arbeit, auf die ich gleich in der
Einleitung und dann im weiteren Verlauf dieser Arbeit wiederholt hingewiesen
habe: Unter der sogenannten hermeneutischen Wende Heideggers, die O. Pöggeler und H. Ott zu Recht auf Heideggers Beschäftigung mit Schleiermacher zurückführen wollen, darf man nicht bloß eine Übergangsphase des Heideggerschen
370
Denkens verstehen, die dann durch die Existenzontologie in Sein und Zeit oder
durch die sogenannte Kehre des Heideggerschen Denkens überwunden worden
wäre; man muß vielmehr davon ausgehen, daß Heidegger gerade durch seine Beschäftigung mit Schleiermachers Religionsphilosophie einen entscheidenden Ansatzpunkt für seine Philosophie erhalten hat, der für seine Philosophie im ganzen
von bleibender Bedeutung ist.
Um richtig verstehen zu können, wie sich Heideggers Philosophie zur Religionsphilosophie Schleiermachers verhält, muß man sich vor allem von zwei Fehlinterpretationen kritisch distanzieren, die unter dem Einfluß der praxeologischen
Heidegger-Interpretation Gadamers zur Zeit weit verbreitet sind: 1. Sein und Zeit
sei für den eigentlichen Denkweg Heideggers, der bereits in seiner frühen Freiburger Zeit beginnt, nicht wirklich zentral. 2. Heideggers Kehre bedeute einen
Standpunktwechsel Heideggers. Daß beide Behauptungen auf einer sehr eigenwilligen Heidegger-Interpretation beruhen, wurde schon im zweiten und dritten
Teil nachzuweisen gemacht. Der Grund für diese Fehlinterpretation besteht m. E.
darin, daß man das Verhältnis zwischen Phänomenologie, Hermeneutik und Ontologie bei Heidegger nicht richtig auffaßt. Die Behauptung von Gadamer (und
Kisiel), Heideggers Kehre sei eine Rückkehr zu einem frühen Freiburger Standpunkt, in dem das Dasein primär in seiner Lebensbewegtheit bzw. im Vollzugscharakter der Lebensführung des Daseins betrachtet werde, wird bereits problematisch, wenn berücksichtigt wird, daß schon in den frühen Freiburger Vorlesungen von Heidegger zahlreiche Stellen gefunden werden können, in denen sich
eine phänomenologische Analyse des Angstphänomens zeigt. Dies wurde bereits
im ersten Teil dieser Arbeit gründlich untersucht. Im dritten Teil haben wir, in
Anlehnung an Heideggers eigener Stellungnahme über die Bedeutung seiner Kehre in dem ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, sogar gesehen, daß Heidegger selbst
seine Kehre nicht als einen Standpunktwechsel versteht. Was Heidegger in Sein
und Zeit über die Beziehung zwischen Phänomenologie und Ontologie äußert,
bleibt also für seine Philosophie weiterhin von grundlegender Bedeutung: „Ontologie ist nur als eine Phänomenologie möglich.“ 737 Zwar versucht Heidegger
737
M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 35.
371
nach seiner Kehre, ohne den Umweg der phänomenologischen Bewußtseinsanalyse bzw. der existenzontologischen Strukturanalyse des Daseins direkt vom Sein
selbst zu sprechen. Aber diese Kehre setzt eine phänomenologische Bewußtseinsanalyse einerseits und die existenzontologische Analyse der Daseinsstruktur als
zwei unentbehrliche Vorbedingungen voraus, da gerade diese beiden Analysen
den notwendigen Grund dafür verschaffen, warum wir den Sinn des Seins nicht
einfach von dem Standpunkt des Seienden aus betrachten dürfen. Es ist also kein
Wunder, daß Heidegger Phänomenologie, Ontologie und Hermeneutik des Daseins als drei konstitutive Elemente der echten Philosophie versteht: „Ontologie
und Phänomenologie sind nicht zwei verschiedene Disziplinen neben anderen zur
Philosophie gehörigen. Die beiden Titel charakterisieren die Philosophie selbst
nach Gegenstand und Behandlungsart. Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der
Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort freigemacht
hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“ 738 Man kann allerdings
eine phänomenologische Dimension der Philosophie besonders hervorheben und
sich auf ein Bewußtseinsphänomen wie z. B. die Angst konzentrieren. Oder man
kann sich der existenzialen Daseinsanalyse widmen und hieraus das Da des Daseins als die ursprüngliche Ermöglichungsbedingung für die Seinsoffenheit erweisen. Oder man kann sogar direkt das Sein selbst behandeln, nachdem eine
fundamentalontologische Frage nach dem Sein selbst, das sich vom Seienden
gründlich unterscheidet, durch die phänomenologische Betrachtung des Bewußtseinslebens und die Analyse der Existenzstruktur des Daseins als gerechtfertigt
erwiesen wurde. Es ist aber ein Irrtum, wenn man meint, Heidegger hätte Hermeneutik und Phänomenologie bloß als Übergansformen zu einer Ontologie betrachtet: Das ontologische Denken über das Sein selbst hat kein Fundament, wenn die
Frage nach dem Sein phänomenologisch und hermeneutisch nicht als philosophisch notwendig erwiesen wird.
Es wurde bereits erwähnt, daß Heidegger selbst in seiner frühen Freiburger Zeit
Schleiermachers Religionsphilosophie als eine Existenzontologie verstanden hat.
738
Ebd., S. 38.
372
Dieser Tatbestand ist für die vorliegende Arbeit von entscheidender Bedeutung:
Schleiermachers Religionsphilosophie ist für Heidegger von Anfang an eine echte
Philosophie, in der Phänomenologie, Ontologie und Hermeneutik des Daseins
vereinigt sind. Diese These soll wir im Verlauf des vierten Teils dieser Arbeit
belegt werden.
373
1. Schleiermacher-Rezeption im Umfeld der Phänomenologie Husserls
Heidegger ist nicht der einzige Philosoph, der sich im Umfeld der Phänomenologie Husserls mit der Religionsphilosophie Schleiermachers beschäftigt hat. Wie
bereits erwähnt, setzt sich auch Reinach intensiv mit der Religionsphilosophie
Schleiermachers auseinander. Heidegger und Reinach haben jeweils eigene philosophische Grundpositionen, die sich in vielen Punkten voneinander unterscheiden.
Beide sind sich aber darin einig, daß man nicht zu einer idealistischen Philosophie übergehen könne, wenn man die phänomenologische Analyse des Bewußtseins konsequent durchgeführt hat. Schleiermachers Religionsphilosophie ist für
sie ein explizites Beispiel dafür, daß die Phänomenologie nur als eine phänomenologische Ontologie möglich ist.
1.1. Die Ontologie als notwendige Konsequenz der phänomenologischen Analyse
des Selbst
Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß sich die Idee einer phänomenologischen Philosophie nicht auf die Phänomenologie Husserls beschränken
läßt. Und zwar nicht nur deswegen, weil andere Denker unabhängig von Husserl
eigenständig eine phänomenologische Position entwickelt haben, wie z.B. der
bereits erwähnte Marcel. Man kann daher die Phänomenologie nicht einfach mit
den Logischen Untersuchungen von Husserl gleichsetzen. Es liegt vielmehr in der
Natur einer jeden philosophischen Position, daß weitere mögliche Entwicklungen
einer bestimmten Idee nicht notwendig mit der ursprünglichen Intention ihres
Urhebers übereinstimmen müssen. In der methodologischen Radikalität des Verfahrens, das Husserl die phänomenologische Reduktion nennt, liegt die Stärke der
Husserlschen Phänomenologie; die phänomenologische Reduktion ist in vielerlei
Hinsicht grundlegender als die Methodologie, die in der herkömmlichen Philosophie angewendet wurde, wenn es darum geht, einen sicheren Erkenntnisgrund zu
finden. Daraus ergibt sich aber nicht zwingend, daß jede phänomenologische Phi374
losophie wie bei Husserl zu einem transzendentalen Idealismus übergehen muß.
Es gibt bekanntlich zahlreiche wichtige Philosophen, die zwar von der Husserlschen Phänomenologie ausgehen, aber seinen Übergang zu einem transzendentalen Idealismus nicht mit vollziehen. K. Schumann, M. Merleau-Ponty, J.-P. Sartre,
E. Levinas, P. Ricoeur und A. Gurwitsch sind vielleicht die bekanntesten Namen
unter den Phänomenologen, die Husserls Idee des reinen Ich entschieden ablehnen.
Auch bei Husserl selbst ist der Übergang zu einem transzendentalen Idealismus
nicht von Anfang an angelegt. Bekanntlich lehnt Husserl in den Logischen Untersuchungen die Idee des reinen Ichs ab. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit
dem Neukantianer P. Natorp behauptet Husserl, daß sich im ursprünglichen Bewußtseinsfeld nichts finden läßt, was auf das Sein des reinen Ichs hinweist. In der
fünften Logischen Untersuchung führt Husserl die „Annahme eines reinen Ich als
Beziehungszentrums“ des Erlebnisses auf die „natürliche Reflexion“ zurück:
„Natürlich ist es objektiv betrachtet (also auch von dem Standpunkte der natürlichen Reflexion aus) richtig, daß sich das Ich in jedem Akte auf einen Gegenstand
intentional bezieht. Dies ist ja eine pure Selbstverständlichkeit, wofern uns das
Ich als nichts weiter gilt, denn als die ‚Bewußtseinseinheit‘ als das jeweilige
‚Bündel‘ der Erlebnisse, oder aber in empirisch realer Fassung und natürlicher,
als die kontinuierliche, dingliche Einheit, welche sich in der Bewußtseinseinheit
konstituiert: als das Ich, das in ihnen seine ‚psychischen Zustände‘ hat, das die
betreffende Intention, die betreffende Wahrnehmung, das Urteil usw. vollzieht.“ 739
Es ist also zwar nicht zu leugnen, daß jedes Erlebnis nur als ein Erlebnis eines
Ichs möglich ist. Aber das Ich des Erlebnisses ist dennoch nicht das reine Ich,
sondern eher eine konkrete Bewußtseinseinheit, das jeweilige Bündel der konkreten Erlebnisse. Mit anderen Worten ist das Ich, wie Husserl mit seiner Kritik an
der Natorpschen Idee des reinen Ich deutlich macht, nur als ein konkretes personales Bewußtsein möglich, das nur als eine Komplexion von Erlebnissen möglich
ist: „Die bewußte intentionale Beziehung des Ich auf seine Gegenstände kann ich
739
E. Husserl, Logische Untersuchungen II/1, a.a.O., S. 376 f.
375
nicht anders verstehen, als daß zum phänomenologischen Gesamtbestand der
Bewußtseinseinheit eben auch solche intentionale Erlebnisse gehören, in denen
der Ichleib, das Ich als die geistige Person und so das ganze empirische Ichsubjekt (Ich, der Mensch) das intentionale Objekt ist, und daß solche intentionalen
Erlebnisse zugleich einen wesentlichen phänomenologischen Kern des phänomenalen Ich ausmachen.“ 740 Allerdings nimmt Husserl in den Ideen I seine Kritik an
der Natorpschen Idee des reinen Ichs zurück: „In den ‚Log. Unters.‘ vertrat ich in
der Frage des reinen Ich eine Skepsis, die ich im Forschritte meiner Studien nicht
festhalten konnte. Die Kritik, die ich gegen Natorps gedankenvolle ‚Einleitung in
die Psychologie‘ richtete, ist also in einem Hauptpunkte nicht triftig.“ 741 Husserls Schwanken in der Frage des reinen Ichs zeigt aber klar und deutlich, daß
Husserl selbst seine Phänomenologie in seiner Anfangsphase nicht als einen
transzendentalen Idealismus verstand.
1.1.1. E. Steins Husserl-Kritik
Nicht von ungefähr bezeichnet E. Stein, die Husserls Assistentin in Göttingen war,
Husserls Übergang zum transzendentalen Idealismus „als eine Rückkehr zum
Kantianismus“. 742 Husserls Begründung der Phänomenologie in seinen Logischen
Untersuchungen sei durch die „Wende zum Objekt“ charakterisiert, wobei die
Phänomenolgie sich im Unterschied zum „Empirismus, der sich auf bloße sinnliche Erfahrung stützen will“, als eine „Wesenswissenschaft“ auszeichne. 743 Husserls Phänomenologie wurde zunächst „als eine Rückkehr zu den ältesten Traditionen: Platon – Aristoteles – Scholastik“ verstanden. 744 Die Phänomenologie der
Logischen Untersuchungen wurde als „eine Rückwendung von der kritizistischen
Denkweise der modernen Philosophie zu den großen Traditionen der philosophia
perennis“ empfunden. 745 Husserls Übergang zum transzendentalen Idealismus,
740
Ebd., S. 361. Vgl.: ebd., 375 ff.
E. Husserl, Idee zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I,
a.a.O., S. 124.
742
E. Stein, Welt und Person (E. Steins Werke Bd. VI), Louvain / Freiburg 1962, S. 9.
743
Ebd.
744
Ebd.
745
Ebd., S. 33.
741
376
der durch die Einführung der Idee des reinen Ich in die Phänomenologie vollzogen wurde, ist nach dieser Deutung E. Steins eine Abkehr von der philosophia
perennis. Die „Idee einer formalen Ontologie“,746 als die man Husserls Phänomenologie aufgefaßt habe, werde nun durch die kritizistische Betrachtung der
Bewußtseinsakte hinsichtlich ihrer Gegebenheitsweise unter Auslassung aller
Seinssetzungen (Epoché) ersetzt.
Für E. Stein geht es dabei überhaupt nicht um die Frage, ob Husserls Untersuchung der Konstitution der Welt durch Bewußtseinsakte im Wesentlichen richtig
ist oder nicht. Zwar könne man Husserls Idee der Weltkonstitution anerkennen,
aber durch die Erklärung, wie die Welt dem Subjekt gegeben ist, läßt sich das
ontologische Problem der Existenz der Welt gar nicht lösen: „Die Aufdeckung
der Bewußtseinssphäre und der Konstitutionsproblematik ist sicher ein großes
Verdienst Husserls, das heute noch zu wenig gewürdigt wird. Was in seinem eigenen Freundes- und Schülerkreis Anstoß erregte, war eine – unseres Erachtens
nicht notwendige – Folgerung, die er aus der Tatsache der Konstitution zog: wenn
bestimmte geregelte Bewußtseinsverläufe notwendig dazu führen, daß dem Subjekt eine gegenständliche Welt zur Gegebenheit kommt, dann bedeutet gegenständliches Sein, z. B. die Existenz der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt, gar
nichts anderes als Gegebensein für ein so oder so geartetes Bewußtsein“. 747
M.E. möchte Stein mit diesen Sätzen nicht die These verteidigen, daß es eine
Welt an sich gäbe, die sich von der Gegebenheit der Objekte im Subjekt grundsätzlich unterscheide. Dies ist nach E. Stein die These der kritizistischen Position
der modernen Philosophie. Diese, von Kant ausgehende, kritische Philosophie
stelle zwar einen entscheidenden Fortschritt in der Erkenntnistheorie dar, indem
sie das Verhältnis zwischen dem erfahrenden Menschen und dem zu erfahrenden
Sein durch eine Analyse der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens zu
erhellen versucht. Die kantische Philosophie sei aber in der entscheidenden Frage
nach dem Sein selbst nicht konsequent genug, indem sie das Sein des Dinges an
sich bzw. der Welt-an-sich nicht in Frage stellt.
746
747
Ebd.
Ebd., S. 10 f.
377
Stein vertritt dagegen eine ‚realistische‘ Position, allerdings nicht im herkömmlichen Sinne des Wortes. Die ontologische Ausrichtung des Göttinger und Münchener Phänomenologen-Kreises wird gewöhnlich als ‚realistische Phänomenologie‘ bezeichnet. Ob diese Bezeichnung angemessen ist, ist eine Frage, die erst
nach einer gründlichen Analyse der Schriften aus diesem Kreis beantwortet werden kann. Auf jeden Fall darf man aber die Position von Stein nicht einfach als
Realismus im gewöhnlichen Sinn dieses Wortes verstehen. Denn der Gottesbegriff spielt im Kontext ihrer Philosophie eine entscheidende Rolle.
Es steht außer Zweifel, daß Steins Husserl-Kritik hauptsächlich gegen dessen
Idealismus gerichtet ist. In einem Brief von Stein (an R. Ingarden, Freiburg, 20. 2.
1917) findet sich die Passage, nach der sie Husserl gegenüber ihre Skepsis geäußert habe: „Meine Bedenken gegen den Idealismus habe ich dem Meister [Husserl] neulich feierlich unterbreitet.“ 748 Daß es hierbei um den phänomenologischen Idealismus Husserls geht, wird aus dem weiteren Verlauf des Briefes deutlich, in dem Stein ihre lange Debatte mit Husserl über die Richtigkeit der idealistischen Weltsicht schildert: „Ich wurde in einer Ecke des lieben alten Ledersofas
untergebracht, und dann hat man zwei Stunden heftig debattiert – natürlich ohne
sich gegenseitig zu überzeugen. Der Meister meinte, er sei gar nicht abgeneigt,
seinen Standpunkt zu ändern, wenn man es ihm als notwendig erwiese. Das ist
mir aber bisher nicht gelungen. Jedenfalls ist ihm fühlbar geworden, daß er diesen
Punkt noch einmal gründlich durchdenken muß, wenn er es auch vorläufig verschoben hat.“ 749
Der Grund, warum Stein trotz ihrer starken Sympathie mit der Husserlschen
Phänomenologie den phänomenologischen Idealismus ablehnt, besteht darin, daß
ihrer Ansicht nach dasjenige, worauf sich unser Weltbewußtsein bezieht, nicht
schlechthin als nur ein immanentes Phänomen betrachtet werden kann. Einen
ähnlichen Gedanken kann man auch bei Heidegger finden: Das Dasein entdeckt
das Seiende als je schon seiend, und daher ist das Seiende nicht schlechthin ein
bewußtseinsimmanentes Phänomen. Das Seiende, das nur als ein bestimmtes
748
749
E. Stein, Selbstbildnis in Briefen I, Freiburg / Basel / Wien 1976, 8. Brief.
Ebd.
378
Phänomen, als ein Bündel der subjektiven Gegebenheiten zum Bewußtsein
kommt, ist nach Heidegger und Stein mehr als ein bewußtseinsimmanentes Phänomen: es verweist zugleich auf das Sein, das ursprünglicher ist als die phänomenische Welt, die nur als Korrelat meines Bewußtseins möglich ist.
Steins Husserl-Kritik geht nicht, wie schon erwähnt, von der Annahme der realen Welt an sich aus. Stein fragt nach dem Sein selbst, das nicht auf das Weltphänomen zurückzuführen ist. 750 Das Sein selbst ist nicht mit der Welt zu verwechseln, die nur als ein Korrelat des Bewußtseins existieren kann; das Sein selbst,
nach dem man nach der phänomenologischen Entdeckung des phänomenischen
Wesens der Welt fragen muß, muß ein absoluter Seinsgrund für das Ichbewußtsein einerseits und das Weltbewußtsein andererseits sein.
Dieser Gedankengang Steins zeigt sich besonders deutlich in ihrer ambivalenten
Stellungnahme zur Philosophie Heideggers: „Bei Heidegger erscheint es mir heute verfrüht, sein Weltbild zeichnen zu wollen. Die Zentralstellung des Daseins,
die Betonung der Sorge als zu ihm wesenhaft gehörig, des Todes und des Nichts,
sowie manche extreme Formulierungen weisen auf ein gott-loses, ja geradezu
nihilistisches Weltbild hin. Aber es gibt auch Äußerungen, die es als möglich
erscheinen lassen, daß einmal der Umschlag ins Gegenteil erfolgt und das in sich
nichtige Dasein seinen Halt in einem absoluten Seinsgrund findet.“ 751
Dieser Seinsgrund ist für Stein Gott, den sie in einer Darstellung der spanischen
Mystikerin, der hl. Teresia von Avila als einen genuinen Sinn des transzendenten
Seins beschreibt, dessen Anerkennung eine Folge der phänomenologischen
Selbstanalyse sein müsse: „Durch die Selbsterkenntnis nähern wir uns Gott.“ 752
Nach Stein ist Sein und Zeit von einer antichristlichen Tendenz geprägt, die gegen
den Seinsbegriff des theologischen Denkens gerichtet sei: „Es bricht hier ein anti-
750
Daß Stein – wie Heidegger – die Frage nach dem Sein selbst beschäftigt, macht R. Fetz in
seiner Darstellung der Steinschen Theorie der persönlichen Identität deutlich: „Die Rede von dem
im Menschen anzutreffenden ‚Gegensatz von Ichleben und Sein‘ sollte [nach Stein] uns aufhorchen lassen, weil die Aufhebung dieses Gegensatzes die ‚Identität von Ichleben und Sein‘ ist.“ (R.
Fetz, ‚Ich, Seele, Selbst. Edith Steins Theorie personaler Identität‘, in: R. Luzius / M. Rath / P.
Schulz, Studien zur Philosophie von Edith Stein (Phänomenologische Forschungen 26/27), Freiburg / München 1993, S. 307.)
751
E. Stein, Welt und Person, a.a.O., S. 14.
752
Ebd., S. 41.
379
christlicher Affekt durch, der im allgemeinen beherrscht ist, vielleicht ein Kampf
gegen das eigene, keineswegs erstorbene christliche Sein. Er zeigt sich auch in
der Art, wie die Philosophie des Mittelalters behandelt wird: in kleinen Seitenbemerkungen, die es als überflüssig erscheinen lassen, sich ernstlich mit ihr auseinanderzusetzen; als Irrweg, auf dem das rechte Fragen nach dem Sinn des Seins
verloren ging.“ 753 Diese antichristliche Tendenz Heideggers ist aber nach Stein
nur eine Folge eines falschen Verständnisses des Seinsbegriffs der Tradition der
christlichen Theologie. Stein zufolge besteht Heideggers entscheidender Fehler
darin, daß er den Sinn des Seins in der scholastischen Philosophie irrtümlicherweise mit dem Vorhandensein gleichsetzt: „Hätte es sich nicht gelohnt nachzuforschen, ob nicht in dem Bemühen um die analogia entis die echte Frage nach dem
Sinn des Seins lebe? Bei gründlicher Erwägung wäre auch klar geworden, daß die
Tradition Sein keineswegs im Sinn von Vorhandensein (d. i. dinglichem Beharren)
meinte.“ 754
Die Aussage: Es gibt eine Welt-an-sich, ist insofern realistisch, als in ihr die Existenz einer realen Welt behauptet wird, deren Korrelat unser Weltbewußtsein ist.
Die kritizistische Behauptung: ‚Wir können das Ding an sich nicht erkennen‘, ist
hier nur von sekundärer Bedeutung. Auch sie beruht noch auf einer realistischen
Position, da sie die Realität der Welt an sich annimmt: Indem sie die Existenz der
an sich seienden Dinge annimmt, versteht sie das transzendente Sein als eine
Sachrelation zwischen den Dingen, die nicht anders als die Welt genannt werden
kann; es gibt also für sie das Sein, das Welt ist. Dieser Glaube ist ein Hineinprojizieren unseres Weltbewußtseins in das transzendente Sein; schon durch die Annahme, daß es eine Welt-an-sich gibt, vollziehen wir ein Urteil, das das transzendente Sein im Rahmen unseres natürlichen Weltbewußtseins interpretiert.
Stein geht es um die Differenz zwischen Gott und der endlichen Welt. Stein hebt
das gleichsam monadologische Wesen der Husserlschen Phänomenologie hervor:
„Alles, was außer diesen Monaden ist, ist durch ihre Akte konstituiert und auf sie
753
754
Ebd., S. 115 f.
Ebd., S. 115.
380
relativ.“ 755 Und hierin liegt nach Stein die Vernachlässigung Gottes in der Husserlschen Phänomenologie begründet: Wenn das reine Ich monadologisch als „ein
absolutes Sein“ gesetzt ist, durch dessen Akte alles konstituiert wird, so müsse
man auch annehmen, „daß vermöge der Absolutsetzung der Monaden für Gott –
im Sinn unserer Gottesidee, die ihm allein absolutes Sein zuschreibt, ja ihn als
das absolute Sein selbst setzt – kein Raum ist.“ 756 Damit versucht Stein zu zeigen,
daß Husserl die ontologische Differenz zwischen dem Seienden (d.h. der Welt als
Relation alles einzelnen Seienden) und dem Sein ignoriere. Husserl weise mit
Recht auf das phänomenische Wesen der Welt hin: In unserer phänomenologischen Stellungnahme zur Welt zeigt sich die Welt als ein Phänomen, das durch
die Bewußtseinsakte konstituiert wird und daher nur als Bewußtseinskorrelat vorkommt. Aber trotz seines Bemühens, seine Position von dem subjektiven Idealismus Berkeleyscher Prägung zu unterscheiden, 757 könne man doch nicht darüber hinwegsehen, daß Husserl dem transzendenten Sein keine Rechnung trage.
Husserls Phänomenologie ist in dieser Hinsicht zirkulär: Gegenüber jedem Phänomen ist der sinngebende Akt des Bewußtseins primär, da ein Phänomen ohne
Bewußtseinsakt nicht möglich ist. Bedeutet dies dann, daß das Ich als ein solches
Sein zu verstehen ist, das dem Weltphänomen, der Welt als Phänomen, vorausgeht? Es ist in der Tat richtig, daß das Phänomen seinem Begriff nach etwas ist,
was durch einen vorausgehenden Bewußtseinsakt erst konstituiert wird. Heißt es
aber dann auch, daß der Bewußtseinsakt dem weltlich Seienden schlechthin vorausgeht? Wie kann man dann aber erklären, daß die Welt, wie Heidegger behauptet, als je schon seiend entdeckt wird? Bedeutet das nicht, daß wir die Welt
als etwas verstehen, was unabhängig von unserem Dasein existiert? Ich nehme z.
B. wahr, daß die Brillanten an einem Ring funkeln. Die Brillanten und der Ring
sind Phänomene, die mir ohne einen sinnstiftenden Akt meines Bewußtseins nicht
bewußt werden können. Diese Phänomene weisen aber zugleich auf etwas hin,
was ursprünglicher ist als mein sinnstiftender Bewußtseinsakt. Ohne das Sichzei755
Ebd., S. 13.
Ebd.
757
Vgl. E. Husserl, Idee zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I,
a.a.O., S. 120.
756
381
gen von etwas Ansichseiendem, was auf mich wirkt, können die Brillanten nicht
in mein Bewußtsein gelangen. D. h.: Jedes Seiende kommt zwar nur als ein Phänomen zum Bewußtsein, dem ein Bewußtseinsakt vorausgeht; aber jedes Phänomen hat zugleich die Funktion, auf etwas zu verweisen, was unabhängig von dem
sinngebenden Akt des Bewußtseins ist.
Gott ist für Stein eine notwendige Folge einer Entdeckung des phänomenischen
Wesens der Welt. Es ist ein durchaus anzuerkennender Verdienst Husserls, entdeckt zu haben, daß die Welt nur als ein Bewußtseinskorrelat, als ein durch Bewußtseinsakte konstituiertes Phänomen möglich ist. Diese Entdeckung darf aber
nicht zu einem Idealismus führen, für den das reine Ich als das absolute Sein zu
verstehen ist. Man muß vielmehr die Existenz eines transzendenten Seins anerkennen, das nicht mit der Welt gleichzusetzen ist.
Stein versucht durch ihre Anknüpfung an die Tradition der christlichen Theologie eine Verbindung zwischen der Phänomenologie und der Tradition wiederherzustellen, die bei Husserl fehle. Ihre Kritik an Husserl zeigt aber zugleich, daß der
Grund dafür, warum sich die Phänomenologie nicht auf Husserls idealistische
Position beschränken läßt, innerhalb der Husserlschen Phänomenologie selbst
gefunden werden kann. Wenn man nämlich Husserls Position immanent kritisiert,
so gelangt man zu der Überzeugung, daß seine Wendung zum Idealismus alles
andere als zwingend ist.
1.1.2. Phänomenologie und Ontologie
Das Wort Phänomenologie ist ein mehrdeutiger Begriff. Historisch betrachtet
wurde das Wort Phänomenologie schon vor Husserl in der Philosophie verwendet,
wie bspw. Hegels Werk Die Phänomenologie des Geistes zeigt. Nach E. Ströker
taucht der Begriff Phänomenologie zum ersten Mal 1764 bei J. H. Lambert auf:
Lambert „verstand unter ‚Ph.‘ eine ‚Theorie des Scheins‘, in der die Ursachen
und Quellen sowie verschiedene Arten von Schein zu untersuchen waren und vor
allem die Rolle geklärt werden sollte, die der Schein bei der Bildung richtiger und
382
unrichtiger Urteile spielt.“ 758 Auch wenn es um die Grundeinsicht der Phänomenologie geht – nämlich um die These, daß das natürliche Weltbewußtsein nicht
das unbezweifelbare Fundament der philosophischen Erkenntnis sein kann –
kann Husserl nicht als der erste Philosoph bezeichnet werden, der diese Frage
nach der Evidenz zu einem philosophischen Thema gemacht hat. Descartes hätte
z. B. seinen methodologischen Zweifel nicht entwickeln können, wenn er die
Existenz der Welt als einen unbezweifelbaren Ausgangpunkt des Denkens angenommen hätte. Man kann sogar davon ausgehen, daß der Ansatz der Phänomenologie schon von Anfang an in der europäischen Philosophie angelegt ist. Auch
Platon kann somit als ein Vorbereiter der Phänomenologie gelten, denn ohne die
Einsicht in das phänomenische Wesen alles weltlich Seienden wäre Platons Ideenlehre nicht möglich.
Wichtig ist in unserem Zusammenhang aber vor allem die Tatsache, daß gerade
die von Husserl begründete phänomenologische Bewegung von Anfang an verschiedene Richtungen eingeschlagen hat, die nicht selten über die Grenze der
Husserlschen Phänomenologie hinausgehen. Die ontologische Richtung der Phänomenologie seit Heidegger, die sicherlich eine der wichtigsten Richtungen der
phänomenologischen Bewegung ist, ist ein deutliches Beispiel dafür. Die Philosophen, die wie Sartre unter dem Einfluß Heideggers die Phänomenologie zugleich als eine Ontologie verstehen, lehnen eine transzendentalphilosophischidealistisch geprägte Phänomenologie ab. Daß Sartre seine Philosophie als einen
Versuch einer phänomenologischen Ontologie versteht, wie der Untertitel seines
Hauptwerks Das Sein und das Nichts lautet, ist sehr bezeichnend. Für viele Phänomenologen ist das Resultat einer konsequenten Durchführung der phänomenologischen Philosophie eine Ontologie, deren Ausgangpunkt der unaufhebbare
Unterschied zwischen dem Sein und dem Seienden ist.
Wenn man das philosophische Verhältnis zwischen der Phänomenologie und der
Ontologie bei Schleiermacher untersucht, kann man m. E. auch den Grund dafür
erkennen, warum die von Husserl begründete Phänomenologie notwendig zu einer Ontologie weiterentwickelt werden muß. Heideggers hermeneutische Wende,
758
H. J. Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 1999, S. 1013. (Bd. 2 von 2 Bd.)
383
die er durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher vollzogen hat, zeigt klar und
deutlich, daß Schleiermachers Philosophie für die Entwicklung der Phänomenologie in Richtung auf eine ontologische Position nicht von geringer Bedeutung ist.
Ja, man kann sogar davon ausgehen, daß Schleiermachers Philosophie gerade in
der anfänglichen Zeit der phänomenologischen Ontologie eine entscheidende
Rolle gespielt hat. Denn die hermeneutische Wende Heideggers ist zugleich der
Ursprung einer phänomenologisch geprägten Ontologie, d. h. einer Ontologie, in
der die Frage nach dem Sein selbst durch die Analyse der Existenzstruktur des
Daseins erhellt wird.
1.2. Reinachs Beschäftigung mit Schleiermacher und die Hermeneutik Heideggers
Aber nicht nur Heidegger kann als ein Beispiel dafür genannt werden, daß die
phänomenologische Ontologie gerade am Anfang ihrer Entwicklung von Schleiermacher beeinflußt wurde. Auch bei Adolf Reinach, der bekanntlich die führende Figur des Göttinger Phänomenologenkreises war, 759 kann man einen deutlichen Einfluß der Philosophie Schleiermachers finden. In seinen ‚Aufzeichnungen‘ (1916/17) findet sich ein Satz, der als ein offenkundiges Bekenntnis zur Religionsphilosophie Schleiermachers verstanden werden kann: „Ich erlebe meine
absolute Abhängigkeit von Gott.“ 760 Daß sich Reinach hierbei auf die Glaubenslehre von Schleiermacher bezieht, kann man auch dadurch erkennen, daß Schleiermachers Name an vielen Stellen erwähnt wird, an denen die verschiedenen Begriffe der Glaubenslehre (wie die Idee Gottes, das Abhängigkeitsgefühl, der
759
R. Leuven betont in ihrer Biographie von E. Stein, daß Reinach für die phänomenologische
Bewegung in ihrer frühen Phase eine wichtige Rolle gespielt hat: „Husserl leistete bahnbrechende
Arbeit. Die bindende Kraft jedoch zwischen ihm und seinen Studenten in Göttingen war Adolf
Reinach, ein aufrichtiger Denker, leider allzu früh verstorben. Nach seiner Berufung nach Freiburg sagte Husserl zu Edith Stein, daß sie in Freiburg das sein sollte, was Reinach in Göttingen
war.“ (R. Leuven, Heil im Unheil, Freiburg / Basel / Wien 1983, S. 21.
760
A. Reinach, ‚Aufzeichnungen‘ in: ders., Sämtliche Werke (hrsg. von K. Schumann / B. Smith)
Bd. I, München 1989, S. 611.
384
Glaube an eine ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen und der Welt usw.)
behandelt werden. 761
„Adolf Reinach zählte“, wie die Herausgeber seiner Sämtlichen Werke bemerken,
„zu den Phänomenologen der ersten Stunde.“ 762 Er war ursprünglich ein Schüler
des Münchener Philosophen und Psychologen Theodor Lipps. Nach 1902 orientierte sich Reinach – wie viele andere Schüler von Lipps – unter dem Einfluß von
J. Daubert neu und näherte sich allmählich der Position von Husserls Logische
Untersuchungen an. In Göttingen wurde Reinach der erste Habilitand von Husserl
und lehrte dort ab 1909 als der einzige Phänomenologe neben Husserl. Reinach
wurde zum eigentlichen Lehrer des Göttinger Phänomenologenkreises: Seine
Lehrveranstaltungen zeichneten sich durch gedankliche Klarheit und didaktische
Meisterschaft aus. 763 Er wurde 1883 geboren. 1917, also schon in seinem 34. Lebensjahr, war er im Krieg gefallen, und daher blieb sein Wirken als Privatdozent
auf ganze vier Jahre beschränkt. 764
Seine Bemerkungen zur Religionsphilosophie Schleiermachers sind in den nachgelassenen ‚Aufzeichnungen‘ enthalten, in denen er seine philosophischen Überlegungen über das religiöse Bewußtsein skizzenhaft erörtert. Seine ‚Aufzeichnungen‘ sind wahrscheinlich eine vorbereitende Arbeit für ein religionsphänomenologisches Werk, das er wegen seines frühen Todes nicht verwirklichen konnte. 765 In einem Brief an F. Kaufmann (vom 12.01.1917) berichtet E. Stein, daß
sich A. Reinach der Religionsphilosophie widmet: „Er [Reinach] behauptet, im
Felde die Entdeckung gemacht zu haben, daß er weder philosophisch begabt noch
761
Vgl. Ebd.; S. 592 ff.
K. Schuhmann / B. Smith, ‚Vorwort der Herausgeber‘, in: ebd., S. XIV.
763
Vgl. Ebd. Zum philosophischen Verhältnis zwischen Husserls Phänomenologie und der sogenannten realistischen Phänomenologie in München und Göttingen sind K. Schuhmanns Bücher
Husserl über Pfänder (Den Haag 1973. Die Dialektik der Phänomenologie I) und Reine Phänomenologie und phänomenologische Philosophie (Den Haag 1973. Die Dialektik der Phänomenologie II) besonders empfehlenswert. Die beiden Werke sind reich an Materialien, bieten eine detaillierte Darstellung des Gedankens der wichtigen Philosophen, die zu der Münchener- und Göttinger Phänomenologengruppen gehören.
764
Vgl. Ebd.
765
Vgl. „Schon während Husserls Lehrzeit in Göttingen hatte der junge Adolf Reinach einen
Kreis von Phänomenologen zusammengebracht, der im Zusammenhang mit den Münchener Phänomenologen im Umkreis von Theodor Lipps stand. Reinachs Denken nahm im Krieg eine religiöse Wendung; Reinach ließ sich taufen und hinterließ nach seinem frühen Soldatentod ‚Religionsphilosophische Notizen‘.“ (O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 250.)
762
385
jemals erst dafür interessiert gewesen ist. Das liegt daran, daß er jetzt ganz von
religiösen Fragen in Anspruch genommen ist, und seine Arbeit wird sicherlich
nach dem Kriege in erster Linie diesem Gebiet gelten.“ 766
1.2.1. Reinachs Einfluß auf E. Stein
Aber Reinachs Beschäftigung mit Schleiermacher blieb nicht ohne Wirkung. 767 O.
Pöggeler berichtet, daß E. Stein, die bei Husserl 1916 summa cum laude in Freiburg promovierte und dessen Assistentin in Jahren 1917 bis 1919 wurde, von den
religionsphilosophischen „Notizen“ Reinachs „Abschrift machen [ließ]“; Stein
„versandte sie 1918 an befreundete Phänomenologen wie F. Kaufmann.“ 768 Unter
dem Einfluß ihrer Auseinandersetzung mit Reinachs gelangte sie dazu, das Problem des Glaubens auch als das Grundthema ihrer eigenen Philosophie zu betrachten. „Die Husserl-Schülerin war“ nach Pöggeler „tief beeinflußt durch die Fassung, mit der Frau Reinach den Tod ihres Mannes aufnahm; die Zuwendung zum
christlichen Glauben war dabei unverkennbar und brachte schließlich die Konversion zur katholischen Kirche.“ 769
H. Ott berichtet, daß der Freiburger katholische Theologe E. Krebs einen langen
„Tagebucheintrag“ hinterließ, der „eine interessante, tiefgründige, fast prophetische Gegenüberstellung Martin Heidegger – Edith Stein“ enthält. 770 Als am 11.
April 1930 Stein den Freiburger Theologen besuchte, notierte sich Krebs, daß
Stein sehr gläubig geworden sei: „Dr. Edith Stein, Husserls bedeutendste Schülerin und Mitarbeiterin am Phänomenologischen Jahrbuch […] dringt immer tiefer
in die Schatzkammer unseres Glaubens ein und arbeitet zur Zeit an einer deut766
E. Stein, Selbstbildnis in Briefen, a.a.O., 4. Brief.
Nach B. Imhof ist der eigentliche Betreuer für die philosophische Arbeit von E. Stein nicht
Husserl gewesen, sondern A. Reinach: „Es war denn auch Reinach – nicht Husserl -, der ihre
philosophische Arbeit im eigentlichen Sinne betreute, indem er sie zum Ausharren aufmunterte,
auf ihre Probleme einging, zuhörte, ihre Entwürfe las und sich Zeit für ausführliche Unterredungen nahm.“ (B. Imhof, Edith Steins philosophische Entwicklung, Basel / Boston 1987, S. 56.) Vgl.
K. Schumann, ‚Edith Stein und Adolf Reinach‘, in: R. Luzius / M. Rath / P. Schulz, Studien zur
Philosophie von Edith Stein, a.a.O., S. 59 f.
768
Ebd. Vgl. dazu E. Steins Brief an F. Kaufmann (Freiburg, 20.05.1918): „Vom Reinachs religionsphilosophischen Notizen lasse ich eben noch einige Abschriften machen und werde Ihnen
möglichst bald eine schicken.“ (E. Stein, Selbstbildnis in Briefen, a.a.O., 22. Brief.)
769
O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 250.
770
H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 110.
767
386
schen Ausgabe der Quastiones de veritate des heiligen Thomas.“ 771 Krebs stellte
nun das Schicksal, das E. Stein nach ihrer Konversion zur Katholik widerfuhr,
dem philosophischen Lebenslauf Heideggers gegenüber, den Heidegger nach
seiner Aufgabe des katholischen Glaubens hinter sich hatte: „Welche entgegengesetzte Schicksale! E. Stein gewann früh hohes Ansehen im philosophischen Reich.
Aber sie wurde klein und demütig und – katholisch und tauchte unter in stiller
Arbeit im Dominikanerinnenkloster in Speyer. – Heidegger begann als katholischer Philosoph, aber er wurde ungläubig und fiel von der Kirche ab und wurde
berühmt und der umworbene Mittelpunkt der heutigen zukünftigen Philosophen.“ 772 Diese Gegenüberstellung der Schicksale von M. Heidegger und E. Stein
wird noch viel dramatischer, wenn man die Tragödie in Betracht zieht, die Stein
in ihrem unglücklichen Zeitalter als eine jüdische Frau erleben mußte: Sie wurde
bekanntlich 1942 im Konzentrationslager in Auschwitz getötet, während Heidegger in Deutschland unter der NS-Regierung zum Rektor der Freiburger Universität ernannt wurde.
Man darf aber nicht annehmen, daß Heidegger und Stein philosophisch geradewegs entgegengesetzte Richtungen eingeschlagen hätten. Einerseits ist klar, daß
die Philosophie für Heidegger keine Sache des religiösen Glaubens ist. Nach
Heidegger darf „das Denken, das in die Wahrheit des Seins als das zu Denkende
vorweist“, keineswegs mit einem theistischen Denken verwechselt werden:
„Theistisch kann es so wenig sein wie atheistisch.“ 773 Aber der Ursprung seines
Seinsdenkens liegt wohl andererseits, wie Heidegger selbst zugesteht, in der theologischen Tradition, 774 auch wenn Heidegger nach seiner Abkehr von dem katholischen Glauben gegen 1916 seine Philosophie nicht mehr als eine theologische
verstehen will.
Stein formuliert in ihrem wichtigen Werk Kreuzeswissenschaft eine These, die
freilich theologischer Natur ist, die aber dennoch auch dem Seinsdenken im Sinn
Heideggers nicht fremd ist: Der Glaube sei „für die Seele völlig dunkle
771
Zitiert nach H. Ott. Ebd., S. 111.
Zitiert nach H. Ott. Ebd.
773
M. Heidegger, ‚Brief über den Humanismus‘, a.a.O., S. 352.
774
Vgl. M. Heidegger, ‚Aus einem Gespräch von der Sprache (1953/54)‘, a.a.O., S. 91 f.
772
387
Nacht.“ 775 In dieser Nacht des Glaubens verliere das Denken, das im hellen Licht
des Ver-standes die gegenständlich-bestimmten Entitäten betrachtet, seine Gültigkeit. In einer ausführlichen Abhandlung über die ontologische Struktur der
Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik spricht Stein von der absoluten Geborgenheit des Menschen in Gott: „Der Absolutheit und Unwandelbarkeit
des göttlichen Seins entspricht die absolute Geborgenheit dessen, der feststeht im
Glauben.“ 776 Diese Stelle läßt m. E. vermuten, daß Schleiermachers Begriff des
frommen Abhängigkeitsgefühls durch Reinach an Stein vermittelt wurde. In seinen religionsphilosophischen ‚Aufzeichnungen‘ bemerkt Reinach, daß „Abhängigkeits-, Geborgenheits-, Dankbarkeits- etc. –erlebnis miteinander verknüpft
sind.“ 777 Das Abhängigkeitsgefühl ist also zugleich das Geborgenheitsgefühl, ein
Gefühl, in Gott geborgen zu sein. Stein erklärt selbst, wie Schleiermacher und
Reinach, daß der Glaubensakt nicht mit dem Wahrnehmungsakt zu verwechseln
ist, der das Erfassen von einem gegenständlichen Sein voraussetzt: „Es wird im
Akt des Glaubens der Gegenstand des Glaubens nicht als so und so seiend erkannt bzw. nicht erkannt, daß er so und so ist. Es ist nur aus dem Glauben eine
solche Erkenntnis zu entnehmen. Das ist auch sonst das Verhältnis von Kenntnisnahme und Erkenntnis, z. B. zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis der äußeren
Welt. Aber auch eine Kenntnisnahme wie die Wahrnehmung ist das Erfassen im
Glauben nicht. Der Gegenstand des Glaubens wird nicht gesehen. Daher rührt
vielleicht die Verwechslung der fides mit der blinden δόξα.“ 778
1.2.2. Reinachs Einfluß auf Heidegger
Auch Heidegger beschäftigte sich in seiner frühen Freiburger Zeit mit den ‚Aufzeichnungen‘ Reinachs, in denen die Überlegungen über die Religionsphilosophie
Schleiermachers hinterlassen sind. Heideggers Interpretation der ‚Aufzeichnungen‘ Reinachs über das religiöse Bewußtsein kann noch als ein weiterer Beleg
775
E. Stein, Kreuzeswissenschaft (Werke Bd. 1), Freiburg 1950, S. 50.
E. Stein, Welt und Person, a.a.O., S. 191.
777
A. Reinach, ‚Aufzeichnungen‘, a.a.O., S. 599.
778
E. Stein, Welt und Person, a.a.O., S. 189.
776
388
dafür gelten, daß Heideggers Wende zu einer Hermeneutik des faktisch historischen Lebens durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher angeregt wurde.
In seinen Ausarbeitungen und Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung
1918/19 finden sich Bemerkungen von Heidegger zu den genannten Aufzeichnungen Reinachs. Er beginnt mit der Erwähnung einer These Reinachs, die die
Verhaltensweise des religiösen Bewußtseins zu Gott betrifft: „‚Die Stellungnahme zu Gott ist richtungsgebend für unser erlebnismäßiges Verhalten zu
ihm.‘ Was bedeutet ‚Stellung zu Gott‘? Sinnvoll und konstituiert nur zu formulieren als ein Bewußtseinsverhalten, nicht etwa ontisch, als Sein neben bzw. ‚unter‘ einem (absoluten) Sein.“ 779
Was bedeutet es nun, daß unsere Stellung zu Gott nicht ontisch aufgefaßt werden
soll? Gemeint ist wohl, was Reinach unter dem Einfluß Schleiermachers mit dem
Begriff des Abhängigkeits- bzw. Geborgenheitsgefühls thematisiert: Unsere Beziehung zu Gott ist nicht wie das intentionale Gerichtetsein unseres Bewußtseins
auf einen Gegenstand zu verstehen, da wir uns in unserem religiösen Bewußtsein
nicht als ein Sein neben bzw. unter einem absoluten Sein wiederfinden, sondern
als ein Sein in Gott, d. h. ein endliches Sein, das nur durch die Inhärenz in dem
unendlichen Sein (Geborgensein) existieren kann. Das absolute Sein läßt sich also
nicht durch die ontische Selbstauffassung des Daseins als eines Seins neben oder
unter einem anderen Sein verstehen, und unsere Stellungnahme zu Gott unterscheidet sich gerade hierin von dem auf das ontisch Seiende gerichteten Alltagsbewußtsein.
Für Heidegger stellt Reinachs Begriffsanalyse des Absoluten eine Kritik an der
Metaphysik dar: „Kritik der ‚metaphysischen Grundbegriffe‘. Das Absolute –
bestimmbar nur in der jeweiligen Erlebnissphäre – erhält innerhalb der jeweiligen
Sphäre seine volle Konkretion nur in der Weise, daß es sich in einer Historizität
bekundet; und dementsprechend hat die Analyse – nur in dieser sich bewegend –
unausgesetzt das ‚Historische‘ als Bestimmungs- und immer anders gerichtetes
und sich auswirkendes Färbungselement sowie Ursinn und Struktur gebendes
779
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 324. Vgl. A. Reinach, A.
Reinach, ‚Aufzeichnungen‘, a.a.O., S. 607.
389
Element des lebendigen Bewußtseins überhaupt zu erweisen.“ 780 Heidegger erkennt also in Reinachs Analyse des Absoluten eine Möglichkeit, den Sinn des
Absoluten durch eine Strukturanalyse des lebendigen Bewußtseins zu erhellen.
Ebenso wie Heidegger den Ursprung des faktisch historischen Lebens in dem
Bewußtsein der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden
(Angst, Gewissen usw.) findet, ist auch bei Reinach das Absolute bzw. Gott als
ein fundamentales Strukturelement des historischen Lebens angesetzt, das dem
menschlichen Leben die Möglichkeit verleiht, über die Grenze des an dem Seienden orientierten natürlichen Weltbewußtseins hinauszugehen, ohne dabei das Sein
metaphysisch als einen jenseitigen Seinsgrund der Welt zu deuten: „Die in der
Sinnstruktur des Bewußtseins als ‚historisch‘ überhaupt vorfindliche lebendige
Sinneinheit lebendigen Seins bestimmt auch irgendwie – wenn auch dort wieder
ganz originär (strukturmäßig) anhebend – die spezifische Welthaftigkeit der betreffenden als religiösen Erlebnissphäre.“ 781
Allerdings ist Heideggers Verhältnis zu Reinach durch eine Ambivalenz geprägt.
Heidegger sieht bei Reinachs Erläuterung des Absoluten die Gefahr gegeben, daß
Reinach immer noch der metaphysischen Begriffslogik verhaftet sein könnte.
Heidegger hält das Absolute selbst für einen metaphysischen Begriff: „Begriffsmaterial, aus der rationalistischen Metaphysik entnommen, losgelöst von deren
konstruktiver Methode, wie z. B. ‚Absolutes‘, ‚Höchstmaß‘, ‚Maß überhaupt‘, ist
einer genuinen Erlebnissphäre nicht nur unangemessen, insofern es nicht methodisch respektive unmethodisch apriotisch, von obenher an diese herangebracht
werden darf, insofern es weiterhin unversehens in eine konstruktive Dialektik
hineinführt, oder diese doch immer – auch bei Rückgang auf das Erlebnis solchen
(herangebrachten) Begriffsgehaltes – leitend sein läßt“. 782 Der Grund, warum die
metaphysischen Begriffe wie Absolutes und Höchstmaß nach Heidegger für eine
Religionsphänomenologie unangemessen sind, besteht also darin, daß sie nicht
der wirklichen Lebensbewegung des Daseins entsprechen: „es [das metaphysische Begriffsmaterial] hat vor allem einen so neutralen, erlebnissphärenhaft nicht
780
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 325.
Ebd.
782
Ebd., S. 326 f.
781
390
charakterisierten, abgeblaßten Gehalt, daß es bei ernsthafter Untersuchung sich
als überhaupt nicht ursprüngliches, d. h. keiner Erlebnissphäre originär entwachsenes Sinnelementkonglomerat erweist.“ 783
1.2.3. Reinachs Unterscheidung von expliziten und erlebnisimmanenten Erkenntnissen und deren Bedeutung für die hermeneutische Wende Heideggers
Heidegger betont aber bei Reinach die Rolle der Strukturanalyse des Erlebnisses.
Heidegger betrachtet sie als eine wichtige Leistung von Reinach: „Wertvoll ist
Reinachs Unterscheidung von ‚explizite[n] und erlebnisimmanente[n] Erkenntnisse[n]‘.“ 784
Heideggers Reinach-Zitat bezieht sich auf §2 von dem mit drei Paragraphen versehenen ‚Bruchstück einer religionsphilosophischen Ausführung‘ Reinachs, der
mit Struktur des Erlebnisses betitelt ist. Hier hebt Reinach die Besonderheit des
religiösen Erlebnisses dadurch hervor, daß er den Bezugssinn des religiösen Erlebnisses (das Worauf des religiösen Erlebnisses in Heideggers Worten) von dem
des üblichen Erlebnisses unterscheidet.
Es gibt nach Reinach explizite Erkenntnisse, die man den verschiedenen Erlebnissen entnehmen kann. Allerdings kann das Erlebnis selbst nicht mit der Erkenntnis verwechselt werden, wie die Erlebnisse des Lustgefühls, Trauergefühls
oder des Kunstgenießens selbst nicht Erkenntnisse sind. Aber man kann den Erlebnissen, solange sie auf die Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes
oder eines empirisch als seiend zu bestätigenden Objektes, einer Person oder eines Kunstwerks etc. bezogen sind, explizite Erkenntnisse entnehmen: „So ist das
Genießen eines Kunstwerkes keine Erkenntnis, bildet aber die Grundlage für und
entläßt aus sich heraus die Erkenntnis, daß ein Bild schön ist. Allerdings, hier
könnte man sich fragen: Hat die Erkenntnis ‚es ist schön‘ nicht ihre eigene Anschauungsgrundlage? Anders ist wohl die Wahrnehmung im Verhältnis zu einer
Wirklichkeitserkenntnis zu beurteilen, insofern diese zu ihrer Bestätigung immer
wieder auf die Wahrnehmung zurückgreifen muß. Immerhin liegt auch in der
783
784
Ebd.
Ebd.
391
Wahrnehmung noch ein Für-wirklich-Nehmen, wenn auch nicht eigentlich Erkenntnis.“ 785 Es geht also bei den expliziten Erkenntnissen darum, daß, wenn wir
eine Erkenntnis erwerben, zuvor ein Erlebnis vorausgegangen ist, das sich auf die
Wahrnehmung bestimmter Objekte oder auf ein Für-wirklich-Nehmen von etwas
bezieht.
Diesen Erkenntnissen, die Reinach explizite Erkenntnisse nennt, stellt er nun das
Wirklichkeitsverstehen des religiösen Bewußtseins gegenüber. Die Erkenntnis,
daß unser Sein in Gott geborgen bleibt, bezieht sich weder auf die Wahrnehmung
bestimmter Objekte noch auf ein Für-wirklich-Nehmen von etwas, was ontisch in
unserem Bewußtsein als das Seiende gesetzt ist. Diese Erkenntnis muß vielmehr
als eine solche Form der Erkenntnis anerkannt werden, die nicht von sinnlichen
Wahrnehmungs-Erlebnissen innerweltlicher Dinge abgeleitet wird, sondern im
religiösen Erlebnis der Geborgenheit selbst schon unmittelbar impliziert sein muß,
ohne daß dabei irgendein Objekt festgestellt wird, auf das diese Erkenntnis explizit bezogen werden kann: „Ganz anders liegt in dem sich Geborgenfühlen in Gott
die Wirklichkeitsnehmung. Logisch gesprochen wäre sie Voraussetzung dafür.
Aber den logischen Schluß wird kein Mensch ziehen. Sie liegt vielmehr im Erlebnissinne selbst immanent enthalten.“ 786
Reinach unterscheidet nun zwei Arten der religiösen Erlebnisse. Erlebnisse wie
Dankbarkeit und Liebe oder das religiöse Bekenntnis zu der Existenz Gottes sind
nach Reinach letztlich stets von der unmittelbaren Erkenntnis abgeleitet, daß unser Sein in Gott geborgen ist: „Zweierlei müssen wir hierbei trennen: Einerseits
die Erkenntnis des Geborgenseins und dann die Erkenntnis des Daseins Gottes, d.
h. eine unmittelbar und eine mittelbar immanente Erkenntnis. Den Erlebnissen
der Dankbarkeit und Liebe wohnt nur eine mittelbare Erkenntnis inne; sie sind im
gewissen Sinne als Stellungnahmen derivate Erlebnisse.“ 787
Reinach formuliert direkt nach der Erörterung der expliziten und erlebnisimmanenten Gotteserkenntnis einen entscheidenden Gedanken, den er durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher erworben hat: „Ich erlebe meine absolute Abhän785
A. Reinach, ‚Aufzeichnungen‘, a.a.O., S. 610.
Ebd.
787
Ebd.
786
392
gigkeit von Gott. Insofern ich selbst an dieser erlebten Beziehung beteiligt bin,
steht der Sachverhalt nicht vor mir, sondern ich selbst erlebe mich in dieser Beziehung, die dann mir natürlich nicht gegenständlich sein kann. In dieser Weise
ist mir auch, wenn ich einen Gegenstand wahrnehme, das entsprechende Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Gegenstand nicht gegenständlich. Dann kommt
allerdings sofort ein Unterschied: Bei der Wahrnehmung erwächst mir durch Reflexion auf sie die Erkenntnis ‚ich nehme wahr‘. Im Abhängigkeitserlebnis finde
ich mich abhängig, ohne daß eine Reflexion nötig wäre, die ja auch nur zur Erkenntnis führen könnte, daß ich mich abhängig fühle.“ 788
Heidegger erkennt in dieser Formulierung Reinachs den existenzontologischen
Grund für seine hermeneutische Idee des faktisch historischen Lebens, die Heidegger durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher erworben hat. Heidegger
zitiert jene Stelle, in der Reinach das Abhängigkeitsgefühl streng von dem Gegenstandsbewußtsein unterscheidet, und macht keinen Hehl aus seiner emphatischen Zustimmung zu dieser Schleiermacher-Interpretation Reinachs: „Diese
kurzen Andeutungen sind sehr bedeutsam, wenn auch hier allererst die Analyse
anzusetzen hat.“ 789 Allerdings ist Heidegger der Ansicht, daß Reinach auch hier
immer noch im Bann der an der Evidenz (Gültigkeit der Erkenntnis) orientierten
Phänomenologie Husserls bleibe, während Heidegger das Problem der Geltung
als unbedeutsam für sein Seinsdenken betrachtet. Heidegger erkennt aber zugleich an, daß Reinach zumindest einen wichtigen Ausgangspunkt für eine Hermeneutik des faktisch historischen Lebens entdeckt hat: „Reinach sieht auch
gleich das Problem der Gültigkeit. Es wird notwendig sein zu zeigen, daß es von
rein erkenntnismäßigen Skeptizismen her gar nicht zu stören ist, sofern eben nur
erst das spezifisch Originäre der betreffenden Erlebnisse und vor allem die Ursinnstruktur des historischen Bewußtseins geklärt ist.“ 790 Der Grund dafür, warum sich Heidegger gegenüber der Reinachschen Interpretation des Abhängigkeitsgefühls ambivalent verhält, besteht darin, daß Reinach, wie bereits oben er-
788
Ebd., S. 611.
M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 327.
790
Ebd. Hervorhebung von mir, S.-Y. H.
789
393
wähnt, eine existenzontologische Entdeckung der Daseinsstruktur als eines Inseins mit der Anerkennung des Seins Gottes verbindet.
Warum ist Heidegger nun der Auffassung, daß in Reinachs Auslegung des Abhängigkeitsgefühls die Ursinnstruktur des historischen Bewußtseins geklärt sei?
Der Grund hierfür besteht darin, daß Reinach eine Dimension des nicht auf die
theoretische Reflexion zurückführbaren Bewußtseinslebens (wie das Gefühl des
In-seins bzw. der Geborgenheit) berücksichtigt, auch wenn ihn immer noch die
erkenntnistheoretische Problematik der Geltung der ‚mittelbaren Erkenntnisse‘ (wie die Anerkennung des Daseins Gottes, die aus dem Gefühl der Geborgenheit in Gott abgeleitet wird) beschäftigt. Für Heidegger ist wichtig, daß Reinach
in seiner Auslegung des Abhängigkeitsgefühls sich nicht primär auf den phänomenischen Gehalt des Bewußtseins bezieht, sondern eher auf die Existenzstruktur
des Bewußtseins selbst, das kontingent-notwendig in der Form des In-seins vorkommen muß. Ich muß mich notwendig als ein In-sein (sei es ein In-der-Weltsein, sei es In-dem-ganzen-Sein-sein) verstehen. Dieses Bewußtsein von sich als
einem In-sein bezieht sich nicht auf irgend etwas, was im Bewußtsein als das
Vorhandene gesetzt werden kann. Dieses Bewußtsein muß vielmehr als ein solches anerkannt werden, was in jedem Bewußtsein, das auf der Gegenstandswahrnehmung beruht, immanent enthalten sein muß.
1.2.4. Gott und Erlebnis bei Reinach und Schleiermacher
Reinachs These, die Stellung zu Gott sei richtungsgebend für unser Verhältnis zu
ihm, ist nun dahingehend auszulegen, daß unser Bewußtsein im religiösem Erlebnis eine besondere Struktur des intentionalen Bewußtseins hat: Wir richten uns
auf das Sein aus, das kein phänomenischer Gehalt des Bewußtseins sein kann. Es
steht vor uns kein Sachverhalt, von dem wir ein bestimmtes Bewußtsein haben
und auf den unser Bewußtsein gerichtet ist. Vielmehr erleben wir uns in dieser
Beziehung selbst als ein In-dem-ganzen-Sein-sein, und dieses Gefühl der Geborgenheit ist daher ein Ausdruck des Existenzverhältnisses unseres Seins; das Er-
394
lebnis unseres Seins in dem ganzen Sein ist unmittelbar und notwendig in jeder
Erfahrung mit enthalten, in der unser Sein sich zu dem Seienden verhält.
Dieser Gedanke entspricht m. E. exakt dem Begriff des Abhängigkeitsgefühls bei
Schleiermacher. Das „ursprüngliche Abhängigkeitsgefühl erscheint“ nach Schleiermacher „an und für sich nicht im wirklichen Bewußtsein, sondern immer nur
mit näheren Bestimmungen, also wie ein allgemeines nur durch das besondere“. 791 In diesem Gefühl der Abhängigkeit drückt sich weder ein phänomenischer
Gehalt des Bewußtseins noch ein konkreter Sachverhalt aus, da die Existenzstruktur unseres Seins nicht auf eine bestimmte, zeitlich begrenzte, sinnliche Erfahrung
dieses oder jenes Sachverhalts zurückgeführt werden kann. Gerade wie die formale Struktur des Existentialverhältnisses unseres Seins in jeder verschiedenen
Seinssituation des Daseins gleich bleibt, muß das ursprüngliche Abhängigkeitsgefühl bei jedem Menschen in jeder Seinssituation identisch bleiben: als das ursprüngliche Abhängigkeitsgefühl „wird hier nur das in allen einzelnen Erscheinungen der Frömmigkeit identische in Betracht gezogen, welches sich daher zu
allen Aufwallungen des frommen Lebens verhält, wie sich das Ichsezen eines
jeden verhält zu allen Aufwallungen seines persönlichen Daseins überhaupt.“ 792
Reinachs Analyse des religiösen Bewußtseins zeigt, daß Reinach nach der Möglichkeit einer neuen, phänomenologisch begründeten Religionsphilosophie sucht.
Dabei bietet Schleiermachers Religionsphilosophie nicht nur die nötige Orientierung: Daß Reinach die wichtigsten Ansatzpunkte seiner Religionsphänomenologie von Schleiermacher übernimmt, ist unverkennbar.
Reinach bleibt z. B. auch in der Frage, was das Absolute ist, durchaus dem
Seinsbegriff Schleiermachers treu: „Das Absolute aber, wie wir es fassen, ist die
grenzenlose Fülle, der schrankenlose Reichtum, das alles in sich Fassende, Unvermehrbare. Es ist schrankenlose Überlegenheit allem Irdischen, d. h. allem ins
Unendliche Steigbaren gegenüber.“ 793 Für Reinach liefert gerade dieser Seinsbegriff einen philosophischen Grund dafür, daß man eine ontologische Differenz
zwischen dem Sein und dem Seienden, zwischen Gott und der Welt, annehmen
791
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 123.
Ebd., S. 123 f.
793
A. Reinach, ‚Aufzeichnungen‘, a.a.O., S. 608.
792
395
muß. Wie Schleiermacher gerade deswegen die Welt (die geteilte Unendlichkeit)
für eine nicht adäquate Bezeichnung für das unendliche Sein hält, weil unser
Weltbewußtsein notwendig von dem Denken in Gegensätzen bestimmt wird,
unterscheidet sich das absolute Sein auch für Reinach dadurch von der Welt, daß
es dem in gegensätzlichen Bestimmungen denkenden Menschen unverständlich
bleibt: „Das Irdische ist die Welt des Mehr und Weniger, des Nichts und Einige
und viele, des Werdens und Veränderns und Vergehens. Das Überirdische ist die
Welt des schlechthinnigen All. Die Welt, in der das ‚mehr oder weniger‘ walten
[kann, S.-Y.H.], trägt den Stempel des Unzureichenden und Unvollendeten. Das
irdisch Unendliche läßt uns mit Evidenz die Unabgeschlossenheit, das nicht in
sich Ruhen, das immer Weiterführen erleben. Dagegen aber hebt sich das überirdische Unendliche oder besser das Absolute ab, welches die Krönung des endlich
Vermehrbaren ist, ohne doch von diesem erreicht oder auch nur genährt werden
zu können.“ 794
Zwar ist dieses Begriffspaar irdisch und überirdisch nicht ganz im Sinne Schleiermachers, der, wie wir im zweiten Teil gesehen haben, die Vorstellung, Gott und
Welt würden zu getrennten Seinsbereichen gehören, ablehnt. Aber Reinach folgt
dennoch in wesentlichen Punkten konsequent dem Gedankengang Schleiermachers, indem er das Absolute nicht als einen solchen Begriff versteht, der erst
durch eine philosophische Abstraktion erfaßt werden könne. Das absolute Sein
eröffnet sich gerade durch unsere Welterfahrung. Der Zugang zu ihm kann gerade
nicht durch Abstraktion gewonnen werden. Es kann nur als das verstanden werden, was jedem Erlebnis des weltlich Seienden unmittelbar immanent sein muß:
„Wir Menschen, die wir in Zeit und Raum und der irdischen Welt stehen, erfassen das Überirdische. Das ist das kostbarste Geschenk, mit dem uns Gott begnadet hat. Und nicht nur erfassen wir das Überirdische, sondern in den Akten, in
denen es uns zur Gegebenheit kommt, spiegelt sich in gewisser Weise die absolute Fülle, die wir dem Überirdischen zugesprochen haben. Indem wir Gott erleben,
fühlen wir uns abhängig von ihm, fühlen wir Dankbarkeit ihm gegenüber, lieben
wir ihn, und alle diese Abhängigkeit, Dankbarkeit und Liebe sind nicht relativ
794
Ebd.
396
und steigerbar wie die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, sondern absoluter Natur. So erhält auch das irdische Erleben überirdischen Gehalt – und es
muß auch so sein.“ 795
Reinach faßt also den Sinn der Religion genau so auf wie Schleiermacher es in
seinem Versuch, die Eigentümlichkeit des religiösen Erlebnisses gegenüber der
sich als absolute Wissenschaft verstehenden zeitgenössischen Philosophie zu bewahren, tut: Die Religion ist ein Ausdruck des auf das Sein selbst ausgerichteten
Bewußtseins, dessen Ursprung in der wirklichen Lebensstruktur unseres Seins in
der Welt liegt. Mit anderen Worten ist das Sein selbst, das Schleiermacher Gott
nennt, der transzendente Grund des Bewußtseins. Die Ausrichtung unseres Bewußtseins auf das Sein selbst beruht auf der Urstruktur unserer Existenz selbst:
das Gottesbewußtsein, das Bewußtsein von dem unendlichen Sein, muß in jeder
Erfahrung des endlich Seienden unmittelbar immanent enthalten sein.
Reinach erkennt in der Anfangszeit der Husserlschen Phänomenologie, daß eine
phänomenologische Philosophie notwendig zu einer Ontologie weiterentwickelt
werden muß, deren Ausgangpunkt die ontologische Differenz zwischen der Welt
und dem Sein ist.
Unter dem Einfluß Schleiermachers orientiert sich Reinach an der Strukturanalyse des religiösen Erlebnisses. Für Reinach ist die Besonderheit der Schleiermacherschen Religionsphilosophie nicht primär darin zu finden, daß auch sie von
dem Grundansatz der Phänomenologie – nämlich dem phänomenischen Wesen
alles weltlich Seienden – ausgeht. Dieser Grundansatz gehört, wie gesehen, eher
zu einer langen Tradition der europäischen Philosophie, die mit dem Zweifel an
dem, was im natürlichen Weltbewußtsein als selbstverständliche Wahrheit angenommen wird, begonnen hat. Indem Reinach in seiner Schleiermacher-Auslegung
auf die richtungsgebende Funktion unserer Stellungnahme zu Gott hinweist, faßt
er das Wesentliche in der Religionsphilosophie Schleiermachers richtig auf:
Schleiermacher nimmt den Grundansatz seiner besonderen Form der Phänomenologie nicht als eine Sache der philosophischen Betrachtung, die im scharfen Gegensatz zu dem wirklichen Bewußtseinsleben des Alltagsmenschen steht; Schlei795
Ebd.
397
ermacher will vielmehr zeigen, daß jeder wirkliche Mensch die Möglichkeit hat,
sich das phänomenische Wesen der Welt bewußt zu machen. Die Religion ist eine
Sache der Ausrichtung des Menschen auf das Sein selbst, ein Strukturmoment
jedes wirklichen Bewußtseins, durch das sich der Mensch von dem Irrtum des
natürlichen Weltbewußtseins zurückholt; sie ist ein Ausdruck des ursprünglichen
Seinsbezugs des Lebens.
398
2. Das Abhängigkeitsgefühl als unmittelbares Existentialverhältnis
Es wurde im letzten Kapitel darauf hingewiesen, daß Schleiermachers Religionsphilosophie für die Entwicklung der phänomenologischen Ontologie von großer
Bedeutung ist: Heidegger und Reinach, die zu den Phänomenologen der Anfangszeit dieser Richtung gehören, haben unter dem direkten Einfluß der Religionsphilosophie Schleiermachers nach der Möglichkeit einer Ontologie gesucht,
die von der faktischen Ausrichtung des Menschen auf das Sein selbst ausgeht.
Die ontologische Differenz zwischen der Welt und dem Sein ist für die Philosophen der phänomenologischen Ontologie nicht bloß eine Sache der philosophischen Betrachtung, sondern ein fundamentales Strukturmoment des wirklichen
Bewußtseinslebens.
Einige Leser werden nun vielleicht einwenden wollen, daß die ontologische Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden eine viel zu allgemeine Bestimmung ist. Zwar gäbe es in der Behauptung dieser Differenz eine Gemeinsamkeit
zwischen Schleiermachers Religionsphilosophie und der ontologischen Strömung
der modernen Phänomenologie; dies allein könne aber kein hinreichender Grund
dafür sein, Schleiermacher als einen wichtigen Wegbereiter der ontologischen
Phänomenologie anzuerkennen. M.E. ist diese Kritik grundsätzlich berechtigt.
Auch R. Williams, der Schleiermachers Religionsphilosophie als eine Phänomenologie versteht, weist darauf hin, daß sich Schleiermachers Begriff des Seins an
die platonische Tradition in der Theologie anschließt. Besonders im zweiten Kapitel seines Werkes (The Platonic Background of Schleiermacher’s Thought) behauptet Williams, daß Schleiermachers Philosophie insgesamt in der Denktradition der neuplatonischen Theologie seit Augustinus steht. 796 Er hebt zwei wichtige
Punkte hervor, an denen man das Platonische Wesen der Philosophie Schleiermachers deutlich erkennen kann: 1. Schleiermachers Gedanke, daß Gott nicht mit
796
Vgl. „[…] Schleiermacher’s existential proof for God is closely related to Anselm’s proof and
his theological program of faith in search of understanding. This ‚locates‘ Schleiermacher within
the broad tradition of Augustian Christian Neoplatonism.“ (R. Williams, Schleiermacher The
Theologian, a.a.O., S. 57.)
399
dem Denken in Gegensätzen erkannt werden kann, findet sich auch bei einem
wichtigen Philosophen des 15. Jahrhunderts, der ebenfalls einen Platonischen
Hintergrund hat: Nikolaus von Kues versteht Gott als das höchste Sein, das nichts
anderes sei als die Coincidentia Oppositorum.
797
2. Die Platonische Betrachtung
des endlichen Seins als einer Synthese der Gegensätze (the „account of finite
being as a mixture of opposites“ 798 ) ist für Schleiermachers Denken von entscheidender Bedeutung; für Schleiermacher ist das Sein des Menschen eine Synthese von Sein und Nichtsein („Schleiermacher thinks human existence is a mixture of being and nonbeing“ 799 ). Dabei darf das Nichtsein allerdings nicht mit
einem formallogischen Gegensatz des Seins (Nichts) verwechselt werden; das
Nichtsein bedeutet sowohl für Platon als auch für Schleiermacher die „Verschiedenheit“, wie G. Scholtz mit Recht anhand der Definition in Platons Sophistes
zeigt. 800
Die ontologische Differenz zwischen dem Sein und der Welt ist also schon in der
Platonischen Tradition durchaus geläufig gewesen. Die eigentliche Leistung Heideggers besteht also nicht in seiner vermeintlichen Entdeckung der ontologischen
Differenz; sondern vielmehr in seiner Strukturanalyse der ek-sistierenden Seinsweise des Daseins, die er als seine Ausgangposition für die Erörterung der Frage
nach dem Sinn des Seins nimmt. Der Sinn des Seins muß für Heidegger neu bestimmt werden, und die Neubestimmung des Seinssinns kann erst dadurch ermöglicht werden, daß man die Frage nach dem Sein selbst von der Seinsstruktur eines
besonderen Seienden aus betrachtet, das sich zu dem eigenen Sein verhält. Schon
die ontologische Frage nach dem Sein selbst setzt eine eksistierende Seinsweise
des Daseins voraus, da sie nicht ohne Entdeckung des Seienden, die durch das Da
des Daseins ermöglicht wird, möglich ist.
Es geht hier also vor allem um die Frage, ob Schleiermachers Begriff der Religion, des frommen Abhängigkeitsgefühls, als ein Ausdruck der Existenzstruktur des
Daseins zu verstehen ist. Es ist wahr, daß Schleiermacher die Religion als Sache
797
Ebd., S: 59.
Ebd., S. 61.
799
Ebd., S. 62.
800
Vgl. G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 260 f.
798
400
der Ausrichtung des konkreten Menschen auf das Sein selbst betrachtet; darin,
daß die ontologische Differenz zwischen dem Sein und der Welt im wirklichen
Bewußtseinsleben fundiert ist, besteht der Ansatzpunkt der Religionsphilosophie
Schleiermachers. Ist es nun ein vorschnelles Urteil, wenn man behaupten will, die
Religionsphilosophie Schleiermachers habe Heideggers hermeneutische Analyse
der Existenzstruktur des Daseins vorweggenommen?
Man kann m. E. davon ausgehen, daß das Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers
die Existenzstruktur des Daseins zum Ausdruck bringt. Im zweiten Teil dieser
Arbeit haben wir gesehen, daß Schleiermacher im §3 der zweiten Auflage der
Glaubenslehre das relative Abhängigkeitsgefühl als Gefühl unseres Seins in der
Welt definiert. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, daß in
Heideggers Ausarbeitungen und Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung
1918/19 Bemerkungen zur zweiten Rede und zum §3 der zweiten Auflage der
Glaubenslehre enthalten sind. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß gerade im
§3 der Glaubenslehre, die Heidegger in der Zeit seiner hermeneutischen Neuorientierung gelesen und kommentiert hat, der Ausdruck Gefühl unseres Seins in der
Welt enthalten ist. Ist dies nicht ein Ausdruck der Existenzstruktur, die Heidegger
in Sein und Zeit mit der Definition des Daseins als eines In-der-Welt-seins formuliert?
Schleiermacher selbst sieht somit das Besondere seiner Glaubenslehre darin, das
Phänomen der Religion durch die Analyse der Existenzstruktur unseres Seins zu
erklären.
2.1. Das unmittelbare Selbstbewußtsein als der Ermöglichungsgrund für die Entdeckung der existenzialen Seinsstruktur des Daseins
1829 schreibt Schleiermacher zwei Briefe an seinen Freund und Schüler Lücke.
Sie beziehen sich im doppelten Sinn auf die Glaubenslehre. Sie sind einerseits als
„Vorbereitung der beabsichtigten zweiten Auflage […] gedacht“801 und anderer-
801
E. Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, a.a.O., S. 252.
401
seits als ein Versuch, die Mißverständnisse aufzuklären, denen die erste Ausgabe
seiner Glaubenslehre begegnet ist.
Im ersten Brief erklärt Schleiermacher, daß sein Begriff des frommen Gefühls
„ein unmittelbares Existentialverhältniß“ 802 zum Ausdruck bringt. Somit steht
also fest, daß Schleiermacher mit dem Begriff des Abhängigkeitsgefühls die unmittelbare Existenzstruktur unseres Seins zum Ausdruck bringen möchte, die,
gerade wie die Heideggersche Formulierung der Existenzstruktur des Daseins, in
der Definition unseres Seins als eines Seins in der Welt, eines In-der-Welt-seins,
gesucht werden soll. Allerdings darf man dabei nicht übersehen, daß der genaue
Ausdruck des unmittelbaren Existentialverhältnisses für Schleiermacher sich am
Besten als ‚In-dem-ganzen-Sein-sein‘ formulieren läßt, das dann in der unfrommen Erklärung dieses Begriffs als das In-der-Welt-sein, in der frommen Erklärung dieses Begriffs als das In-Gott-sein betrachtet wird.
Allerdings stellt sicht nun die Frage, ob dasjenige Sein, das sich als ein In-derWelt-sein bzw. In-Gott-sein versteht, nicht als ein Ich bzw. ein Subjekt ausgelegt
werden muß? Es ist selbstverständlich richtig, daß ein Selbstverständnis des Daseins als eines In-der-Welt-seins ohne ein ‚Ich-Bewußtsein‘ nicht möglich ist.
Muß man hieraus nun ableiten, daß es ein reines Ich gibt, das dem Bewußtseinszusammenhang eine Identität verleiht, ohne die ein Selbstbewußtsein nicht möglich ist?
Auf diese Frage kann man existenzontologisch eine Antwort geben, der m. E.
auch Schleiermacher zustimmen würde: Das Ich, das dem Selbstbewußtsein Identität verleiht, hat eine deiktische Funktion, die auf das selbstseiende Dasein verweist. Aus dieser deiktischen Funktion des Wortes Ich kann man aber nicht einen
ontologischen Schluß ziehen und behaupten, es gebe ein reines Ich, das stets identisch bleibe. Durch eine konsequente Durchführung der phänomenologischen
Reduktion kann man zwar die Nichtigkeit der Welt erweisen. Aber das Sein, auf
das unser Weltbewußtsein verweist, kann man nicht einklammern. Dieses Sein ist
ein transzendentes Sein, das nie aus der Immanenz abgeleitet werden kann. Das
802
F. Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, in: ders., Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften (KGA 1. Abt. 10), Berlin / New
York 1990, S. 318.
402
Ich erweist sich somit als ein Sein, das nur in Relation mit dem anderen Sein existieren kann. Das, worauf das Ichbewußtsein verweist, ist also kein reines Ich;
sondern ein Da-sein, das gerade als das selbstseiende Wesen notwendig in einer
Beziehung mit dem anderen Sein steht. Gerade hierin liegt die ursprüngliche Existenzstruktur des faktischen Lebens.
Eine neue Orientierung an Schleiermachers Religionsphilosophie hat das Potential, die Phänomenologie Husserls einerseits um eine ontologische Dimension zu
erweitern, ohne daß man andererseits die idealistische Wende des späten Husserls
zum reinen Ich akzeptieren muß.
Schleiermacher weist explizit darauf hin, daß das Selbst-Bewußtsein nur in Relation mit dem anderen Sein möglich ist und daher kann in keinem Moment des
Lebens ein reines Selbstbewußtsein hervortreten: „Es giebt kein als zeiterfüllend
hervortretendes reines Selbstbewußtsein, worin einer sich nur seines reinen Ich an
sich bewußt würde, sondern immer in Beziehung auf etwas, mag das nun eines
sein oder vieles, und bestimmt zusammengefaßt oder unbestimmt; denn wir haben nicht in besonderen Momenten ein Selbstbewußtsein von uns als den sich
immer gleichbleibenden, und in besonderen wieder ein anderes von uns als den
von einem Augenblick zum andern veränderlichen; sondern beides sind nur Bestandtheile jedes bestimmten Selbstbewußtseins, indem jedes ist ein unmittelbares
Bewußtsein des Menschen von sich als verändertem.“ 803
Nach Schleiermacher besteht also das Selbstbewußtsein aus zwei Bestandteilen:
Unser Selbstbewußtsein ist einerseits ein Bewußtsein von uns als den sich immer
Gleichbleibenden; andererseits ein Bewußtsein von uns als den sich stets Verändernden. Der zweite Bestandteil drückt nun das Bewußtsein von einem persönlichen Selbst aus, das sich im steten Werdeprozeß befindet und somit immer auf
die vorhergehenden Lebens- bzw. Welterfahrungen zurückzuführen ist: „Des
letzteren Bestandtheiles aber sind wir uns nicht als eines von uns selbst hervorgebrachten und vorgebildeten bewußt; sondern mit dem bestimmten Selbstbewußtsein ist unmittelbar verbunden die Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas als mitwirkende Ursache, d. h. das Bewußtsein, es sei etwas von uns unter803
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31.
403
schiedenes, ohne welches unser Selbstbewußtsein jetzt nicht so sein würde“. 804
Schleiermacher weist nun aber zugleich darauf hin, daß das Selbstbewußtsein
nicht schlechthin mit dem Bewußtsein des persönlichen Selbst verwechselt werden darf. Gerade wie die Philosophen der Existenzontologie mit dem Begriff des
Daseins die selbstseiende, aber nicht auf das reine Ich zurückführbare Existenzweise des faktischen Lebens thematisieren, will Schleiermacher auch geltend
machen, daß sich das Selbstbewußtsein, das einerseits ein Bewußtsein von dem
persönlichen Selbst sein kann, zugleich auf das Für-sich-sein des Einzelnen bezieht: „jedoch wird […] das Selbstbewußtsein nicht Bewußtsein eines Gegenstandes, sondern es bleibt Selbstbewußtsein, und man kann nur sagen, daß in dem
Selbstbewußtsein der erste Bestandtheil ausdrükke das für sich sein des Einzelnen,
der andere aber das Zusammensein desselben mit anderen.“ 805
Warum kann nun das Für-sich-sein des Einzelnen nicht als ein Beweis gelten,
daß es das reine Ich gibt? Hierfür ist der Grund schon in jenem Satz zu suchen,
daß ein Selbstbewußtsein notwendig auf etwas bezogen sein muß, mag das nun
eines sein oder vieles, etwas Bestimmtes, Zusammengefaßtes oder etwas Unbestimmtes. Ähnlich wie die Philosophen der Existenzontologie die intentionale
Grundstruktur des Bewußtseins (das Bewußtsein sei notwendig ein Bewußtsein
von etwas) als einen ontologischen Beweis dafür betrachten, daß unser Bewußtsein notwendig auf das transzendente Sein bezogen sein muß, geht auch Schleiermacher davon aus, daß unser Selbstbewußtsein notwendig auf etwas bezogen
sein muß, was nicht aus der Immanenz abgeleitet werden kann. Das Für-sich-sein
des Einzelnen darf daher nicht mit dem Sein als einem reinen Ich verwechselt
werden. Man kann nur wissen, daß unser Selbstbewußtsein auf etwas verweist,
was sich in einer konkreten Seinssituation als etwas für-sich-Seiendes zeigt.
Die These, daß es kein als zeiterfüllend hervortretendes reines Selbstbewußtsein
gibt, ist auch nach Schleiermacher relevant für seine Analyse des Abhängigkeitsgefühls: „Die Zustimmung zu diesem Saz kann unbedingt gefordert werden, und
804
805
Ebd.
Ebd.
404
keiner wird sie versagen, der überhaupt fähig ist in diese Untersuchungen hinein
zu gehen.“ 806
2.2. Die Intentionalität des Bewußtseins und das Frömmigkeitsgefühl
Es ist nun ein interessantes Phänomen, daß die Religionsphilosophie Schleiermachers demselben Mißverständnis unterworfen wurde, das Heideggers Philosophie
etwa hundert Jahre später ebenfalls begegnen wird. Es geht hierbei um einen
Einwand gegen die ontologische Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden.
Gerade wie heute viele Heidegger-Kritiker versuchen zu zeigen, daß die Frage
nach dem Sein selbst, das von dem Seienden grundverschieden sein soll, sinnlos
ist, so versuchte man dies auch schon in der Zeit Schleiermachers gegen Schleiermacher geltend zu machen.
2.2.1. Bretschneiders Kritik an Schleiermachers Begriff des frommen Abhängigkeitsgefühls
Schleiermachers Erklärung, daß das Abhängigkeitsgefühl ein Ausdruck des unmittelbaren Existentialverhältnisses sei, ist vor allem gegen den Einwand von
Bretschneider gerichtet. Bretschneider wendet sich gegen Schleiermachers Begriff des religiösen Gefühls und will geltend machen, daß sich „das Gefühl nur auf
das Gedachte beziehen [kann].“ 807 R. Otto übt, wie im ersten Teil der Arbeit gezeigt wurde, in seinem Hauptwerk Das Heilige eine ähnliche Kritik. Er wirft dem
Begriff des Abhängigkeitsgefühls von Schleiermacher eine gewisse Analogisierung mit dem natürlichen Abhängigkeitsgefühl von gewöhnlichen Objekten vor;
das Moment des religiösen Erlebnisses sei bei Schleiermacher kein irrationales
Moment, sondern gehöre durchaus auf die rationale Seite der Gottesidee. 808 Die
Kritik von Bretschneider ist aber noch weitreichender. Denn während R. Otto
sich damit zufrieden gibt, das Abhängigkeitsgefühl durch das Kreaturgefühl zu
806
Ebd.
Ebd., S. 316.
808
R. Otto, Das Heilige, a.a.O., S. 23.
807
405
ersetzen, will Bretschneider zeigen, daß das Gefühl selbst von dem durch den
Urteilsakt aufgefaßten Sinn bzw. der vorhergehenden Vorstellung eines Gegenstandes abhängig ist. Allerdings kann Schleiermacher diese These nicht akzeptieren; denn das religiöse Gefühl wäre dann entweder ein Wissen von Gott oder ein
abgeleitetes Phänomen von diesem Wissen. Schleiermachers Hinweis, das Gefühl
sei als ein unmittelbares Existentialverhältnis zu verstehen, ist in diesem Sinn ein
Versuch, die Besonderheit seines Gefühlsbegriffs vom üblichen Verständnis dieses Wortes abzugrenzen.
Bretschneiders These, das Gefühl könne sich nur auf das Gedachte beziehen,
besteht darin, daß das Gefühl ein Urteil über etwas ist, auf das mein Bewußtsein
gerichtet ist. Das Gefühl unseres Seins als eines von Gott Abhängigen muß dann
durch einen vorhergehenden Urteilsakt von der Idee Gottes irgendwie bestimmt
sein, wenn das Abhängigkeitsgefühl meines Seins von Gott überhaupt möglich
sein soll; das Abhängigkeitsgefühl ist also eine „Bestimmung unseres Seyns“, 809
und sie ist auf die vorhergehende Auffassung von dem, was Gott ist, zurückführbar. Schleiermacher selbst gibt an, „daß Hr. Dr. Bretschneider meint, auf demjenigen Gebiet, wohin die Frömmigkeit gehört, hänge eben diese Bestimmtheit des
Seyns selbst, und also auch das Wissen um dieselbe erst ab von der Auffassung
der Ideen, weil das Gefühl sich nur auf das Gedachte beziehen könne.“ 810 Schleiermacher versteht nun diese Meinung von Bretschneider als eine Behauptung,
daß das Abhängigkeitsgefühl die vorhergehende Auffassung der Idee Gottes voraussetzen muß: „Ich kann dieses nur so verstehen, man müsse erst die Idee Gottes
gefaßt haben, ehe man zu dem Wissen von jener Bestimmtheit des Seyns gelangen könne.“ 811 Schleiermacher betont dann ausdrücklich, daß sein Begriff des
Abhängigkeitsgefühls nicht auf diese Weise verstanden werden kann: „Freilich
muß ich dieß gänzlich verneinen; ich brauchte aber zunächst nur zu sagen, ich
rechnete ein früheres Auffassen der Idee Gottes nicht mit zur Frömmigkeit, weil
809
F. Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, a.a.O., S. 316.
Ebd.
811
Ebd.
810
406
es weder ein Wissen um die Art der Bestimmtheit meines Seyns ist, noch sich aus
diesem erst entwickelt“ 812
Die Position von Bretschneider, solange er die notwendige Form des Gefühls als
Gefühl von dem Gedachten darlegt, besteht darin, daß das Gefühl immer auf etwas Vorhandenes gerichtet sein muß. Allerdings kann das Gedachte auch etwas
Abstraktes sein, was im Unterschied zu realen Gegenständen nicht in einer wirklichen Lebenswelt vorhanden ist. Dieses Abstrakte muß aber zumindest in meinem Bewußtsein als ein konkreter Gehalt des Bewußtseins vorhanden sein, so
daß die Ausrichtung meines Bewußtseins auf diesen abstrakten Inhalt möglich
wird. Da aber das religiöse Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers nichts voraussetzt, was sich als vorhanden zeigt, ist dieser Begriff für Bretschneider letztlich
sinnlos.
Die Kritik von Bretschneider ist von weitreichender Bedeutung. Wir haben gesehen, daß die Religion für Schleiermacher die Selbstausrichtung des Menschen auf
das Sein selbst bedeutet. Damit meine ich nichts anderes als die These, daß
Schleiermachers Begriff der Religion, das fromme Abhängigkeitsgefühl, eine Art
der Gesinnung bedeutet; jeder hat wegen der fundamentalen Existenzstruktur
unseres Seins die Möglichkeit, eine vita religiosa – ein religiös gesinntes Leben
– zu führen. Damit tritt nun aber ein Problem auf: Wie ist eine solche Ausrichtung des Bewußtseins möglich, wenn wir kein Urteil von dem Sein bzw. Gott
hätten?
2.2.2. Die Religion als Gesinnung
Schleiermacher will selbst geltend machen, daß das religiöse Gefühl der Abhängigkeit eine Sache der Gesinnung ist. Schleiermacher erwähnt, um den Unterschied zwischen seinem Begriff des Gefühls und dem Bretschneiders aufzuzeigen,
H. G. Tzschirners Briefe, in denen ebenfalls eine grundsätzliche Kritik an seinem
Religionsbegriff enthalten ist. Tzschirner behauptet, daß die Frömmigkeit des
religiösen Menschen nicht ein Gefühl sein kann, sondern vielmehr eine Gesin812
Ebd.
407
nung sein müsse: „Wenn er [Tzschirner] sagt, das Ursprünglichste in der Frömmigkeit sey eben so wenig Gefühl, als Wissen oder Thun, sondern die Gesinnung:
so scheint er jene drei einander zu coordinieren, die letzte aber als ein Innerliches
und Höheres bezeichnen wollen.“ 813 Schleiermacher akzeptiert nun, daß die
Frömmigkeit eine Gesinnung darstellt. Er weist aber zugleich darauf hin, daß sich
sein Gefühlsbegriff von dem unterscheidet, was Tzschirner darunter versteht.
Schleiermacher behauptet, daß sein Gefühlsbegriff eher das bedeutet, was
Tzschirner mit dem Gesinnungsbegriff meint: „Ich aber stelle, was ich Gefühl
nenne, nicht ganz so wie er, sondern eher so, wie er die Gesinnung stellt, und
bediene mich nur des letzteren Ausdrucks nicht, weil er dem Sprachgebrauch
nach eine Färbung überwiegend nach dem Praktischen hin an sich trägt.“ 814
Schleiermacher stellt hier zwei Thesen zusammen: Die Religion ist Gesinnung;
und die religiöse Gesinnung darf nicht ausschließlich von dem Gesichtspunkt des
praktischen Lebens aus betrachtet werden.
Das Problem, das Schleiermachers Begriff des frommen Gefühls mit sich bringt,
wird nun dadurch viel komplizierter: Denn wie kann eine Gesinnung möglich
sein, wenn unsere Lebensbewegung nicht auf eine Idee, einen Zweck, ein Lebensideal usw. gerichtet ist? Wie kann ein religiöses Gefühl, das zugleich zu einer
Gesinnung werden soll, anders sein als das Gefühl von einer Idee, einem Lebensideal? Schleiermacher versucht, zwei Behauptungen, die zueinander im Gegensatz zu stehen scheinen, in Einklang zu bringen. Einerseits ist die Religion als
eine eigentümliche Art des Fühlens zu verstehen, die bestimmte Denkweisen und
Handlungsweisen, die dem religiösen Frömmigkeitsgefühl entsprechen, hervorbringen: „Wenn ich mir aber denke die Neigung eines frommen Menschen, alle
seine Affectionen mit dem Gottesbewußtsein zu verbinden und darin gleichsam
aufzulösen: so constituiert diese eigenthümliche Gefühlsweise, aus der sich übereinstimmende Denkweisen und Handlungsweisen entwickeln, offenbar seine Gesinnung.“ 815 Die Denkweisen und Handlungsweisen, die im praktischen Leben
notwendig mit einer vorhergehenden Auffassung von etwas verbunden sind, set813
Ebd., S. 317 f.
Ebd., S. 317.
815
Ebd.
814
408
zen aber in der religiösen Gesinnung keine Vorstellung voraus, auf die sich das
Bewußtsein von dem Denkenden und Handelnden bezieht. Denn das religiöse
Gefühl soll, wie Schleiermacher gegen Bretschneider geltend machen will, nicht
als ein Gefühl von einem Gegenstand des Denkens verstanden werden: „Wenn
ich aber dann wieder sehe, wie auch dieser treffliche Mann [Tzschirner] zu glauben scheint, das Gefühl gehe immer erst von der Vorstellung aus, und wie er
deutlich ausspricht, der letzte Grund des Glaubens bleibe immer die Einsicht in
den nothwendigen Zusammenhang der ergriffenen Ideen: so muß ich mich wieder
darauf zurückziehen, daß, was ich unter dem frommen Gefühl verstehe, gar nicht
von der Vorstellung ausgeht, sondern die ursprüngliche Aussage ist über ein unmittelbares Existentialverhältniß, und ich finde mich wieder in derselben Opposition, wie gegen Hrn. Dr. Bretschneider.“ 816
Was bedeutet nun, daß das Abhängigkeitsgefühl ein Ausdruck des unmittelbaren
Existentialverhältnisses ist? Wie kann man hieraus eine Bestimmung eines Gefühls ableiten, das im Unterschied zu dem normalen Sinn dieses Wortes nicht als
ein Gefühl von etwas Gedachtem zu verstehen ist? Leider gibt Schleiermacher in
seinen ‚Sendschreiben an Lücke‘ keine detaillierte Erklärung für dieses Problem.
Im Grunde genommen haben wir aber schon im zweiten Teil der Arbeit gesehen,
warum das Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers nicht als das Gefühl von etwas
zu verstehen ist: Wir haben zwar das Gefühl unseres Seins in der Welt bzw. in
dem ganzen Sein, aber weder die ganze Welt noch das ganze Sein kann in meinem Bewußtsein als ein konkreter Bewußtseinsinhalt vorhanden sein.
Es wurde bereits gezeigt, daß Reinach aufgrund seiner Auseinandersetzung mit
Schleiermachers Begriffen (wie Abhängigkeitsgefühl, Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt usw.) zu seiner Unterscheidung zwischen einer
expliziten Erkenntnis und einer erlebnisimmanenten Erkenntnis gelangt. Wie eine
solche Unterscheidung möglich ist, kann m. E. mit dem Beispiel des Glaubens an
die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt am deutlichsten erklärt werden. Der
Ausgangpunkt von diesem Begriff besteht darin, daß wir eigentlich nur Vorstellungen von der konkreten Sachrelation in unserem Bewußtsein haben können,
816
Ebd.
409
aber niemals die Vorstellung von der ganzen Welt selbst. An einem Tag befinden
wir uns beispielsweise in einem Stadtzentrum, in dem wir unzählige Gebäude und
Menschen betrachten können. An einem anderen Tag befinden wir uns auf dem
Gipfel eines hohen Berges, von dem aus sehr weiter Blick über das Tal möglich
ist. Während der Nacht betrachten wir unzählige Sterne und bewundern die Größe
des ganzen Universums. Aber in keinem Moment unseres Lebens können wir die
ganze Welt als einen konkreten Bewußtseinsinhalt haben; es gibt eigentlich nur
verschiedene Momente, in denen wir jedesmal nur einen partiellen Blick auf die
Welt haben können. Daraus ergibt sich nun: Wir haben keine Vorstellung der
Welt, sondern nur Vorstellungen von dieser oder jener Sachrelation, die keineswegs die ganze Welt vertreten können. Das, was wir Welt nennen, hängt also von
dem Glauben ab: Wir haben zwar keine Vorstellung der ganzen Welt, sondern
nur Vorstellungen von den konkreten Sachrelationen, die nur partiell die Welt
vertreten können; wir leben aber notwendig mit dem Glauben daran, daß wir uns
in einer Welt befinden, die vollkommen ist und somit nicht auf ein weiteres Sein
außer sich verweist.
Dieser Glaube kann nicht zu einer Erkenntnis werden, die auf die Wahrnehmung
bzw. Auffassung von etwas zurückzuführen ist. Zwar vollziehen wir, soweit unser Bewußtsein wach bleibt, stets Urteilsakte. Wir denken, daß ein Kugelschreiber blau ist; daß eine Frau hübsch ist; daß ein Mensch aufgeregt ist; daß das Wetter heute sehr warm ist usw. Alle diese Urteile beziehen sich auf die konkreten
Wahrnehmungen; sie erzeugen explizite Erkenntnisse, in denen das Verhältnis
zwischen dem Denkenden und dem Gedachten veranschaulicht werden kann.
Aber unser Glaube daran, daß jedes Seiende nur als ein Teil des ganzen Seins
existieren kann, läßt sich nicht auf die Wahrnehmung von etwas zurückführen. Er
muß daher erlebnisimmanent sein; die Erkenntnis, die explizit auf die Wahrnehmung von etwas Seiendes bezogen ist, hängt von der erlebnisimmanenten Erkenntnis der vollkommenen Welt ab.
Somit ist nun die Ermöglichungsbedingung dafür aufgeklärt, daß das Frömmigkeitsgefühl zu einer Gesinnung werden kann. Schleiermacher spricht, wie wir
eben gesehen haben, von der Neigung eines frommen Menschen, alle seine Affek-
410
tionen mit dem Gottesbewußtsein zu verbinden und darin gleichsam aufzulösen.
Diese Neigung des frommen Menschen bedeutet für Schleiermacher eine Gefühlsweise des frommen Menschen, aus der sich übereinstimmende Denkweisen
und Handlungsweisen entwickeln. Scheinbar steht diese Behauptung im Widerspruch mit Schleiermachers eigener Definition des Abhängigkeitsgefühls: Wie
können sich Denkweisen und Handlungsweisen aus einer Gefühlsweise entwickeln, welche nicht auf einen expliziten Urteilsakt über etwas Bestimmtes zurückzuführen ist? Wenn wir aber, wie wir an Hand des Reinachschen Begriff der
erlebnisimmanenten Erkenntnis gesehen haben, über eine Erkenntnis verfügen
können, die nicht auf die Wahrnehmung des Seienden zurückzuführen ist, müssen
wir auch die Möglichkeit haben können, unser Bewußtsein auf das Sein selbst,
das nicht das Seiende ist, auszurichten. Wir ziehen uns von dem Wirkungsverhältnis zwischen den Seienden, die sich gegeneinander äußerlich verhalten, zurück und finden uns als einen Teil des ganzen Seins wieder. Wir denken und handeln nicht mehr so, als ob wir mit dem anderen Seienden nur in einem äußeren
Seinsverhältnis stünden. Wir fangen an, ein frommes Leben zu führen, d. h. ein
Leben eines Menschens, der sich als ein in einem unendlichen Seinsganzen Seiendes fühlt.
411
V. Resümee
Im Zentrum dieser Arbeit stand die Frage, in welcher Form die Philosophie Heideggers durch seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher in seiner frühen
Freiburger Zeit beeinflußt worden ist. In der Einleitung wurde darauf hingewiesen, daß zwei wichtige Heidegger-Forscher (O. Pöggeler und H. Ott) der Auseinandersetzung Heideggers mit der Religionsphilosophie von Schleiermacher eine
sehr wichtige Bedeutung für die philosophische Entwicklung Heideggers zuweisen: Beide behaupten, daß Heidegger durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher einen entscheidenden Ansatz für die hermeneutische Wende seines Denkens
erhalten habe.
Beide Autoren bieten dennoch keine detaillierten Analysen an, mit deren Hilfe
man feststellen könnte, welche Impulse Heidegger genau von der Religionsphilosophie Schleiermachers erhalten hat und welche Bedeutung diese Impulse für die
philosophische Entwicklung Heideggers haben. Beide scheinen eine zweistufige
Entwicklung der Heideggerschen Hermeneutik anzunehmen: Zuerst habe Schleiermachers Religionsphilosophie es Heidegger ermöglicht, sich von der Husserlschen, an der Vorhandenheit orientierten Phänomenologie kritisch zu distanzieren
und hierdurch zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens überzugehen; danach
habe Heidegger durch seine Beschäftigung mit dem Urchristenum gelernt, das
faktische Leben des Daseins als historisch bestimmt zu verstehen.
Es kann m. E. kein Zweifel daran bestehen, daß Heidegger durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher eine Wende von der von einem erkenntnistheoretischen Interesse geleiteten Phänomenologie Husserls zu einer Hermeneutik des
faktischen Lebens vollzogen hat. Wie wir gleich in der Einleitung und im ersten
Teil der Arbeit gesehen haben, versteht Heidegger das Wesen der Religion im
Sinne Schleiermachers als die religiöse Betrachtung, in der sich das Dasein von
allen Seinssetzungen im natürlichen Weltbewußtsein kritisch distanziert. Heidegger bezeichnet diese religiöse Betrachtung im Sinne Schleiermachers als eine
412
phänomenologische Epoché. Dies ist nun insofern für Heideggers Denken von
besonderer Bedeutung, als daß Heidegger die religiöse Betrachtung als eine Dimension des faktischen Bewußtseinslebens betrachtet, in der sich das Dasein auf
etwas ausrichtet, was sich nicht durch die Unterscheidung zwischen dem Selbst
und dem anderen Seienden im natürlichen Weltbewußtsein definieren läßt. Anders als bei Husserl, der sich bekanntlich in Ideen I angesichts der phänomenologischen Möglichkeit der kritischen Einklammerung aller Seinsetzungen im natürlichen Weltbewußtsein zu einem transzendentalen Idealismus bekennt, findet man
bei Schleiermacher die Formulierung einer Frage nach dem (absoluten) Sein, die
nicht von dem Standpunkt des vorhandenen Seienden im natürlichen Weltbewußtsein beantwortet werden kann. Vereinfacht gesagt, beinhaltet die religiöse
Betrachtung für Heidegger die Möglichkeit für das Dasein, sich von dem Seinsverständnis aus dem Standpunkt des Seienden im praktischen bzw. theoretischen
Leben kritisch zu distanzieren und sich auf das Sein selbst, das sich nicht auf das
Seiende reduzieren läßt, auszurichten. Die phänomenologische Möglichkeit der
kritischen Einklammerung aller Seinsetzungen im natürlichen Weltbewußtsein
führt also nicht unbedingt zu einem transzendentalen Idealismus des reinen Ich.
Sie eröffnet vielmehr die Möglichkeit einer Ontologie, in der die Frage nach dem
Sein im Zentrum steht, das nicht auf die Vorhandenheit zurückgeführt werden
kann.
Die These allerdings, daß Heidegger erst durch seine Auseinandersetzung mit
dem Urchristentum begonnen habe, das faktische Leben zugleich als das historische Leben zu verstehen, ist jedoch m. E. problematisch. Im ersten Teil dieser
Arbeit wurde gezeigt, daß die Geschichtlichkeit des Lebens für Heidegger bereits
vor seiner Beschäftigung mit Schleiermacher ein wichtiges Thema darstellt: Am
Schluß seiner Habilitationsschrift kündigt Heidegger an, daß sich seine Philosophie zukünftig an die metaphysische, bei Hegel kulminierende Theologie anschließen werde, in der der lebendige, historische Geist von zentraler Bedeutung
ist. Schon vor diesem Hintergrund kann man Zweifel an der Behauptung haben,
daß Heidegger erst nach seiner Beschäftigung mit dem Urchristentum den Begriff
des Historischen als einen zentralen Begriff seiner Philosophie akzeptiert habe.
413
Ausgehend von diesem Zweifel wurde in dieser Arbeit die folgende These aufgestellt: Heidegger hat gerade durch seine Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Schleiermachers ein neues Verständnis des Historischen gewonnen.
Um verstehen zu können, in welchem Sinn die Religion und die Geschichtlichkeit des Lebens sich verbinden, muß zuerst geklärt werden, wie Heidegger den
Begriff des historischen Lebens versteht. Das historische Leben setzt für Heidegger, wie wir im ersten Teil der Arbeit gesehen haben, das Spannungsverhältnis
zwischen dem Alltagsbewußtsein und dem Seinsbewußtsein voraus.
Mann kann somit m. E. deutlich erkennen, daß die Hermeneutik des faktischen
historischen Lebens die Existenzontologie von Sein und Zeit in wesentlichen
Punkten vorweggenommen hat. Die Hermeneutik des faktischen Lebens steht m.
E., wie ich im dritten Teil in Anlehnung an C. F. Gethmann ausgeführt habe, mit
Heideggers Existenzontologie in Sein und Zeit durchaus in einer kontinuierlichen
Beziehung. Allerdings steht diese Behauptung im Widerspruch mit der Position,
die einige Heidegger-Forscher wie H.-G. Gadamer und T. Kisiel vertreten: Nach
ihnen sei Sein und Zeit ein Werk, dem im eigentlichen Denkweg Heideggers keine entscheidende Bedeutung zukomme. Gemeint ist hierbei, daß die transzendental-philosophische Bewußtseinsanalyse in Sein und Zeit, die Heidegger durch die
Gegenüberstellung des Alltagsbewußtseins und des Seinsbewußtseins (Angst)
veranschaulicht, für das eigentliche Anliegen Heideggers letztlich entbehrlich sei.
Daher stellen Gadamer und Kisiel die überraschende Behauptung auf, die sogenannte Kehre bedeute in Wirklichkeit einen Rückgang zu dem ursprünglichen
Ansatzpunkt Heideggers, den dieser bereits in seiner frühen Freiburger Zeit entwickelt habe. Damit wird zweierlei behauptet: erstens sei die Kehre ein Standpunktwechsel, mit dem Heidegger über die Grenze der immer noch zu sehr transzendentalphilosophisch gebliebenen Existenzanalyse in Sein und Zeit hinausgehen wolle; zweitens stehe die Hermeneutik des faktischen Lebens mit der Existenzontologie in Sein und Zeit in einem diskontinuierlichen Verhältnis. Wir haben
im ersten und dritten Teil der Arbeit gesehen, daß beide Behauptungen unhaltbar
sind. Heidegger selbst macht in seinem ‚Brief über den Humanismus‘ hinreichend
deutlich, daß die Kehre keineswegs einen Standpunktwechsel bedeutet. Man darf
414
aus der Kehre nicht ableiten, es gebe einen Heidegger I und einen Heidegger II,
wie Pöggeler in seiner Kritik an Gadamer prägnant formuliert.
Auch das Verhältnis zwischen der Hermeneutik des faktischen Lebens und der
Existenzontologie in Sein und Zeit sollte man daher als eine durchaus kontinuierliche Fortführung betrachten, wie Gethmann explizit behauptet. Gadamer und
Kisiel heben m. E. bei ihrer Auslegung der Geschichtlichkeit des faktischen Lebens zu sehr die kinetische Dimension hervor. Wir haben im ersten Teil der vorliegenden Arbeit gesehen, daß Heidegger bereits in seiner frühen Freiburger Zeit
die verfallende Tendenz der Lebensbewegtheit des Daseins analysiert und sie als
Ruinanz bezeichnet hat. Die Ruinanz ist nach dem Ausdruck Heideggers eine
Zeittilgung, die also gegen-historisch ist. In der Frage nach dem Sinn der Geschichtlichkeit des faktischen Lebens kann es also Heidegger nicht bloß darum
gehen, das faktische Dasein in seiner Lebensbewegtheit zu zeigen. Vielmehr muß
es hier darum gehen zu zeigen, aufgrund welcher ontologischen Bedingung es
möglich wird, daß sich das Dasein von der faktisch ruinanten Lebensbewegtheit
im Alltagsleben zu der ursprünglichen Geschichtlichkeit des Lebens zurückholt.
Was Heidegger in Sein und Zeit mit seiner Angstanalyse darlegt, ist auch für den
Begriff der Geschichtlichkeit, der bei Heideggers Umgestaltung der Phänomenologie zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens eine zentrale Rolle gespielt hat,
von entscheidender Bedeutung. Das Historische meint nicht einfach die kinetische Lebensbewegtheit des Daseins. Es setzt notwendig das Spannungsverhältnis
zwischen dem Alltagsbewußtsein und dem Seinsbewußtsein voraus: Erst dadurch,
daß das Dasein sich von der ruinanten Lebensbewegtheit im Alltagsleben zum
ursprünglichen Seinsbewußtsein zurückholt, kann das Leben historisch werden.
Wie wir im ersten Teil der Arbeit gesehen haben, hat Heidegger den ursprünglichen Ansatzpunkt seiner Analyse der Angst durch seine Auseinandersetzung mit
dem Religionsbegriff Schleiermachers gewonnen. Damit ist m. E. bereits gezeigt,
daß Heidegger die zentrale Idee seiner Hermeneutik – nämlich die Orientierung
an der Geschichtlichkeit des faktischen Lebens – von Schleiermacher übernommen hat: Die existenzontologische Bewertung des Religionsbegriffs Schleiermachers ist für die Heideggerschen Konzeption des faktisch historischen Lebens von
415
entscheidender Bedeutung. Dabei deutet Heidegger die kritische Distanz des religiösen Bewußtseins von allen Seinssetzungen im natürlichen Weltbewußtsein
(die religiöse Zurückgezogenheit), die er bei Schleiermacher vorfindet, als einen
Ursprung des Spannungsverhältnisses zwischen dem praktischen, an der Vorhandenheit orientierten Alltagsbewußtsein und dem Bewußtsein der Nichtigkeit des
alltäglichen Selbsts. Das Historische bedeutet in diesem Sinn nicht einfach eine
Lebensbewegtheit des Daseins, sondern vielmehr die Möglichkeit des Daseins,
sich von der ruinanten Lebensbewegtheit in der Alltagssituation kritisch zu distanzieren und sich auf das Sein selbst auszurichten.
Im vierten Teil der Arbeit haben wir gesehen, daß der wichtige Husserl-Schüler
A. Reinach sich mit der Religionsphilosophie Schleiermachers auseinandergesetzt hat. Heidegger wiederum hat gleich zu Beginn seiner Freiburger Zeit die
Auseinandersetzung von Reinach mit Schleiermacher kennengelernt. Wie im
vierten Teil der Arbeit gezeigt wurde, bemerkt Heidegger zu Reinachs Interpretation des Abhängigkeitsgefühls, daß sich im Abhängigkeitsgefühl die Ursinnstruktur des Historischen zeige. Dies kann m. E. als ein wichtiger Beleg für die Hauptthese dieser Arbeit gelten: Gerade seine Beschäftigung mit Schleiermacher hat
Heidegger dazu veranlaßt, den Sinn der Geschichtlichkeit des Lebens neu zu
bestimmen. Die phänomenologische Epoché, als die Heidegger die religiöse Betrachtung im Sinn Schleiermachers versteht, ist für das faktisch historische Leben
des Daseins von entscheidender Bedeutung: Ohne die kritische Einklammerung
aller Seinssetzungen im natürlichen Weltbewußtsein kann das Dasein nicht über
die Grenze des an dem vorhandenen Seienden orientierten Alltagsbewußtseins
hinausgehen.
Die Beziehung zwischen Reinach und Stein ist m. E. ein wichtiger Hinweis darauf, daß Schleiermachers Religionsphilosophie für die ontologische Wendung der
Phänomenologie nicht von geringer Bedeutung gewesen ist. Beide waren wichtige Phänomenologen, die Husserls Phänomenologie gerade in ihrer anfänglichen
Zeit auf die ontologische Dimension hin weiter entwickeln wollten. Hierbei wurde Steins Hinwendung zur Religionsphänomenologie von Reinach veranlaßt, be-
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sonders von Reinachs Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Schleiermachers.
Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß nicht nur Heidegger, sondern auch andere
Husserl-Schüler unter dem Einfluß Schleiermachers die Phänomenologie in Hinblick auf eine ontologische Dimension weiterentwickeln wollten. Liegt dies nicht
eben gerade daran, daß Schleiermachers Religionsphilosophie ihrem Wesen nach
als eine phänomenologische Ontologie bezeichnet werden kann?
Oder muß man vielmehr davon ausgehen, daß Schleiermachers Philosophie im
strengen Sinn des Wortes nicht phänomenologisch ist, auch wenn Heidegger und
Reinach bei ihm einige wichtige Ansatzpunkte für ihre ontologische Weiterentwicklung der Phänomenologie Husserls gefunden haben? Zwar bezeichnet Heidegger Schleiermachers Begriff der Religion als eine phänomenologische Epoché.
Man kann darüber hinaus auch anhand Reinachs’ Unterscheidung von expliziten
und erlebnisimmanenten Erkenntnissen ableiten, daß auch Reinach das fromme
Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers als eine phänomenologische Epoché versteht: Das fromme Abhängigkeitsgefühl läßt sich nicht auf das an der Vorhandenheit orientierte Bewußtsein (explizite Erkenntnis) zurückführen, sondern es
zeigt sich vielmehr als ein Bewußtsein des ganzen Seins, das das Bewußtsein bei
jedem aktuellen Erlebnis notwendig begleiten muß (erlebnisimmanente Erkenntnis). In diesem religiösen Bewußtsein zeigt sich das Sein als das einheitliche Sein,
das nicht als eine Beziehung zwischen voneinander gesonderten Seienden verstanden werden kann.
Es wäre aber voreilig, wenn man alleine aus diesen Indizien ableiten wollte, das
Schleiermachers Religionsphilosophie letztlich eine Art der ‚Phänomenologie‘ sei.
Daß Gott nicht mit der Gesamtheit alles Seienden identifiziert werden darf, ist
nämlich in der theologischen Tradition überhaupt keine neue Idee. Wichtig ist
vielmehr die Frage, ob Schleiermachers Philosophie tatsächlich über ein methodologisches Verfahren verfügt, mit dem man das phänomenale Wesen alles weltlich Seienden zutage bringen kann: Kann man in Schleiermachers Philosophie ein
methodologisches Verfahren finden, das mit der phänomenologischen Reduktion
Husserls vergleichbar ist?
417
Diese Frage wurde im dritten Teil beantwortet. Wie wir gesehen haben, versteht
Schleiermacher die Wahrnehmung als einen Urteilsakt und aus diesem Grund
kommt Schleiermacher zu dem Ergebnis, daß die Welt, da sie nur vermittelt
durch diesen Urteilsakt ins Bewußtsein treten kann, nicht als die Welt an sich
anzuerkennen ist, sondern eher als phänomenale Welt aufgefaßt werden muß,
deren Erkenntnis ohne einen vorhergehenden Urteilsakt des Bewußtseins nicht
möglich ist. Schleiermachers These der letztlichen Identität der Welt und des Begriffs ist m. E. ein klares Indiz dafür, daß Schleiermacher die Husserlsche Idee
der phänomenologischen Reduktion vorweggenommen hat. Auch für Husserl
besteht der Ausgangspunkt bei seiner Einführung der phänomenologischen Reduktion in die Philosophie darin, daß alles, was durch die Seinssetzungen im natürlichen Weltbewußtsein als ein So-Seiendes erscheint, keineswegs als ein an
sich Seiendes anzuerkennen ist; es setzt notwendig einen Urteilsakt der Wahrnehmung voraus.
Aber anders als Husserl, der aus dieser Grundeinsicht der Phänomenologie zu
einem transzendentalen Idealismus übergeht, entwickelt Schleiermacher eine
phänomenologische Ontologie, in der es um das nicht auf die Vorhandenheit zurückführbare Sein selbst geht. Diese Frage nach dem Sein selbst bedeutet allerdings eine Frage nach dem ursprünglichen Sein; alles weltlich Seiende im natürlichen Weltbewußtsein setzt den Akt des urteilenden Bewußtseins voraus. Das
bedeutet nun, daß die Welt nur als ein Bewußtseinskorrelat möglich ist. In der
phänomenologischen Ontologie geht es daher um das Sein selbst, das, anders als
das weltlich Seiende, nicht bloß als ein Bewußtseinskorrelat verstanden werden
darf.
Hierbei geht Schleiermacher von einem wichtigen Ansatzpunkt aus, der auch für
Heideggers Philosophie von grundlegender Bedeutung ist: Der Ursprung des Gegenstandbewußtseins liegt im praktischen Alltagsleben. Diese praxeologische
Fundierung der Gegenständlichkeit bedeutet aber für Schleiermacher nicht, daß
das Gebrauchswissen als ein ursprünglicher Modus des Wissens anerkannt werden soll. Anders als Heidegger, der seine ontologische Frage nach dem Sein
selbst strikt von der wissenschaftlichen Weltbetrachtung unterscheidet, verbindet
418
Schleiermacher dadurch die ontologische Frage nach dem Sein selbst mit der wissenschaftlichen Weltbetrachtung, daß er nicht nur das am praktischen Handlungszweck orientierte Denken, sondern auch das reine Denken als ein konstitutives
Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseins anerkennt.
Dieser Unterschied ist m. E. für eine fundamentalontologische Fundierung der
Seinsfrage von zentraler Bedeutung: Dadurch, daß Schleiermacher das reine
Denken und die praktische Orientierung an der Gegenständlichkeit als zwei
gleichursprüngliche Strukturelemente des Bewußtseins darstellt, gibt er zugleich
eine sehr überzeugende Antwort auf zwei wichtige ontologische Fragen: 1. Aus
welcher konkreten Situation des Daseins ergibt sich die philosophische Notwendigkeit, eine Frage nach dem nicht auf die Vorhandenheit zurückführbaren Sein
selbst zu stellen? 2. Ist die ontologische Frage nach dem Sein selbst eine philosophisch sinnvolle Frage?
Im reinen Denken streben wir nicht ein Gebrauchswissen an, das die Gegenständlichkeit des empirisch als vorhanden konstatierbaren Seins voraussetzt.
Vielmehr fragen wir hier nach dem Ansich eines Seienden, d. h. nach dem Wissen davon, wie ein Seiendes an sich ist. Diese Frage nach dem Ansich bedeutet
für Schleiermacher nicht, daß die Vorhandenheit als eine unvermeidbare Seinsweise alles Seienden anzuerkennen wäre. Gerade in dieser Frage nach dem Ansich zeigt sich alles Seiende als ein etwas, was sich mit dem anderen Sein in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang befindet, für den Begriffe
wie Vorhandenheit, Gegenständlichkeit etc. unangemessen sind. Denn ein Seiendes, das sich für das praktische Bewußtsein als ein Gegenstand zeigt, ist für das
reine Bewußtsein, das – um des Denkens selbst willen – nach dem Ansich dieses
Seienden fragt, ein eigenständiges Sein, das auf mein Sein einwirkt. Diese Eigenständigkeit eines Seienden unterscheidet sich von seiner bloßen Vorhandenheit.
Denn sie ist ein Moment des Offenbarwerdens meiner ontologischen Seinssituation, die darin besteht, daß ich mich stets in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang mit dem anderen Sein befinde. Die radikale Trennung zwischen meinem Sein und dem Sein des bloß gegenständlichen Seienden, die in
meinem praktischen Leben ihren Ursprung hat, verliert hier an Geltung.
419
Hieraus folgt nun noch eine wichtige These dieser Arbeit: Schleiermacher hat die
phänomenologische Analyse der Leiblichkeit (im Sinn Merleau-Pontys) vorweggenommen. Schleiermacher betrachtet die Möglichkeit des Daseins, fremde Einwirkungen sinnlich wahrzunehmen, als einen notwendigen Grund dafür, daß wir
uns als abhängig von anderem Sein fühlen. Gerade hierin liegt der Grund dafür,
daß wir trotz unseres Weltbewußtseins eine Frage nach dem Sein selbst stellen
müssen. Im dritten Teil dieser Arbeit haben wir gesehen, daß das Sein für Heidegger nach der Kehre als das Einfache zu bezeichnen ist. Unklar bleibt nun aber
bei ihm, warum dies so ist. Seine These, das Sein sei das Einfache, wird m. E.
lediglich als ein begrifflicher Gegensatz zu der Beschreibung des Seienden entwickelt, welches notwendig auf die Differenzstruktur der verschiedenen Vorhandenheiten bezogen ist. Heidegger gibt nirgendwo einen überzeugenden Grund
dafür an, warum das faktische Dasein über die Grenze seines natürlichen Weltbewußtseins hinausgehen und eine Frage nach dem einfachen Sein stellen kann.
Im dritten Teil der Arbeit haben wir gesehen, daß Schleiermacher in seinem
‚Sendschreiben an Lücke‘ seinen Begriff des Abhängigkeitsgefühls ganz explizit
als einen Ausdruck des Existenzialverhältnisses unseres Seins bezeichnet. Diese
Aussage steht durchaus in Einklang mit einer These der Glaubenslehre. Im zweiten Teil wurde darauf hingewiesen, daß im § 4 der zweiten Auflage der Glaubenslehre, zu dem Heidegger in seiner frühen Freiburger Zeit Bemerkungen verfaßt hat, Schleiermachers Konzept des unmittelbaren Selbstbewußtseins bzw. des
Abhängigkeitsgefühls als Bewußtsein unseres Seins in der Welt oder unseres Zusammenseins mit der Welt definiert ist. Dieser Tatbestand ist m. E. ein Indiz dafür,
daß Heidegger sehr wahrscheinlich gerade durch seine Auseinandersetzung mit
Schleiermacher einen entscheidenden Ansatzpunkt seiner Philosophie erhalten
hat: Die Hermeneutik des faktischen Lebens, die vor allem Heideggers Philosophie in seiner frühen Freiburger Zeit geprägt hat, ist zugleich als eine Existenzontologie zu bezeichnen, deren zentraler Ansatzpunkt, nämlich das Dasein sei ein
In-der-Welt-sein, von der Religionsphilosophie Schleiermachers stammt.
Im ersten Teil der Arbeit wurde darauf hingewiesen, daß Heidegger trotz seiner
emphatischen Anerkennung des phänomenologischen Wesens von Schleierma-
420
chers Religionsbegriffs zugleich Schleiermacher eine naturtheoretische Betrachtung des Religionsphänomens vorwirft: Der Versuch von Schleiermacher, unser
lebendiges Bewußtsein als ein stetiges Sichfolgen und Sichdurchdringen von Situationen zu deuten, ist für Heidegger zu sehr naturtheoretisch formuliert, da hier
die Abhängigkeit des Daseins von den äußeren Umständen zu sehr hervorgehoben werde. Auch R. Otto erkennt in Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls eine objektivierende Tendenz bei der Betrachtung der Religion und ersetzt daher das Abhängigkeitsgefühl durch das Kreaturgefühl. Genau wie Otto
betrachtet Heidegger das Abhängigkeitsgefühl als einen Begriff, in dem das Verhältnis zwischen dem Dasein und dem Sein in Analogie mit der Relation zwischen den Naturobjekten dargelegt werde. Dies steht nun für Heidegger im Widerspruch mit der eigentlichen Intention Schleiermachers: Heidegger bezeichnet
die religiöse Betrachtung im Sinn Schleiermachers als eine Epoché, in der alle
Seinssetzungen im natürlichen Weltbewußtsein kritisch eingeklammert sind; das
Abhängigkeitsgefühl sei dagegen ein Begriff, der durch die Analogisierung des
religiösen Bewußtseins mit dem natürlichen, an der Relation der Vorhandenheiten orientierten Bewußtseins zustande komme.
In Wirklichkeit ist aber dieser vermeintliche Irrtum in der Religionsphilosophie
von Schleiermacher nur eine Folge davon, daß das Dasein bei Schleiermacher in
seinem konkreten Wirkungszusammenhang mit dem anderen Sein betrachtet wird.
In jeder Lebenssituation steht das Dasein in einem konkreten Wirkungszusammenhang mit dem anderen Sein. Dies bedeutet nun zugleich, daß der Sinn der
existenzontologischen Faktizität des Daseins als eines In-der-Welt-seins nicht
durch eine formal-ontologische Strukturanalyse des Daseins vollständig erhellt
werden kann. Wie wir im dritten Teil gesehen haben, weist auch Merleau-Ponty
in seinem Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung darauf hin, daß das
Dasein nur als eine leibliche Existenz möglich ist. Diese leibliche Dimension der
Existenz ist für Schleiermacher von unentbehrlicher Bedeutung bei seiner Religionsbegründung: Denn gerade darin, daß wir die fremden Einwirkungen auf uns
leiblich rezipieren, besteht die konkrete Möglichkeit des Daseins, das ganze Sein
als eine Einheit aufzufassen.
421
Die Religion im Sinne Schleiermachers hat so gesehen eine kritische Funktion.
In unserem natürlichen Weltbewußtsein läßt sich das ganze Sein als eine Relation
voneinander isolierter Entitäten verstehen. Dies bedeutet für Schleiermacher (wie
auch für Heidegger) eine unkritische Verabsolutierung des gegenständlichen
Sinns des Seins, der eigentlich in unserem praktischen Handlungsinteresse des
Alltags seinen Ursprung hat. Aber Schleiermacher weist zugleich darauf hin, daß
das faktische Dasein das Sein nicht nur gegenständlich versteht. Wir stehen mit
dem Seienden in einem konkreten Wirkungszusammenhang, wir verstehen uns
daher nicht nur als ein von dem anderen Sein gesondertes Seiendes, sondern zugleich als ein Sein, das sich in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang mit dem anderen Sein befindet.
Heideggers These, das Sein sei das Einfache, setzt allerdings voraus, daß das
Sein selbst nicht als bloße Summe oder Einheit der verschiedenen, unterschiedlichen Entitäten aufgefaßt werden darf. Das bedeutet nun zugleich, daß wir unser
Sein nicht nur als eine Existenz (Ausstehen bzw. Sein-bei) verstehen können, die
eine Trennung zwischen meinem Dasein und dem anderen Sein voraussetzt. Darüber hinaus müssen wir uns zugleich als ein solches Sein verstehen, das sich in
der absoluten Einheit des ganzen Seins befindet. Dies ist der Grund dafür, warum
Heidegger nach der Kehre – besonders in dem ‚Brief über den Humanismus‘ –
hervorhebt, daß das In-sein bzw. die Inständigkeit des Daseins nicht einfach als
das In-der-Welt-sein des Daseins zu bezeichnen ist.
Es ist nun aber auffällig, daß bei Heidegger an keiner Stelle eine konkrete Erklärung dafür gegeben wird, warum wir das Sein selbst als das Einfache verstehen
sollen. In unserem natürlichen Weltbewußtsein zeigt sich das Sein als der Zusammenhang alles Seienden, als eine Relation der Differenzen. Wie ist es möglich, daß das Dasein trotz dieser Form des natürlichen Weltbewußtseins letztlich
das Sein selbst als das Einfache versteht? Welche konkrete Bedeutung hat Heideggers Aussage, das Sein sei das Einfache? Man kann bei Heidegger, soweit ich
sehe, keine klaren Antworten auf diese Fragen finden. Woran liegt das?
Es wurde bereits erwähnt, daß Heidegger unter dem Einfluß Ottos die Konzeption des ‚Anhängigkeitsgefühls‘ kritisiert: Der Ausdruck Abhängigkeit könne nur
422
auf ein Verhältnis zwischen dem Dasein und einem natürlichen Objekt angewendet werden, da er in der Beziehung zwischen dem Dasein und dem vorhandenen
Seienden seinen Ursprung habe.
Diese Schleiermacher-Kritik Heideggers beruht aber m. E. darauf, daß Heidegger
die Bedeutung der Leiblichkeit des Daseins für die Fundamentalontologie ignoriert hat. Gerade die Fähigkeit des Daseins, fremde Einwirkungen wahrzunehmen,
ist für Schleiermacher ein konkreter Grund dafür, warum das Dasein ein Bewußtsein des Seins haben kann, das nicht auf die Vorhandenheit zurückzuführen ist:
Gerade die konkrete Erfahrung der Leiblichkeit macht es möglich, daß sich das
Dasein als ein Sein verstehen kann, das in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang mit allen Seienden steht. Und diese absolute Kontinuität
alles Seienden ist für Schleiermacher ein greifbarer Grund dafür, warum das ganze Sein nicht primär als ‚die Welt‘ bezeichnet werden kann, sondern eher als Gott:
Das ganze Sein ist eine absolut innerliche Einheit, die in dem Sinn absolut innerlich ist, daß sie keinen räumlichen Gegensatz von innen und außen voraussetzt.
Man kann also in Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls eine plausible Antwort auf eine Frage finden, die bei Heidegger letztlich unbeantwortet
bleibt: In welchem Sinn ist die Inständigkeit des Daseins (Dasein als ein In-sein)
nicht mit dem In-der-Welt-sein gleichzusetzen? In unserem relativen Abhängigkeitsgefühl erfahren wir uns nach Schleiermacher als ein Sein in der Welt. Im
absoluten, frommen Abhängigkeitsgefühl erfahren wir uns aber nicht mehr als ein
In-der-Welt-sein, da hier das ganze Sein als eine absolut innerliche Einheit verstanden werden soll. Gerade in diesem Sinn ist das Sein des Daseins nicht nur die
Existenz, sondern, wie Heidegger nach der Kehre hervorhebt, das In-sein, für das
die Begriffe der Existenz wie Ausstehen, Sein-bei nicht adäquat sind: Im frommen Abhängigkeitsgefühl verstehen wir uns als Teil einer absoluten Einheit des
ganzen Seins, deren Bewußtsein, wie schon gezeigt, die Leiblichkeit unseres Daseins voraussetzt. Das Dasein versteht sich hier nicht mehr als ein Sein, das mit
dem anderen Sein in einer äußerlichen Beziehung steht; es erkennt an, daß es zu
einem einheitlichen Seinsganzen gehört und daß es nur als ein In-sein in diesem
absolut kontinuierlichen Seinsganzen existieren kann.
423
Gilt nun auch für diesen Begriff des absolut einheitlichen Seins, daß er das Resultat einer abzulehnenden metaphysischen Übertragung innerweltlicher Kategorien auf das Sein selbst darstellt? Muß man davon ausgehen, daß Heidegger der
Gleichsetzung des Seins selbst mit dem ganzen Sein, in dem alles Seiende in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang steht, nicht zustimmen
würde? In diesem Fall würde sich die fundamentalontologische Frage nach dem
Sein selbst als eine sinnlose Frage erweisen. Aber Heideggers Aussage, das Sein
sei das Einfache, weist m. E. ganz explizit darauf hin, daß er mit dem Ausdruck
‚das Sein selbst‘ eine Frage nach dem Sein stellt, in dem die existenziale Trennung zwischen meinem Sein und dem anderen Sein, ohne die die Definition des
Daseins als eines In-der-Welt-seins nicht möglich ist, ihre Gültigkeit verliert. Das
Sein selbst muß daher das einheitliche Seinsganze bedeuten. Ohne das Bewußtsein des Daseins von seiner ontologischen Situation, die darin besteht, daß es
trotz seines natürlichen Weltverständnisses eigentlich nur als ein Sein in einem
absolut kontinuierlichen Seinsganzen existieren kann, ist die fundamentalontologische Frage nach dem Sein selbst sinnlos.
Es gibt bekanntlich viele Heidegger-Kritiker, die Heideggers Frage nach dem
Sein selbst als eine sinnlose Frage bezeichnen würden. Nachdem wir uns aber mit
Heideggers Schleiermacher-Rezeption und deren Bedeutung für seine philosophische Entwicklung auseinandergesetzt haben, können wir nun im Gegenteil hervorheben, daß Heideggers Frage nach dem Sein selbst von entscheidender Bedeutung für die philosophische Reflexion über das Verhältnis zwischen dem Sein,
der Welt und dem Dasein ist: Diese fundamentalontologische Frage beruht auf
der Möglichkeit des faktischen Daseins, sich von seinem natürlichen Weltbewußtsein kritisch zu distanzieren. Aber wahrscheinlich gibt es in der Philosophie
keinen garantierten, linearen Fortschritt. Schleiermacher hat bereits hundert Jahre
vor Heidegger eigenständig eine phänomenologische Ontologie entwickelt, in der
die ontologische Frage nach dem Sein selbst viel klarer und tiefgehender als bei
Heidegger analysiert und beantwortet wird. Sicherlich wirkt die philosophische
Sprache Schleiermachers auf viele heutige Leser nicht selten befremdend und
altertümlich. Das liegt aber vielleicht daran, daß Schleiermacher einerseits ver-
424
sucht, sein Denken von den Vorurteilen der traditionellen Philosophie möglichst
frei zu halten, er andererseits aber zugleich darum bemüht ist, seine Philosophie
mit der unverzichtbaren Erbschaft der abendländischen Philosophie seit Platon zu
verbinden. Schleiermacher versteht sich nicht als ein radikaler Erneuerer der Philosophie, sondern er betrachtet sich als einen Wegweiser, der seinen Zeitgenossen
eine sinnvolle Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft ermöglichen möchte.
Diese geistige Haltung Schleiermachers spiegelt sich auch in seiner Frage nach
dem ontologischen Verhältnis zwischen dem Dasein, der Welt und dem Sein
wieder. Mit seiner Begründung der Religionsphilosophie, die m. E. eindeutig als
eine Existenzontologie zu bezeichnen ist, zeigt er ganz überzeugend, daß der Sinn
des Seins nicht auf die Vorhandenheit reduzierbar ist. Genau wie Heidegger erkennt Schleiermacher an, daß die Vorhandenheit als ein Seinssinn in der praktischen Lebensführung des Daseins ihren Ursprung hat und daher keineswegs als
ein adäquater und ursprünglicher Sinn des Seins zu bezeichnen ist. Schleiermacher weist aber nicht nur auf die radikale Differenz zwischen dem Seienden und
dem Sein hin, sondern er stellt zugleich das Verhältnis zwischen dem Seienden
und dem Sein im konkreten Lebenszusammenhang dar. Jedes Seiende ist, wie wir
gesehen haben, für Schleiermacher nicht einfach etwas Vorhandenes, das wir
bloß als ein Objektding wahrnehmen. Es ist zugleich ein Ansichseiendes, dessen
Sinn ursprünglicher ist als das Vorhandene. Sicherlich kann man einen ähnlichen
Gedanken auch bei Heidegger finden: Nach Heidegger wird das Seiende von uns
nicht erfunden, sondern als je schon seiendes entdeckt. Aber Heidegger hebt bei
seiner ontologischen Fragestellung nach dem Sein einseitig nur die Differenz
zwischen dem Seienden und dem Sein selbst hervor, ohne dabei das konkrete
Verhältnis zwischen den beiden Seinsbegriffen zu untersuchen. Dagegen gelingt
es Schleiermacher überzeugend zu zeigen, warum wir aufgrund dieser Entdeckung des Seienden als eines je schon seienden notwendig eine Frage nach dem
Sein selbst stellen müssen: Wir erfahren das Seiende nicht als ein Objektding, das
den praktischen Zwecken meines Lebens dienen soll, sondern zugleich als ein
eigenständiges Sein, das auf mein Leben wirkt. In dieser Erfahrung des Seienden
425
als eines Ansichseienden besteht zugleich die Möglichkeit des Daseins, den Sinn
der Zeit, die in meinem Alltagsleben einer praktischen Zweckplanung (Zeitplan)
unterworfen ist, neu zu verstehen. Wir erfahren die Zeit nun als allzeitliche Lebenserfahrung, in der ich gerade in diesem Augenblick meines Lebens die Vergangenheit und die Zukunft als innig verbunden erfahre. Denn meine Erfahrung
des Seienden ist für Schleiermacher nicht bloß das Gewärtigen bzw. Gegenwärtigen eines Vorhandenen, das als ein Objektding vorhanden ist. Sie bedeutet zugleich, daß ich mein Selbst als ein solches Sein erkenne, das eine Vergangenheit
hat, die auf das konkrete Wirkungsverhältnis zwischen meinem Sein und dem
anderen Sein verweist.
Wie wir im dritten Teil der Arbeit gesehen haben, entdeckt Schleiermacher durch
eine phänomenologische Analyse des Selbstbewußtseins eine besondere Form
des intentionalen Bewußtseins. Schleiermacher gibt sich nun im Unterschied zu
Husserl und Heidegger nicht damit zufrieden, die Intentionalität als eine formale
Struktur jedes aktuellen Bewußtseins zu definieren. Die Intentionalität des Bewußtseins ist für Schleiermacher zugleich ein ontologischer Grund dafür, warum
das faktische Dasein über die Grenze des natürlichen Weltbewußtseins, in dem
die Trennung meines Seins von dem anderen Sein vorherrschend ist, hinausgehen
muß. Zwar kann man sicherlich auch davon ausgehen, daß auch Heidegger die
Intentionalität des Bewußtseins als einen zentralen Ansatzpunkt der phänomenologischen Ontologie betrachtet. Aber die konkrete Möglichkeit dafür, wie das
Dasein trotz seiner existenzialen Struktur (Ausstehen, Sein-bei) zu dem Bewußtsein des Seins als eines Einfachen bzw. einer absoluten Einheit gelangen kann,
wird bei Heidegger an keiner Stelle ausreichend deutlich.
Schleiermacher definiert das Selbstbewußtsein in der Glaubenslehre als ein solches Bewußtsein, in dem die Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas als
mitwirkende Ursache stattfindet. Hiermit gibt Schleiermacher einen konkreten
Grund dafür an, warum eine Phänomenologie zu einer Ontologie werden muß:
Denn die Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas als mitwirkende Ursache bedeutet zugleich, daß das, was ich jetzt als das vor mir liegende, von mir
getrennte Seiende wahrnehmen, in Wirklichkeit bei der Konstitution meiner Ver-
426
gangenheit mitgewirkt hat. Diese Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas
als mitwirkende Ursache bedeutet für Schleiermacher nicht irgendeine Reduktion
unseres jetzigen Zustandes auf äußere, in der Vergangenheit liegende Determinanten. Sie weist uns zugleich auf die neue Zukunft hin. Denn durch sie können
wir anerkennen, daß ein Seiendes mehr als das Vorhandene ist. Hier fangen wir
an, über die Grenze unseres jetzigen, an der Vorhandenheit bzw. Gegenständlichkeit orientierten praktischen Alltagslebens hinauszugehen und zu einem ursprünglichen Seinsverhältnis zwischen uns und dem anderen Sein zu gelangen. Wir
nehmen nun alles Seiende wahr als etwas, das zu uns in eine rein innerliche Beziehung tritt, das somit für uns nicht mehr ein äußeres Ding darstellt. Ist dies
nicht der wirkliche ontologische Sinn der Zeit? Liegt hierin nicht der Sinn der
Seinsgeschichtlichkeit, den Heidegger mit seiner Philosophie stets zu zeigen versucht hat? Auf diese Fragen wurde im vierten Teil eine Antwort gegeben: Aus
Heideggers Bemerkungen zu Reinachs Interpretation des Abhängigkeitsgefühls
wird deutlich, daß Heidegger das religiöse Abhängigkeitsgefühl im Sinne Schleiermachers als einen Ausdruck der Ursinnstruktur des historischen Lebens betrachtet. Allerdings bleibt sein Unternehmen, die ursprüngliche Seinsgeschichtlichkeit des Lebens ontologisch darzustellen, unvollständig: Denn er betrachtet
das Leben des Daseins vom Standpunkt der formalen Strukturanalyse aus. Er
ignoriert daher, daß sich das Dasein in einem konkreten Wirkungszusammenhang
mit dem anderen Seienden befindet.
M. E. kann man auf jeden Fall zweierlei festhalten: Erstens hat Heidegger den
entscheidenden Ansatzpunkt für seine Hermeneutik des faktisch historischen Daseins von Schleiermacher übernommen; zweitens ist dieser Ansatzpunkt, den
Heidegger bei seiner hermeneutischen Neugestaltung der Phänomenologie von
Schleiermacher übernommen hat, für die weitere Entwicklung der Heideggerschen Philosophie von wichtiger und bleibender Bedeutung. Und wir können
vielleicht durch eine direkte Auseinandersetzung mit Schleiermacher besser erkennen, was Heidegger eigentlich mit seiner Strukturanalyse des faktisch historischen Daseins zum Ausdruck bringen wollte.
427
Literaturverzeichnis
I. Primärliteratur
a) Texte von Martin Heidegger
Heidegger, M., Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner
und einem Fragenden, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Frankfurt a. M. 1959,
S. 79-146.
Ders., Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a. M. 1989.
Ders., Brief über den ‚Humanismus‘, in: ders., Wegmarken (Gesamtausgabe Bd.
9), Frankfurt a. M. 1976, S. 313-364.
Ders., Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft, in: Frühe Schriften, Frankfurt a. M. 1978, S. 413-433.
Ders., Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, in: ders., Frühe
Schriften, a.a.O., S. 189-412.
Ders., Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, in: ders., Frühe Schriften, a.a.O.,
S. 59-188.
Ders., Einleitung zu: ,Was ist Metaphysik?‘, in: ders., Wegmarken, a.a.O., S. 365384.
Ders., Grundprobleme der Phänomenologie (Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1919/20, Gesamtausgabe Bd. 58), Frankfurt a. M 1993.
Ders., Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Marburger Vorlesung Wintersemester 1925/26, Gesamtausgabe Bd. 21), Frankfurt a. M. 1976.
Ders., Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (Frühe Freiburger Vorlesung
Sommersemester 23, Gesamtausgabe Bd. 63), Frankfurt a. M. 1988.
Ders., Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (Frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 20,
Gesamtausgabe Bd. 59), Frankfurt a. M. 1993.
Ders., Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1995.
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Ders., Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die
phänomenologische Forschung (Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester
1921/22, Gesamtausgabe Bd. 61), Frankfurt a. M. 1985.
Ders., Sein und Zeit, Tübingen 1993.
Ders., Vom Wesen des Grundes, in: ders., Wegmarken, a.a.O., S. 123-176.
Ders., Vom Wesen der Wahrheit, in: ebd., S. 177-202.
Ders., Zur Seinsfrage, in: ders., Wegmarken, a.a.O., S. 385-426.
b) Texte von Schleiermacher
Schleiermacher, F. D. E., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (Erste Auflage) (KGA 1.
Abt. Bd. 7/1), Berlin / New York 1980.
Ders., Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche
im Zusammenhange dargestellt, Berlin 1960. Aufgrund der zweiten Auflage
und kritischer Prüfung des Textes neu herausgegeben und mit Einleitung, Erläuterungen und Register versehen von M. Redeker.
Ders., Dialektik. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf
Grund bisher unveröffentlichten Materials (hrsg. von Odebrecht, R.), Berlin
1942.
Ders., Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems, in: ders., Jugendschriften
(KGA 1. Abt. Bd. 1), Berlin / New York 1984, S. 559-582.
Ders., Spinozismus, in: ders., Jugendschriften (KGA 1. Abt. Bd. 1), a.a.O., S.
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Ders., Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, in: ders., Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften (KGA 1. Abt.
Bd. 10), Berlin / New York 1990.
Ders., Über die Religion (1. Auflage), in: Schleiermachers Werke (hrsg. von
Braun, O. / Bauer, J.) Bd. 4, Aalen 1967 (zitiert nach der Originalseitenangabe)
Ders., Über die Religion (2.-) 4. Aufl. (KGA 1. Abt. Bd. 12), Berlin / New York
1995.
429
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Ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II (Husserliana Bd. III/2), Den Haag 1952.
Ders., Logische Untersuchungen. Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis 2 Bd., Tübingen 1993.
Ders., Phänomenologische Psychologie (Vorlesung Sommersemester 1925, Husserliana Bd. IX), Den Haag 1968.
Ders., Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Tübingen
1980.
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