38. Aspekt und Tempus im Slavischen

Werbung
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Der Aspekt im Slavischen
Aspektuelle Funktionen
Zur funktionalen Beschreibung
Die lexikalischen Formen und Funktionen
Die morphologischen Formen und Funktionen
Die Aspektfunktionen im Satz
Das Tempus im Slavischen
Tempus und Aspekt im Text
Literatur (in Auswahl)
Abstract
The paper describes forms and functions of tense and aspect in the Slavonic Languages.
Main emphasis has been laid on the common Slavonic features. This is the background
for also profiling specific features of single languages or groups of languages. Following
Dickey (2000) the aspectual area is devided into eastern and western languages. The
tense area is split into northern and southern languages. The aspectual functions are
described on the lexical, morphological, syntactic and discourse level, the functions of
the tenses on the morphological and the discourse level.
1. Der Aspekt im Slavischen
Der Aspekt ist eine grammatische Kategorie, die im Slavischen aus den Paradigmen
der perfektiven (pf.) und der imperfektiven (imp.) Verben besteht. Mit den Verben
dieser Paradigmen werden in Kombination mit der sprachlichen Umgebung oppositive
Typen aktionaler Situationen bezeichnet. Die beiden Paradigmen beruhen darauf, dass
es zu tendenziell allen Verben grammatische Derivate mit oppositiver Funktion gibt.
Die Tatsache, dass die formale Aspektopposition auf grammatische Derivation zurückgeht, macht die typologische Sonderstellung des slavischen Aspekts aus (erste explizite
Formulierung von Dahl 1985).
Als Pionierstudien zum (slavischen) Aspekt seien erwähnt Koschmieders (1934)
Beschreibung des polnischen Aspektgebrauchs und Maslovs Studien zu den aspektuellen Verbklassen im Russischen (1948) und zu den Aspektfunktionen im Bulgarischen
(1959). Neben der Beschreibung der aspektuellen Formen und Funktionen in den einzelnen slavischen Sprachen, besonders des Russischen, auch des Polnischen und Tschechischen, und vergleichenden Studien zu Einzelerscheinungen (z. B. Dickey 2000), gibt
es eine Reihe von Monographien zum Aspekt in der Gesamtslavia. Galton (1976)
liefert eine Beschreibung der Aspektfunktionen der Einzelsprachen unter besonderer
Berücksichtigung der temporalen Funktionen mit traditionellen Kategorien, Vergleiche finden nur sporadisch statt. Ivančev (1971) gibt bezogen auf das Gesamtslavische
eine Charakteristik der Aspektopposition mit einer funktionalen Spaltung in zwei im-
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
1
2
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
perfektiven Aspekte, sowie der Aorist-Imperfekt-Opposition und der Zweiaspektigkeit. Piernikarski (1969) beschreibt den polnischen vor dem Hintergrund des slavischen
Aspekts, Schuyt (1990) die Morphologie des slavischen Aspekts einschließlich der historischen Entwicklung. Typologisch orientiert ist auch das Aspektmodell von Breu (vgl.
u. a. Breu 2000).
In ihrer onomasiologisch ausgerichteten Studie beschreibt und vergleicht Petruxina
(2000) vor allem Aktionsarten im weiteren Sinne unter speziellem Bezug auf das Russische im Vergleich mit dem Tschechischen/Slovakischen, weiterhin mit dem Bulgarischen und Polnischen. Mit dem Russischen und Tschechischen bezieht sie sich auf die
zwei polaren Exponenten eines arealen Kontinuums aspektueller Funktionen (vgl.
dazu Stunová 1993). Es wird in Dickey (2000) in zwei Isoglossenbündel mit Übergangsgebieten aufgeteilt: Das eine, hier kurz Ost-Isoglosse genannte, mit Russisch (Russ.),
Ukrainisch (Ukr.), Bulgarisch) sowie Weißrussisch (mit wenigen Belegen), und die
andere, West-Isoglosse, mit Tschechisch (Tschech.), Slovakisch (Slovak.) und Slovenisch (Sloven.) und Sorbisch (mit wenigen Belegen; zum Obersorbischen vgl. jetzt Breu
2000); eine Übergangszone bilden Polnisch (Poln.) mit zum Westen und Serbokroatisch
(Skr.) mit zum Osten tendierendem Aspektverhalten. In einzelnen Kapiteln werden
behandelt: die iterative („habitual“) Funktion, die allgemeinfaktische Funktion des
imperfektiven Aspekts, das historische Präsens, quasinarrative Funktionen („Running
Instructions and Running Commentaries“), performative Koinzidenz und Sequenzialität. Auch wenn diese (und einige weitere) Parameter im Hinblick auf die Stützung der
arealen These ausgewählt sind, halte ich diese für prinzipiell richtig, da bezüglich der
anderen Aspektfunktionen die Übereinstimmung in den slavischen Sprachen deutlich
überwiegt. Auch der inhaltlichen Füllung der These stimme ich in der allgemeinen
Form zu, dass nämlich der perfektive Aspekt im Osten die Funktion ‚episodisches
Ereignis‘ (totality C temporal definiteness) im Westen die Funktion ‚Ereignis‘ (totality) hat (über die weitergehenden Spezifikationen und Erklärungen wäre jeweils zu
diskutieren).
Der hier vorliegenden Darstellung wird eine funktional orientierte Modellierung
von Aspekt und Tempus zugrundegelegt, zu der sich eine Anwendung auf Einzelsprachen in Bartnicka u. a. (2004, 360 ff.) und Lehmann (1999) findet. Formen und Funktionen werden im Folgenden an russischen Beispielen erläutert, geht es um Erscheinungen anderer slavischer Sprachen oder Sprachengruppen, werden die Sprachen jeweils
genannt.
2. Aspektuelle Funktionen
2.1. Situationstypen und Situationsgestalten
Die hier als Situationstypen (situation type) und Gestaltfunktionen bezeichneten Kategorien sind das Hauptthema der Aspekttheorien in und außerhalb der Slavistik. Ihre
Konstitution und ihr Verhältnis zueinander manifestieren sich auf der lexikalischen,
grammatischen, syntaktischen und textuellen Ebene jeweils auf verschiedene Weise.
Die Situationstypen bilden die semantische Entsprechung der lexiko-grammatische
Kategorie Telizität/Verb-Homogenität, die Situationsgestalten bilden die zentralen
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
Funktionen der grammatischen, genauer morphologischen Kategorie Aspekt. Der in
der Russistik geläufige Begriff der lexiko-grammatischen Kategorie (vgl. Švedova
1980) bezieht sich auf Paradigmen, deren gemeinsame grammatische Funktion von der
lexikalischen Bedeutung der Lexeme impliziert wird (z. B. Transitivität, SubstantivHomogenität), was für die Funktion der morphologischen Kategorien nicht gilt: Sie
werden von der lexikalischen Bedeutung gar nicht impliziert, wie bei Kasus oder Genus
der Adjektive, oder zu wesentlichen Teilen nicht, wie bei Genus verbi oder Genus des
Substantivs oder eben beim Aspekt (siehe Lehmann 2001).
Zu den Gestaltfunktionen gibt es in der Slavistik die Merkmalsopposition ‚ganzheitlich (Merkmal totality) ⫺ nicht ganzheitlich’. Für die Situationstypen, die außerhalb
der Slavistik (nicht hier) auch als Aktionsarten bezeichnet werden, hat die Aspektologie die beiden extensional äquivalenten Definitionsoppositionen (a) telische ⫺ nicht
telische Situation und (b) heterogene ⫺ homogene Situation mit ihren definitorischen
und terminologischen Varianten; terminologische Varianten zu telisch sind u. a.: grenzbezogen, mit innerer Grenze, bounded, terminativ2, russisch predel’nyj (zu Vendlers
Verb-Klassifizierung siehe 4.3).
Ein Situationstyp kann verschiedene aktionale Gestalten haben. Die von zakryt’ pf
‚schließen‘ bezeichnete Situation kann ebenso wie die von govorit’ ipf (o ...) 1. ‚sprechen
(über ...)‘ bezeichnete Situation die Gestalt eines Ereignisses oder die eines Verlaufs
haben: Kogda ona zakryla pf (‚Ereignis‘) / zakryvala ipf (‚Verlauf‘) dver’, on sprosil ...
‚Als sie die Tür geschlossen hatte, fragte er ... / Während sie die Tür schloss, fragte er
...‘. Kogda ona govorila ipf (‚Verlauf‘) / pogovorila pf (‚Ereignis‘) o lekcii, on sprosil ...
‚Während sie über die Vorlesung sprach, fragte er ... / als sie ... gesprochen hatte, fragte
er ...‘. Eine der möglichen aktionalen Gestalten eines Situationstyps ist seine DefaultGestalt, also die Gestalt, die er dann hat, wenn die sprachliche Umgebung nicht etwas
anderes besagt. Telische/heterogene Situationen haben per Default Ereignis-Gestalt,
die anderen Situationstypen haben per Default Verlaufs-, stative oder diffuse Gestalt.
Die morphologische Bedingung für eine Änderung der Situationsgestalt ist im Slavischen ein Affix, z. B. -va- bei zakry-va-t’ ipf und po- bei po-govorit’ pf. Die Veränderung
der Gestaltfunktion kann auch in Verbindung mit oder allein durch den Kontext bewirkt werden.
Die Situationstypen sind Abbildungen typischer objektiver Situationsmerkmale, die
Situationsgestalten sind Kategorien, die auf der konzeptuellen Generalisierung der Situationstypen beruhen.
Eine Situation gehört zum h om ogenen Si t uat i ons t yp, wenn ihre Definition
auch auf beliebige ihrer Teile zutrifft (und die Situation daher beliebig verlängerbar
oder verkürzbar ist, ohne sich in der Essenz zu ändern). Auf het er ogene Situationen
trifft das nicht zu. Vgl. die Situationen, die von govorit’ ipf in der Bedeutung ‚sprechen
(über)‘ bezeichnet werden und solche, die von zakryt’ pf ‚schließen‘ oder von skazat’ pf‚sagen‘ bzw. govorit’ ipf (čto-nibud’) in der Bedeutung ‚(etwas) sagen‘ bezeichnet
werden.
Situationen, auf die das Merkmal heterogen zutrifft, sind zugleich auch t el i s c h,
d. h. sie verfügen über eine innere Grenze (russisch: predel). Das Erreichen dieser
Grenze ist ein essenzielles Merkmal der Situation, so dass eine Verlängerung über die
innere Grenze hinaus nicht möglich ist oder zu einer anderen Situation führen würde.
Die in einem Gedankenexperiment vorgenommene Verlängerung der telischen Situation Sichsetzen führt dazu, dass es nicht mehr um Sichsetzen, sondern um Sitzen geht.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
3
4
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
Wenn ein Lexem in der Test-Schablone „Verb ipf, no ne Verb pf “ (Ona zakryvala, no ne
zakryla dver’ ‚Sie war dabei, die Tür zu schließen, schloss die Tür aber nicht‘) verwendet werden kann, ist es telisch (das Umgekehrte gilt übrigens nicht), weil mit dem
perfektiven Verb in dieser Konstellation die innere Grenze profiliert wird. Homogene
Situationen verfügen nicht über eine innere Grenze. Eine gedankliche Verlängerung
der nicht telischen Handlung des Sprechens ändert nichts daran, dass gesprochen wird,
eine Verlängerung des telischen Sprechaktes Sagen ist dagegen ausgeschlossen, weil
ein Sprechakt nur als Ganzheit Geltung hat.
Die Definition der S itu a tio n ges t al t en beruht auf dem Begriff der Phase: Ein
E re ign is ist eine einphasige Situation (bildlich: -o-), ein Ver l auf eine mehrphasige,
). Auf die Frage, wie
(-o ... o ... o-), und eine stative Si t uat i on ist unphasig (
diese Kategorien zustandekommen und was das definitorische Merkmal der Phase bedeutet, kann psychologisch und linguistisch geantwortet werden.
Linguistisch gesehen entspricht diesen Bestimmungen die Tatsache, dass im Slavischen Phasenverben (Verben für ‚anfangen‘, ‚aufhören‘ u. ä.), da sie die Mehrphasigkeit der Situation implizieren, nur mit Verben mit Verlaufsfunktion kombiniert werden, vgl. načat’ / končit’ govorit’ ipf / zakryvat’ ipf ... ‚anfangen / aufhören zu sprechen /
zu schließen‘, nicht aber mit perfektiven Verben, da diese Ereignisfunktion haben und
mit Verben in stativer Funktion, vgl.: *načat’ / končit’ zakryt’ pf / pogovorit’ pf ‚anfangen / aufhören zu schließen / zu sprechen‘; *načat’ / končit’ značit’ ipf; ‚anfangen / aufhören zu bedeuten‘. Eine Binnenphase kann bei pf. und stativen Verben, ebenfalls nicht
profiliert werden: *v to vremja, kak ona zakryla pf / pogovorila pf ‚während sie sprach /
schloss‘, *v to vremaja, kak ona značila ipf ‚während sie bedeutete‘, anders als bei imperfektiven Verben in Verlaufsfunktion: v to vremaja, kak ona govorila ipf / zakryvala ipf
‚während sie sprach / schloss‘.
Verben mit Ereignisfunktion, auch solche mit Verlaufsfunktion, sind, da eine Phase
Zählbarkeit impliziert, mit Ausdrücken für Häufigkeit kompatibel, stative Situationen
nicht, vgl.: on neskol’ko raz zakryl / pogovoril / *značil ... ‚er schloss / sprach / bedeutete ... mehrmals‘. Anders als Verben mit Ereignis- oder Verlaufsfunktion treten Verben mit stativer Funktion aufgrund ihrer phasenlosen Gestaltfunktion auch nicht mit
Kontexten auf, die Veränderungen implizieren, vgl. bystro zakryt’ pf / zakryvat’ ipf
‚schnell schließen‘, aber *bystro značit’ ipf ‚schnell bedeuten‘.
Wahrnehmungspsychologisch gesehen wird eine prototypische telische/heterogene
Situation wie (Tür) Schließen, Sichsetzen, Eintreten, Hinfallen, Zerbrechen, Geben
oder Gähnen mit ihren essenziellen Bestandteilen „auf einen Blick“ erfasst. Das gleiche gilt für prototypische homogene Verläufe wie Schlafen, Weinen, Herumgehen oder
Sitzen, mit dem Unterschied, dass dem Wahrnehmenden auch bewusst ist: Das „auf
einen Blick“ Erfasste ist nur ein beliebiger Ausschnitt aus der Situation. Würde ein
anderer Ausschnitt aus dieser Situation wahrgenommen, so würde der sich nicht vom
erfassten Ausschnitt unterscheiden. Dagegen unterscheidet sich das, was vor einer telischen/heterogenen Situationen ist, sehr wohl von dem, was danach ist.
Welcher Bezug besteht nun zum Begriff der Phase (ausführlich hierzu siehe Lehmann 1992a)? Die Wahrnehmung von dynamischen Erscheinungen und ihre mentale
Repräsentation sind zeitlich strukturiert durch seriell angeordnete (aneinander gereihte), nicht mehr als einige Sekunden umfassende Zeitfenster (vgl. Pöppel, z. B. 1987,
50 ff.). Das Zeitfenster, in dem ein Vorgang wahrgenommen oder repräsentiert wird, ist
für das Subjekt der Wahrnehmung bzw. Repräsentation gegenwärtig, dem Zeitintervall
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
entspricht das „Jetztgefühl“ (ebd., 51) des Subjekts (hier als psychisches Jetzt bezeichnet). Alle essenziellen Bestandteile einer im Rahmen eines solchen Zeitfensters wahrgenommen, also prototypischen, heterogenen Situation wie Öffnen oder Sichsetzen
werden dem einen Jetzt-Zeitfenster zugeordnet und als zeitlich nicht weiter strukturiert aufgefasst (siehe Ruhnau 1992). Die traditionelle aspektologische Charakterisierung dieser Situationen als ganzheitlich ist nur eine andere Redeweise für diesen Sachverhalt.
Mit der Wahrnehmung und Speicherung prototypischer telischer/heterogener und
homogener Situationen werden die konzeptuellen Kategorien Ereignis und Verlauf
konstituiert. Die so konstituierte Kategorie Ereignis expandiert extensional, sowohl
im Laufe des Spracherwerbs als auch der Sprachentwicklung, dadurch, dass weitere
heterogene, aber nicht mehr unbedingt prototypisch heterogene (d. h. in ihrer Ganzheit
sensumotorisch wahrnehmbare) Situationen der Kategorie hinzugefügt werden,
Sprechakte wie Sagen, Versprechen, Überzeugen, mentale Akte wie Sicherinnern, Erkennen, komplexe Vorgänge wie Emigrieren oder Erlernen. Es kommt hinzu, dass
mit grammatischen Mitteln homogene Situationen in die Kategorie der heterogenen
aufgenommen werden können, vgl. poplakat’ pf‚(eine zeitlang) weinen, pogovorit’ pf
(o ...) ‚eine zeitlang (über ...) sprechen‘, prosidet’ pf (čas) ‚(eine Stunde) sitzen‘. Grammatisch expandiert im wesentlichen auch die Kategorie Verlauf mit der progressiven
Funktion des imperfektiven Aspekts bei heterogenen Verben, vgl. v to vremja kak ona
zakryvala ipf, sadilas’ ipf , vxodila ipf / ... ‚während sie schloss / sich setzte / hereintrat / ...‘
Diese Veränderungen der Kategorienzugehörigkeit bezeichnen wir als Rekategorisierung, siehe 2.3.
Die so auf grammatischem Weg expandierten Kategorien erfüllen nicht mehr die
gleichen definitorischen Bedingungen wie die Kategorien telisch/heterogen bzw. homogen. Anwendbar sind aber die phasenbezogenen Begriffe Ereignis und Verlauf, weil
diese sich nicht auf objektive („ontologische“) Sachverhalte, sondern auf Konzeptualisierungen im aufgezeigten Sinne beziehen.
Ein Zeitfenster (ein psychisches Jetzt) ist eine Phas e in der Serie der Zeitfenster
der kognitiven Verabeitung von Informationen der Außenwelt bzw. der kommunikativen Interaktion. Es ist die psychologische Grundlage sowohl für die Konstituierung
und Expansion der Kategorien Ereignis und Verlauf, als auch für die Wahrnehmung
und mentale Repräsentation dieser Situationen. Z. B. entspricht bei einer Erzählung
der Inhalt jedes der perfektiven Prädikate in ona sela za stol, poplakala i, nakonec,
napisala žalobu ‚sie setzte sich an den Tisch, weinte (eine zeitlang) und schrieb schließlich einen Beschwerdebrief‘ jeweils genau einem Zeitfenster.
Die Einphasigkeit des Ereignisses bedeutet daher, dass die Situation das Zeitintervall von genau eine Phase kognitiver Verarbeitung einnimmt, die Mehrphasigkeit des
Verlaufs, dass die Situation das Zeitintervall von mehreren direkt benachbarten Phasen
einnimmt, und die Unphasigkeit von stativen Situationen, dass die Situation kein in
diesen Phasen gemessenes Zeitintervall einnimmt.
Wie erwähnt, impliziert ein Situationstyp per Default eine Situationsgestalt, telische/heterogene Situationen sind per Default Ereignisse, die anderen sind per Default
Verläufe oder stativ oder aktional diffus (zum letzteren Begriff siehe 2.2). Daher können auch Situationstypen nach ihrer Default-Gestalt klassifiziert werden. Das hat den
Vorteil, dass auch die Ausdifferenzierung der Gestaltbegriffe für Nicht-Ereignisse auf
die nicht heterogenen/nicht telischen Situationstypen angewendet werden kann. Auf
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
5
6
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
diese Weise sind die Funktionsbegriffe ‚Ereignis‘, ‚Verlauf‘, ‚stative‘ und ‚diffuse Situation‘ für alle Ebenen der Funktionsbeschreibung, von der lexikalischen bis zur textuellen, anwendbar.
2.2. Konturierung der diffusen Gestaltfunktion
Als diffus bezeichnen wir eine lexikalische aktionale Funktion, wenn sie nicht auf die
Ereignis- oder die Verlaufsgestalt festgelegt ist (vgl. Maslov 1984, 11). Die lexikalische
Funktionsbeschreibung eines aktional diffusen Lexems impliziert die inklusive Disjunktion ‚Ereignis und/oder Verlauf‘: Das Verb černet’ z. B. hat die Explikation
‚schwarz und/oder schwärzer werden‘, und wenn černelo im Kontext als ‚ist schwarz
geworden‘ zu verstehen ist, bezeichnet es ein Ereignis, wenn es ‚ist schwärzer geworden‘ bedeutet, einen Verlauf. Eine diffuse Funktion kann durch Kontext zu einer Ereignis- oder Verlaufsvariante konturiert werden; wenn der Kontext die Variante nicht
erkennen lässt, bleibt die Funktion aktional diffus.
Die diffuse Gestalt wird meist durch entsprechende Argumente (Aktanten) zu einer
Ereignis- oder Verlaufsfunktion konturiert (umfassend hierzu Anstatt, in Druck). Die
lexikalische Bedeutung der Lexeme čitat’ ipf ‚lesen‘, est’ ipf ‚essen‘, pet’ ipf ‚singen‘, tancevat’ ipf ‚tanzen‘ usw. impliziert nicht eine bestimmte Gestaltfunktion wie dies zakryt’ pf
‚schließen (Ereignis)‘ bzw. govorit’ ipf ‚sprechen (Verlauf)‘ tun. Wenn die Argumente
selbst portioniert („gequantelt“, siehe Krifka 1989) sind, dann kann mit ihrer Hilfe die
diffuse Situation zu einem Ereignis konturiert werden: On pročital pf pis’mo. ‚Er hat
den Brief gelesen.‘ Ona s’’ela pf jabloko. ‚Sie hat den Apfel gegessen.‘ Ja uže tancevala ipf
mazurku. ‚Ich habe schon einmal eine Mazurka getanzt.‘
Sind die Argumente nicht portioniert, etwa wenn sie indefinite Stoffnamen oder
pluralische Nominalphrasen beinhalten, resultiert die Konturierung in einer Verlaufsfunktion: Ona budet čitat’ ipf stixi. ‚Sie wird Verse lesen.‘
2.3. Rekategorisierung (Überlagerung) von Ereignis- und Verlaufsfunktion
In Falle von
(1) v to vremja, kak ona zakryvala ipf
‚während sie schloss‘
gibt es zwei Möglichkeiten, die Situation zu beenden: Die Tür wird am Ende der Handlung geschlossen sein oder sie wird nicht geschlossen sein. Im Falle von
(2) v to vremja, kak ona plakala ipf
‚während sie weinte‘
gibt es eine derartige Alternative nicht, das Weinen wird einfach beendet werden.
Wenn im erstgenannten Fall die Tür am Ende geschlossen sein wird, ist die in der
Semantik des Schließens angelegte „innere Grenze“ (russisch: predel) erreicht, nicht
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
7
irgendeine zeitliche Grenze, es wird nicht irgendein Ende, sondern ein ganz bestimmtes
erreicht. Es ist eine Grenze, die, wie im Falle von zakryt’ oder ‚schließen‘, von der
Verbbedeutung mitgeliefert wird.
(1) und (2) sind Beispiele für zwei Varianten der progressiven Funktion des imperfektiven Aspekts (‚episodischer Verlauf‘ mit Profilierung einer inneren Verlaufsphase,
im Sinne von ‚dabei sein zu ...‘). Der Unterschied zwischen den Varianten geht auf die
verschiedenen Situationstypen zurück: Die Bedeutung des Lexems zakryt’ ‚schließen‘
impliziert eine Ereignis-Funktion, die des Lexems plakat’ ‚weinen‘ eine Verlaufsfunktion. Während in (1) die lexikalisch vorgegebene Ereignis-Funktion durch eine grammatische Verlaufsfunktion überlagert wird (das Ereignis zu einem Verlauf rekategorisiert wird), ist dies in (2) nicht nötig. Es wird nur eine der Phasen des lexikalisch
vorgegebenen Verlaufs profiliert. Wir sprechen bei der Variante der progressiven
Funktion in (1) von einer terminativen1, bei der Variante in (2) von einer aterminativen1 Funktion des imperfektiven Aspekts. Die Überlagerung der Funktionen kann wie
folgt dargestellt werden:
telische / heterogene Situation
Situationstyp:
(impliziert)
,Ereignis‘
,Verlauf ‘
Gestaltfunktion:
(wird verändert zu)
Veränderung einer Gestaltfunktion durch Überlagerung (z.B. zakryvala ipf , war dabei zu schließen‘)
Veränderung einer Gestaltfunktion durch Überlagerung (z. B. zakryvala ipf ‚war dabei
zu schließen‘)
kurz: [Ereignis]pf » [[Ereignis] Verlauf]ipf
Das Gegenstück zur terminativen Überlagerung ist die delimitative Überlagerung, bei
der die lexikalisch vorgegebene Verlaufsfunktion durch die grammatische Ereignisfunktion überlagert wird: [Verlauf]ipf » [[Verlauf] Ereignis]pf
Die entsprechenden Derivate haben delimitative Funktion und sind vorwiegend
Simplizia mit Präfix po- wie pogovorit’ pf, poguljat’ pf, poplakat’ pf .... Ihre Explikation
enthält die Komponente ‚eine Zeit lang‘, die bezeichnete Situation ist abgeschlossen,
aber ohne dass eine „innere Grenze“ erreicht ist. Entscheidend ist die Zugehörigkeit
dieser Derivate zum perfektiven Aspekt, womit festgelegt ist, dass sie Ereignisse bezeichnen.
Auch die konturierte Ereignis-Funktion einer Wortfügung kann durch eine Verlaufsfunktion überlagert werden: V to vremja, kak ona čitalaipf pis’mo’, ... ‚Während sie
den Brief las, ...‘ und umgekehrt eine konturierte Verlaufsfunktion durch eine EreignisFunktion: Ona počitalapf pis’ma, a potom ušla ‚Sie las Briefe, dann ging sie‘.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
8
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
2.4. Episodizität (temporale Definitheit)und Häufigkeit
In der Slavistik ist ausgehend von Koschmieders (1934) Unterscheidung von Situationen mit und ohne Zeitstellenwert eine sehr wichtige aspektuelle Funktion thematisiert
worden. In der Folge sind bei weitgehender extensionaler Äquivalenz viele Definitionen und noch mehr Termini dafür vorgeschlagen worden, u. a.: konkret ⫺ abstrakt,
aktuell ⫺ inaktuell, (auf der Zeitlinie) lokalisiert ⫺ nicht lokalisiert; zu letzterem Paar
siehe Kozinceva (1991), Bondarko (1989).
Hier wird der aus der Gedächtnispsychologie (siehe Tulving 1972; Lehmann 1994;
Hansen 1996) bekannte Begriff ‚episodisch‘ (mit dem oppositiven Terminus ‚nicht episodisch‘) verwendet für Situationen, die als Bestandteil einer Episode im Sinne eines
temporal, lokal und personal unikalen Geschehens aufgefasst wird. Der perfektive Aspekt hat in der Ost-Isoglosse die Default-Funktion ‚episodisches Ereignis‘, so dass ein
Verb wie zakryla pf den Hörer veranlasst, je nach Kontext, eine zeitliche Relation zur
Sprechzeit (‚sie hat geschlossen‘) oder zu einer anderen aktionalen Situation (‚und
dann schloss sie‘) aufzufinden.
Episodische Situationen sind extensional äquivalent mit temporal definiten Situationen (zum Begriff zeitlichen Definitheit s. vor allem Dickey 2000 und Leinonen 1992),
die dann vorliegen, wenn sie einem spezifischen, Sprecher und Hörer zur Verfügung
stehenden Zeitnetz zuordenbar sind. Da aktionale Situationen meist mit sehr vielen
anderen Situationen zeitlich relationiert sind, muss präzisiert werden, dass von Sprecher und Hörer für die definite Situation eine dom i nant e zeitliche Relation zwischen
ihr und mindestens einer anderen Situationen im Zeitnetz der Diskurswelt gefunden
werden kann.
Der Begriff episodisch ist psychologisch, der Begriff zeitlich definit ist pragmatisch
fundiert. Inadäquat ist der Begriff der zeitlichen Lokalisiertheit, weil auch nicht episodische Situationen durch Tempora lokalisiert sind.
Die Funktion ‚episodisch‘ ist in der slavischen Ost-Isoglosse eine starker, d. h. nur
sehr beschränkt durch Kontext revidierbarer funktionaler Default der pf. Verben, in
der West-Isoglosse ist dieser Default schwach ausgeprägt. (Diese schlage ich als Alternative zu Dickeys 2000 Gegenüberstellung von qualitativer (Ost) und quantitativer
(West) Definitheit vor, die ich hier jedoch nicht diskutieren kann).
Aktionale Hä u fig k e it: Die Funktion ‚episodisch‘ hat ihrerseits als Implikation
die quantitative Default-Funktion ‚einmalig‘. Das russische zakryla pf bezeichnet ohne
gegenindizierenden Kontext eine einmalige Handlung. Die Revidierbarkeit dieses Defaults hängt mit der Stärke des Episodizitätsdefaults zusammen. In der West-Isoglosse
ist die Funktion ‚mehrmals‘ von pf. Verben ungleich öfter anzutreffen, als im Osten.
Hinsichtlich der Häufigkeit von Situationen ist u. a. zu unterscheiden: ⫺ ob Mehrmaligkeit die Komponente einer stativ-iterativen Situation (Gewohnheit) ist, vgl. po
večeram ona zakryvala dver’ ‚abends öffnete sie die Tür‘, ob sie Teil eines ⫺ frequentativen ⫺ Verlaufs ist, vgl. v to vremja, kak ona machala platkom, ... ‚während sie mit
dem Tuch winkte‘, oder ob sie unabhängig von einer stativen oder Verlaufssituation
ist, vgl. ona často ne zakryvaet dver’ ‚sie schließt oft die Tür nicht‘; ⫺ ob eine Quantifizierung fehlt oder ausgeschlossen ist: bei imperfektiven Verlaufs- oder Ereignislexemen (zakryvat’ ‚schließen‘, plakat’ ‚weinen‘) fehlt eine Quantifizierung, kann aber
leicht kontextuell ergänzt werden; stative Situationen selbst werden nicht quantifiziert
(können aber eine Quantifizierung enthalten), vgl. *odin raz značil ... ‚bedeute ... ein
Mal‘.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
3.
Zur funktionalen Beschreibung
3.1. Formale Konstituenz und funktionale Kompositionalität
Mit dem Begriff der Überlagerung wird die Konstituenz der formalen Komponenten
in Form einer mehrfach geschichteten Kompositionalität der Funktionen abgebildet.
Letztere kann nur adäquat rekonstruiert werden, wenn die Funktionsschichten unterschieden werden und explizit gemacht wird, auf welches Format sich eine Funktionsbeschreibung bezieht, z. B. auf das Format des Lexems (LAF), des Verbs (perfektiver,
imperfektiver Aspekt), der Wortform (z. B. Zukunft-Funktion des perfektiven Präsens), der Wortfügung (bei Konturierung diffuser Lexeme), des Elementarsatzes
(clause) (für Satzfunktionen wie progressive, allgemeinfaktische, iterative Funktion)
oder des Textes (z. B. für Sequenzen, Inzidenzen). Die Liste der für eine Rekonstruktion relevanten Formate kann je nach Beschreibungziel mehr oder weniger differenziert sein. Entsprechendes gilt für die Funktionen.
Per Default besteht Kongruenz zwischen formaler Konstituenz und funktionaler
Kompositionalität. Beispiel: Der formale Ausdruck A mit einer durch Überlagerung
komplexen Aspektfunktion besteht aus dem lexikalischen Stamm mit der lexikalischen
aktionalen Funktion sowie der grammatischen Umgebung aus einem grammatischen
Affix und, häufig, relevantem Kontext, deren Funktion die lexikalische aktionale Funktion überlagert. Der lexikalische Stamm ist Operand, die grammatische Umgebung ist
Operator entsprechend folgender allgemeiner Anordnung der Konstituenten (» für
grammatische Derivation, formal und/oder funktional):
[Lexikalischer Stamm]
» [[Lexikalischer Stamm] grammatische Affixe]
» [[[Lexikalischer Stamm] grammatische Affixe] Satzkontext]
» [[[[Lexikalischer Stamm] grammat. Affixe)] Satzkontext] textuelle Umgebung]
Operand-Operator-Verhältnis bei formaler Aspektderivation
Das Operand-Operator-Verhaltnis besteht analog auf der funktionalen Ebene, vgl.:
[lexikalische aktionale Funktion = L AF]
» [[LAF]Aspektfunktion]
» [[[LAF]Aspektfunktion] aspekt.Satzfunktion]
» [[[[LAF]Aspekt] aspekt.Satzfunktion] textuelle Funktion]
Operand-Operator-Verhältnis bei funktionaler Aspektderivation
Im Operand-Operator-Verhaltnis der Funktionen gilt per Default das D om i nanz Pr in zip : Gehören Operator und Operand der gleichen Kategorie an, ist die OperatorFunktion dominant. Dies ist vor allem wichtig für Rekategorisierungen. Im Falle der
delimitativen Funktion (poplakal pf ‚weinte (eine Zeit lang)‘) ist die perfektivierende
Funktion (‚Ereignis‘) des Affixes po- dominant:
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
9
10
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
[plaka-] ipf » [[plaka-]po-] pf / [Verlauf]ipf » [[Verlauf] Ereignis]pf
Bei der terminativen Satzfunktion ist die Funktion ‚Verlauf‘ der Kombination aus imperfektivierendem Suffix plus Konjunktion der Gleichzeitigkeit dominant:
[zakry-] pf » [[[zakry-]-va-] ipf & [v to vremja kak]] / [Ereignis]pf » [[Ereignis]
Verlauf]ipf
3.2. Beschreibung der funktionalen Veränderungen
Die kompositionale Rekonstruktion von Funktionen morphologischer Kategorien
kann prinzipiell mit der Hilfe bestimmter funktionaler Operationen erfolgen: Die delimitative und terminative Funktion sind im vorangegangen Abschnitt als Ergebnis einer
Operation der Rekategorisierung (Überlagerung) von Funktionen rekonstruiert worden. Die progressive Funktion involviert die Operation der Profilierung einer inneren
Phase. Diffuse Lexeme werden durch Umgebungsfaktoren konturiert, ebenfalls eine
funktionale Operation.
Generell liegt diesen funktionalen Veränderungen das D ef aul t - Pr i nz i p zugrunde: Funktionen unterhalb der Textebene sind, wenn keine gegenteilige Information vorliegt, meist durch Umgebungsfaktoren revidierbar (d. h. es sind meist DefaultFunktionen). Die für den Aspekt relevanten funktionalen Operationen (siehe Lehmann 1996, in Druck) sollen im Folgenden in allgemeiner Form vorgestellt werden:
Pr o filieru n g: Veränderung des Dominanz-Status einer Teilfunktion in einem Funktionskomplex, allgemein
[X] Y] » [[X] Y], wobei X und Y Komponenten eines komplexen Sachverhalts
sind, die Unterstreichung markiert die profilierte Komponente.
Vgl. zu zaplakat’ pf ‚anfangen zu weinen‘: [[Verlauf] Anfangsereignis]pf
Kon tu rieru n g: Festlegung einer diffusen Funktion auf eine ihrer Varianten, allgemein:
[X und/oder Y] » [[X und/oder Y] Z], wobei Z entweder X oder Y ist.
Vgl. zu čitat’ ipf zaglavie ‚die Überschrift lesen‘:
[Ereignis und/oder Verlauf]ipf » [[Ereignis und/oder Verlauf] Ereignis]ipf.
Re k a tego risie ru n g(funktionale Überlagerung) : Die Funktion wird in einem größeren Format von einer oppositiven Kategorie dominiert. Als Beispiele wurden in 2.5
die delimitative und die terminative Funktion angeführt; in allgemeiner Form:
[X] » [[X] Y], wobei die Kategorie von Y in Opposition zur Kategorie von X steht.
Die terminative Funktion ist zugleich ein Beispiel für die Tatsache, dass für die Rekonstruktion einer Funktion mehrere funktionale Operationen zugrunde liegen können,
hier Rekategorisierung und Profilierung, wobei eine Konturierung vorausggegangen
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
sein kann. Eine weitere Operation, die Modifikation, wird gebraucht für die Rekonstruktion der Veränderungen im Bereich der Episodizität und aktionalen Häufigkeit.
M od ifik a tio n : Die Funktion wird durch Addition, Tilgung oder Substitution einer
akzidenziellen Funktion verändert, allgemein:
[[X] Y] » [[X] Y’], wobei Y und Y’ akzidenzielle Merkmale von X sind und es sein
kann, dass Y oder Y’ = Ø.
Ein imperfektives Verlaufs-Lexem wie sidet’ ipf, kann im Satz nichtepisodische Funktionen erhalten, vgl. zu po večeram ona sidela u nas ‚abends saß sie bei uns‘:
[Verlauf]ipf » [[Verlauf] nichtepisodisch]ipf
4. Die lexikalischen Formen und Funktionen
4.1. Aspekt und lexikalische Derivation
Es sind zwei Arten der lexikalischen Derivation zu unterscheiden: (a) lokale Modifikationen oder übetragene Bedeutungen, (b) qualifizierende oder quantifizierende Modifikationen (lexikalische „Aktionsarten“); zur grammatischen Derivation siehe 5.1.
Wird von einem Verb ein anderes Verb mit anderer lexikalischer Bedeutung abgeleitet, liegt lexikalische Derivation vor. Von diesem lexikalischen Derivat kann seinerseits ein grammatisches Derivat, ein Aspektpartner, abgeleitet sein, wobei das lexikalische Derivat fast immer perfektiv und das grammatische Derivat dann imperfektiv ist.
In der Regel ist die lexikalische Derivation hierbei eine Präfigierung, die grammatische
eine Suffigierung. Vgl. (> für lexikalische Derivation; Aspektpartner sind in einen Rahmen gesetzt):
stroi(t’) ipf ‚bauen‘ > pere-stroit’ pf ⫺ perestraivat’ ipf ‚umbauen‘, so dass das Standard-Schema der lexikalischen Derivation lautet:
ipf. (selten pf.) Verb > pf. Verb ⫺ ipf. Verb
Produziert werden durch die lexikalische Derivation Vokabeln, die eine Aspektpartnerschaft (ein „Aspektpaar“) enthalten. Die lexikalische Derivation involviert meistens die Konturierung einer diffusen lexikalischen aktionalen Funktion zu einer lexikalischen Ereignisfunktion (lexikalische Konturierung). Dabei wird die Derivationsbasis
durch ein lokales Präfix modifiziert, vgl. z. B. mit dem Präfix s- ‚herab-‘: rvat’ ipf ‚reißen‘
> sorvat’ pf ⫺ sryvat’ ipf ‚herunterreißen‘ ; idti ipf ‚gehen‘ > sojti pf ⫺ sxodit’ ipf ‚herabgehen‘; pisat’ ipf > spisat’ pf ⫺ spisyvat’ ipf ‚abschreiben‘, brosit’ pf ‚werfen‘ > sbrosit’ pf ⫺
sbrasyvat’ ipf 1. ‚hinunterwerfen‘, 2. ‚abschütteln (übertragen)‘.
4.2. Lexikalische „Aktionsarten“
Abweichend vom Standardfall der lexikalischen Derivation gibt es lexikalische Derivate, die ihrerseits kein grammatisches Derivat, keinen Aspektpartner, besitzen und
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
11
12
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
insofern aspektdefektiv sind. Den größten Anteil davon bilden die Derivate, die in der
Slavistik gemeinhin als Aktionsart-Verben bezeichnet werden. Dabei sind zwei Fälle
zu unterscheiden:
(a) Die Derivation ändert den Aspekt und geht funktional über die grammatische
Aspektänderung hinaus (siehe 5.1):
Verbipf > Verbpf ⫺ øipf
z. B. kusat’ ipf ‘stechen’> iskusat’ pf ‚über und über mit Stichen bedecken‘, lgat’ ‚lügen‘ ipf
> izolgat’sja pf ‚durch und durch zum Lügner geworden sein‘.
(b) Es besteht keine Aspektpartnerschaft, weil die Derivation nicht zur Änderung des
Aspekts führt:
Verbpf > Verbpf ⫺ øipf oder Verbipf > Verbipf ⫺ øpf
z. B. privyknut’ pf ‚sich gewöhnen‘ > poprivyknut’ pf ‚sich allmählich gewöhnen‘ oder
z. B. čitat’ ipf ‚lesen‘ > čityvat’ ipf ‚wiederholt lesen‘; toptat’ ipf ‚stampfen‘ pritoptyvat’ ipf
‚dabei leise stampfen‘.
Diese Wortbildungstypen sind in der Regel produktiv, aber weit davon entfernt, dass
ihre Funktion grammatisch, also regelhaft voraussagbar ist. Wegen ihrer aspektuellen
Sonderstellung wurde ihnen eine eigene Kategorie gewidmet, die der Aktionsarten
(wobei der Terminus, wie man sieht, nicht im angelsächsischen Sinne von „lexikalische
aktionale Funktion/Verbklasse“ und auch nicht im ursprünglichen indogermanistischen
Sinne von „Aspektualität“ verwendet wird). Die lexikalischen Aktionsarten sind formal und funktional ein Analogon substantivischer Derivationsklassen wie Deminutiva
oder Augmentativa, und so reicht es aus, diese Fälle als Spezialfälle der lexikalischen
Verb-Derivation zu klassifizieren.
Für eine Behandlung der Aktionsarten als normale Wortbildungstypen spricht, dass
die Blockierung sekundärer Imperfektivierung (siehe 5.1) bei bestimmten Präfix-Funktionen gar keinen systematischen Status hat. Sie ist in den slavischen Sprachen sehr
verschieden verteilt: Im Bulgarischen kann, ganz anders als im Russischen und Tschechischen, von jedem präfigierten perfektiven Verb, ein sekundäres imperfektives Verb
entsprechend dem Standardschema der lexikalischen Derivation abgleitet werden
(Maslov 1981, 204). Nach der Auszählung von Bačvarov 1980, zitiert nach Petruxina
2000, 89) entsprechen den bulgarischen imperfektiven Derivaten 24% russische und
11% tschechische imperfektive Derivate. Auch das Russische besitzt imperfektive Derivate von perfektiven Verben mit Aktionsart-Präfixen, vgl. das von Isačenko selbst,
dem Vater der radikalen Aktionsart-Theorie (siehe 5.4) angeführte Beispiel der sogenannten mutuellen Aktionsart, mignut’ pf ‚zwinkern‘ > peremignut’sja pf ‚sich zuzwinkern‘ > peremigivat’sja ipf ‚sich zuzwinkern‘ (Isačenko 1968, 409). Hier geht also, wenn
die Aktionsarten als Sonderkategorien von der lexikalischen wie von der grammatischen Derivation abgesetzt werden, die Trennungslinie mitten durch den Wortbildungstyp.
Die Blockierung der sekundären Derivation bei Aktionsartverben hat eher einen
idiosynkratischen als einen funktionalen Charakter. Auch die Tatsache, dass diese Derivationstypen funktional zu den Modifikationen gehören, macht sie nicht zur einer
speziellen Kategorie, da die lexikalischen Standard-Derivationen mit lokalem Präfix
wie rvat’ ipf ‚reißen‘ > sorvat’ pf ⫺ sryvat’ ipf ‚herunterreißen‘ ebenfalls Modifikationen
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
sind. Man kann deshalb die lexikalischen Aktionsart-Verben im slavistischen Sinne als
eine Derivationsklasse bezeichnen, für die gilt: Sie sind Produkte einer nichtlokalen,
qualifizierenden oder quantifizierenden Modifikation, mit der in der Slavia verschieden ausgeprägten Neigung, die weitere Derivation von ipf. Verben zu blockieren. Diesen lexikalischen „Aktionsarten“ stehen gegenüber die Phasenaktionsarten (auch: temporalen Aktionsarten), deren Affixe grammatische Funktion haben, siehe 5.1.
Im Tschechischen ist die sekundäre Suffigierung ohne Aspektänderung mit der
Funktion ‚unbegrenzte Wiederholung‘, vgl. přepsat pf ⫺ přepisovat ipf ⫺ přepisovávat ipf
‚umschreiben‘ so häufig, dass früher neben dem perfektiven und dem imperfektiven
ein weiterer, iterativer, Aspekt angesetzt wurde, es ist aber nur eine sehr produktive
„Aktionsart“, z. B. Dickey (2000, 50) spricht nur von einer „considerable number“ so
markierter Verben.
4.3. Verballexeme und lexikalische aktionale Funktionen
Wenn im Zusammenhhang mit lexikalischen aktionalen Funktionen meist von „Verbklassen“ gesprochen wird, so ist das unscharf ausgedrückt. Die einzelnen lexikalischen
Bedeutungen eines Verbs unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich Situationstyp und
Default-Gestalt, sie können abhängig davon überdies verschiedene Aspektpartner haben. Vgl. als Beispiel gotovit’ ipf mit seinen Aspektpartern (nach MAS): 1a. ‚(ein Objekt) vorbereiten‘ ⫺ prigotovit’ pf, 1b. ‚(durch Wissensvermittlung) vorbereiten‘ ⫺ podgotovit’ pf, 2. ‚(Unterricht, Projekt) vorbereiten‘ ⫺ prigotovit’ pf, 3. ‚zubereiten‘ ⫺ prigotovit’ pf und standardumgangssprachlich sgotovit pf, 4a. ‚Vorräte anlegen‘ ⫺ zagotovit’ pf,
4b. ‚vorbereitet sein auf etwas‘ ⫺ ohne Aspektpartner, 5. ‚intendieren‘ ⫺ ohne Aspektpartner.
Mit der Moskauer semantischen Schule bezeichnen wir das Verb in einer bestimmten lexikalischen Bedeutung und dem Potenzial an grammatischen Derivaten als L e x e m, das Verb mit allen lexikalischen Bedeutungen und dem gesamten grammatischen
Derivationspotential als Vokabel. Das Lexem hat eine bestimmte lexikalische aktionale Funktion; lexikalische aktionale Funktionen der Lexeme der Vokabel gotovit’ pf
z. B. sind: 1.⫺3. und 4.a ‚Ereignis‘, 4b. und 5. ‚stative Situation‘. (Wenn gilt, dass ein
Lexem nur eine lexikalische aktionale Funktion hat, sind 4a. und 4b. anders als in
MAS als verschiedene lexikalische Bedeutungen anzusetzen.) Eigentlicher Träger der
lexikalischen Bedeutung und damit auch der lexikalischen aktionalen Funktion ist der
lexikalische Stamm, also die Wortform des Verbs ohne grammatische Affixe. Es ist der
grammatisch invariante Bestandteil einer Vokabel, z. B.: Lexikalischer Stamm: gotov’-;
Vokabel: gotovit’ 1. ... i. .... n.; Lexem: gotovit’ i.).
Als elementare lexikalische aktionale Funktionen sind Ereignis-, Verlaufs-, stative
und diffuse Funktion anzusetzen. Sie sind universal wie die Situations- und Gestalttypen, ihnen entsprechen die aktionalen Lexemtypen (verb class) Ereignis-, Verlaufs-,
statives und diffuses Lexem (siehe Lehmann 1997). Kriterien für die Zuweisung einer
lexikalischen aktionalen Funktion sind die Explikation der lexikalischen Bedeutung
(als entscheidendes Kriterium), die Arten der Derivate, die syntaktische Distribution
und das funktionale Potenzial. Für die beiden letztgenannten Kriterienarten gibt es
diverse Verwendungstests, die aber weder völlig zuverlässig noch auf alle Verben anwendbar sind.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
13
14
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
Ein Test ist die Verwendung der imperfektiven Verben im narrativen Präsens (da
das Präsens per Default Gleichzeitigkeit vermittelt und die Aspektfunktion imperfektiven Verben mit der lexikalischen aktionalen Funktion übereinstimmt, siehe 5.3). Wenn
die Kombination zweier Verben im historischen Präsens bei Episodizität eine Sequenz
vermittelt, handelt es sich um Ereignislexeme: Včera on prixodit ipf i srazu saditsja ipf‚
‚Gestern kommt er und setzt sich gleich hin.‘ Stative Lexeme (znacit’ ipf ‚bedeuten‘,
dumat’ ipf 2. ‚meinen‘ ...) sind mit derartigen episodisch gebrauchten Verben temporal,
etwa durch kogda ‚als‘, nicht verbindbar.
Für Ereignis-Lexeme, welche die terminative1 Funktion zulassen, vgl. v to vremja,
kak ona zakryvala ipf ‚während sie dabei war zu schließen‘, wird häufig der von Vendler
eingeführte Terminus „accomplishment“ verwendet, für Ereignis-Lexeme, die diese
Funktion nicht zulassen, der Terminus „achievement“, vgl. *v to vremja kak ona vspominala ipf ... ‚während sie sich erinnerte‘. Die Klassifizierung der Lexeme anhand des
Tests auf Zulässigkeit der terminativen Funktion führt jedoch nur bei einem Teil der
telischen Lexeme zu einem eindeutigen Ergebnis (siehe Lehmann 1998a). Außerdem
ist die linguistische Hauptaufgabe der lexikalischen aktionalen Funktionen die Erklärung von Restriktionen in der Aspektverwendung, nicht zuletzt der Restriktionen für
die progressive Funktion. Wenn aber die accomplishments und achievements gerade
anhand der Verwendbarkeit dieser Funktion definiert werden, ergibt sich ein Zirkel.
Hier wird stattdessen vorgeschlagen, die Faktoren zu eruieren, die für diese und andere
Restriktionen verantwortlich sind oder zumindest damit korrelieren. Die Zulässigkeit
der progressiven Funktion des imperfektiven Verbs kann vorausgesagt werden:
⫺ für Lexeme, die auf eine konturierende lexikalische Derivation zurückgehen, siehe
pisat’ ipf ‚schreiben‘ > spisat’ pf ⫺ spisyvat’ ipf ‚abschreiben‘ und diffuse Lexeme, konturiert durch Kontext, siehe (na-)pisat’ pis’mo ‚einen Brief schreiben‘;
⫺ für Lexeme mit sensumotorisch beobachtbarem Zustandswechsel: z. B. ist zakryvala ipf ... ‚schloss‘ wesentlich progressionsfreundlicher als prikazyvala ipf ... ‚befahl‘);
⫺ für agentive Lexeme (mit Kontrolle der Handlung durch den Agens/mit Volitivität/
mit Intentionalität); für das nicht agentive ‚rutschte aus‘ oder ‚schloss aus Versehen‘
wird ohne speziellen Kontext kein imperfektives, sondern ein perfektives Verb verwendet, vgl. poskol’znulas’ pf, zakryla pf.
5. Die morphologischen Formen und Funktionen
Für die morphologische Ebene werden für die oppositiven Aspekteinheiten hier folgende Termini verwendet: perfektive ⫺ imperfektive Verben, d. h. perfektiv bzw. imperfektiv für Wörter mit allen lexikalischen Bedeutungen und Variablen für die nichtaspektuellen Affixe (Nennform ist der Infinitiv), z. B. zakryt’ pf, zakryvat’ ipf; Perfektiva
(Pf.) und Imperfektiva (Ipf.), d. h. perfektive und imperfektive Verben mit einer bestimmten lexikalischen Bedeutung (Nennform ist der Infinitiv mit Bedeutungsangabe),
z. B. gotovit’ ipf 3. ‚vorbereiten‘.
5.1. Grammatische Derivation
Die synchrone morphologische Rekonstruktion und noch deutlicher die Grammatikalisierung des slavischen Aspekts lassen erkennen, dass die Aufgabe der aspektuellen
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
Derivation darin besteht, zu prinzipiell jeder lexikalischen Verbbedeutung die Möglichkeit zu schaffen, oppositive aspektuelle Funktionen auszudrücken. In dieser prinzipiell
alle Verben erfassenden Distribution der Aspektopposition besteht auch deren grammatischer Charakter.
Dabei werden nur Veränderungen Situationsgestalt durch Rekategorisierung, Profilierung und Konturierung und der Episodizität (temporal definiteness) durch Modifikation als mo rp h o lo gisch e (und damit grammatische) Funkt i ons änder ungen
angesehen. Die grammatischen Derivationsklassen hängen vom Situationstyp ab: (a)
Situationstyp Ereignis mit Suffixen, perestroit’ pf » perestraivat’ ipf ‚umbauen‘, und so
genannten leeren Präfixen, stroit’ ipf » postroit’ pf ‚bauen‘, (b) Situationstyp Verlauf mit
Affixen für Einphasigkeit und Profilierung von Anfang- und/oder Endphase, die Derivate sind grammatische „Aktionsarten“; die wichtigste ist die delimitative/perdurative
mit der Funktion ‚eine Zeit lang‘, govorit’ ipf » pogovorit’ pf ‚sprechen‘, siehe Brüggemann 2003; Anstatt 2003; Dickey/Hutcheson 2003; daneben stehen die ingressive (‚anfangen zu ...‘) und die egressive Aktionsart (‚aufhören zu ...‘); (c) stativer Situationstyp,
znat’ ipf ‚wissen‘ » uznat’ pf ‚erfahren‘; (b) und besonders (c) werden nur teilweise als
Aspektpartner angesehen, siehe dazu 5.4.
Auf der formalen Seite ist der Weg von der lexikalischen zur morphologischen
Ebene beim slavischen, und damit derivationalen, Aspekt allgemein wie folgt zu beschreiben:
Grammatische Standardderivation:
⫺ Grammatische Imperfektivierung (meist zu perfektiven lexikalischen Derivaten,
siehe 4.1.; dann liegt „sekundäre Imperfektivierung“ vor), z. B.
(stroit’ ipf bauen’ >) perestroit’ pf ⫺ perestraivat’ ipf ‚umbauen‘
[lexikalischer Stamm]pf » [[lexikalischer Stamm] Aspektsuffix]ipf
⫺ Grammatische Perfektivierung, z. B. stroit’ ipf ⫺ po-stroit’ pf ‚bauen‘:
[lexikalischer Stamm]ipf » [[lexikalischer Stamm] Aspektpräfix]pf.
Für die Suffigierung hat sich überall ein Reflex der historischen Suffixe {-va-}, {-a-},
{-iva-} als primäre Form durchgesetzt. Die Präferenzen hinsichtlich Produktivität und
Vorkommenshäufigkeit der Präfixe sind in den einzelnen slavischen Sprachen verschieden. Die Perfektivierung kann auch vereinzelt durch Suffixe markiert werden, im
Tschechischen und Russischen ist z. B. das Suffix {-nou-} (vgl. Šlosar 1981) bzw. {-nu-}
im Vormarsch.
Für die grammatische Präfigierung nutzen die slavischen Sprachen ein aus dem
Urslavischen überkommenes Set von Morphemen, deren phonetische Form gegebenenfalls entsprechend den Gesetzen der Lautveränderung heute abgewandelt sein
kann. Generell eingesetzt werden für Ereignis-Lexeme Nachfolger der ehemals lokalen
urslavischen Präfixe *s¿- ‚mit-‘, *na- ‚auf-‘, *vy-/iz- ‚aus-‘ usw., die formal mit den Präfixen der lexikalischen Derivation übereinstimmen; das abstrakte *po- (außer im Sloven.
und Skr.) für alle Lexemtypen (s. Anstatt 2003), vor allem für Verlaufslexeme; und
in geringerem Umfang und Verbreitung Phasen-Präfixe für Verlaufslexeme, z. B. im
Russischen, vgl. zaplakat’ ‚anfangen zu weinen‘ (Dickey 2000, 222 ff.).
Besonderheiten in der grammatischen Derivation (morphologische Peripherie):
(a) Trojka-Verben, z. B. est’ ipf ⫺ s”est’ pf ⫺ s”edat’ ipf ‚essen‘:
[lexikalischer Stamm]ipf » [[lexikalischer Stamm] Aspektpräfix]pf » [[[lexikalischer
Stamm] Aspektpräfix] Aspektsuffix]ipf,
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
15
16
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
wobei die beiden ipf. Verben mehr oder weniger komplementär die aspektuellen
Satzfunktionen des ipf. Aspekts bedienen; ausführlich siehe Petruxina 2000.
(b) Zweiaspektige, in der Regel partnerloseVerben, z. B. velet’ ipf und pf:
[[lexikalischer Stammipf und pf ] ø].
Dies sind vor allem Verben mit in jüngerer Zeit oder aktuell entlehntem Stamm,
zu denen mehr oder weniger schnell Aspektpartner herausgebildet werden.
(c) Einaspektige partnerlosen Verben:
[[lexikalischer Stammipf ] ø] oder [[lexikalischer Stammpf ] ø]
Zu den ipf. Verben dieser Gruppe gehören vor allem die absolut stativen Verben
wie značit’ ‚bedeuten‘ oder sootvetsvovat’ ipf ‚entsprechen‘ und etwa im Russischen
lexikalische „Aktionsart“-Verben wie prigovarivat’ ipf ‚dabei sprechen‘. Bei den pf.
Verben gehören dazu vor allem lexikalische Aktionsartverben wie narvat’ pf (cvetov) ‚eine große Menge (Blumen) pflücken‘.
(d) Eine slavische Spezialität sind die so genannten Verben der Fortbewegung (für
‚gehen‘, ‚rennen‘, ‚tragen‘, ‚führen‘ usw.) im Umfang von etwas mehr als zehn, im
Vorkommen sehr häufigen, Vokabel-Paaren für Fortbewegung, z. B. im Russischen
mit der aktional diffusen Funktion ‚in einer ⫺ nicht in einer Richtung‘, vgl. zu ‚in
einer Richtung‘: idti ipf ⫺ pojti pf v kino ‚ins Kino gehen (Ereignis)‘ / pojti pf bystree
‚schneller gehen (Verlauf)‘; zu ‚nicht in einer Richtung‘: xodit’ ipf ⫺ poxodit’ pf ‚herumgehen (Verlauf)‘ / sxodit’ pf ‚hin- und zurückgehen (Ereignis)‘. Die lexikalischen Derivate, meist abgeleitet von den Verben des Typs idti, verhalten sich funktional wie die anderen Ereignis-Lexeme, formal ist aber in der gesamten Slavia
die Suppletivität bei den ipf. grammatischen Derivaten sehr häufig; vgl.:
idti ipf ‚gehen‘ > perejti pf ⫺ perechodit’ ipf ‚hinübergehen‘
5.2. Die morphologischen Funktionen der Aspekte
Die grammatische Standardderivation ergibt folgende formale Aspektopposition, die
ebenfalls natürlich nur ein Standard ist:
pf. Verb ohne grammatisches Aspektaffix
zakryt’
⫺
ipf. Verb mit grammatischem Aspektaffix
zakry-va-t’
pf. Verb mit grammatischem Aspektaffix
po-stroit’
⫺
ipf. Verb ohne grammatisches Aspektaffix
stroit’
Grundstruktur der formalen Aspektopposition im Slavischen
Die morphologischen Funktionen des slavischen perfektiven und imperfektiven Aspekts sind damit zu definieren als Schnittmengen der Bedeutungen der perfektiven
bzw. der imperfektiven Verben unabhängig von Kontexten. Jede dieser beiden Mengen
von Verbstämmen besteht zum einen aus aspektuell unmarkierten (zakryt’ pf, guljat’ ipf,
znat’ ipf) und zum anderen aus aspektuell markierten (zakryvat’ ipf, pogovorit’ pf) Verbstämmen. Die Frage ist, nach welchem Kriterium man die Verben einer slavischen
Sprache auf die Menge der perfektiven und die Menge der imperfektiven Verben verteilt.
Als operatives Kriterium für die gesamte Slavia ist am ehesten Dešerievas (1967,
4) Kriterium der Kompatibilität mit Phasenverben geeignet. Mit Verben für Verlaufs-
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
phasen sind prinzipiell die imperfektiven, nicht aber die perfektiven Verben kombinierbar, vgl. načat’ zakryvat’ ⫺ *načat’ zakryt’ ‚anfangen zu schließen‘, končit’ govorit’ ⫺ *končit’ pogovorit’ ‚aufhören zu sprechen‘. Als morphologische Funktionen der
beiden Aspekte können dann diejenigen Funktionen ausgegeben werden, die den beiden mit diesem Kriterium erzielten Mengen jeweils unabhängig vom Kontext zukommen. Dabei stellt sich allerdings heraus, dass der Unterschied zwischen den beiden
Aspekten darin besteht, dass der eine, der perfektiven, die Funktion ‚Ereignis‘ hat, die
Unteilbarkeit impliziert und von der deshalb kein Anfang, keine Binnenphase oder
Ende profiliert werden kann und dass die perfektiven Verben offenbar kei ne and e r e, a ltern a tive Funktion haben, mit der Kompatibilität bestehen könnte, während
die Verben des anderen Aspekts, des imperfektiven, offenbar nicht die Funktion ‚Ereignis‘ oder aber nicht nur diese, sondern daneben auch ander e, al t er nat i ve Funkt i o n en haben, bei denen dann die Phasenprofilierung möglich ist.
Die Kompatibilität mit den Phasenverben führt zunächst zu nicht mehr als zu Verbklassen der Phasensensibilität. Es bleibt immer noch die Frage, warum die Verben
genau so und nicht anders, mit einem anderen Kriterium, verteilt werden sollen. Die
eigentliche Charakteristik der Menge der perfektiven und der imperfektiven Verben
besteht darin, dass die eine Verbmenge sich im Gebrauch, d. h. in der Distribution und
in den jeweiligen Funktionen in Satz und Text, anders verhält, als die andere Menge.
Und auch wenn der Gebrauch in den einzelnen Sprachen verschieden ist und es viele
Fälle von Aspektsynonymie (so genannter „Aspektkonkurrenz“) gibt, so ist es doch
möglich, den Gebrauch der perfektiven bzw. der imperfektiven Verben auf ein für alle
slavischen Sprachen gemeinsames morphologisches Funkt i ons pot ent i al zurückzuführen. Damit kann dann Aspektgebrauch synchron, kompositional und motivational,
rekonstruiert werden. Unterschiede in den Gebrauchsregularitäten in einzelnen slavischen Sprachen können auf verschiedene Motivierungslinien und verschiedene morphologische Zusatzfunktionen zurückgeführt werden.
Die morphologischen Aspektfunktionen der slavischen Sprachen können also definiert werden als Merkmalskonstrukte, die allen Verben des perfektiven bzw. des imperfektiven Aspekts zukommen und mit denen die Funktionen und Distributionen (der
Gebrauch) dieser Verben optimal synchron rekonstruiert werden können. Da sie allen
Verben der jeweiligen Subkategorie zukommen, bilden die Aspekte eine morphologische Kategorie (siehe Lehmann 2003).
Zum slavischen Aspekt am weitesten verbreitet ist die Bestimmung, wie sie sich bei
Comrie (1976) findet, wonach der perfektive Aspekt die Funktion ‚Ereignis‘ (totality)
hat, der imperfektive Aspekt diesbezüglich merkmallos sei, d. h., dass über das Vorhandensein der Funktion ‚Ereignis‘ nichts ausgesagt wird. Letzteres deshalb, weil die imperfektiven Verben der Ereignis-Lexeme genauso wie ihre perfektiven Partner per
Default die Gestaltfunktion ‚Ereignis‘ haben, vgl. prikazat’ pf ⫺ prikazyvat’ ipf ‚befehlen‘.
Als morphologische Funktion, im Sinne einer Rekonstruktionsbasis, des perfektiven
A s p ek ts wird hier ebenfalls für die Gesamtslavia die Default-Funktion ‚Ereignis‘ (totality) angesetzt (vgl. zuletzt Dickey 2000). Diese Funktion wird nur beim Zustandspassiv außer Kraft gesetzt, perfektive Verben haben dann stative Funktion, vgl.: Ozero
(bylo) okruženo domami ‚Der See ist (war) von Häusern umgeben‘. Über die Zusatzfunktion ‚episodisch‘ (temporal definiteness) in der Ost-Isoglosse siehe 2.6.
Der imperfektive Asp e k t verfügt nicht über eine invariante morphologische „Gesamtbedeutung“, die morphologische Funktion ist vielmehr identisch mit der lexikali-
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
17
18
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
schen aktionalen Funktion des jeweiligen Imperfektivums (so auch Barnetová 1979:
215). Die oben erwähnte „Merkmallosigkeit“ der Kategorie imperfektiver Aspekt wird
sozusagen beim Wort genommen und positiv interpretiert, eben in dem Sinne, dass ⫺
da keine eigene Bedeutung des imperfektiven Aspekts vorliegt ⫺ vom imperfektiven
Verb nur seine lexikalische aktionale Funktion in den Satz eingebracht wird, also von
Verlaufs-Lexemen die Funktion ‚Verlauf‘, siehe plakat’ ‚weinen‘, von stativen Lexemen
die Funktion ‚stativ‘, siehe značit’ ‚bedeuten‘, von aktional diffusen Lexemen die Funktion ‚Ereignis und/oder Verlauf‘, siehe čitat’ ‚lesen‘, und von Ereignis-Lexemen die
Funktion ‚Ereignis‘, siehe zakryvat’ ‚schließen‘.
Dass bei den formal unmarkierten imperfektiven Verben (guljat’, pisat’, ...) die lexikalische aktionale Funktion und die „Aspektbedeutung“ übereinstimmen soll, überrascht wohl nicht. Dass dies bei imperfektiven Ereignis-Verben, die meist durch ein
imperfektivierendes Aspektsuffix markiert sind, ebenfalls so sein soll, vielleicht eher.
Allerdings hat bereits Maslov für eine der drei Grundkategorien seiner Verbklassifizierung die lexikalische Identität der perfektiven und imperfektiven Verben postuliert
und mit dem Kriterium ihrer Austauschbarkeit begründet. Bei der hier Ereignis-Lexeme genannten Klasse (Maslovs dritte Klasse) kommt den perfektiven und imperfektiven Verben immer oder in bestimmten Kontexten die gleiche lexikalische Bedeutung
zu, in seiner Redeweise gilt dort die Bedeutungsformel „A = B“ (siehe Maslov 1984
[erstmals 1948], 59 ff.; siehe auch 5.3). Da der perfektive Aspekt außer im Zustandpassiv immer die Funktion ‚Ereignis‘ hat, ergibt sich aus der Formel ‚pf. = ipf.‘, dass das
imperfektive Verb ebenfalls Ereignis-Funktion hat. Dort, wo die Bedeutung zwischen
dem perfektiven und imperfektiven Verb nicht übereinstimmt, ist die originale Ereignis-Funktion durch Kontext verändert. In der iterativen (per Default), in der allgemeinfaktischen und der konkretfaktischen Funktion des imperfektiven Aspekts erscheint die Ereignis-Funktion zusammen mit anderen, dominanten Funktionen.
Zwischen Aspekten und Situationstypen bestehen deutliche Affinitäten (zu ihrem
Verhältnis siehe Schlegel 1999). Bezüglich der Perfektiva für heterogene/telische Situationen gilt meist und bezüglich Imperfektiva für homogene Lexeme gilt fast immer:
Sie sind aspektuell unmarkiert, kommen häufiger vor, werden zuerst erworben, werden
eher in Assoziationstests und als isoliertes Äquivalent für fremdsprachige Verben genannt (siehe Lehmann 1993). Zwischen den Aspektpartnern eines Verballexems besteht also ein Gefälle, und es können alpha- und beta-Partner unterschieden werden,
mit der Definition: Alpha-Partner ist das perfektive Verb, wenn es eine heterogene/
telische Situation bezeichnet, z. B. zakryt’ pf ‚schließen‘, und das imperfektive Verb,
wenn es eine homogene/atelische Situation bezeichnet, z. B. govorit’ ipf 1. ‚sprechen‘,
značit’ ipf ‚bedeuten‘; beta-Partner sind jeweils die anderen Partner, also zakryvat’ ipf,
pogovorit’ pf: Ipf. Verben wie čitat’ ‚lesen‘, die aktional diffuse Situationen bezeichnen
und einen alpha-Parter (pročitat’ pf) und einen beta-Partner (počitat’ pf) haben, sind
selbst folglich alpha-beta-Verben.
Beta-Partner sind die funktional komplexeren, die funktional „merkmalhaften“,
Verben in einer Aspektpartnerschaft, es sind aber nicht immer auch die formal markierten. Besonders unter den Ereignis-Lexemen ohne sensumotorisch beobachtbaren
Zustandwechsel (für Sprechakte, soziale und mentale Akte), wie blagodarit’ ‚danken‘,
gibt es eine Reihe von Lexemen, bei denen das grammatische Derivat ein formal markierter alpha-Partner ist (poblagodarit’ pf.).
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
5.3. Konzeptionen des slavischen Aspekts als grammatische Kategorie
Mit der im Strukturalismus verbreiteten Klassifizierung des slavischen Aspekts als flektivischer, damit von der lexikalischen Bedeutung unabhängiger, grammatischer Kategorie (siehe Lehmann 2003) hängt auch die Tradition zusammen, die Aspektpartner
als „Aspektpaare“ zu bezeichnen, obwohl sehr viele und besonders die häufigeren
Verb-Vokabeln über mehrere verschiedene Aspektpartner verfügen, was im allgemeinen nicht bezweifelt wird und ein Blick in die relevanten Wörterbucher schnell zeigt
(siehe Beispiel gotovit’ in 4.3, vgl. auch die Behandlung dieses Problemkomplexes bei
Zaliznjak/Šmelëv 2000, die aber weiterhin von Aspektpaaren sprechen).
Die funktional binäre grammatische Kategorie Aspekt muss sich nicht notwendigerweise in Form von Verb-Paaren niederschlagen, und so hat die Zahl der Autoren stetig
zugenommen, die den Aspekt als nichtflektivische bzw. klassifikatorische Kategorie
ansehen (wie das ebenfalls pro Wort unveränderliche Genus des Substantivs). Die
Auffassung, dass der slavische Aspekt eine derivationale grammatische Kategorie sei,
die hier und u. a. auch von Dahl (1985), Breu (1994), Karolak (1997) oder Dickey
(2000) vertreten wird, geht noch einen Schritt weiter und zieht die Konsequenz aus
der unübersehbaren Tatsache, dass ein aspektuell unmarkiertes Verb durch bestimmte
Affixe erweitert wird, und Komponenten seiner lexikalischen Bedeutung verändert
werden.
5.4. Konzeptionen der Aspektkorrelation im Slavischen
Mit der Auffassung vom Aspekt als flektivischer, klassifikatorischer oder derivationaler grammatischer Kategorie korrelieren auch locker verschiedene Konzeptionen dazu,
welche Verben sich als Aspektpartner gegenüber stehen ⫺ eine formorientierte, eine
auf den telischen/heterogenen Syituationstyp beschränkte und eine funktional orientierte Konzeption.
Gemäß der fo rmo rie n tie rten Konz ept i on der Aspektkorrelationen wird nur
die imperfektivierende Suffigierung mit {-a-/-va-/-iva-} in den slavischen Sprachen als
grammatisch aufgefasst. Alle anderen Affigierungen werden als lexikalisch deklariert,
einschließlich der grammatischen Aktionsarten, z. B. der delimitativen, vgl. govorit’ ipf ⫺ pogovorit’ pf ‚sprechen‘, und der Präfigierung bei Ereignis-Lexemen wie bei
stroit’ ipf ⫺ postroit’ pf ‚bauen‘. Diese Konzeption wurde seinerzeit in Isačenkos Morphologie (deutsche Variante: Isačenko 1968) vorgetragen. Es ist eine zutiefst strukturalistische Konzeption, erfreut sich aber auch heute noch einer gewissen Beliebtheit, nicht
zuletzt außerhalb der Slavistik. Damit soll der Aspekt meist an die scheinbar regelmäßige Formenbildung anderer grammatischer Kategorien wie des Kasus angeschlossen
werden, um die Ableitung von Aspektpartnern auch als ein Fall von Flexion ansehen
zu können.
Die Konzeption, die Aspektkorrelationen auf den t el i s c hen/ het er ogenen Si t uatio n styp beschränkt, ist die am weitesten verbreitete Konzeption und wird vor
allem auch in der Praxis des Russischunterrichts, in der Lexiko- und Grammatographie
angewendet. Wenn von ihren Vertretern ein Kriterium für das Ansetzen von AspektPaaren explizit gemacht wird, dann werden in der Regel die auf Maslov (1948 in 1984,
53) zurückgehenen Tests propagiert (siehe auch 5.2):
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
19
20
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
(a) der Historisches-Präsens-Test (z. B. Zaliznjak/Šmelëv 2000, 48): Wenn einem perfektiven Verb im Präteritum ein imperfektives Verb im historischen Präsens ohne
Sinnveränderung entspricht, bilden sie Aspektpaare. Vgl. On vošël v dom, podnalsja po lestnice, otkryl dver’ ... vs. I vot na sledujuščij den’ on vxodit v dom,
podnimaetsja po lestnice, otkryvaet dver’ ....
(b) der „Trivialitäts“-Test: Wenn ein imperfektives Verb „viele sich wiederholende
Vorgänge bezeichnen kann, die normalerweise durch das perfektive Verb bezeichnet werden“ (siehe Lazinski 1998, 116), bilden sie ein Aspektpaar, vgl. Každyj raz
vozvraščajas’ iz komandirovki on vxodit / vxodil v dom, podnimaetsja / podnimalsja po lestnice, otkryvaet / otkryval dver’ ...
Immerhin wird bei dieser Konzeption auch die nicht geringe Menge der durch ein
grammatisches („leeres“) Präfix abgeleiteten perfektiven Derivate bei Ereignis-Lexemen als perfektive Partner akzeptiert, vgl. stroit’ ipf ⫺ postroit’ pf ‚bauen‘, blagodarit’ ipf ⫺ poblagodarit pf ‚danken‘ usw. Konsequenz besonders der formorientierten, aber
auch der lexiko-grammatisch orientierten Konzeption ist, dass für extrem große Mengen partnerloser Verben (vgl. Čertkova 2000, 100 ff.) entweder ein Partnerverb mit
Null-Suffix angesetzt werden muss (siehe z. B. Kempgen 2000), oder dass sie als aspektdefektiv deklariert werden müssen. Es gibt dann einen scharfen Widerspruch zwischen
der gern beschworenen, maximalen Distribution des Aspekts bezüglich der anderen
Verbkategorien (alle Tempora, Gerundien und der Infinitiv, im Polnischen auch die
Verbalsubstantive) und der minimalen Distribution bezüglich der Lexik.
Die fu n k tio n ale Ko n ze p tio n der Aspektkorrelation (u. a. Lehmann 1988; Čertkova 1996; Wiemer 1997; Guiraud-Weber 2004, in Druck) geht davon aus, dass sich
der Aspekt herausgebildet hat, weil mit seiner Hilfe bestimmte kommunikative Aufgaben im Zusammenhang mit dem Verb a u f gr am m at i s c he Wei s e erfüllt werden
können. Damit wird im Slavischen vielmehr eine Vielzahl von semantischen Möglichkeiten eröffnet: Die bezeichneten Situationen können als einmalig oder wiederholt
dargestellt werden; sie können in einen chronologischen Zusammenhang eingebettet
(episodische Situation) oder außerhalb eines solchen dargestellt werden (nichtepisodische Situation) und die episodischen Situationen sind als Sequenzen, Parallelen oder
Inzidenzen darstellbar (siehe 8); Situationen können in der Nord-Isoglosse in der Zukunft oder in der Gegenwart lokalisiert werden.
Zur Erfüllung dieser übergeordneten Aufgaben werden vom System alle derivationalen Potenzen mit grammatischem Charakter herangezogen und es wird auch in Kauf
genommen, dass sich die jeweiligen Partner der beiden Aspekte nicht immer in der
gleichen Weise unterscheiden, was ohnehin nur bei der Konzeption „Trivialpaar“, der
Fall ist. Als Aspektpartner werden daher das Basisverb und sein(e) Derivat(e) im
Sinne der in 5.1 definierten grammatischen Derivationsklassen (a) ⫺ (c) betrachtet.
Unterschiedliche Ansichten bestehen nicht nur darin, welche Verben Aspektkorrelationen (Aspektpaare) bilden, sondern auch hinsichtlich der Frage, in welcher Weise
sie dies tun: (a) eine formorientierte, (b) eine auf „Trivialpaare“ beschränkte oder (c)
lexemorientierte Konzeption.
(a) Formorientierte Konzeption: Die Verben werden insgesamt, mit allen Bedeutungen korreliert, indem z. B. das imperfektive Verb otkryvat’ als Korrelat (Aspektpartner) des perfektiven Verbs otkryt’ bezeichnet wird, und umgekehrt. Dies ist
die Redeweise in Grammatiken und Lehrbüchern, wenn sie nur sehr allgemein
auf die Aspekte eingehen.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
(b) Konzeption „Trivialpaar“ (vgl. Zaliznjak/Šmelëv 2000, 62): Beim entgegengesetzten Extrem werden die Verben nur insoweit korreliert, als die lexikalische Ereignis-Funktion nicht durch Derivation und Kontext verändert wird, wenn die so
genannte triviale Aspektfunktion vorliegt, also Fälle wie historisches Präsens, iterative Funktion, allgemeinfaktische Funktion von Ereignis-Lexemen (siehe 5.2,
5.3), nicht aber, wenn die Aspektfunktionen des imperfektiven Verben dieser
Lexme in progressiver oder stativer Funktion geändert sind, sie werden dann als
„quasi andere Verben“ bezeichnet. Da sie keine Aspektpartner hätten, seien sie
Imperfektiva tantum (ebd., 63). Dadurch wird die Menge der aspektdefektiven
Verben nochmals erhöht. Es ist auch insofern ein bizarrer Ansatz, als die progressive Funktion von vielen Autoren, z. B. Padučeva (1996), zur Allgemeinfunktion
des imperfektiven Aspekts erklärt wird, oder von Thelin (1990, 35) als „aspect
par excellence“.
(c) In der ⫺ hier vertretenen ⫺ l exem or i ent i er t en Konzeption wird die Korrelation bezogen auf genau eine lexikalische Bedeutung, die Basisverb und Derivat
gemeinsam ist. So hat wie oben erwähnt das Verb gotovit’ auch in konservativer
Beschreibung abhängig von der lexikalischen Bedeutung verschiedene, z. T. für
eine Bedeutung mehrere Aspektpartner. Die Aspektkorrelation umfasst damit
alle grammatischen Aspektfunktionen einschließlich der stativen Funktion.
6. Die Aspektfunktionen im Satz
Beim Aspekt interagieren Verblexik, Aspektmarkierung und Satzkontext so, dass das
in der Wortform integrierte lexikalische und morphologische Funktionspotential erhalten bleibt, geändert oder spezifiziert wird. Unterschiede zwischen den Sprachen ergeben sich vor allem durch die Restriktionen, die in einer konkreten Sprache der Aspektverwendung und bestimmten Satzfunktionen wie der allgemeinfaktischen Funktion
auferlegt sind und durch die Herausbildung peripherer, z. B. modaler Funktionen, siehe
dazu Holvoet (1989); Lehmann (1989).
Die Satzfunktionen der Aspekte werden meist einem bestimmten Aspekt zugeordnet. In Wirklichkeit kommen die meisten Satzfunktionen mit einem Aspekt tendenziell
unbeschränkt und mit dem oppositiven Aspekt unter mehr oder weniger engen kontextuellen Bedingungen vor. Die progressive Funktion allerdings ist eine Funktion allein
des imperfektiven Aspekts. Die Satzfunktionen der Aspekte gelten prinzipiell für alle
Tempora und slavischen Sprachen.
Die Verwendung von perfektiven Verben im Satz ohne kontextuelle Veränderungsfaktoren wird in der Russistik als „ Konkr et - f akt i s c he Funkt i on“ (‚episodisches
Ereignis‘) bezeichnet. Sie tritt mit diesem Aspekt auch in den anderen slavischen Sprachen auf. Die Funktion ‚episodisches Ereignis‘ ist aber keineswegs auf den perfektiven
Aspekt beschränkt. Im narrativen Präsens (historisches Präsens, Direktreportage, Szenisches Präsens, Mauerschau u. a.) tritt der imperfektive Aspekt mit seiner lexikalischen und demgemäß auch seiner morphologischen Gestalt-Funktion auf, so dass Ereignis-Lexeme die Funktion ‚Ereignis‘ behalten (siehe 4.3, 5.2, 5.3) und durch die kontextuelle Funktion ‚episodisch‘ modifiziert werden.
Die p ro gressive F u n k tio n ‚episodischer Verlauf‘) tritt nur mit imperfektiven
Verben auf. Sie wird durch episodische Kontexte ausgelöst, die Komponenten wie
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
21
22
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
‚während‘, ‚dabei sein zu ...‘, ‚im Begriff sein zu‘, ‚versuchen zu ...‘ u. ä. enthalten. Die
Beschränkungen in der Verwendung dieser Funktion sind vorwiegend sachverhaltsbedingt, bei stativen Lexemen ist die Verwendung ausgeschlossen (zur terminativen/aterminativen Variante siehe 2.5.; zur Zulässigkeit der progressiven Funktion 4.3)
Die iterative F u n k tio n (‚nichtepisodisch. mehrmalig. Ereignis/Verlauf‘) ist mit
ipf. Verben unbegrenzt verwendbar, bei perfektiven Verben bestehen jedoch große
Unterschiede in der West- und Ost-Isoglosse. Im Russischen sind die Restriktionen
relativ eng, dort werden sehr explizite kontextuelle Indikatoren für die Funktionen
‚mehrmalig, nichtepisodisch‘ benötigt (diese Fälle, die eine Neigung zur Zusatzfunktion
‚sporadisch‘ oder ‚sequenziell‘ oder zu modalen Zusatzfunktionen haben), gehören zur
sogenannten exemplarischen (Sonder-)Funktion des perfektiven Aspekts. Demgegenüber gibt es für die Verwendung pf. Verben mit iterativer Funktion im Tschechischen
praktisch keine Restriktionen (zum Slavischen vgl. Mønnesland 1984; Dickey 2000,
49 ff.).
Die allgeme in fa k tisch e F u nkt i on von imperfektiven Verben (‚nicht episodisch, per Default nicht quantifiziert (siehe 2.6), ungleichzeitig. Ereignis oder Verlauf‘)
ist in der Literatur zum russischen Aspekt bezüglich der Ereignis-Variante in letzter
Zeit breit diskutiert worden, weil die Ereignis-Variante ⫺ abgesehen von der Funktion
‚nicht episodisch‘ ⫺ mit der Funktion des perfektiven Aspekts übereinstimmt, und
tatsächlich sind in sehr vielen allgemeinfaktischen Kontexten imperfektive und perfektive (konkret-faktische) Prädikate synonym (vgl. die Probandenbefragung zum Russischen bei Švedova 1984).
Die Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit einer Verwendung von imperfektiven Verben in allgemeinfaktischer Funktion nimmt offenbar mit der Zulässigkeit der progressiven Funktion und von West nach Ost zu (zu schließen besonders aus Dickeys 2000,
95 ff. Daten und Fakten). Gleichzeitig wird die Aspektobligatorik und -wahl auch durch
pragmatische Faktoren mitbestimmt: Für die Funktion zentral und obligatorisch zumindest im Russischen mit obligatorischem imperfektivem Aspekt ist die Variante „experiential“ (siehe Dahl1985, 139 ff.): die von Voraussetzungswissen unabhängige Konstatierung, dass es eine entsprechende Situation überhaupt gab (‚haben Sie schon einmal X
getan?‘, ‚ich habe schon einmal X getan‘). Fakultativ, auch im Russischen (anders
Dickey 2000, 113), ist die Verwendung von imperfektiven Verben in allgemeinfaktischer Funktion in der Variante „annuliertes Resultat“, vgl. ona zakryvala dver’ ‚sie hat
die Tür geschlossen gehabt (jetzt ist sie wieder offen)‘. Zumindest im Russischen ist
auch das Nichtgelingen von Sprechakten ein Anlass für imperfektive Aspektwahl, vgl.
ja predupreždal‚ ‚ich habe (vergeblich) gewarnt‘.
Die stative F u n k tio n ist mit imperfektiven Verben unbegrenzt, mit perfektiven
im Prinzip nicht verwendbar (Ausnahme ist das Zustandspassiv, siehe 5.2). Sie kann
auf eine lexikalische aktionale Funktion zurückgehen, sei es als Komponente einer
primären oder einer semantisch abgeleiteten lexikalischen Bedeutung, vgl. značit’ ipf
‚bedeuten‘, ponimat’ ipf (po-russki) ‚(Russisch) verstehen‘. Sie kann aber auch auf einer
durch Satzkontext bedingten Rekategorisierung (Überlagerung) beruhen. Dies ist vor
allem bei Ereignis-Lexemen ohne das Merkmal des Zustandswechsels und bei Positionsverben leicht möglich, vgl. nikto menja ne ponimaet ipf ‚niemand hat für mich Verständnis‘.
In Mongraphien sind die Satzfunktionen für das Polnische von Koschmieder (1934)
beschrieben worden, für das Russische nicht zuletzt im Hinblick auf den Russischuntericht von Rassudova (1968); Kratzel (1971); Forsyth (1979); Glovinskaja (2001); Schlegel (2002); Guiraud-Weber (2004).
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
7.
Das Tempus im Slavischen
7.1. Die Tempora und ihre Funktionen
Anders als beim Aspekt, der im Slavischen eine einheitliche allgemeine formale Struktur aufweist und sich nur in bestimmten Funktionen und Verwendungsbedingungen
unterscheidet, weist die Slavia hinsichtlich der Tempora eine beträchtliche formale
Vielfalt auf. Die relativ auffälligen Unterschiede legen es nahe, eine „Nord-Isoglosse“
(Nord-Slavia und Sloven.) und eine „Süd-Isoglosse“ (Bulgarisch, Makedonisch, Serbokroatisch) mit deutlichen Unterschieden in den formalen Tempussystemen anzusetzen
(siehe ähnlich auch Kretschmer 1995); daneben eine weniger ausgeprägte, die der Einteilung in Ost- und Westslavia folgt. Ober- und Niedersorbisch nehmen eine Sonderstellung ein, da sie west- und südslavische Tempussysteme vereinen.
Die Tempora sind im Slavischen flektivische Kategorien mit synthetischen und analytischen Formen. Es gibt als synthetische Tempora das Präsens, das Präteritum, den
Aorist und das Imperfekt, im Ukrainischen zudem ein besonderes Futur mit dem Morphem {-m-}, z. B. pisati-m-u ‚ich werde schreiben‘; daneben eine Reihe formal verschiedener analytischer Formen, deren Flexionen durch Hilfsverben für ‚sein‘, ‚wollen‘ und
‚haben‘ realisiert werden und die mit Vollverben im Infinitiv, Partizipien und Präsens
kombiniert werden. Eine wichtige Rolle spielen die Formen in der Nachfolge des alten
Aktiv-Partizips auf {-l-}. Sie erscheinen in verschiedener Verteilung auf die Sprachen
im synthetischen Präteritum und in den analytischen Formen des Perfekt und Futur
und im Süden im Plusquamperfekt und Futurum praeteriti.
Die slavischen Tempora interagieren stark mit den Aspekten und verfügen über
formale und funktionale Aspekttempora. Bei formalen Aspekttempora entspricht der
Kombination aus Aspekt- und Tempusfunktionen ein festes synthetisches Formenparadigma (z. B. Aorist und Imperfekt) oder ein analytisches (z. B. das imperfektive Futur
im Russischen budu čitat’ ‚werde lesen‘). Bei funktionalen Aspekttempora hat ein Tempus eine bestimmte Tempusfunktion nur in Kombination mit einem bestimmten Aspekt, z. B. die Funktion ‚Zukunft‘ des perfektiven Präsens in der Nord-Isoglosse.
Die Tempora im slavischen Passiv, dessen Umfang im imperfektiven Aspekt umstritten und dessen Tempusparadigmen in der Beschreibung meist (notgedrungen auch
hier) vernachlässigt werden, tritt fast ausschließlich als formales oder funktionales Aspekttempus auf. Der perfektive Aspekt wird in der Regel mit Partizipien gebildet, für
den imperfektiven Aspekt wird z. T., z. B. im Russischen, ein Reflexivum genutzt. Das
Tempussystem ist im Passiv allgemein differenzierter als im Aktiv, im Polnischen z. B.
gibt es im Passiv ein besonders komplexes Tempusparadigma (siehe Bartnicka et al.
2005, 408 ff.). Hier und z. B. im Russischen wird der Unterschied zwischen dem deiktischen und narrativen Tempusparadigma mithilfe des Auxiliars byt’/byc’ markiert (Zustands- und Vorgangspassiv werden kontextuell unterschieden). Vgl.: Russisch dom
postroen / Polnisch willa jest zbudowana ‚das Haus ist gebaut (worden)‘; Russisch dom
byl postroen / Polnisch willa była zbudowana ‚das Haus wurde gebaut / war gebaut
worden‘. Mit dem typischen polnischen Tempus-Auxiliar zostać wird diese Unterscheidung nicht gemacht.
In der Fortführung der traditionellen Tempusbeschreibung einschließlich Reichenbach (1947) und typologischer Erkenntnisse (vor allem Dahl 1985) verwenden wir
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
23
24
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
folgende Begriffe: Die Temp u sfu nkt i onen („Zeitstufen“) bestehen aus (a) der Relation der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit zwischen (b) der lokalisierten aktionalen
Situation und (c) dem zeitlichen Lokalisator (reference time/Bezugszeit) (siehe Lehmann 1992a). Dabei unterscheiden wir drei Paradigmen von Tempusfunktionen: das
deiktische als das primäre, das narrrative und das omnitemporale Paradigma (aus der
Systematik von Reichenbach gehen nur das deiktische und das narrative Paradigma
hervor). Die Funktionsrparadigmen unterscheiden sich nach der Art des Lokalisators,
das ist z. B. im deiktischen Paradigma die Sprechzeit. Im Folgenden werden zunächst
die Begriffe der Tempusfunktionen bestimmt; in Klammern wird das Tempus, also die
Tempusform(en), angeführt, dessen Default-Funktion die genannte Tempusfunktion
ist. Einer Tempusfunktion sind ein oder mehrere Tempora zugeordnet, in den Sprachen
der Slavia oft recht unterschiedliche.
Der Lokalisator (die Referenz-/Bezugszeit) des dei kt i s c hen Funkt i ons par ad i g ma s ist die Sprechzeit. Die Tempusfunktionen sind ‚Gegenwart‘ (Defaultfunktion
des Präsens), d. h. die aktionale Situation überschneidet sich zeitlich mit der Sprechzeit,
‚Vorgegenwart‘ (zu Perfekt), d. h. Vorzeitigkeit zur Sprechzeit; ‚Zukunft‘ (zu Futur),
mit der Situation nachzeitig zur Sprechzeit. Als periphere Tempusfunktion gehört zum
deiktischen Paradigma die Funktion ‚Vorzukunft‘ (zu Futurum exactum), mit der Situation nachzeitig zur Sprechzeit und vorzeitig zu einer anderen aktionalen Situation.
Die anderen Funktionsparadigmen sind jeweils eine Reproduktion der chronologischen Relationen der Gleich-, Vor- und Nachzeitigkeit des deiktischen Paradigmas.
Das n a rrative P arad ig ma (siehe Lehmann 1992b) besitzt die Tempusfunktionen
‚Vergangenheit‘ (zu echtem, d. h. narrativem Präteritum/past), ‚Vorvergangenheit‘ (zu
Plusquamperfektum), und ‚narrative Zukunft‘ (zum Futurum praeteriti; selten). Dominanter Lokalisator (Bezugszeit) für die Situationen ist hier statt der Sprechzeit das
psychische Jetzt ⫺ die Zeit der Verarbeitung in der Rezeption bzw. Produktion, oder
anders gesagt: der Zeit„punkt“, zu dem der Sprecher bzw. Hörer sich eine Situation
vorstellt, so wie ein Radiohörer sich die Situationen einer Direktreportage vorstellt
(siehe Lehmann 1992a; bei Reichenbach und seinen Nachfolgern wird die Bezugszeit
der narrativen Tempora nicht spezifiziert, sondern nur gesagt, dass sie vor der Sprechzeit liegt). Der Normalfall mit dem „echten“ Präteritum für ‚Vergangenheit‘ ist, dass
die Situation als gleich ze itig zu m ps yc hi s c hen Jet z t aufgefasst wird, was bei episodischen Situationen die Illusion erzeugt, „dabei“ zu sein und die Grundlage für die
zeitliche Strukturierung des Erzählten bildet. Daher besteht auch die Möglichkeit, dieses Präteritum durch das historische Präsens zu ersetzen (siehe das Beispiel in 5.4 (b)),
während Prädikate im Plusquamperfekt bzw. im Globalpräteritum mit der Funktion
der Vorvergangenheit nur durch ein „historisches Perfekt“ ersetzt werden können.
Die Tempusfunktionen des narrativen Paradigmas implizieren, dass eine aktionale
Situation ⫺ neben der dominanten Relation zum psychischen Jetzt ⫺ in taxischer Relation zu anderen aktionalen Situationen steht (siehe 8). Dass die Gesamtheit des Erzählten vor der Sprechzeit liegt, ist relativ irrelevant, die präteritalen Formen vermitteln, z. B. in Gegenwarts- oder utopischen Romanen, oft nur eine Illusion von Vergangenem. Was das narrative Paradigma vermittelt, ist vielmehr eine „Enthebung von der
Sprechsituation“ (siehe dazu Wiemer 1997); mit ‚vor der Sprechzeit‘ als schwachem
Default.
Der Lokalisator des o mn ite m por al en Par adi gm as ist ‚jedes beliebige Zeitintervall‘ bei generischer Referenz der Argumente. Genutzt werden die Tempora des deikti-
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
schen Paradigmas, meist das Präsens, z. B. zum Ausdruck von mathematischen Axiomen, Definitionen und Gesetzmäßigkeiten, aber auch Tempora für Vor- oder Nachzeitigkeit, wie das Sprichwort zeigt: Na beregax, gde byla voda, opjat’ zal’ët. ‚An Ufern,
wo Wasser war (vorzeitig zu tx), wird es wieder hinfließen (nachzeitig zu tx).‘
7.2. Die Tempora des deiktischen Paradigmas
Die Funktion‚Gegenwart‘ wird in der Slavia per Default mit dem imperfektiven Präsens in vielen funktionalen Varianten (siehe Mehlig 1995) ausgedrückt. Mit dem perfektiven Präsens können im Sloven. performative Akte markiert werden, Reste dieser
Verwendung gibt es z. B. im Russischen und Polnischen (vgl. poprosze, ‚ich bitte darum,
...‘), außerdem tritt das perfektive Präsens in verschiedener Stärke in Kombination mit
modalen Funktionen auf, vgl. on otkroet ljuboe okno ‚er öffnet dir jedes Fenster‘.
Die Tempusfunktion ‚Zukunft‘ (siehe Dalewska-Greń 1997, 374 ff.; Breu 2000, 29 f.)
wird in der Nord-Isoglosse getrennt nach Aspekten synthetisch mit dem perfektiven
Präsens (zakrojut ‚man wird schließen‘) und analytisch mit dem Hilfsverb für ‚sein‘
ausgedrückt. Das Inhaltsverb ist ein imperfektives Infinitiv (budut zakryvat’ ‚man wird
schließen‘), wobei das Suffix {-l-} im Polnischen alternativ neben dem Infinitiv gebraucht wird, im Sloven. statt des Infinitivs (hier auch mit perfektivem Aspekt). In der
Süd-Isoglosse wird eine analytische Form mit den Nachfolgern von urslavischen
*chßtěti ‚ ‚wollen‘ gebildet, und zwar mit Verben beider Aspekte, im Serbokroatischen
im Infinitiv (im Serbokroatischen auch mit da C Präs.) im Bulgarischen und Makedonisch im Präsens, vgl. bulg. šte dam pf/davam ipf ‚ich werden geben‘.
Die Vorzukunft wird u. a. im Russischen und Polnischen, in der Süd-Isoglosse im
Nebensatz durch das perfektive Präsens bedient, daneben gibt es in der Süd-Isoglosse
ein eigenes analytisches Futurum exactum aus der Futurform des Hilfsverbs für ‚sein‘
und Vollverb mit {-l-}.
Das ehemalige urslavische Perfekt mit der präsentischen Form des Hilfsverbs für
‚sein‘ und dem Vollverb mit aktivem Partizipialsuffix {-l-} hat seine Funktion ‚Vorgegenwart‘ generell behalten. Es ist mit beiden Aspekten kombinierbar, hat sich im Norden aber ausgedehnt auf das narrative Paradigma (den entsprechenden Gesetzmäßigkeiten der Grammatikalisierung folgend). Formal wurden in dieser Entwicklung verschiedene Wege gegangen: Im Nordosten ist durch den Schwund des präsentischen
Hilfsverbs für ‚sein‘ eine synthetische Form mit Endungen für Numerus und Genus
entstanden, vgl. pisa-l-a ‚hat geschrieben/schrieb-fem‘. Im Polnischen ergab die Klitisierung eine schriftliche synthetische Form, z. B. pisałam ‚habe geschrieben/schrieb-fem‘,
die anderen nordwestlichen und südlichen Sprachen haben die analytische Form (auch
in der Schrift) konserviert, abgesehen von der Tilgung des Hilfsverbs in der 3. Person
in einigen Sprachen (Polnisch, Tschechisch, Slovakisch, Makedonisch). Zum Perfekt in
der Nord-Isoglosse siehe Tommola 2000.
In maked. Substandards (Dalewska-Greń 1997, 381) und solchen des Nordens gibt
es eine (neue) Resultativ-Variante des Perfekts nach der Struktur ‚ich habe getan‘, vgl.
maked. imam vlezeno ‚ich bin reingegangen‘.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
25
26
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
7.3. Die Tempora des narrativen Paradigmas
Die Ausdehnung des alten slavischen Perfekts auf die Funktionen des narrativen Paradigmas zu einem „Globalpräteritum“ als einzigem Tempus für die Vorgegenwart und
das narrative Paradigma ist ein Spezifikum der Nord-Isoglosse. Diese Expansion ging
einher mit dem Verlust der synthetischen narrativen Aspekttempora Aorist und Imperfekt, ein Prozess, der aktuell im Serbokroatischen zu beobachten ist.
Wie das Perfekt ist auch das Globalpräteritum mit beiden (derivationalen) Aspekten kombinierbar, ebenso Aorist und Imperfekt. Letztere sind formale Aspekttempora
der Süd-Isoglosse (und des Sorbischen), mit Aorist: ‚perfektiv C Vergangenheit‘ und
Imperfekt: ‚imperfektiv C Vergangenheit‘.
Das (analytische) Plusquamperfekt gibt es nach Dalewska-Greń (1997, 372) außer
im Russ. in allen slavischen Sprachen. Ihre eigenen auf das Stilistische bezogenen Einschränkungen sind u.a insofern zu verstärken, als dieses Tempus z. B. im Polnischen
auch in der Schriftsprache seit dem 20. Jh. nicht mehr verwendet wird. Die Tendenz
zum Schwund ist in der Nord-Isoglosse weit fortgeschritten. Für die Vorvergangenheit
steht jedoch neben dem Globalpräteritum auf {-l-} ein meist vorangestelltes perfektives
Adverbialpartizip zur Verfügung, vgl. ubrav komnatu, ona ušla ‚als sie das Zimmer
aufgeräumt hatte, ging sie‘.
Die narrative Zukunft wird vorwiegend mit einer Futurform im Indikativ wiedergegeben, im Bulgarischen und Makedonischen gibt es eigene Tempora, ein Futurum
praeteriti in beiden Sprachen und ein Futurum exactum praeteriti im Bulgarischen.
Zum slavischen Präteritum siehe Breu (2000, 30 f.); einen Forschungsüberblick zur
Temporalität im Slavischen gibt Kosta (1995).
8. Tempus und Aspekt im Text
Während in den voraufgegangenen Abschnitten Tempora und Aspekte als einzelne
Einheiten jeweils in ihrer Umgebung betrachtet wurden, sollen im folgenden einige
Funktionen der Kombination von mehreren Prädikaten mit ihren Aspekten und Tempora angesprochen werden.
Hinsichtlich der temporalen Kohärenz zwischen aktionalen Situationen sind die
deiktische und die taxische (siehe Lehmann 1998b) sowie die kompletive („relative“,
vgl. z. B. Padučeva 1996, 292 f.) Orientierung zu unterscheiden. Bei der kompletiven
Orientierung ist der temporale Lokalisator ein im übergordneten Satz genannter
Sprech-, Wahrnehmungs- oder Denkakt, der meist durch ein Verb (Verbum dicendi,
sentiendi oder cogitandi) ausgedrückt wird, vgl. Ona skazala / dumala, čto on sidel /
sidit / budet sidet’ doma. ‚Sie sagte / meinte, er habe gesessen / sitze / werde sitzen zu
Hause‘. Die Redeerwähnung (direkte/indirekte Rede) ist eine der Unterkategorien der
kompletiven Orientierung. Die Tempora und die chronologischen Relationen zum Akt
des übergeordneten Inhaltsworts in der indirekten Rede entsprechen im Slavischen
denen der direkten Rede. Eine modale Markierung wird nur im Bulgarischen und
Makedonischen durch den Renarrativ vorgenommen, der die Verantwortlichkeit für
die Aussage einem anderen, nicht genannten Sprecher zuschreibt.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
Die anderen nicht deiktischen chronologischen Relationen zwischen zwei und mehr
aktionalen Situationen werden in der Slavistik meist als t axi s c h bezeichnet. Sie sind
textlinguistisch das Analogon der anaphorischen Relationen bei den Nominalgruppen.
Eine taxische morphologische, damit explizite Funktion haben die Adverbialpartizipien und die traditionell (nicht hier) als „relativ“ bezeichneten Tempora der Vorvergangenheit, Vorzukunft und narrativen Zukunft. Die anderen taxischen Relationen
beruhen auf Inferenzen, sind also implizit, und erscheinen in allen Redetypen. Darunter werden hier die drei Arten von Textpassagen verstanden, in denen ein temporales
Paradigma ohne Unterbrechung angewendet wird. So wird z. B. bei omnitemporaler
Tempus-Aspektverwendung in konditionalen und temporalen zusammengesetzten Sätzen bei Ungleichzeitigkeit für das Prädikat des Nebensatzes in vielen slavischen Sprachen die perfektive Präsensform verwendet, vgl. rannej vesnoj, kogda sojdët pf sneg i
podsoxnet pf ... trava, v stepi načinajutsja ipf vesennie pali (Forsyth 1970, 184).
Taxische Relationen sind besonders relevant und eine konstitutive Voraussetzung
für die narrative Rede. Hier ergeben sich ⫺ episodische Vergangenheit vorausgesetzt ⫺
aus den Aspektkonstellationen folgende, von Koschmieder (1934) erstmals beschriebenen, Arten der ak tio n a len C hr onol ogi e (deutsch jeweils ‚sie weinte und legte
sich schlafen‘):
Sequenz (pf. C pf.), ona poplakala pf i legla spat’ pf
Parallelismus (ipf. C ipf.), ona plakala ipf i ložilas’ ipf spat’
Inzidenz (ipf. C pf. oder umgekehrt, wobei das imperfektive Verb den „Hintergrund“
und das perfektive Verb den „Eintritt“ der Handlung markieren): ona plakala ipf i
legla spat’ pf.
Diese chronologischen Relationen ergeben sich inferenziell bei Vergangenheit aus
den jeweiligen aktionalen Gestalten, die nacheinander rezipiert werden. Wenn der Rezipient sich ein Ereignis, also eine einphasige, damit abgeschlossene Situation im psychischen Jetzt vorstellt und die nächste Situation ebenfalls einphasig ist, entnimmt er
den beiden Prädikaten, dass ihre Situationen nacheinander stattfinden, dass sie eine
Sequenz bilden, es sei denn, der Text liefert eine gegenteilige Information. Ist die im
„Jetzt“ aufgenommene Situation nicht abgeschlossen, und die im Text darauf folgende
auch nicht, schließt der Rezipient (nicht bewusst), dass sie untereinander gleichzeitig
sind, einen Parallelismus bilden.
Die zweite Situation kann aber durch bestimmte Faktoren, z. B. durch ein Wort für
‚danach‘, als ungleichzeitig angezeigt werden (oni slušali ipf radio, potom igrali ipf v šaxmaty ‚sie hörten Radio, danach spielten sie Schach‘). Dann ist der aktional-chronologische Default aufgehoben und die kontextuelle Chronologie setzt sich durch. Im Tschechischen und anderen Sprachen der West-Isoglosse kann die Sequenz mit imperfektiven Verben nach a ‚und‘ auch ohne die Verwendung solcher expliziten chronologischen
Mittel, meist mit einer ingressiven Funktion, bezeichnet werden (siehe Ivančev 1961
und die Diskussion bei Dickey 2000, 203 ff.). Diese Verwendung des imperfektiven
Aspekts ist bereits von Ivančev (1961) als Aspektisoglosse in der gleichen arealen
Aufteilung wie bei Dickey erkannt worden.
Ganz allgemein gesehen ist der Aspekt nur einer der Faktoren, die für das Verstehen chronologischer Relationen eine Rolle spielen (siehe Lehmann/Hamburger Studiengruppe 1993), neben den Faktoren der Sachverhaltslogik, der Abfolge der Prädikate,
Temporallexik (siehe Born-Rauchenecker 2001) und/oder der lexikalische aktionale
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
27
28
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
Funktion (siehe 4.3). Letztere ist als Ersatz für den Aspekt wirksam, wenn dessen
Funktionen der aktionalen Chronologie außer Kraft sind, wie im imperfektiven Präsens. Die narrative Verwendung des ipf. Präsens, z. B. in Direktreportagen, Szenanweisungen oder dem historischen Präsens, zeigt die gleichen chronologischen Effekte der
aktionalen Chronologie wie der perfektive und imperfektive Aspekt in der Vergangenheit oder dem im Präteritum „aspektlosen“ Deutschen: Sequenz, mit den Situationstypen Ereignis C Ereignis: Ona otkryvaet pis’mo i saditsja oder deutsch ‚Sie öffnete den
Brief und setzte sich.‘ Parallelismus, mit den Situationstypen Verlauf C Verlauf: Ona
xodit po komnate i rassmatrivaet snimki oder deutsch ‚Sie ging im Zimmer herum und
betrachtete Photos‘. Es ist das Privileg von Aspektsprachen wie den slavischen Sprachen, dass diese chronologischen Relationen auch mit grammatischen Mitteln ausgedrückt werden können, also unabhängig davon, welche aktionale Gestalt die lexikalischen Bedeutung impliziert.
Die aktionale Chronologie generiert somit, zusammen mit anderen Faktoren, die
Beziehungen im episodischen Zeitnetz eines Textes, natürlich vor allem eines erzählenden Textes. Es ist das episodische Zeitnetz, von dem gesagt werden kann, es bilde den
narrativen Vordergrund (die oben erwähnte „Hintergrund-Eintritt“-Konstellation in
einer Inzidenz ist eine Schichtung innerhalb dieses episodischen Textvordergrunds).
Den Hintergrund bilden die nichtepisodischen Situationen mit einem eigenen Zeitnetz.
Mit dieser funktionalen Schichtung wäre die grobe formale Zuordnung der Aspekte
zum fore-/backgrounding bei Hopper (1979) zu präzisieren, die viel Erfolg in der textlinguistischen Diskussion zum Aspekt hatte (vgl. dazu Forschungsüberblick und Anwendung bei Weiss 1997), die jedoch zu Recht von Dickey (2000, passim) kritisiert
wird. Wenn es um den Aspekt in narrativer Rede geht, ist die gegenwärtig maßgebliche
theoretische Arbeit die von Padučeva (1996).
9. Literatur (in Auswahl)
Anstatt, Tanja (2003): „Das Verbalpräfix po- im Polnischen“. // Zeitschrift für slavische Philologie
62/2. 359⫺385.
Anstatt, Tanja (Im Druck): Aspekt, Argumente und Verbklassen im Russischen. München.
Barnetová, Vilma (1979): Russkaja grammatika. I⫺II. Praha.
Bartnicka, Barbara (2004): Grammatik des Polnischen. München.
Bondarko, A. V. (1971): Vid i vremja russkogo glagola. Značenie i upotreblenie. Moskva.
Bondarko, A. V. (Red.) (1989): Teorija funkcional’noj grammatiki: Vvedenie. Aspektual’nost’. Vremennaja lokalizovannost’. Taksis. Leningrad.
Born-Rauchenecker, Eva (2001): Temporale Verbsamantik und Kohärenz im Russischen. München.
Breu, Walter (1994): „Interactions between Lexical, Temporal, and Aspectual Meanings“. // Studies in Language 18/. Amsterdam. 23⫺44.
Breu, Walter (2000): „Zur Position des Slavischen in einer Typologie des Verbalaspekts. Form,
Funktion, Ebenenhierarchie und lexikalische Interaktion“. // Breu, Walter (ed.). Probleme der
Interaktion von Lexik und Aspekt (ILA). Tübingen.
Brüggemann, Natalja (2003): „Verbderivate mit po- und die zeitliche Begrenzung der Situation
im Russischen“. // Entwicklungen in slavischen Sprachen 2. München. 261⫺280.
Čertkova, M. Ju. (1996): Grammatičeskaja kategorija vida v sovremennom russkom jazyke.
Moskva.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
Comrie, Bernard (1976): Aspect. Cambridge et al.
Dahl, Östen (1985): Tense and Aspect Systems. Oxford.
Dalewska-Greń, Hanna (1997): Je˛zyki słowiańskie. Warszawa.
Dešerieva, G. I. (1976): „K probleme opredelenija kategorii glagol’nogo vida“. // Voprosy jazykoznanija 1. 73⫺81.
Dickey, Stephen M. (2000): Parameters of Slavic Aspect: a cognitive approach. Stanford.
Dickey, Stephen M./Hutcheson Julie (2003): „Delimitative Verbs in Russian, Czech and Slavic“. //
Maguire, Robert A./ Timberlake, Alan (eds.). American Contributions to the 13 th International
Congress of Slavists. Volume 1. Bloomington. 23⫺36.
Forsyth, John (1970): A Grammar of Aspect. Usage and Meaning in the Russian Verb. London.
Galton, Herbert (1976): The Main Functions of the Slavic Verbal Aspect. Skopje.
Glovinskaja, M. Ja. (2001): Mnogoznačnost’ i sinonimija v vido-vremennoj sisteme russkogo glagola. Moskva
Guiraud-Weber, Marguerite (2004): Le verbe russe: temps et aspect. Aix-en-Provence.
Hansen, Björn (1996): Zur Grammatik von Referenz und Episodizität. München.
Holvoet, Axel (1989): Aspekt a modalność w je˛zyku polskim na tle ogólnosłowiańskim. Wrocław
et al.
Hopper, Paul J. (1979): „Aspect and foregrounding in discourse“. // Givon, Talmy (ed.). Discourse
and syntax. Amsterdam. 213⫺241.
Isačenko, A. V. (1968): Die russische Sprache der Gegenwart. Formenlehre. München.
Ivančev, Svetomir (1971): Problemi na aspektualnostta v slavjanskite ezici. Sofija.
Karolak, Stanislaw (1992): „Aspekt a Aktionsart w semantycznej strukturze je˛zyków słowiańskich“. // Z polskich studiów slawistycznych 8. 93⫺99.
Karolak, Stanislaw (1997): „Vid glagol’noj semantemy i vidovaja derivacija“. // Karolak, Stanislaw
(ed.). Semantika i struktura slavjanskogo vida 2. Kraków.
Kempgen, Sebastian (2000): „Wortstämme und grammatische Kategorien ⫺ eine Polemik“. //
Slavistische Linguistik 1999. München. 147⫺154.
Koschmieder, Erwin (1934): Nauka o aspektach czasownika polskiego w zarysie. Proba syntezy.
Wilno.
Kosta, Peter (1995): „Zur Forschungsgeschichte und Forschungssituation bezüglich der Temporalität in slavischen Sprachen“. // Jachnow, Helmut/Wingender Monika (eds.). Temporalität und
Tempus: Studien zu allgemeinen und slavistischen Fragen. Wiesbaden. 297⫺365.
Kozinceva, N. A. (1991): Vremennaja lokalizovannost’ dejstvija i eë svjazi s aspektual’nymi modal’nymi i taksisnymi značenijami. Leningrad.
Kratzel, Günter (1971): Grundzüge des Aspektgebrauchs in der russischen Sprache der Gegenwart. Hamburg.
Kretschmer Anna (1995): „Zum Wesen des Tempus in slavischen Sprachen“. // Jachnow Helmut/
Wingender Monika (eds.). Temporalität und Tempus: Studien zu allgemeinen und slavistischen
Fragen. Wiesbaden. 129⫺156.
Krifka, Manfred (1989): Nominalreferenz und Zeitkonstitution. München.
Laziński, Marek (1998): „Die spezifischen Bedeutungen des imperfektiven Aspekts und die lexikalische Bedeutung polnischer Mitteilungsverben“. // Giger, Markus/Menzel, Thomas/Wiemer,
Björn (eds.). Lexikologie und Sprachveränderung in der Slavia. Oldenburg. 115⫺131.
Lehmann, Volkmar (1988): „Der Aspekt und die lexikalische Bedeutung des Verbs“. // Zeitschrift
für slavische Philologie 48/1. Heidelberg. 170⫺181.
Lehmann, Volkmar (1989): „Pragmatic functions of aspects and their cognitive motivation (Russian aspects in the context of the imperative and the infinitive).“ // Larsson Lars-Gunnar
(ed.). Proceedings of the Second Scandinavian Symposium on Aspectology. Uppsala. 77⫺88.
Lehmann, Volkmar (1992a): „Grammatische Zeitkonzepte und ihre Erklärung“. // Kognitionswissenschaft 2. Berlin etc. 156⫺170.
Lehmann, Volkmar (1992b): „Le prétérit déictique et le prétérit narratif en polonais moderne“. //
Guiraud-Weber, Marguerite (ed.). Linguistique et Slavistique (Mélanges Paul Garde). Aix-enProvence/Paris. 545⫺556.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
29
30
VII. Modifikation der Proposition und grammatische Kategorien im slavischen Satz
Lehmann, Volkmar (1993): „Die russischen Aspekte als gestufte Kategorien“. // Die Welt der
Slaven 38/2, München. 265⫺297.
Lehmann, Volkmar (1994): „Episodizität“. // Slavistische Linguistik 1993. München. 153⫺179.
Lehmann, Volkmar (1995): „Al’ternacija akcional’nyx funkcij russkogo glagola“. // Karolak, Stanislaw (ed.). Semantika i struktura slavjanskogo vida I. Krakow. 113⫺130.
Lehmann, Volkmar (1996): „Die Rekonstruktion von Bedeutungsentwicklung und -motiviertheit
mit Funktionalen Operationen“. // Slavistische Linguistik 1995. München. 255⫺ 289.
Lehmann, Volkmar (1997): „Grammatičeskaja derivacija u vida i tipy glagol’nyx leksem“. // Čertkova M. Ju. (Red.). Trudy aspektologičeskogo seminara filologičeskogo fakul’teta MGU imeni
M. V. Lomonosova. Tom 2. Moskva. 54⫺68.
Lehmann, Volkmar (1998a): „Eine Kritik der progressiven Funktion als Kriterium aspektueller
Verbkategorisierung“. // Die Welt der Slaven 43. 296⫺306.
Lehmann Volkmar (1998b): „Zeitliche Kohärenz“. // Berger, Tilman/Raecke, Jochen (eds.). Slavistische Linguistik 1997. München. 101⫺123.
Lehmann, Volkmar (1999): „Der Aspekt“. // Jachnow, Helmut (ed.). Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grenzdisziplinen. Wiesbaden. 214⫺242.
Lehmann, Volkmar (2001): „Lexiko-grammatische und grammatische Kategorien“. // Slavistische
Linguistik 2000. München. 105⫺121.
Lehmann, Volkmar (2003): „Grammatische Derivation (Aspekt, Genus verbi, Komparation, Partizip und andere Phänomene zwischen Flexion und Wortbildung)“. // Berger, Tilman/Gutschmidt, Karl (eds.). Funktionale Beschreibung slavischer Sprachen. Beiträge zum XIII. Internationalen Slavistenkongress in Ljubljana. München. 139⫺162.
Lehmann, Volkmar (2006): „Kognitivnaja rekonstrukcija i leksikografija russkogo vida: profilirovanie i drugie funkcional’nye operacii“. // Lehmann, Volkmar (Red.). Glagolnyj vid i leksikografija, (Semantika i struktura slavjanskogo vida 4). München.
Lehmann, Volkmar/Hamburger Studiengruppe (1993): „Interaktion chronologischer Faktoren
beim Verstehen von Erzähltexten“. // Slavistische Linguistik 1992. München. 157⫺196.
Leinonen, Marja (1992): Russian aspect, temporal’naja lokalizacija and definiteness/indefiniteness. Helsinki.
Maslov, Ju. D. (1948): „Vid i leksičeskoe značenie glagola v sovremennom russkom literaturnom
jazyke“. // Maslov, Ju. D. Očerki po aspektologii. Leningrad. 48⫺65.
Maslov Ju. D. (1959): „Glagol’nyj vid v sovremennom bolgarskom literaturnom jazyke (značenie
i upotreblenie)“. // Voprosy grammatiki bolgarskogo literaturnogo jazyka. Moskva. 231⫺275
und 307⫺312.
Maslov, Ju. S. (1984): Očerki po aspektologii. Leningrad.
Mehlig, Hans R. (1995): „Wesen und Funktion des Präsens im Slavischen“. // Jachnow, Helmut/
Wingender, Monika (eds.). Temporalität und Tempus. Wiesbaden. 176⫺198.
Mønnesland, Svein (1984): „The Slavonic frequentative habitual“. //de Groot, Casper/Tommola,
Hannu (eds.). Aspect bound. Dordrecht: 53⫺76.
Padučeva, E. V. (1996): Semantičeskie issledovanija: Semantika vremeni i vida v russkom jazyke.
Semantika narrativa. Moskva.
Petruxina, E. V. (2000): Aspektual’nye kategorii glagola v russkom jazyke v sopostavlenii s češskim,
slovackim, pol’skim i bolgarskim jazykami. Moskva.
Piernikarski, Cezar (1969): Typy opozycji aspektowych czasownika polskiego na tle słowiańskim.
Wrocław.
Pöppel, Ernst (1987): Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung. München.
Rassudova, O. P. (11968/31982): Upotreblenie vidov glagola v sovremennom russkom jazyke.
Moskva.
Reichenbach, Hans (1947): Elements of Symbolic Logic. London/New York.
Ruhnau, Eva (1992): „Zeit ⫺ das verborgene Fenster der Kognition“. // Kognitionswissenschaft.
Berlin et al. 171⫺179.
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
38. Aspekt und Tempus im Slavischen
31
Schlegel, Hans (1999): Zur Rolle der Terminativität/Aterminativität (T/AT) im Aspekt- und Aspektbildungssystem der russischen Sprache der Gegenwart: ein Beitrag zur Theorie der Aspektualität. München.
Schlegel, Hans (2002): Bildung, Bedeutung und Gebrauch des russischen Verbalaspekts. Teil 1.
München.
Schuyt, Roel (1990): The Morphology of Slavic Verbal Aspect: A Descriptive and Historical Study.
Amsterdam/Atlanta.
Šlosar, Dušan (1981): Slovotvornyj vyvoj českeho slovesa. Brno.
Stunová, Ana (1993): A contrastive study of Russian and Czech aspect: invariance vs. discourse.
Amsterdam.
Švedova, N. Ju. (Red.) (1980): Russkaja grammatika. Band I. Moskva.
Thelin, Nils B. (ed.) (1990): Verbal Aspect in Discourse. Amsterdam.
Tommola, Hannu (2000): „On the perfect in North Slavic“. // Dahl, Östen (ed.). Tense and Aspect
in the Languages of Europe. 441⫺478.
Tulving, Endel (1972): „Episodic and semantic memory“. // Tulving, Endel/Donaldson, Wayne
(eds.). Organisation and memory. New York. 381⫺403.
Vendler, Zeno (1957): „Verbs and Times“. // The Philosophical Review 66. 143⫺160.
Weinrich, Harald (1964): Tempus: Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart etc.
Weiss, Daniel (1995): „Die Rolle der Temporalität in der Textkonstitution“. // Jachnow, Helmut/
Wingender, M. (eds.). Temporalität und Tempus. Wiesbaden. 245⫺272.
Wiemer, Björn (1997): Diskursreferenz im Polnischen und Deutschen. Aufgezeigt an der Rede einund zweisprachiger Schüler. München.
Zaliznjak, A. A./Šmelëv, A. D. (2000): Vvedenie v russkuju aspektologiju. Moskva.
Volkmar Lehmann, Hamburg (Deutschland)
HSK - Slavische Sprachen
MILES, gesp. unter: HSKSLA$U38/27-11-08 10:42:44
Herunterladen