Pressedienst Forschung Aktuell 4/2007

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Forschung Aktuell 4/2007
Tübingen, 18. Mai 2007
Physik
In der Welt der Quantenmechanik auf der Ebene von Atomen und noch viel winzigeren
Teilchen gibt es Effekte, die der Welt der Alltagserfahrung völlig widersprechen. Den Übergang zwischen den beiden Welten beschreibt die so genannte Dekohärenztheorie. Der Tübinger Physiker Dr. Peter Sonnentag hat ihre grundsätzliche Richtigkeit in Experimenten
bewiesen.
Der Übergang von der Quantenmechanik in die Alltagswelt
Tübinger Physiker beweist experimentell die Dekohärenztheorie in ihren Grundzügen
Die Quantenmechanik ist eine physikalische Theorie, die beschreibt, wie sich Materie auf
der Ebene von Atomen und ihrer noch kleineren Bestandteile verhält. Sie wurde hauptsächlich in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt. Die Begründer der Quantenmechanik waren neben einigen anderen vor allem die Physiker Werner Heisenberg und Erwin
Schrödinger. Doch daneben blieb die klassische Physik bestehen. Zwar lassen sich Vorgänge in mikroskopisch kleinen Dimensionen hervorragend durch die Quantenmechanik
beschreiben und vorherberechnen. Doch der Alltagserfahrung, also dem Verhalten
makroskopischer Körper und damit der klassischen Physik, widersprechen die quantenmechanischen Phänomene. Für diese beiden Welten interessiert sich Dr. Peter Sonnentag
vom Institut für Angewandte Physik der Universität Tübingen. Er hat die Vorhersagen der
so genannten Dekohärenztheorie, die den Übergang von der Quantenmechanik zur Alltagserfahrung beschreibt, durch Experimente überprüft und konnte sie in ihren Grundzügen
bestätigen. Für seine Doktorarbeit, die er in der Arbeitsgruppe von Prof. Franz Hasselbach
durchgeführt hat, hatte Sonnentag bereits im vergangenen Juli den Dr.-Friedrich-FörsterPreis für Nachwuchs-Physiker erhalten. Die Forschungsergebnisse sind jetzt online in den
Physical Review Letters veröffentlicht.
„Die Widersprüche zwischen der Quantenmechanik und der praktischen Erfahrung sind den
Wissenschaftlern selbst schon früh aufgefallen. Das zeigt das bekannte Gedankenexperiment von Schrödingers Katze, die bei quantenmechanischer Betrachtung gleichzeitig lebendig und tot sein könnte“, sagt Peter Sonnentag. Der Physiker Schrödinger stellte sich
vor, dass eine Katze zusammen mit einem radioaktiven Stoff in einem Kasten eingesperrt
ist. Ständig wird mit Hilfe eines Geigerzählers gemessen, ob gerade ein Atom zerfällt.
Wenn ja, wird über den Ausschlag des Geigerzählers ein Hammer aktiviert, der ein Gefäß
mit Blausäure zertrümmert – die Katze ist tot. „Das Absurde daran ist, dass Atome der
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Verantwortlich für diese Ausgabe: Janna Eberhardt
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-2Quantenmechanik zufolge nicht einfach ‚zerfallen‘ oder aber ‚nicht zerfallen‘ sind, sondern
sich auch in Überlagerungszuständen aus diesen beiden Möglichkeiten befinden können –
man kann dann nur Wahrscheinlichkeiten angeben, mit denen das Atom zerfallen ist. Dadurch ist aber auch das gesamte System in einem Überlagerungszustand, in dem die beiden Möglichkeiten ‚Katze tot’ und ‚Katze lebendig’ gleichzeitig enthalten sind. Der Alltagserfahrung widerspricht ein solcher Zustand“, sagt Sonnentag. Der Widerspruch in Schrödingers Gedankenexperiment lässt sich durch die Dekohärenz auflösen.
Die Dekohärenz beschreibt die Entstehung klassischer Eigenschaften – also der Welt, in
der es eindeutige Zustände wie ‚tot’ und ‚lebendig’ gibt – aus einem Quantensystem. Das
klassische Verhalten makroskopischer Objekte entsteht durch unvermeidbare, nicht rückgängig zu machende Wechselwirkungen des Quantensystems mit seiner Umgebung. „Ziel
der Dekohärenztheorie, an der schon vor 30 Jahren geforscht wurde, ist zu klären, wie
klassische Phänomene zustande kommen, wenn doch die Gesetze der Quantenmechanik
überall gelten sollen“, erklärt Peter Sonnentag. Die Richtigkeit der Dekohärenztheorie hat er
nun exemplarisch an einem Elektron bewiesen. Dazu hat er zunächst gezeigt, dass ein Elektron, das von der Umgebung völlig isoliert ist, das heißt, nicht mit ihr wechselwirkt, sich
gemäß der Quantenmechanik verhält. „Dafür bietet man dem Elektron zwei Wege an, auf
denen es laufen kann. Die Quantenmechanik besagt, dass das Elektron wie eine Welle
gleichzeitig beide Wege nimmt. Das Elektron befindet sich dann in einem Überlagerungszustand ähnlich wie bei Schrödingers Katze“, sagt Sonnentag. In diesem Fall tritt auf einem
Bildschirm dort, wo sich die beiden Wege wieder treffen, Interferenz auf. „Das kann man
vergleichen mit einer Wasserfläche, auf die an zwei Stellen jeweils ein Wassertropfen fällt.
Dabei entstehen Wellen, die sich ausbreiten. Je nachdem, wie Wellenberge und Wellentäler aufeinandertreffen, kommt es zu einer Verstärkung oder einer Abschwächung. Auf dem
Bildschirm zeigt sich ein Streifenmuster – Physiker sprechen von Interferenz. Da bei uns
immer nur ein einzelnes Elektron im Interferometer ist, kann man das sich ergebende Streifenmuster eigentlich nur erklären, wenn man annimmt, dass das Elektron gleichzeitig beide
Wege nimmt.“
Die klassischen Teilcheneigenschaften des Elektrons entstehen im vorliegenden Experiment gemäß einem Vorschlag der theoretischen Physiker James R. Anglin und Wojciech H.
Zurek dadurch, dass die beiden Wege des Elektrons über eine Platte mit hohem elektrischen Widerstand geführt werden und mit dieser ‚Umgebung‘ wechselwirken. Das über die
Platte fliegende negativ geladene Elektron erzeugt nämlich auf deren Oberfläche eine positive Ladung, die sich mit dem Elektron bewegt. Es entstehen Ströme in der Platte, die einen
Widerstand erfahren und die Platte lokal erwärmen. „Wenn die beiden Wege, die das Elektron nehmen kann, gut voneinander getrennt sind, lässt sich im Prinzip feststellen, wo die
Platte ein wenig erwärmt ist – dann würde man den Weg des Elektrons kennen“, erklärt
Sonnentag. Wenn aber die Weginformation verfügbar ist, verschwindet die Interferenz –
dann kommen die klassischen Eigenschaften des Elektrons zum Vorschein. Wie Anglin und
Zurek in ihrem Vorschlag schreiben, bedeutet die Wärmeentwicklung in der Platte eine Störung des „Elektronengases“ und der Gitterschwingungen der Atome. Der Quantenmechanik
zufolge braucht Sonnentag in seinen Experimenten die Erwärmung beziehungsweise die
Störungen in der Platte gar nicht direkt zu messen, es reicht schon, dass die Information
darüber, welcher Weg genommen wurde, prinzipiell verfügbar ist. „Durch die Wechselwirkung des Elektrons mit der Platte entsteht ein verschränkter Zustand. Betrachtet man das
gesamte System, bestehend aus Elektron und ‚Umgebung‘, so gilt für dessen Beschreibung
nach wie vor die Quantenmechanik. Das Teilsystem Elektron allein aber verhält sich, wenn
vollständige Dekohärenz eingetreten ist, scheinbar wie ein klassisches Teilchen“, sagt
Sonnentag.
Um eine möglichst starke Dekohärenz zu erhalten, hat er in seiner Doktorarbeit als Plattenmaterial wegen dessen hohen elektrischen Widerstands einen Halbleiter gewählt, eine
-3mit Phosphor dotierte Siliziumplatte. Im Experiment wird die Stärke der Dekohärenz in Abhängigkeit von zwei Größen gemessen, der Höhe der Elektronen über der Platte und dem
Abstand ihrer beiden Wege. Die Dekohärenz ist umso stärker, je näher die Elektronen an
der Platte vorbeifliegen und je weiter voneinander getrennt die Wege über der Platte verlaufen. Die zunehmende Stärke der Dekohärenz zeigt sich in einer Abnahme des Kontrasts
der Interferenzstreifen. So erhält man im Experiment direkt Bilder vom Übergang der Quantenmechanik zur klassischen Physik. Dieser Übergang vollzieht sich nicht abrupt, sondern
allmählich.
Dieses Experiment bestätigt, dass die grundlegenden Ideen der Dekohärenztheorie richtig
sind, und zeigt erstmals in Fotos den kontinuierlichen Übergang vom quantenmechanischen zum klassischen Verhalten. Eine unmittelbare Anwendung für seine Forschungen
sehe er derzeit nicht, so der Wissenschaftler, doch das Verständnis der Dekohärenz sei
wichtig nicht nur für die Grundlagenprobleme der Quantenmechanik, sondern auch für Anwendungen. Zum Beispiel für die Realisierung eines Quantencomputers, der sehr viel leistungsfähiger sein könnte als ein klassischer Computer: „Eines der Hindernisse beim Bau
eines Quantencomputers ist nämlich das in diesem Fall unerwünschte Auftreten von Dekohärenz“, erklärt Peter Sonnentag.
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Nähere Informationen:
Veröffentlichung: Physical Review Letters, Band 98, Nummer 20, Seite 200402. Peter Sonnentag und Franz Hasselbach: „Measurement of decoherence of electron waves and visualization of the quantum classical transition”. Im Internet: http://prl.aps.org/
Dr. Peter Sonnentag
Institut für Angewandte Physik
Auf der Morgenstelle 10
72076 Tübingen
Tel. 0 70 71/2 97 86 69
Fax 0 70 71/29 5093
E-Mail peter.sonnentag [at] uni-tuebingen.de
Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html
Schema des Dekohärenz-Experiments (von links nach rechts):
-4•
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•
•
Das Elektron, das von der Quelle (ganz links) kommt, hat zwei verschiedene Wege
zur Verfügung, um an einer bestimmten Stelle auf dem Bildschirm (ganz rechts) anzukommen – es kann auf beiden Seiten an dem negativ geladenen Metallfaden des
so genannten Möllenstedtschen Biprismas vorbeilaufen. Die beiden Wege des Elektrons werden dabei von einander weg gelenkt.
Der Quadrupol (die Anordnung aus den vier elektrisch geladenen Zylindern) lenkt sie
wieder aufeinander zu.
Bevor sie sich aber treffen, verlaufen sie gleichzeitig mit gewissem Abstand voneinander (Δx) in geringer Höhe (z) über einer Platte mit hohem Widerstand. Die influenzierten Ladungen der Elektronenwelle stören die Ladungen in der Platte. Die beiden
Wege der Elektronenwelle hinterlassen solche Störungen an verschiedenen Stellen
der Platte, somit ist die „Welcher-Weg-Information“ vorhanden.
Je geringer die Höhe z ist, mit der die Elektronenwelle über die Platte läuft, desto
stärker ist ihre Wechselwirkung mit den Elektronen in der Platte und die lokale Erwärmung der Platte. Eine stärkere Erwärmung unterhalb einem der beiden Wege
zeigt an, wo das Elektron gelaufen ist. Das Elektron bekommt Teilcheneigenschaften
– der Kontrast der Interferenzstreifen nimmt ab.
Diese Fotos zeigen den kontinuierlichen Übergang von Elektronen vom
quantenmechanischen zum klassischen Verhalten:
Die Elektroneninterferogramme zeigen die kontinuierlich zunehmende Dekohärenz mit
abnehmender Höhe z über der Platte. Das heißt: oben in den Bildern ist noch ein deutliches Interferenzmuster als Streifensystem zu erkennen, weil die Elektronen als Welle
beide Wege zugleich genommen haben, die Wege sich also überlagern.
Nach unten wird das Streifenmuster immer kontrastärmer, weil sich die Elektronen eher
wie Teilchen verhalten haben und sich die Wege nur noch partiell – bzw. bei totaler Dekohärenz gar nicht mehr – überlagern können.
-5Von Bild a bis h nimmt der Abstand Δx, welchen die beiden Wege des Elektrons beim
Überqueren der Platte voneinander haben, immer weiter zu. Auch dadurch wird die Dekohärenz stärker, da die Störungen in der Platte weiter auseinander liegen und somit
mehr „Welcher-Weg-Information“ vorhanden ist.
Dass der Kontrast der Interferenzstreifen von a bis h geringer wird, liegt außer an der
Dekohärenz aber auch daran, dass die endliche Ausdehnung der Elektronenquelle zu einer Verwaschung der Interferenzstreifen führt. Die Verwaschung wirkt sich umso stärker
aus, je kleiner der Streifenabstand ist (geringere Winkelkohärenz). Die Verbiegung des
Überlappungsbereichs der beiden Teilwellen (der breite ‚Fuß‘) direkt über der Platte
kommt durch elektrische Aufladungen von Staubpartikeln auf der Plattenoberfläche zustande. Dies beeinträchtigt die Aussagekraft der Messungen nicht, da in der Nähe der
Platte ohnehin nahezu vollständige Dekohärenz auftritt.
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