Hat eine Psychoanalyse Neben- wirkungen?

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Peter Schneider
Hat eine Psychoanalyse Nebenwirkungen?
«Das ist leider alles anders in der Psychoanalyse. In der analytischen
Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten
zwischen dem Analysierten und dem Arzt. Der Patient spricht, erzählt von vergangenen Erlebnissen und gegenwärtigen Eindrücken,
klagt, bekennt seine Wünsche und Gefühlsregungen. Der Arzt hört
zu, sucht die Gedankengänge des Patienten zu dirigieren, mahnt,
drängt seine Aufmerksamkeit nach gewissen Richtungen, gibt ihm
Aufklärungen und beobachtet die Reaktionen von Verständnis oder
von Ablehnung, welche er so beim Kranken hervorruft. Die ungebildeten Angehörigen unserer Kranken — denen nur Sichtbares
und Greifbares imponiert, am liebsten Handlungen, wie man sie im
Kinotheater sieht — versäumen es auch nie, ihre Zweifel zu äussern
wie man ‚durch blosse Reden etwas gegen die Krankheit ausrichten
kann‘.» (Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW XI, S. 9f)
Hat eine Psychoanalyse Nebenwirkungen? Die Frage lässt sich
einfach beantworten: Schlimmer als das – sie hat nur Nebenwirkungen.
Diese orakelhafte Auskunft bedarf selbstverständlich der Erläuterung. Beginnen wir mit einer terminologischen Klärung.
Auch Nebenwirkungen sind natürlich Wirkungen, in der Regel
solche der unerwünschten Sorte. Nebenwirkungen (meist im
Plural) sind gewissermassen die lästigen Verwandten der beabsichtigten Wirkung (meist im Singular). Um der gewünschten
Hauptwirkung willen muss man ein paar Nebenwirkungen in
Kauf nehmen: Wer gesund werden will, sollte ein bisschen Verstopfung und leichtes Kopfweh einkalkulieren. Nützt‘s öppis,
denn schad’ts au e chli. Medizinische Therapie besteht daher
meistens in einer Güterabwägung zwischen Hauptwirkung und
Nebenwirkungen der angewendeten Mittel. In seltenen Fällen
können Nebenwirkungen sogar höchst willkommen sein – etwa,
wenn ein Antibiotikum nicht nur den Bakterien in der vereiterten Nasennebenhöhle den Garaus bereitet, sondern in einem
Aufwasch auch noch die Pickel im Gesicht zum Verschwinden
bringt. Wenn ich nun behaupte, dass eine Psychoanalyse ausNebenwirkungen
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schliesslich Nebenwirkungen hat, dann meine ich damit nicht,
dass sie zu nichts anderem führt als lediglich zu unangenehmen
bzw. angenehmen Begleiterscheinungen (oder einer bunten
Mischung aus beidem), sondern, dass es keine Hauptwirkung
gibt, zu denen sich andere Wirkungen als blosse Nebenwirkungen verhalten.
Nur in den Idealisierungen publizierter Fallgeschichten
(«Nach 300 Stunden, in denen wir vor allem die Mutterproblematik durchgearbeitet hatten, begann der Patient sich zunehmend selbstbewusster in Konflikten zu verhalten») und im
Kino bringen Psychoanalysen jene Wirkungen hervor, die man
auch schon im Voraus beabsichtigt hat: Wenn etwa die gelähmte Hysterika nach einer besonders gelungenen Deutung
(«Ihr Bein ist gelähmt, weil Sie sich nicht getrauen, entschiedener gegenüber Ihrer Mutter aufzutreten») mit dem entzückten Ruf «Herr Professor, ich kann wieder laufen!» die
Couch unter den Arm nimmt und von dannen wandelt. (Wobei man ihr trotz des vorderhand glücklichen Ergebnisses der
Behandlung immer noch hinterher rufen könnte: «Sie rennen
doch letztlich nur vor dem Vaterkonflikt davon, den wir als
nächstes analysieren müssten!» – Und schon hätte man mit
nur einem Satz die wunderbare Wirkung zur unerwünschten
Nebenwirkung degradiert.)
In Wirklichkeit besteht eben nur ein sehr loser Zusammenhang zwischen den bewussten Zielen, die man mit einer Psychoanalyse anstrebt, und deren Ausgang bzw. zwischen den
angewandten Mitteln und deren Effekten. Anders formuliert:
In einer Psychoanalyse existiert kein linearer Zusammenhang
zwischen Diagnose, den angewendeten therapeutischen Techniken und deren tatsächlichen Effekten. Nehmen wir ein versimpeltes medizinisches Beispiel. Die Diagnose «Bluthochdruck» legt die therapeutische Massnahme nahe, dem Patienten
Betablocker zu verabreichen. In der Folge können Nebenwirkungen wie Schwindel oder Übelkeit auftreten, die jedoch mit
der Zeit meist verschwinden. Mit ziemlicher Sicherheit aber
wird – als Hauptwirkung des Medikaments – der Blutdruck
sinken. Etwas Analoges dazu gibt es in der Psychoanalyse
nicht. Die Diagnose «Agoraphobie» legt als therapeutische
Technik nicht die «Bearbeitung der symbiotischen Mutterbindung» nahe, und selbst wenn irgendjemand wüsste, wie man
eine solche Mutterbindung «bearbeitet» (oder «eine Übertragungsbeziehung herstellt» bzw. «auflöst» und was der techni-
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Nebenwirkungen
zistischen Floskeln mehr sind), wüsste man nicht, welche Wirkung dieses ominöse Tun hätte. Weil Worte zwar wirken, aber
eben nicht wie eine Pille. Valium kann nur einschläfern (und in
einer seiner Nebenwirkungen süchtig machen); eine Deutung
kann beruhigen, entsetzen, gleichgültig lassen. Ihre Wirkung
ist vorab nicht kalkulierbar.
Und so besteht das psychoanalytische Geschäft nicht aus Diagnostizieren und Therapieren, sondern aus Zuhören und Sprechen. Zuhören, wann diese Angst vor Plätzen auftaucht, warum sie in den Ferien oft verschwindet, aber nicht immer, und
dass – «merkwürdig, dass mir das gerade jetzt einfällt» – eine
Tante des Patienten immer zu sagen pflegte: «Wenn Du weiter
so isst, wirst Du noch einmal platzen». Und sprechen: Ist die
Angst vor den Plätzen vielleicht eine verschobene Angst vor
dem Platzen? «Den Seich meinen Sie doch hoffentlich nicht
ernst?!» So einfach ist es also leider doch nicht, und die freie
Assoziation geht manchmal mehr und manchmal weniger
munter weiter. Die Phobie wird schwächer, ohne dass der Analytiker weiss, wie er das bewirkt haben könnte; dafür wird er
Zeuge, wie beim Patienten der übermächtige Wunsch entsteht,
eine Motorradtour durch Kanada zu machen. Und dieser
Wunsch ist so unverständlich wie die Angst zuvor, ausser, dass
sich vielleicht die Furcht vor der Weite nunmehr in die Begierde gewandelt hat, «das Weite zu suchen». Und kaum hat
der Analytiker diesen kleinen Kalauer ausgesprochen, ist die
alte Angst wieder in alter Stärke da, aber sie ist jetzt ergänzt
durch eine völlig neue Angst vorm Fliegen, zu der dem Patienten natürlich als erstes der Roman von Erica Jong einfällt
(«Steht das Buch nicht bei Ihnen im Regal im Wartezimmer?»)
– Mein Beispiel ist garantiert frei erfunden und auch viel zu
schön, um wahr zu sein. Aber es illustriert doch immerhin, wie
man im Zusammenspiel seltsamer und unbeabsichtigter Nebenwirkungen etwas über sich, seine Wünsche, deren Entstellungen und Verschiebungen erfahren kann, auch wenn sich
jeder therapiezielorientierte und evidenzbasierte Psychotherapieforscher ob eines solchen Kuddelmuddels nur die Haare
raufen kann.
Der Text ist die leicht bearbeitete Version zweier Kolumnen, die am 17. und
24. Juli 2009 im Tages-Anzeiger erschienen sind.
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Nebenwirkungen
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