Thieme-Verlag Frau Schmidt Sommer-Druck Feuchtwangen 2 Jahn Phonologische Strungen b. Kindern TN 124092 WN 019109/01/02 3.11.2006 Umbruch Phonologische Sprachverarbeitung Zum besseren Verstndnis phonologischer Strungen werden in diesem Kapitel die kognitiven Prozesse der phonologischen Sprachverarbeitung dargestellt. Sprachverarbeitungsmodelle versuchen die inhaltliche Struktur des Sprachsystems sowie die Prozesse, die zwischen den Strukturen wirksam sind, zu veranschaulichen (Schrey-Dern 2006). Grundstzlich knnen 3 Ebenen der Sprachverarbeitung unterschieden werden: Q Inputverarbeitung = Dekodierung Q Speicherprozesse = mentale Reprsentation Q Outputverarbeitung = Enkodierung. Im Folgenden werden die Vorgnge der phonologischen Dekodierung, der mentalen Reprsentation und der Enkodierung beschrieben. Diese verschiedenen Ebenen der Sprechverarbeitung werden anhand der Modelle von Stackhouse und Wells (1997) (vgl. Abb. 2.1), Butterworth (1992) (vgl. Abb. 2.2) und Hewlett (1990) (vgl. Abb. 2.3) veranschaulicht. Anschließend werden die Lernprozesse, die whrend der Sprachentwicklung stattfinden, erlutert. Mgliche Ursachen fr phonologische Strungen werden daraus abgeleitet. Dekodierung ! Die Dekodierung bezeichnet den Prozess, der mit dem Wahrnehmen von Lauten oder Schriftzeichen beginnt und mit ihrem Verstehen endet. Sie wird auch als Inputverarbeitung bezeichnet (Stackhouse u. Wells 1997, Fox 2005) (Abb. 2.1). Die Inputverarbeitung umfasst die periphere auditive Verarbeitung, die Diskrimination von sprachlichen versus nichtsprachlichen Reizen, das phonologische Erkennen sowie das phonetische Diskriminieren. Voraussetzung ist zunchst ein normales peripheres Hrvermgen, d. h. eine intakte Funktion von ußerem Ohr, Mittelohr und Innenohr. Auf einer nchsten Ebene findet die Diskrimination von sprachlichen versus nichtsprachlichen Reizen statt. Diese Fhigkeit bildet sich bereits im vorsprachlichen Stadium im Suglingsalter aus. Handelt es sich um einen sprachlichen Reiz, so erfolgt auf der nchsten Ebene das phonologische Erkennen. Hierbei wird zunchst entschieden, ob der sprachliche Reiz der Muttersprache angehrt oder nicht. Wichtig ist nun die Fhigkeit, sprachliche Reize in kleinere Einheiten wie Silben oder Anlaute zu segmentieren. Dazu mssen erst einmal die relevanten Einheiten, die Wrter, aus dem Sprachfluss herausgefiltert werden: „To recognize a word, one must know where it begins“ (Levelt 1993, S. 8). Dieser Vorgang beruht auf der Fhigkeit, hnlichkeiten und Unterschiede zwischen auditiven Reizen zu erkennen, wobei insbesondere die suprasegmentalen Merkmale, wie Betonungsmuster und Silbenstrukturen eines Wortes, von Bedeutung sind. Beispielsweise kommen bestimmte Lautkombinationen wie /pft/ im Deutschen nur im Wortauslaut vor. Sie markieren daher eindeutig das Ende eines Wortes. Das phonologische Erkennen erfolgt, indem die akustisch-phonetischen Merkmale einer phonologischen Reprsentation zugeordnet werden. In diesem Teil unseres Gedchtnisses sind Informationen ber Lautmerkmale (z. B. Stimmgebung, Artikulationsart), Silbenstrukturen (Mehrfachkonsonanz oder einfache Vokal-Konsonant-Folgen) und prosodische Eigenschaften (z. B. Betonung) von Wrtern gespeichert (Butterworth 1992) (vgl. Abb. 2.2). 6 aus: Jahn, Phonologische Strungen bei Kindern (ISBN 313124092X, 9783131240927) 2007 Thieme Verlag KG Thieme-Verlag Frau Schmidt Sommer-Druck Feuchtwangen Jahn Phonologische Strungen b. Kindern TN 124092 WN 019109/01/02 3.11.2006 Umbruch Enkodierung Abb. 2.1 Modell der Sprechverarbeitung (in Anlehnung an Stackhouse und Wells 1997; bersetzung nach Fox 2005). semantische Repräsentation phonologische Repräsentation phonologisches Erkennen motorisches Programm motorisches Programmieren phonetisches Diskriminieren Diskrimination sprachliche/ nichtsprachliche Reize motorisches Planen auditive Verarbeitung motorische Ausführung Input Output Der Zugriff auf dieses Wissen ermglicht es, jeden Laut eines gehrten Wortes zu bestimmen und beispielsweise eine Aufgabe lsen wie: „Mit welchem Buchstaben fngt das Wort ,Knig‘ an?“ Da die Analyse von Wrtern oder Lauten einen Zugriff auf die zugrunde liegende phonologisch-lexikalische Reprsentation erfordert, stellt sie im Vergleich zur Differenzierung eine komplexere kognitive Leistung dar. Um unbekanntes Sprachmaterial zu verarbeiten, das nicht der Muttersprache angehrt, wird der Prozess des phonetischen Diskriminierens eingesetzt. Diese Fhigkeit spielt eine wichtige Rolle beim Erwerb einer Fremdsprache. Enkodierung ! Die Enkodierung ist der komplementre Vorgang zur Dekodierung. Sie umfasst verschiedene Prozesse, die mit der Intention beginnen, ein bestimmtes Wort auszudrcken, und mit der phonetischen Realisation dieses Wortes enden. Die phonologische Enkodierung wird hier am Beispiel des Wortproduktionsmodells von Butterworth (1992) beschrieben (Abb. 2.2). By the term “phonological encoding” (henceforth PE), I shall mean those processes that intervene between ascertaining that there is a (single) word in the mental lexicon that can express the lexical intention or plan and the full phonetic description that realizes it (Butterworth 1992, S. 262). Nach Butterworth erfordert die Enkodierung eines bekannten Wortes zunchst die Aktivierung einer phonologisch-lexikalischen Reprsentation (PLR). Das heißt, der semantischen Bedeutung eines Wortes werden entsprechende phonologischlexikalische Merkmale zugeordnet. Jeder Eintrag im semantischen Lexikon (hier sind die Bedeutungen von Wrtern reprsentiert) hat einen entsprechenden Partner in diesem phonologischen Lexikon (vgl. Stackhouse u. Wells: „semantische bzw. phonologische Reprsentation“). Die Ebenen sind ber sog. phonologische Adressen verbunden. Die phonologischen Adressen werden von den semantischen Reprsentationen aktiviert und suchen dann die entsprechenden Eintrge im phonologischen Lexikon. 7 aus: Jahn, Phonologische Strungen bei Kindern (ISBN 313124092X, 9783131240927) 2007 Thieme Verlag KG Thieme-Verlag Frau Schmidt Sommer-Druck Feuchtwangen Jahn Phonologische Strungen b. Kindern TN 124092 WN 019109/01/02 3.11.2006 Umbruch 2 Phonologische Sprachverarbeitung an das artikulatorische System weitergeleitet werden kann. Die gesamte Informationsverarbeitung wird von Kontrollsystemen berprft. Strungen der Enkodierung beruhen nach Butterworth auf: Q einer fehlerhaften bzw. unvollstndigen phonologischen Reprsentation oder Q auf Strungen bei der bertragung, Kontrolle bzw. Speicherung von Informationen. semantisches Lexikon phonologisches Ausgangslexikon abstrakter phonologisch-lexikalischer Eintrag prosodisches System Silbenstruktursystem Segmentsystem vollständig spezifizierter phonologischer Eintrag phonemischer Buffer Abb. 2.2 Modell der phonologischen Enkodierung nach Butterworth (1992). ! Die phonologisch-lexikalische Reprsentation enthlt Informationen ber die Silbenstruktur, die Betonungsmuster und den Lautbestand des Wortes. Butterworth nimmt an, dass diese Informationen in einer abstrakten, abgekrzten Form getrennt voneinander reprsentiert sind. Um diese Informationen zu entschlsseln, bedarf es entsprechender Subsysteme, die unter anderem Informationen ber die phonologischen Regeln einer Sprache enthalten (z. B. Auslautverhrtung im Deutschen). Eine Reihe von Prozessen bertrgt die Information von der PLR in ein Speichersystem (phonemischer Buffer), wo die Silbenstrukturen und die prosodischen Merkmale eines Wortes reprsentiert sind. Auf dieser Ebene wird die Reihenfolge und Betonung von Lauten festgelegt. Die Information ist dann so weit spezifiziert, dass sie Um zwischen Strungen der PLR und solchen der bertragung zu unterscheiden, ist relevant, ob es bei bestimmten Wrtern immer zu gleichen Fehlrealisationen kommt oder nicht: Sind die Fehler inkonstanter Art, ist nach Butterworth zu vermuten, dass die phonologisch-lexikalischen Reprsentationen intakt sind. Es liegt demnach eher ein Problem der bertragung vor. Das heißt, dass die Informationen ber die Segmente, deren Betonungen bzw. Silbenstrukturen nicht vollstndig enkodiert werden knnen oder falsch gelesen werden. Nach Butterworth treten eher Fehler bei unbetonten, denn bei betonten Silben auf. Strungen auf der Ebene der Artikulation liegen z. B. dann vor, wenn Patienten Schwierigkeiten bei der Ausfhrung koartikulatorischer Bewegungen haben. In diesem Fall wrden Assimilationsprozesse auftreten. Obwohl diese Annahmen auf aphasische Patienten zutreffen, sind hnliche Strungen auch bei Kindern denkbar. Konstante phonologische Lautersetzungen wren demnach auf eine lckenhafte oder diffuse PLR zurckzufhren. Inkonstante Fehlbildungen wrden eher auf Probleme bei der bertragung und Kontrolle von Informationen hinweisen. Bei artikulatorischen Fehlbildungen, wie z. B. dem Sigmatismus interdentalis, ist hingegen eher die Ebene der sprechmotorischen Ausfhrung betroffen. Da sich Sprachverarbeitungsprozesse bei Kindern noch in der Reifungsphase befinden, ist eine bertragung der Annahmen Butterworths jedoch nicht unproblematisch. Lernprozesse der Sprachverarbeitung Die phonologisch-lexikalische Reprsentation bei Kindern entspricht zu Beginn des Spracherwerbs noch nicht der von Erwachsenen (Hewlett 1990). Der Entwicklungsprozess ist durch eine zuneh- mende Differenzierung und Koordination perzeptiver und produktiver Fhigkeiten gekennzeichnet. Aufgrund der Tatsache, dass sich die perzeptuelle Differenzierungsfhigkeit bei Kindern 8 aus: Jahn, Phonologische Strungen bei Kindern (ISBN 313124092X, 9783131240927) 2007 Thieme Verlag KG Thieme-Verlag Frau Schmidt Sommer-Druck Feuchtwangen Jahn Phonologische Strungen b. Kindern TN 124092 WN 019109/01/02 3.11.2006 Umbruch Enkodierung schneller entwickelt als das entsprechende Produktionsvermgen, werden 2 Formen der phonologisch-lexikalischen Reprsentation unterschieden (Linell 1979, Waterson 1981, Dannenbauer u. Kotten-Sederqvist 1987): Q eine perzeptionsgeleitete Reprsentation, welche die vom Kind wahrgenommenen Merkmale der Sprache enthlt Q eine 2. Reprsentation, die der Lautproduktion zugrunde liegt. Diese Systeme werden auch als Input- und Output-Lexikon bezeichnet (Hewlett 1990). Ein Beispiel fr die unterschiedlichen perzeptiven und produktiven Fhigkeiten von Kindern ist das sog. Fis-Phnomen (Crystal 1998): Ein Beobachter unterhielt sich mit einem Kind, das seinen aufgeblasenen Fisch Fis nannte. Die Aussprache des Kindes nachahmend, fragte er: „Ist das dein Fis?“. „Nein“, antwortete das Kind, „mein Fis.“ Das Kind wies die Nachahmung des Erwachsenen so lange zurck, bis dieser sagte: „Das ist also dein Fisch.“ „Ja,“ antwortete das Kind, „mein Fis“ (Berko u. Brown 1960). Wenn ein Kind auditiv zwischen /fis/ und /fiR/ unterscheiden kann, verfgt es ber unterschiedliche Reprsentationen in seinem Input-Lexikon. Kann es jedoch lediglich /fis/ produzieren, ist anzunehmen, dass in seinem Output-Lexikon nur diese Wortform gespeichert ist, d. h., der Unterschied zwischen /fis/ und /fiR/ besteht hier nicht mehr. Man vermutet, dass die Neutralisation phonologischer Kontraste dann entsteht, wenn unterschiedliche perzeptuelle Merkmale durch so genannte phonologische Prozesse auf identische phonetische Reprsentationen im Output-Lexikon bertragen werden (Hewlett 1990). In dem genannten Beispiel wrde das Merkmal ,postalveolar‘ des Lautes /R/ auf das produktionsgeleitete Merkmal ,alveolar‘ des Lautes /s/ bertragen. Es handelt sich demnach um den phonologischen Prozess der Alveolarisierung. Sprachproduktionsmodell von Hewlett Das Sprachproduktionsmodell von Hewlett (1990) beschreibt Prozesse der phonologischen Wortverarbeitung und der phonetischen Produktion (Abb. 2.3). Auf der Grundlage dieses Modells werden nun die Zusammenhnge zwischen den Ebenen der phonologisch-lexikalischen Reprsentation und der motorischen Bewegungsplanung und -ausfhrung verdeutlicht. Hewlett unterscheidet 3 Ebenen: Q die phonologisch-lexikalische Ebene mit drei Reprsentationssystemen: – einem Input-Lexikon mit den perzeptionsgeleiteten Merkmalen (vgl. Stackhouse u. Wells: „phonologische Reprsentation“) – einem Output-Lexikon mit den produktionsgeleiteten Merkmalen (vgl. Stackhouse u. Wells: „motorisches Programm“) – einem zwischengeschalteten motorischen Programmierer (motor programmer), der einen motorischen Plan fr die Produktion unbekannter Wrter auf der Grundlage von Informationen aus dem Input-Lexikon erstellt (vgl. Stackhouse u. Wells: „motorisches Programmieren“). Q Eine weitere Ebene besteht aus dem motorischen Verarbeitungssystem (motor proces- Input-Lexikon Output-Lexikon motorischer Programmierer motorisches Verarbeitungssystem – Silbenebene motorisches Verarbeitungssystem – segmentelle (Laut-)Ebene Bewegungsausführung Vokaltrakt Form, Bewegungen Sprachsignal zeitloser Informationsfluss Informationsfluss in Echtzeit Rückkopplung Abb. 2.3 Sprachproduktionsmodell nach Hewlett (1990). 9 aus: Jahn, Phonologische Strungen bei Kindern (ISBN 313124092X, 9783131240927) 2007 Thieme Verlag KG