Der Einfluß konfuzianischen Denkens auf die Philosophie von Hans

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Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen
Aufklärung
HenriK JAeger, Trier / HildesHeim
Zusammenfassung
Als Christian Wolff im Jahr 1712 die „Klassischen Bücher des chinesischen Reiches“ in der Übersetzung von François Noël für sich entdeckte, begann hiermit
eine lebenslange intensive Auseinandersetzung mit den wichtigsten Texten der
konfuzianischen Tradition. Diese Lektüre inspirierte Wolff, im Jahr 1721 seine
Rektoratsrede „über die praktische Philosophie der Chinesen“ zu halten – eine
Rede, in der er die vollkommene Übereinstimmung seiner Philosophie mit dem konfuzianischen Denken begründete und damit eine Ethik, die nicht mehr an die Offenbarungsgewissheiten der jüdisch-christlichen Tradition gebunden war. Zieht man
in Betracht, dass Wolff in seiner Zeit der wirkmächtigste Philosoph in Europa war,
der die Weichen für die Philosophie der Aufklärung stellte, so ist eine genaue Untersuchung der konfuzianischen Wurzeln seines Werkes eine dringende Aufgabe
der Forschung. In diesem Aufsatz wird herausgearbeitet, wie gründlich sich Wolff
mit der chinesischen Philosophie beschäftigt hat und wie fruchtbar es ist, diese Beschäftigung aus verschiedenen Perspektiven weiter zu verfolgen.
Summary
In 1711 the „Sinensis Imperii libri Classici Sex“, a latin translation of the Confucian classics by Father François Noël SJ were published in Prague. Christian
Wolff, the most influential philosopher in the era of Early Enlightenment, began to
study this translation of the core texts of Confucian thought soon after its publication. The most important result of his study was Wolff’s „Lecture on the Practical
Philosophy of the Chinese“ held in 1721 at the University of Halle. In this lecture
Wolff tried to show the complete inner conformity of his philosophy with the Confucian tradition. Chinese Philosophy appeared as a new legitimation for an ethics
completely independent of any „revealed“ or „natural religion“. Wolff’s Chinese
background is rarely discussed in the field of the history of Enlightenment. This
paper aims to make a first step to fill this gap and to show that Chinese Philosophy had, in fact, an enormous impact on the way toward an enlightened modern
consciousness in Europe.
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Henrik Jäger
1. Einleitung
1.1. Konfuzius – eine Chinoiserie der Wolff ’schen Philosophie?
die Chinesen meinten nämlich, eine Theorie, die von der Praxis getrennt sei, verdiene
nicht den namen Philosophie; und sie wußten sehr wohl, daß ohne die Ausübung (exercitio) nicht einmal wahre Begriffe der moralischen dinge, geschweige denn die Fähigkeit zu handeln erworben werden kann.1
Als Christian Wolff 1721 seine Hallenser rektoratsrede „über die praktische
Philosophie der Chinesen“ hielt, ahnte er vermutlich noch nicht, welchen sturm
der entrüstung er mit dieser rede heraufbeschwören sollte und zu welch dramatischen entwicklungen sie führen würde. Zwei Jahre später musste er „bey strafe des stranges“ Preußen verlassen, er wurde in den Jahren nach 1721 in über
130 polemischen schriften wegen der rede angegriffen und abwechselnd als
Atheist, als spinozist, als Fatalist und als determinist beschimpft.2 doch inwieweit und in welcher Weise hing dieser wohl größte skandal der Universitätsgeschichte des 18. Jahrhunderts mit Wolffs Bezug auf die chinesische Philosophie
und geschichte zusammen? Hätte die rede denselben eklat verursacht, wenn
Wolff von einem anderen Thema ausgegangen wäre? Kann es sein, dass „Konfuzius“ für Wolff nur ein austauschbares modethema, eine exotische maske war?
Oder war es tatsächlich der Bezug auf Konfuzius, der zu dem eklat wesentlich
beigetragen hat? Aber welcher Aspekt konfuzianischer Philosophie kann es gewesen sein, der die gelehrten der Zeit in einen solchen Aufruhr versetzte?
solche Fragen sind in den letzten 280 Jahren weitgehend ausgeklammert worden. diese Ausklammerung muss aus zwei verschiedenen Perspektiven als eine
Forschungslücke bezeichnet werden: Aus sinologischer bzw. kulturgeschichtlicher Perspektive ist sie ein weiteres symptom der weitgehenden leugnung der
vielfältigen Wirkung chinesischer Philosophie auf die geistesgeschichte des 17.
und 18. Jahrhunderts. Aus philosophiegeschichtlicher sicht stellt sich die Frage,
ob diese Ausklammerung damit zu begründen ist, dass die Konfuzius-rezeption
Wolffs tatsächlich marginal war, was bedeuten würde, dass sich Wolff nur oberflächlich und ‚zufällig‘ mit Konfuzius beschäftigt hat. genau dies ist der eindruck, den man aus der insgesamt spärlichen Forschungsliteratur gewinnen
kann. Wenn jedoch gezeigt werden kann, dass dieser rezeption ein wesentliches
philosophisches Anliegen zu grunde lag, ein Anliegen, das sich aus den grund-
1 Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica (1721/26). Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, lat. / dt., übers. u. hg. v. m. Albrecht, Hamburg 1985, 209
(fortan zit. als: Albrecht, 209).
2 Vgl. norbert Hinske, „Wolffs stellung in der deutschen Aufklärung“, in: W. schneiders
(Hg.), Christian Wolff (1679–1754) – Interpretationen zu seiner Philosophie, Hamburg
1979, 306-320, bes. 315.
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
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fragestellungen Wolffs rekonstruieren lässt, dann handelt es sich bei der rede
um weitaus mehr als um eine Chinoiserie – sie ist dann ein wichtiges dokument
der Philosophie Wolffs und gleichzeitig ein einmaliges Zeugnis für eine möglichkeit, nicht-europäische Quellen für die Philosophie fruchtbar zu machen. in
diesem Aufsatz möchte ich vor allem diese zweite Perspektive herausarbeiten,
das heißt die grundfragestellungen Wolffs klären, durch die sich seine Offenheit
für die chinesische Philosophie erklären lässt.
1.2. Die „experimentelle Philosophie“ – der hermeneutische Rahmen der
Konfuzianismus-Rezeption Wolffs
die größte Herausforderung, vor die sich Wolff in seiner Zeit gestellt sah, bestand in der Ausarbeitung eines Vernunftbegriffes, der gleichermaßen den theoretischen und den praktischen Anforderungen, dem denken und dem Handeln
zur grundlage werden könnte. die suche nach der Begründung einer praktischen Philosophie im sinne einer philosophischen Praxis war eine wesentliche
Voraussetzung für die Herausbildung der Philosophie als einer disziplin, die
vollständig unabhängig von der Theologie zu verstehen und auch zu praktizieren
ist. die suche nach der Vollkommenheit (im ethischen sinne) wurde somit durch
das naturgesetz begründet und nicht mehr durch den glauben an die Offenbarung.3 Auf das gebiet des ethischen übertragen bedeutet dies, dass Wolff – ent-
3 eines der zentralen (durch leibniz beeinflussten) Themen Wolffs war die „suche nach
Vollkommenheit“ (quaere perfectionem). gerade die Begründung dieser Vollkommenheitslehre im gesetz der natur war es vermutlich, die Wolff zu seinen psychologischen studien angeregt haben mag: Wolff versuchte, durch die Beobachtung der menschlichen natur und der Bewegungen der seele die gesetzmäßigkeiten herauszufinden, die den
menschen zum guten hin bewegen oder ihn davon abhalten. Besonders aufschlussreich für
dieses Thema ist sein Werk über die praktische Philosophie (Christian Wolff, Philosophia
Practica Universalis. Bd. ii, Frankfurt 1739, bes. §§ 23 ff., 45 ff.). in diesem Werk lassen
sich viele Parallelen zu den ersten beiden der „Vier Bücher“ (Adultorum Schola [Daxue]
und Immutabile Medium [Zhongyong], ausführlicher dazu u. s. 15) finden. Als ein besonders anschauliches Beispiel hierfür mag noëls Übersetzung aus Kap. 23 des Zhongyong
dienen: „Jam vero qui maximam illam & verae scientiae & verae virtutis perfectionem non
possidet, adeoque summam totius mundi veritatem nondum assecutus est, quid (forsan dices)
debet agere, ut hanc obtineat? hic debet omnes illos animi motus, qui ad unam particularem virtutem eum impellunt, accuratissime explere, ita ut nullum istius virtutis motum in
se sentiat, quem non expleat. […] tunc illarum omnium virtutum veritas, seu potius veri
habitus, in animo efformabuntur, qui multiplicati ultro se prodent exterius, in actus externos erumpent, totamque corporis speciem cohonestabunt; deinde successu temporis magis
ac magis clarescent, magnosque undequaque claritatis suae radios emittent. His virtutum
radiis commoti alii, sensim sua vitia deferent, mores immutabunt, […] unam vitae honestatem sectabuntur.“ (François noël, Sinensis Imperii libri classici sex, nimirum Adultorum
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Henrik Jäger
gegen zahlreichen gegenteiligen einschätzungen seit Kant – ein denker war, der
den Prozess, die Entwicklung in den mittelpunkt seines denkens stellt und nicht
ein fertiges ergebnis. nur in diesem Zusammenhang kann man auch Wolffs definition der Philosophie als „einer Wissenschaft von allem, was möglich ist“4
sinnvoll interpretieren und weiterdenken. Wolffs Versuch, die ethik auf das naturgesetz zu gründen, ist zwar sicher nicht allein auf die rezeption chinesischer
Philosophie zurückzuführen, doch es ist zu vermuten, dass diese rezeption eine
Art Katalysatorfunktion hatte: eine jahrtausendealte Tradition gelebter ethik auf
der grundlage der Vernunft bestärkte Wolff in seinem methodischen Verzicht auf
jeden religiösen Überbau.
die Bedeutung des experimentum als des entscheidenden Bindeglieds zwischen
erfahrung und Vernunft, der Versuch, menschliche entwicklungsgesetze systematisch zu erforschen und diese gerade nicht dogmatisch zu begründen – beide
Ansätze können in ihrer modernität und Aktualität nicht hoch genug bewertet
werden. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie sich jüngst die grenzen von naturbetrachtung und (ethischer) selbstreflexion in den Bereichen der Quantenphysik
und neurobiologie weitgehend aufgelöst haben, dann wird klar, dass Wolffs Vision einer einheit von experimenteller Philosophie und moralphilosophie zwar
im detail auf dem erkenntnisstand seiner Zeit „zurückgeblieben“ ist, dass diese
Vision aber im Kern eine entwicklung vorwegnimmt, die heute neue Brücken
zwischen den disziplinen entstehen lässt: die „wissenschaftliche“ Untermauerung eines ethischen Potentials, die Öffnung für eine ganzheitliche Weltsicht, in
der die Unterscheidung von materialismus und idealismus jeden sinn verliert,
da die für das Verständnis des lebens entscheidenden geistigen informationen in
schola, Immutabile medium, Liber sententiarum, Memcius, Filialis observantia, Parvulorum schola, e Sinico idiomate in latinum traducti, Prag 1711; nd hg. v. H. Jäger, Hildesheim 2011, 63). – „Wer also nicht jene Vollkommenheit der wahren Wissenschaft und Tugend besitzt, so daß er die höchste Wahrheit der Welt noch nicht erreicht hat, was (würdest
du sagen), müßte der tun, um diese zu erreichen? dieser müßte alle Bewegungen der seele, die ihn zu einer gewissen Tugend inspirieren, sehr sorgfältig mitvollziehen, so daß er
keine einzige Bewegung in sich fühlte, die er nicht mitvollzieht. […] so könnten die wahren Tugenden oder besser die wahren Haltungen in der seele an gestalt gewinnen und sich
vermehren; so dringen sie in (sichtbaren) Handlungen nach außen und verleihen dem ganzen Körper einen würdevollen Anblick; wenn (die Tugenden) durch einen solchen Fortschritt immer klarer werden, dann senden sie ihre resonanzen (radios) von überallher aus.
die anderen menschen werden durch diese resonanzen wiederum ihrerseits bewegt, ändern
ihre moral, lassen allmählich von ihren Fehlern ab […] und folgen nur noch dem Ziel, ihrem leben Würde zu verleihen.“
4 Vgl. Christian Wolff, Ratio praelectionum Wolfianarum – [in] mathesin & philosophiam
universam (1718), Halle 21735; nd hg. v. J. ecole, Hildesheim 1972, s. ii, c. 1, § 3: „est
nempe mihi Philosophia scientia omnium possibilium qua talium, ita ut ad objectum Philosophiae referri debeant res omnes, qualescunque fuerint, quatenus esse possunt, sive existant, sive non.“
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der materie (bzw. im Körper und im gehirn) zu finden sind und nicht in einer
transzendenten Welt jenseits des sichtbaren.5
es war dieses Verständnis experimentellen Philosophierens, das Wolff bei seiner
lektüre der chinesischen Klassiker inspirierte: er fand in den Texten zwar einen
gewissen mangel an Theorie, dafür aber einen großen reichtum an psychologisch aufschlussreichen Beobachtungen, die ihn davon überzeugten, dass Konfuzius „auf dem Weg des Versuchs“ (experimentum) zu denselben Prinzipien gekommen sei, wie er – Wolff – selbst durch den gebrauch der Vernunft. die
„Taten und Aussprüche“ des Konfuzius bestätigten Wolff darin, dass seine Theorien über das ethische entwicklungspotential des menschen zur Vollkommenheit
richtig seien. deswegen konnte auch Wolff bestätigen, dass Konfuzius bzw. die
großen Vorbilder der konfuzianischen Tradition die Wahrheit gefunden haben.
doch weitaus mehr als durch Konfuzius dürfte Wolff durch menzius beeinflusst
worden sein – einen Philosophen, dessen schriften Wolff fast als einziger europäischer denker von rang dank der ersten Übersetzung von F. noël gründlich
studieren konnte.6 noël kommentiert eine zentrale stelle des menzius, das berühmte „Brunnengleichnis“,7 mit dem Begriff experimentum: „Jam vero quid sit,
& unde dignoscatur in omnibus hominibus esse illa commiserans teneri cordis
affectio, ex hoc uno experimento coniice.“8
Wolff fand somit in dem Werk des menzius, das unter den „Klassischen Büchern
des Chinesischen reiches“ das weitaus umfangreichste darstellt, eine direkte
Bestätigung seiner Vorstellung, dass gerade auch die ethischen gesetzmäßigkeiten durch experimentelle Untersuchung verstanden und somit die moralphilosophie psychologisch begründet werden kann. dies mag eines von vielen Beispielen dafür sein, wie Wolff die konfuzianischen Klassiker rezipierte: er fand in
ihnen eigene gedankenansätze angesprochen und konnte somit vielleicht zu
5 Vgl. hierzu z. B. Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2006, und gerald Hüther, Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, göttingen 22006.
6 reinhard may, Humes Moralphilosophie unter chinesischem Einfluss, stuttgart 2012, weist
auf bemerkenswerte spuren einer Vertrautheit mit menzius in david Humes Treatise of Human Nature (1739) hin, die – nach Anregungen v. a. durch Bayle, leibniz und Wolff – vermutlich auf eine lektüre der Description de la Chine von Jean-Baptiste du Halde (1735 /
36; engl. Übers. 1738) und möglicherweise auch der Übersetzung von F. noël in der Jesuiten-Bibliothek von la Flèche zurückzuführen sei (vgl. bes. a. a. O., 99 ff. u. 110 f.).
7 menzius begründet in diesem gleichnis seine lehre von der „guten natur des menschen“
damit, dass er ein gedankenexperiment ausführt: man stelle sich vor, ein Kind sei kurz davor, in einen Brunnen zu fallen – jeder, der das mitansieht, würde die regung verspüren,
schnell zum Brunnen zu rennen und das Kind vor dem Fall zu bewahren; vgl. dazu: Henrik Jäger, Den Menschen gerecht. Ein Menzius-Lesebuch, Zürich 2010, 186.
8 noël, Sinensis Imperii libri classici sex (Anm. 3), 266 („Folgere aus diesem experimentum,
was jene mitfühlende neigung des Herzens ist und wie man erkennen kann, dass sie allen
menschen zueigen ist.“).
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Henrik Jäger
recht behaupten, er habe nicht eigentlich etwas neues in der chinesischen Tradition gefunden, sondern allein gedanken, die die seinen bestätigten und die er
selbst aus seinem denken heraus ebenfalls bestätigen konnte.
liest man die rede (und die von Wolff für die Buchausgabe 1726 hinzugefügten Anmerkungen) unter dem gesichtspunkt des ringens um diese Bestätigung
(confirmatio), so wird deutlich, dass Wolff sehr wohl bewusst war, wie gewagt
seine Behauptungen waren: Konnte es nicht sein, dass er – wie zu seiner Zeit allgemein angenommen – jesuitischen lügenmärchen aufgesessen war und die
Übersetzungen, auf denen seine Auseinandersetzung mit dem chinesischen denken beruhte, nichts als missionarische Wunschgebilde waren? Und selbst wenn
Wolff in der lektüre tatsächlich ein authentisches Bild von Konfuzius gefunden
hatte: Wie konnte er sich sicher sein, dass die erfahrung des Konfuzius tatsächlich eine universale Bedeutung hatte, die auch für die europäische gegenwart
gültigkeit beanspruchen konnte?
dieses ringen um Bestätigung soll nachgezeichnet und im Kontext der
Wolff’schen Philosophie und des konfuzianischen denkens thematisiert werden.
durch eine solche Untersuchung werden vermutlich auch weitere Forschungsaufgaben sichtbar werden, da es sich bei der Konfuzianismusrezeption Wolffs
um ein umfangreiches und in seinen dimensionen bis heute unterschätztes Thema handelt.
1.3. Die „cultura intellectus“ – das konfuzianische Modell der
Selbstentwicklung in europäischem Gewand
die Bedeutung der praktischen Philosophie für Wolff wird besonders deutlich in
dem Begriff der „Pflege der Vernunft“ (cultura intellectus), mit dem eine den
Wolffianismus kennzeichnende philosophische Haltung beschrieben wird: durch
die einsicht in den Zusammenhang der dinge gewinnt der mensch einen einblick
in die möglichkeiten, sein eigenes leben zu vervollkommnen.9 doch Vollkommenheit bedeutet in erster linie eine praktische und moralische Ausrichtung der
Philosophie: „Ohne eine praktische Ausrichtung kann die Philosophie nicht zur
Vollkommenheit gelangen. […] der Philosoph hat also einsicht in den Zusammenhang der dinge und darum einen einblick in die möglichkeit, sein eigenes leben zu vervollkommnen. […] man müsse sich bemühen, wahr zu sprechen und
9 diese grundlage aller philosophischen Praxis wurde in der bisherigen Wolff-Forschung
weitgehend unterschätzt bzw. ausgeblendet; es dominiert immer noch das Bild des umfassenden theoretischen systematikers, der unter „Vollkommenheit“ die Vollkommenheit eines
abstrakten systems verstehe. Wolff schreibt jedoch ganz unmissverständlich: „das Ziel aller menschlichen Handlungen ist es, dass wir uns und andere vervollkommnen.“ (Wolff,
Philosophia Practica Universalis ii [Anm. 3], 18 f.).
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
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wahr zu leben.“10 der Weg zur Vollkommenheit – die cultura intellectus – erinnert
an die konfuzianische Praxis der „Ausbildung der Persönlichkeit“ (修身 xiushen),
das streben nach moralischer selbstvervollkommnung.11 eine Beschreibung der
cultura intellectus, die den unmittelbaren Bezug zum konfuzianischen denken
verdeutlicht, findet sich in einer der wichtigsten Quellen von Wolffs rede, georg
Bernhard Bilfingers Specimen doctrinae veterum sinarum.12
es war nicht zuletzt der gedanke einer „Zusammenführung und Verschmelzung
von Theorie und Praxis“, der im beginnenden 18. Jahrhundert zu einer schnellen
Verbreitung der Wolff’schen Philosophie geführt und dazu beigetragen hat, dass
die Philosophie als eine der Theologie ebenbürtige disziplin begriffen wurde.13
dass Wolff in seiner rektoratsrede ausgerechnet „die praktische Philosophie der
Chinesen“ thematisiert, hat somit einen tiefen grund in seinem denken überhaupt und in seinem Verständnis der konfuzianischen Philosophie: die große
Bedeutung des Konfuzius und der Tradition, aus der er kam und die er prägte,
sah Wolff vor allem in der durch persönliche einsicht gewonnenen ethischen
Haltung. so thematisiert er in seiner rede aus verschiedenen Perspektiven die
möglichkeit und die notwendigkeit der erfahrung im erlernen der Tugend und
beim streben nach Vollkommenheit. das skandalöse an diesen gedanken war
nicht so sehr der erfahrungsbezug an sich, vielmehr Wolffs Beobachtung, dass
sich die konfuzianische lehre in China unabhängig von geoffenbarter oder auch
natürlicher religion über Jahrtausende segenbringend entwickelt hatte. so wur10 Vgl. James Jakob Fehr, „Ein wunderlicher nexus rerum” – Aufklärung und Pietismus in
Königsberg unter Franz Albert Schultz, Hildesheim 2005, 130.
11 dies entspricht dem Begriff 反身 fanshen (sich seiner Persönlichkeit zuwenden) bei menzius; vgl. dazu Jäger, Den Menschen gerecht (Anm. 7), 279.
12 Vgl. georg B. Bilfinger, Specimen doctrinae veterum Sinarum, Frankfurt a. m. 1724. –
Bilfinger schreibt in dem Kapitel mit der Überschrift cultura intellectus: „Wie ist es nun
in China? Jene interpretieren die ‚Pflege der Vernunft‘ als erkenntnis dessen, was gut ist
und öffentlich wirksam: sie legen Wert auf die Verbesserung eines Willens in einer besonnenen, beständigen und allumfassenden liebe zu allen Tugenden und einem unversöhnlichen Hass gegenüber Fehlern. Also konnte es bei jenen keinen Zweifel geben, worin unsere denker im Unrecht sind: in der Tat kommt es bei unseren gelehrten vor, dass
sie sich darin irren, dass sie nicht das Wissen von der Überzeugung unterscheiden [können]. denn jene erkenntnis ist nicht lebendig, wie auch immer sublim und vorzüglich sie
in der spekulation erscheinen mag, über die der geist nicht überzeugt ist, wenn er ein Urteil gefällt hat oder fällen muss über seine Handlungen, sowohl über die, die noch zu vollenden sind, als auch jene, die er schon vollendet hat. Lebendig schließlich ist jene erkenntnis, der die Vernunft vollkommen zustimmt und die für den Willen ein motiv zum
Handeln ist. so ist es geschehen, dass die gebildeten einerseits nicht die notwendigen
Feinheiten der Praxis begriffen haben, andererseits, dass die allgemeine erkenntnis unzureichend ist, um den Willen zu lenken“ (a. a. O., 37 f.). diesen gedanken der „klaren erkenntnis“ führt Wolff in seiner praktischen Philosophie weiter aus, vgl. Wolff, Philosophia Practica Universalis II (Anm. 3), 220 ff.
13 Vgl. Fehr, Nexus rerum (Anm. 10), 141 ff.
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Henrik Jäger
de die konfuzianische Tradition bzw. China als historische realität zu einer real
existierenden Utopie, die den Beweis erbrachte, dass eine auf Vernunft gegründete ethik in einer gesellschaft realisiert werden kann, ohne dass sie durch eine
religion oder Kirche legitimiert werden muss.
so wird auch verständlich, warum Wolff in seiner rede sowohl die lehre des
Konfuzius als auch die chinesische geschichte insgesamt als gelungenes experiment auf dem gebiet der moral- und staatsphilosophie bezeichnet: China war
so etwas wie ein überdimensioniertes Versuchslabor, eine real existierende Utopie, die – anders als die philosophischen und religiösen Utopien des Abendlandes – nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit und in der gegenwart
bewies, dass die Vision einer philosophischen Praxis für den gesellschaftlichen
und politischen Fortschritt in europa wirksam werden könnte.
2. Die Beurteilung der Konfuzianismusrezeption Wolffs in der neueren
Forschung
die Wolff-Forschung erlebt in den letzten Jahrzehnten eine renaissance. Vordringlich ist sie damit beschäftigt, das weitverzweigte und umfassende Werk des
Aufklärers zu sichten. liest man jedoch die einträge in den aktuellen enzyklopädien, so fällt auf, dass die Konfuzianismusrezeption nicht einmal ansatzweise
thematisiert wird. selbst in der Routledge Encyclopedia of Philosophy oder der
Encyclopédie philosophique universelle wird die Konfuzianismusrezeption
Wolffs schlicht außer Acht gelassen.14 dies verwundert um so mehr, als beide
enzyklopädien sich den nicht-europäischen Tradition durchaus mit neuer Aufmerksamkeit zuwenden.
in der letzten großen gesamtdarstellung der „deutschen schulphilosophie“ von
max Wundt wird Wolffs Werk und Wirkung auf über 150 seiten referiert; der
Oratio de Sinarum philosophia practica ist davon nur eine halbe seite gewidmet. Hier schreibt Wundt:
„sachlich gehört sie in den Zusammenhang seiner praktischen Philosophie. ist es doch im
grunde seine eigene morallehre, die er hier als die der Chinesen und besonders des Confucius darlegt. […] nur nebenher sei daran erinnert, wie sich damals überhaupt – besonders auf grund der Berichte der jesuitischen missionare – die Aufmerksamkeit der
chinesischen Welt zuwandte. Wolff benützt dies interesse hier zu gunsten seiner Philosophie.“15
14 Vgl. Charles A. Corr, „Wolff, Christian, 1679-1754“, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy, hg. v. e. Craig, london 1998, Bd. 9, 776-786, und s. goyard-Fabre / C. Weber /
r. Pozzo, „Wolff, Christian, 1679-1754“, in: Encyclopédie philosophique universelle, Publiée sous la direction d’André Jacob, Abt. iii: Les Oeuvres Philosophiques, Bd. 1: Philosophie occidentale: III e millénaire av. J.-C.–1889, hg. v. J.-F. mattéi, Paris 1992, 1553-1560.
15 max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945, 177.
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
9
An dieser stelle fügt Wundt eine Fußnote ein, in der er anmerkt: „Als seine
Quelle nennt er Rat. prael. 2 c. 7, 22, das Buch von noël, in der Vorrede zur Oratio das des Cupletus.“ diese Fußnote ist insofern aufschlussreich, als sie zeigt,
dass Wundt sich – trotz der historischen Bedeutung der rede, die er wiederholt
herausstreicht – nicht die mühe gemacht hat, ihre Quellen genauer zu erfassen.
damit liegt er weitgehend im Trend der Ausblendung der Konfuzianismusrezeption Wolffs: Wenn die Auseinandersetzung Wolffs mit den konfuzianischen
Quellen in der im Übrigen so profunden studie in keiner Weise erwähnung findet, dann erscheint es nur folgerichtig, dass Wundt behauptet, Wolff habe nur
„seine eigene morallehre“ in der rede ausgedrückt. Auch das Werk Bilfingers
wird immerhin in einer Fußnote erwähnt; es bleibt jedoch bei der nennung des
Titels und der Vermutung, Bilfinger habe das Specimen Doctrinae Veterum Sinarum geschrieben, um seinem lehrer einen gefallen zu tun. An keiner weiteren stelle geht Wundt auf Bilfingers umfassende Kenntnisse der chinesischen
Philosophie ein, ebensowenig wird geschildert, wie hilfreich dieses Werk für
Wolff in der Arbeit an den umfangreichen Anmerkungen zur druckfassung seiner rede war.
es gibt einige neuere Untersuchungen, die sich speziell der rektoratsrede und
ihrer Bedeutung widmen. der wichtigste Beitrag ist zweifelsohne m. Albrechts
Ausgabe und Übersetzung der rede von 1985.16 die hervorragende einleitung
gibt den bisher besten philosophiegeschichtlichen Überblick über Wolffs rezeption konfuzianischen denkens. dabei wird jedoch die eigentlich philosophische
bzw. hermeneutische Perspektive kaum thematisiert, ebensowenig wird die sinologische Perspektive ausgearbeitet.
Unter den wenigen Arbeiten, die zur rede in jüngster Zeit erschienen sind, sticht
der Aufsatz von Thomas Fuchs hervor: in ihm wird erstmals die Wechselwirkung
zwischen einer philosophiegeschichtlichen und einer philosophischen Perspektive auf Wolffs rede dargestellt. doch Fuchs beschränkt sich fast ausschließlich
auf die rede – es wird kein umfassender Blick auf Quellen und rezeptionsprozesse des chinesischen denkens durch Wolff eröffnet.17
eine weitere Kategorie von Arbeiten sind sinologisch motivierte studien, die
nach der rückwirkung der jesuitischen mission auf europa fragen.18 in diesen
Arbeiten werden die sinologischen und die philosophiehistorischen Aspekte der
Wolff’schen Konfuzianismusrezeption zwar thematisiert, es fehlt aber der Blick
auf deren philosophische relevanz.
16 Vgl. Anm. 1.
17 Thomas Fuchs, „Christian Wolff und das China-Bild der Aufklärung“, in: Christian Wolff
und die europäische Aufklärung, Bd. 5, Hildesheim 2010, 397-409.
18 Vgl. Werner lühmann, Konfuzius – aufgeklärter Philosoph oder Moralapostel? Wiesbaden
2003; lee eun-Jeung, Anti-Europa, münster 2003; li Wenchao, Die christliche ChinaMission im 17. Jahrhundert, stuttgart 2000.
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Henrik Jäger
Versucht man, die neuere Forschung zur rezeption chinesischen denkens durch
Wolff zusammenzufassen, so herrscht weithin die meinung vor, diese rezeption
sei oberflächlich gewesen und habe keine tiefere Wirkung auf Wolff gehabt.
dem gegenüber steht die einschätzung Albrechts, die gesamte Weisheit des Fernen Ostens sei in Wolffs denken aufgehoben gewesen.19
in etwas detaillierteren studien wie z.B. r. loudens Aufsatz über die Auseinandersetzung Wolffs mit noëls Übersetzung des chinesischen Zeichens 天 tian (Himmel) wird darauf verwiesen, Wolff hätte „bei jeder möglichen gelegenheit seine
eigene ethische Theorie in den Konfuzianismus hineingelesen“ und seine daraus
folgenden interpretationen seien „sehr gezwungen“.20 Auch C. schwaiger betont,
Wolff lasse sich durch die lektüre der konfuzianischen Texte „nur im nachhinein
bestätigen in dem Wandel seiner Auffassungen, der sich schon vorher durch den
einfluß von leibniz vollzogen hatte“.21 louden erklärt in diesem Zusammenhang,
eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der Philosophie einer anderen Kultur
verlange, dass man sich von dieser auch in Frage stellen ließe und in ihr nicht nur
die Bestätigung für die eigenen gedanken suche. mit diesen Vorwürfen haben die
Forscher die weitgehende Ausblendung des Themas „Konfuzianismusrezeption
bei Christian Wolff“ indirekt begründen können: Für sie ist mit dem Begriff der
„Bestätigung“ die Vorstellung verknüpft, dass Wolffs Werk ebensogut auch ohne
Bezug zu den konfuzianischen Quellen zu verstehen ist.
Bestätigung in diesem (typisch westlichen) sinne impliziert, dass Wolff in seinem denken von seiner lektüre keine impulse empfangen oder diese in seinem
denken weitergeführt hat. Wie jedoch unten (s. 15) ausgeführt wird, ist es sehr
wahrscheinlich, dass Wolff „Bestätigung“ in einem neokonfuzianischen (bzw.
ursprünglich zen-buddhistischen) sinn verstanden hat: Wird man von einem
meister „bestätigt“, dann geschieht dadurch eine grundlegende legitimation
durch die „Übertragung der lehre“ – man wird hiermit zu einem weiterführenden glied einer uralten Tradition. Zu einem solchen Begriff von „Bestätigung“
konnte Wolff durch seine intensive Auseinandersetzung mit den „Klassischen
Büchern“, die im Übrigen in der deutschen Philosophiegeschichte einmalig sein
dürfte, durchaus kommen.
Außerdem wurde in der bisherigen Forschung übersehen, dass die wichtigen (auf
deutsch geschriebenen) Hauptwerke Wolffs fast alle in der Zeit zwischen 1712
und 1721 entstanden sind – jener Zeit also, in der Wolff noëls Werk am intensivsten studiert hat.
19 Vgl. Albrecht, lXXXVii.
20 robert louden, „‚What does Heaven say?‘: Christian Wolff and Western interpretations
of Confucian ethics“, in: Brian van norden (Hg.), Confucius and the Analects: New Essays,
Oxford 2002, 72-93, hier: 92.
21 Clemens schwaiger, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs, stuttgart-Bad
Cannstatt 1995, 98.
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
11
Zuletzt ist zu bemerken, dass grundlegende hermeneutische Fragestellungen,
wie sie z. B. von Paul ricœur für den Umgang mit philosophischen oder religiösen Texten formuliert wurden,22 in der Forschung zu Wolffs rezeption der chinesischen Klassiker bisher noch kaum eine rolle gespielt haben.
3. Die Quellen von Wolffs Konfuzianismusrezeption
Wolff lebte in einer Zeit einer allgemeinen China-Begeisterung, in der es in
europa eine große nachfrage nach reiseliteratur, Übersetzungen und darstellungen chinesischer Kulturgeschichte gab. Als erste wichtige Quelle der ChinaKenntnisse Wolffs muss die China-rezeption von leibniz betrachtet werden, vor
allem schriften wie die Novissima Sinica23 und der Discours sur la théologie naturelle des Chinois.24 es ist jedoch schwierig, den einfluss dieser schriften direkt
nachzuweisen, da sich Wolff über sie vollständig ausschweigt. Zieht man aber in
Betracht, dass er viele schriften von leibniz schon kannte, bevor sie überhaupt
im druck waren, so ist kaum vorstellbar, dass er diese nicht gekannt haben soll –
zumal seine zentralen Themen wie die Betonung der praktischen Philosophie, die
Wertschätzung von Zhu Xi u. a. bereits bei leibniz zu finden sind.
eine andere Quelle, auf die Wolff in den Anmerkungen zur Buchausgabe 1726
Bezug nimmt, ist die erste systematische darstellung der chinesischen Philosophie in europa. georg Bernhard Bilfingers Specimen Doctrinae Veterum Sina-
22 ricœurs zentrale hermeneutische maxime lautet: „einen Text zu verstehen, bedeutet, sich
selbst vor dem Text zu verstehen“ (vgl. Paul ricoeur, „la fonction herméneutique de la
distanciation“ in: ders., Du texte à l’action, Paris 1986, 124-132). mit diesem gedanken
lehnt ricœur explizit die traditionelle Vorstellung von Textverstehen ab, derzufolge es darum gehen müsse, die intention das Autors (möglichst exakt) nachvollziehen zu können.
die „Welt des Textes“ ist eine offene Welt, der der leser (aus seiner, der „Welt des lesers“
heraus) begegnet. Wenn er in der lektüre Themen, metaphern oder auch gleichnisse findet, die ihn ansprechen, ihn „in eine schwebe versetzen“, so ist dies ein rein subjektiver
Vorgang, der nicht objektiviert werden kann. Wenn Wolff noëls Übersetzung als Quelle
der inspiration empfunden hat, dann kann diese inspiration ebenfalls nicht objektiv dargestellt werden. dieser sachverhalt wird vor allem daran deutlich, dass diese Übersetzung
für Wolff kein gegenstand der reflexion war, sondern Bestätigung seines eigenen denkens. Aus diesem grunde ist es durchaus zutreffend, sein Textverständnis als ein „sichVerstehen-vor-dem Text“ zu begreifen: der Text hat in ihm eine tiefe resonanz ausgelöst,
die ihn zu der Überzeugung geführt hat, dass Konfuzius’ denken mit seinem denken in
vollständiger Übereinstimmung sei.
23 gottfried Wilhelm leibniz, Novissima Sinica (1697). Das Neueste von China, m. erg. dokum. hg., übers. u. erl. v. H.-g. nesselrath u. H. reinbothe (1979), nd m. e. Vorw., aktualis. lit.-verz. u. reg. v. g. Paul u. A. grünert, münchen 2010.
24 gottfried Wilhelm leibniz, Discours sur la théologie naturelle des Chinois (1715/16),
hg. v. li Wenchao u. Hans Poser, Frankfurt a. m. 2002.
12
Henrik Jäger
rum25 war 1724 erschienen und wurde von Wolff im Prozess der Arbeit an den
Anmerkungen sorgfältig gelesen. Bilfinger verweist wiederum auf weitere Quellen, vor allem auf die im Jahr 1687 erschienene Übersetzung der konfuzianischen
Klassiker unter dem Titel Confucius Sinarum Philosophus von Philippe Couplet,26
eine bibliophile Prachtausgabe, die im 17. und 18. Jahrhundert enorme Verbreitung fand.
Bilfingers darstellung der chinesischen Philosophie erschloss Wolff die möglichkeit, einen umfassenderen eindruck von der China-literatur seiner Zeit zu
gewinnen.27 Bilfinger, der eine außerordentliche Professur in Tübingen innehatte, schrieb in der Folge das Werk Dilucidationes Philosophicae – einen lateinischen Kommentar zur „deutschen metaphysik“ Wolffs, in den er ebenfalls zentrale konfuzianische gedanken zur Kosmologie einfließen ließ.28 Aufgrund
dieser Veröffentlichung wurde ihm jedoch die lehrerlaubnis entzogen, da sie als
„zu exotisch“ galt. Wie Wolff zwei Jahre zuvor aus Halle ausgewiesen worden
war, musste Bilfinger wegen des Bezugs zur chinesischen Philosophie 1725 Tübingen verlassen.29
nach Wolffs eigener darstellung wurde sein interesse jedoch allein durch einen
Autor geweckt, dessen Werke ihn sein ganzes leben begleiten und inspirieren
sollten: durch den Jesuitenmissionar François noël, dessen 1710 erschienenes
Werk Observationes Mathematicae et Physicae in India et China factae30 von
Wolff 1711 in den Acta Eruditorum besprochen wurde.31 in diesem Werk geht es
zwar hauptsächlich um astronomische Beobachtungen noëls, aber es wird in
ihm über das chinesische Kalenderwesen und über die maße und gewichte in
China berichtet. Wolff, der selbst mathematiker war, schätzte dieses Werk und
es war mit sicherheit diese Wertschätzung, die sein interesse für noëls Übersetzung der „Vier Bücher“ und zweier weiterer konfuzianischer Klassiker32 weckte.
25 Vgl. Anm. 12.
26 Philippe Couplet, Confucius Sinarum philosophus, sive Scientia Sinensis Latine exposita,
Paris 1687.
27 Vgl. hierzu Werner lühmann, Konfuzius – aufgeklärter Philosoph oder Moralapostel?,
Wiesbaden 2003, 66 f.
28 Vgl. georg Bernhard Bilfinger, Dilucidationes philosophicae de Deo, anima humana,
mundo, et generalibus rerum affectionibus, Tübingen 1725; nd hg. v. J. École, Hildesheim 1982.
29 siehe den Artikel „Bilfinger” in: Heiner F. Klemme, The Dictionary of Eighteenth Century German Philosophers, new York 2010.
30 Observationes mathematicae et physicae in India et China factae a Patre Franciscos Noel
Societatis Jesu ab anno 1684 usque ad annum 1708, Prag 1710.
31 Vgl. Acta Eruditorum (1711), 383-390.
32 der Ausdruck „Vier Bücher“ ist eine Übersetzung des üblichen chinesischen sammeltitels
四書 Sishu (Weiteres dazu s. u. 4: Zhu Xi und die Vier Bücher). der Begriff „klassische
Bücher“ (libri classici) ist eine Abkürzung des Titels der Übersetzung von François noël,
Sinensis Imperii libri classici sex (Anm. 3).
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
13
die „klassischen Bücher“, wie Wolff sie in seiner rede und in den Anmerkungen abgekürzt bezeichnet, wurden für ihn zur wichtigsten Quelle. diese Übersetzung war es, die ihn zu seiner rede inspirierte und für ihn bis zu seinem Tod
im Jahr 1754 eine wichtige lektüre blieb.33
Wie weiter unten ausgeführt wird, setzte sich Wolff intensiv mit der Frage der
Authentizität der Quellen auseinander, da ihm (vermutlich auch durch die reflexionen von leibniz über die notwendigkeit verlässlicher Übersetzungen) die
Problematik der Übersetzung chinesischer Klassiker in die sprache einer vollkommen anderen Kultur wohl bewusst war.34 doch unabhängig davon, wie
Wolff versucht hat, sein größeres Vertrauen in das noël’sche Werk zu begründen,
ist die Würdigung dieses Werkes aus sinologischer sicht ein bis heute nicht erfülltes desiderat. einige Aspekte einer solchen Würdigung sollen hier als vorläufige Thesen formuliert werden, um aus sinologischer Perspektive der Frage
nachgehen zu können, inwieweit Wolffs positive einschätzung der Übersetzung
zu rechtfertigen ist:
(1) die Übersetzung noëls zeichnet sich dadurch aus, dass sie fast vollständig
auf christliche Terminologie und Vorstellungen verzichtet. dies ist umso erstaunlicher, als dies einen Bruch mit den früheren Übersetzungen (vor allem
Couplet) bedeutet: noël ging es in erster linie um das Verständnis des Textes, erst in zweiter linie um die Frage der deutung im Horizont eines theologischen Weltbildes.
(2) noël bietet die erste vollständige Übersetzung der „Vier Bücher“. Während
Couplet nur die ersten drei Bücher des neokonfuzianischen Kanons übersetzt
hatte, schuf noël die erste Übersetzung des Menzius. die ist insofern von
Bedeutung, als menzius viele Themen der Aufklärung vorwegnimmt und sie
klarer ausdrückt, als es bei Konfuzius der Fall ist.35
(3) noëls Werk zeugt von einer beeindruckenden Kenntnis neokonfuzianischer
Kommentare – allen voran der schriften von Zhu Xi, dessen Vorworte zu den
„Vier Büchern“ er ebenfalls vollständig übersetzt. Hiermit bricht er mit der
früheren Übersetzungstradition, die nur den Konfuzius der klassischen Texte als authentisch betrachtete.
(4) Zieht man zu der Beurteilung der Übersetzung noëls systematisches Werk
Philosophia sinica tribus tractatibus36 hinzu, so ergibt sich ein Bild einer beeindruckenden Kenntnis des konfuzianischen schrifttums der Antike und der
33 Vgl. hierzu Albrecht lXXXVii.
34 Perkins zitiert leibniz’ klar formulierten Wunsch, man müsse Übersetzungen der konfuzianischen Klassiker in der gleichen Qualität haben wie die der heiligen schriften der Juden, Christen, Araber. erst dann könne man sich ein Bild der konfuzianischen Philosophie
machen; vgl. Francis Perkins, Leibniz and China: A Commerce of Light, Cambridge 2004,
188.
35 Vgl. hierzu Jäger, Den Menschen gerecht (Anm. 7) , 111 ff.
36 François noël, Philosophia Sinica Tribus Tractatibus, Prag 1711.
14
Henrik Jäger
neokonfuzianischen interpretationskultur. noël hat nicht nur die Texte als
aus dem kulturellen Kontext herausgehobene Kuriositäten mit dem Ziel
übersetzt, mit ihnen das missionarische Anliegen der Akkommodation zu untermauern; er hat sie im gegenteil als eigene, historisch von der entwicklung
der christlichen Kultur vollkommen unabhängige philosophische Klassiker
verstanden, die nur aus der chinesischen Kulturgeschichte heraus richtig interpretiert werden können.
(5) gerade auch noëls Versuch, in seinem systematischen Werk chinesische Begriffe und riten aus aristotelischer und aus theologischer sicht zu thematisieren, spricht für seine ausgeprägte Kultursensibilität: diesen Versuch unternimmt er auf der Basis seiner Übersetzungsstrategie, die gerade eine
solche theologische interpretation ausschließt, um auf diesem Weg zeigen zu
können, dass seine Textdeutung nicht durch eine Voreingenommenheit – und
damit durch westliche Projektionen – motiviert ist.
(6) Auch wenn die von rémusat geäußerte Kritik, noël habe zu viel Paraphrasen in seiner Übersetzung,37 von einem philologischen standpunkt gerechtfertigt sein mag, ist bis heute nicht untersucht worden, inwieweit diese Paraphrasen den sinn des Textes erhellt haben oder nicht.
diese durch weitere Forschung zu vertiefenden Aspekte des noël’schen Werkes
reichen aus, um mungellos einschätzung, es handele sich bei diesem Werk um
ein „vergessenes monument“ der geschichte, dessen Bedeutung erst noch zu
entdecken sei,38 bestätigen zu können. doch gleich, welche ergebnisse diese
Forschung liefern wird: es ist vermutlich als ein glücksfall der geschichte zu
werten, dass das noël’sche meisterwerk von einem denker wie Wolff rezipiert
wurde und somit über dessen geistige durchdringung womöglich eine größere
Wirkung entfalten konnte, als es dies als rein „exotisches“ Kuriosum hätte tun
können.
4. Zhu Xi und die „Vier Bücher“ (Sishu)
In short, no texts had greater presence or power in late imperial China than the Four
Books. Just as knowledge of the Bible among literate people was assumed in mediavel
and early modern times, so was knowledge of the Four Books assumed in China.39
37 Vgl. J. P. Abel-remusat, Mélanges Asiatiques II, Paris 1826, 128.
38 Vgl. d. e. mungello, „The first complete translation of the Confucian Four Books in the
West“, in: International Symposium on Chinese Western Cultural Interchange in Commemoration of the 400th Anniversary of the Arrival of Matteo Ricci, S. J., Taipei 1983,
516-539.
39 daniel gardner, The Four Books, indianapolis 2007, XV.
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
15
Für das Verständnis des noël’schen Werkes ist es aus sinologischer sicht besonders bedeutsam, dass noël sich der offiziellen, durch Zhu Xi im 12. Jahrhundert
begründeten interpretationskultur seiner Zeit angeschlossen hat. Während die früheren Übersetzer (wie Couplet) diese neokonfuzianische Kultur als Verfälschung
der (ihrer meinung nach ursprünglich christlich motivierten) Botschaft des Konfuzius systematisch ausblendeten, war noël offenbar bemüht, gerade durch die
Anerkennung dieser Kultur Brücken zwischen der mission und dem konfuzianischen establishment zu bauen. die „Vier Bücher“ bildeten seit dem 12. Jahrhundert die grundlage aller Bildung und damit die geistige Achse, um die sich alle
politischen, philosophischen und spirituellen debatten drehten.
Zhu Xi (1130-1200 n. Chr.) hatte aus dem „Buch der riten“ (禮記 Liji – ca. 3. Jh.
v. Chr.) zwei Kapitel ausgewählt: die schriften „das große lernen“ (大學 Daxue; bei noël: Adultorum Schola) und „maß und mitte“ (中庸 Zhongyong; noël:
Immutabile Medium) fasste er mit den „gesprächen“ des Konfuzius (論語 Lunyu
– 5.-4. Jh. v. Chr.; noël: Liber sententiarum) und dem Buch Menzius (孟子
Mengzi – 4./3. Jh. v. Chr.; noël: Memcius) zu den „Vier Büchern“ (四書 Sishu)
zusammen.
Während die ersten drei der vier Bücher schon 1687 in der Bearbeitung von Couplet und intercotta unter dem Titel Confucius Sinarum Philosophus auf lateinisch
erschienen waren, lag somit im Jahr 1711 die erste vollständige Übersetzung der
„vier Bücher“ vor, die auch das Werk des menzius einschloss. Außerdem fügte
noël seinem Übersetzungswerk noch zwei weitere konfuzianische schriften hinzu, den „Klassiker der Pietät“ (孝經 Xiaojing; noël: Filialis observantia) und das
„Kleine lernen“ (小學 Xiaoxue; noël: Parvulorum Schola) von Zhu Xi – beides
wichtige lehrtexte, die die grundlagen konfuzianischer Pädagogik erläutern. Vor
allem das Xiaoxue von Zhu Xi wird in der rede von Wolff als entsprechung zur
„Psychologia empirica“ wiederholt zitiert.
dass noël das Xiaojing und das Xiaoxue zum status des Klassikers erhob, war
eine redaktorische Willkür. Für Wolff waren diese Unterschiede wohl eher nebensächlich, er bezeichnet in seiner rede noëls Werk summarisch als die „klassischen Bücher“ (libri classici). diese Überzeugungskraft hatte die interpretation
von Zhu Xi letztlich aber auch dadurch gewonnen, dass er buddhistische elemente in seine lehre aufnahm. eines dieser elemente war die in der schule des
禪 Chan (bekannter in der jap. lesung Zen) gepflegte Praxis der „Bestätigung“
der erleuchtung durch den meister: ein schüler auf dem meditationsweg konnte
in der Chan-schule nur meister werden, wenn seine einsicht in das Wesen aller
dinge vom meister bestätigt worden war. diese buddhistische Praxis übernahm
Zhu Xi als Vorbild, um die genealogie der konfuzianischen Überlieferung neu zu
konstruieren und damit die Bestätigung für seine redigierung und Kommentierung der Klassiker zu begründen. diese eigene Bestätigung beschreibt Zhu Xi im
Vorwort zum Zhongyong mit dem Begriff „Überlieferung des Wegs“ (道统 daotong), hiermit stellt er sein eigenes Werk in die lange reihe konfuzianischer Phi-
16
Henrik Jäger
losophen, Heiliger und legendärer Kaiser und begründet erneut eine Tradition, die
seiner meinung nach mit menzius abgebrochen war.40
Für das Verständnis der rede ist dies insofern von zentraler Bedeutung, als Wolff
aus noëls Übersetzung der Vorworte des Zhu Xi zum Daxue und zum Zhongyong ausführlich zitiert. in diesen Zitaten wird deutlich, dass er von Zhu Xis Begründung der konfuzianischen Tradition nicht nur als Außenstehender beeindruckt ist, sondern diese Begründung bzw. Bestätigung für sich selbst in
Anspruch nimmt. interessant ist hierbei, dass Wolff damit zu der traditionell
westlichen Bestätigung der Wahrheit einer Philosophie durch das Argument und
die Begründung die wichtigste traditionell chinesische Form der Bestätigung
durch das Alter der Überlieferung zusätzlich in Anspruch nimmt: eine lehre wie
die konfuzianische (bzw. daoistische u. a.) begründet ihren Wahrheitsanspruch
zuallererst über ihre Ursprünge in der Tradition und die Bestätigung, dass man
selbst durch einen meister in diese Tradition aufgenommen wurde. ein weiteres
Charakteristikum der Sishu ist die Bedeutung, die menzius als viertes der „Vier
Bücher“ gewinnt: seit Beginn der Kaiserzeit im Jahr 221 v. Chr. hatte menzius
im konfuzianischen Kanon ein schattendasein geführt, seine lehre von „der guten natur“ des menschen und seine „protodemokratischen Ansichten“41 passten
schlecht zu einem staatskonfuzianismus, der in erster linie der legitimation des
Kaiserstaates diente. die „lehre von der guten natur“ des menschen und die
Auseinandersetzung mit der Frage, warum der mensch seiner guten natur in so
vielen Fällen nicht zu folgen vermag, führte Zhu Xi dazu, die selbstkultivierung
(修身 xiushen) an den Anfang aller moralischen und politischen reflexionen zu
stellen. das letzte Ziel der selbstkultivierung ist die Vollkommenheit, die jedoch
fast niemals wirklich erreicht wird. Und doch kann der mensch täglich an seiner
selbstkultivierung arbeiten – einer Aufgabe, die Zhu Xi vor allem auch an einen
intuitiven erkenntnisprozess der „Untersuchung der dinge“ (格物 gewu) knüpft:
Wenn ein mensch versteht, warum die Beziehungen, situationen und größeren
Zusammenhänge, in denen er steht, so sind, wie sie sind, dann vermag er zu verstehen, wie sein Handeln, das wiederum aus diesem Verstehen der großen Zusammenhänge der kosmischen Ordnung resultiert, zu einer ethisch verantwortlichen Haltung und zu seiner selbstkultivierung beiträgt.42 insbesondere gilt dies
– klassisch konfuzianisch gedacht – für all jene, die in politischer Verantwortung
stehen, da sie in besonderer Weise Verantwortung tragen und die Folgen ihres
Tuns in raum und Zeit abschätzen lernen müssen.
40 Vgl. hierzu das Vorwort von Zhu Xi zum Zhongyong, das noël ebenfalls vollständig in seiner Übersetzung wiedergegeben hat, s. noël, Sinensis Imperii Libri Classici Sex (Anm. 3),
32ff.; chinesische Vorlage in: Zhu Xi, Sishu zhangju jizhu (Kommentare zu den „Vier Büchern“ in Abschnitten), Beijing 1983, 25.
41 Heiner roetz, Konfuzius, münchen 1998, 101 ff.
42 gardner, The Four Books (Anm. 39), 137.
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Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
17
diese kurze skizze der Kerngedanken der Vier Bücher mag genügen, um zu verdeutlichen, wie unmittelbar sie Wolff angesprochen haben müssen. Vor allem der
Begriff der cultura intellectus, der notwendigkeit, die erkenntnis des Kosmos
und dessen Zusammenhänge im eigenen leben zu konkretem, ethischem Handeln werden zu lassen, ist ein die Wolff’sche Philosophie prägender neuer gedanke, der sich von Zhu Xis denken nur in einem (wenn auch zentralen) Punkt
unterscheidet: die „Untersuchung der dinge“ ist für Zhu Xi ein intuitiver Prozess, der vor allem in der meditation und der lektüre der Klassiker vollzogen
wird. demgegenüber postuliert Wolff die Bedeutung einer wissenschaftlichen
methode, die jedoch – wie in dem modell von Zhu Xi – letztlich zur größeren
Vollkommenheit des menschen führen wird. Auch wenn Zhu Xi als geistiger Vater der Vier Bücher von Wolff kaum wahrgenommen wurde, so wird doch eine
weitergehende Untersuchung des einflusses der Klassiker auf Wolff nicht möglich sein, ohne Zhu Xis Wirkung mit zu berücksichtigen: Alle Kommentare, die
noël zu rate zog, waren seiner Auslegungsrichtung verpflichtet; ebenso zeugen
die von noël übersetzten Vorworte von Zhu Xi davon, dass Wolff die Texte aus
neokonfuzianischer Perspektive gelesen hat.43
5. Wie hat Wolff seine Überzeugung der Authentizität von Noëls
Übersetzung begründet?
da die oben (unter 3.) thematisierten sinologischen Beurteilungskriterien für die
Authentizität der Übersetzungen Wolff nicht zur Verfügung standen, muss es als
ein mutiges philosophisches experiment gewertet werden, wenn ein denker von
seinem Format der Überzeugung Ausdruck verleiht, gerade durch diese Übersetzung Zugang zu den Quellen konfuzianischer Tradition gefunden zu haben. da
Wolff keine philologischen Kriterien zur Verfügung standen, blieb ihm nur, die
Texte einer philosophischen Beurteilung zu unterziehen:
„ich dagegen fand schon bei der ersten flüchtigen durchsicht dieser Bücher heraus, dass
in ihnen eine geheime Weisheit verborgen sei, wenn auch geschick (arte opus) nötig sei,
sie zu ermitteln; ich sah nämlich ein, dass das, was darin ohne Ordnung dargelegt zu sein
scheint, in der schönsten Verknüpfung miteinander zusammenhängt (pulcherrimo nexu
inter se cohaerere), wenn man es genauer betrachtet, und dass man von dem, was nicht
durch gründe gesichert ist und ungeschützt behauptet wird, herausfinden kann, dass es
mit den besten gründen gesagt ist, sobald man es einer Überprüfung unterzieht.“44
43 Historisch könnte hier sogar eine interessante Parallele zwischen Wolffianismus und neokonfuzianismus zu Tage treten: Auch Zhu Xis interpretation war bemüht, eine Alternative zur umfassenden geistigen macht des Buddhismus zu schaffen; somit hatten womöglich beide das Anliegen der relativierung religiöser Autorität.
44 Albrecht, 51.
18
Henrik Jäger
Und an anderer stelle führt er aus:
„Alle wahren lehren hängen in nahtloser Verknüpfung miteinander zusammen, so dass
die eine aus der anderen bewiesen werden kann. die Chinesen aber haben Wahrheiten erlangt, indem sie nur zuließen, was durch wiederholte Versuche bestätigt worden war.
Jene Verknüpfung erkennt aber nur derjenige, der sich eine gründliche Kenntnis dieser
lehren verschafft hat, indem er die einzelnen gründe derselben aufgesucht hat.“45
die konfuzianische Tradition erscheint als ein „Weg des Versuchs“ (via experimentalis), durch den a posteriori jene einsichten in die Praxis des guten Handelns gewonnen werden, die Wolff a priori durch den methodischen gebrauch
der Vernunft aufzuzeigen vermag:
„(Konfuzius) wollte das, was den Aussprüchen und Taten der Alten innewohnt, durch den
Versuch, den er an sich selbst vornahm, entscheiden, so dass er mit größerer Anstrengung
a posteriori das erreichte, was wir viel leichter a priori erreichen können.“46
An dieser stelle wird die recht komplexe und widersprüchliche wechselseitige
Beziehung von erfahrung und Vernunft im denken Wolffs sichtbar: Trotz seiner
Betonung der erfahrung bezeichnet Wolff hier das Vernunftwissen als eines, das
dem erfahrungswissen überlegen sei, und leitet hieraus ebenfalls seine eigene
Kompetenz ab, auf grund derer er Konfuzius beurteilt.
Wieder und wieder verweist Wolff auf die Authentizität seiner gedanken durch
den Hinweis, man möge nur aufmerksam die „klassischen Bücher“, d. h. die
Übersetzung noëls, betrachten, um darin zu entdecken, dass alle seine Behauptungen durch die „Taten und Aussprüche“ des Konfuzius bestätigt seien.
in dieser Betonung des „bestätigten Versuchs“ (experimentum confirmatum) als
der grundlage der Beurteilung der Authentizität lässt sich unschwer die Parallelität zum naturwissenschaftlichen experiment erkennen: so wie ein Astronom
durch die Beobachtung mit Hilfe des Teleskops bestimmte Theorien (Berechnungen) über die Bewegung der Planeten überprüfen und modifizieren kann, so
kann auch der leser noëls mit Hilfe der Vernunft die „Taten und Aussprüche“
des Konfuzius überprüfen und modifizieren. noëls Übersetzung erscheint somit
als ein authentisches Bild des Versuchslabors „China“, das dem erforscher der
ethik so viel Anschauungsmaterial über das gute Handeln liefert wie der Himmel dem Astronomen einblicke in die Bewegung der gestirne ermöglicht.
eine weitere möglichkeit der Beurteilung der noël’schen Übersetzung erschloss
sich Wolff durch den Vergleich mit der Übersetzung von Couplet. diese Übersetzung, aus der Wolff vorwiegend zitiert, obwohl er sie für die weniger verlässliche
hält, war ein typisches Zeugnis der Übersetzungstradition der China-mission:
Couplet und seine mitarbeiter waren bemüht gewesen, die Übereinstimmungen
45 A. a. O., 225.
46 A. a. O., 189.
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
19
der konfuzianischen lehre mit der christlichen Botschaft zu betonen, Konfuzius
selbst wurde in den Heilsplan aufgenommen, die neokonfuzianer – und damit vor
allem Zhu Xi – galten dagegen als eine entfernung vom ursprünglichen quasichristlichen leben und den lehren des Konfuzius. Wolff wurde durch die noëllektüre in seiner skepsis gegenüber einer solchen interpretation bestätigt, da noël
fast vollständig auf eine christliche interpretation und auf christliche Begriffe verzichtet und zudem die neokonfuzianische interpretationskultur ausdrücklich in
sein Werk miteinbezieht. Ohne die noël-lektüre hätte Wolff wohl kaum sein Bild
vom „Versuchslabor“ China als einem Kulturraum, der vollkommen frei von – geoffenbarter und natürlicher – religion ist, mit solcher Anschaulichkeit zeichnen
können.
dieses Bild musste jedoch in dieser Zeit zum Vorwurf des Atheismus führen: sowohl Konfuzius wurde als Atheist gesehen als auch ein denker wie Wolff, der
sich mit so glühenden Worten mit Konfuzius identifizierte. diesen in den Jahren
nach 1721 mit größter schärfe und erbitterung vorgebrachten Vorwurf versuchte Wolff mit folgenden Überlegungen zur Bedeutung des Zeichens für Himmel
(天tian) zu entkräften:
„ich bekenne es frei, daß ich, als ich meine rede verfaßte, die ‚einleitende erklärung‘
Couplets noch nicht zu gesicht bekommen, geschweige denn gelesen hatte. Von der China-literatur waren mir nur die klassischen Bücher des chinesischen reiches, die von
noël ins lateinische übersetzt wurden, zur Hand. da nun in diesen Büchern gott und die
eigenschaften gottes nicht erwähnt werden […], folgerte ich, daß auch die alten Chinesen den schöpfer der Welt nicht gekannt hatten. […] daraus schloß ich, daß die Chinesen unter ‚Himmel‘ nicht gott verstehen, Und das ist sicherlich der grund, warum noël,
um eine getreue Übersetzung zu liefern, das Wort ‚Himmel‘ beibehielt, das durch das
chinesische Zeichen ‚tian‘ bezeichnet wird […] doch räume ich gerne ein, daß weder die
alten Chinesen noch Konfuzius Atheisten gewesen sind. ein Atheist ist nämlich jemand,
der leugnet, daß es gott gibt; man kann aber gott nicht leugnen, wenn man nicht deutlich einsieht, was gott ist […] (die alten Chinesen) hatten also einen verworrenen Begriff von der gottheit, aber überhaupt keinen deutlichen.“47
in diesem Zitat aus Wolffs Anmerkung 54 wird deutlich, warum Wolff gerade
durch die lektüre der Übersetzung noëls zu solch einer Perspektive finden
konnte: er hebt hervor, dass in noëls Wiedergabe der chinesischen Klassiker an
keiner stelle etwas vom dienst an gott, von christlichen Tugenden und geboten
stehe. die einzigartigkeit der Übersetzung noëls liegt darin, dass sie weitgehend
bemüht war, eine missionarisch motivierte Projektion des christlichen Weltbildes zu vermeiden. gerade die hohe kultursensitive leistung noëls war es vermutlich, die Wolff beeindruckt hat: ein missionar, der sich in solcher Weise um
„Objektivität“ bemüht und in der Folge ja auch mit schwierigkeiten rechnen
47 Albrecht 147 ff.; vgl. zur Unterscheidung zwischen „deutlichen“ und „verworrenen“ Begriffen auch: Christian Wolff, Philosophia rationalis sive Logica (1728), hg. v. J. École,
Hildesheim 1983, 660 (§ 929).
20
Henrik Jäger
musste, schien ihm vertrauenswürdiger als ein Übersetzer wie Couplet, der einfach das missionarische Programm von matteo ricci zum Abschluss gebracht
hatte.
6. Das experimentum als Schlüssel zum Verständnis der konfuzianischen
Klassiker
Die Chinesen schöpften nämlich ihre Lehren aus Beispielen (exempla) und zu diesen
zählten sie nur dann etwas, wenn es durch einen Versuch (experimentum), den sie an sich
selbst vorgenommen hatten, bestätigt worden war.48
Unter den vielfältigen Charakterisierungen, mit denen Wolff seine Affinität zu
Konfuzius beschreibt, sticht die Bereitschaft, die Wahrheit durch den „Versuch“
– das experimentum – zu überprüfen, besonders hervor: die konfuzianische Philosophie wird als ein erfahrungswissen vorgestellt, das einerseits tief in der langen Tradition chinesischer Kaiser, Könige und Philosophen verwurzelt ist, andererseits von jedem schüler neu geprüft und für die eigene gegenwart
interpretiert werden muss. in der Betonung der eigenen erfahrung (durch das
experiment und die Beobachtung) sieht Wolff die Besonderheit der chinesischen
Tradition, die Konfuzius in besonderem maße verkörpert: „Konfuzius war also
begierig nach der Wahrheit; um ihretwillen hat er, als er mit Hilfe von Beweisgründen keine sicherheit gewinnen konnte, den Weg des Versuchs (viam experimentalem) beschritten und hat das, was er andere lehren wollte, erst an sich
selbst erprobt“.49
in Wolffs 1738 / 39 erschienener Philosophia Practica Universalis wird Konfuzius als Prototyp des experimentalphilosophen vorgestellt, der allein durch die
persönliche erfahrung (experientia domestica) in einer Weise lehrt, die selbst
„steine“ zu bewegen vermag und beim schüler wiederum einen erfahrungsbezug evozierte: „Und daher bewegte er selbst auch jeden stein, und dies in einer
Art und Weise, durch die jeder erfahren konnte, was ihm gelehrt wurde.“50
dieser erfahrungsbezug konfuzianischen lehrens und lebens ist es, den Wolff
besonders schätzte und der ihn dazu bewegte, Konfuzius über die griechischen
Philosophen zu stellen: „der lebenslauf des Konfuzius wird nämlich, wenn er
die schilderung seiner Taten und Aussprüche vollständig darbietet, als eine
Fundgrube für die moral- und staatslehre anzusehen sein, mit der das, was von
der griechischen Philosophie auf uns gekommen ist, nicht verglichen werden
kann.“51
48
49
50
51
Albrecht, 227.
A. a. O., 87.
Wolff, Philosophia Practica Universalis ii (Anm. 3), 240.
Albrecht, 107.
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
21
das experiment als grundlage, als methode der Korrektur und der Bestätigung
einer Theorie war die herausragende möglichkeit, gewissheit und exaktheit in
der Philosophie zu gewinnen. Philosophie bezieht sich somit nicht allein auf naturwissenschaftliche Fragen, sondern ebenso auf Themen wie ethik, Theologie
und Politik: Alle philosophischen Theorien müssen durch die erfahrung bestätigt werden können, denn diese ist die grundlage aller Theorie. die Beziehung
von erfahrung und Theorie ist wie das Wechselverhältnis von experiment (Beobachtung) und Theorie in der Astronomie zu verstehen: eine genauere Beobachtung führt zu einer neuen (exakteren) Theorie, diese wiederum erlaubt eine
noch differenziertere Beobachtung.52
diese methodische grundüberzeugung der Parallelität physischer und psychischer gesetzmäßigkeiten führte Wolff zu der Überzeugung, dass die moralphilosophie nur dann eine praktische Wirkung für die menschen entfalten kann,
wenn sie sich auf die Beobachtung und die erforschung der „gemüths-Kräfte“
stützt – mit anderen Worten, wenn sie von der empirischen Psychologie ausgeht.
Aus diesem Konzept experimenteller Philosophie lässt sich die Wertschätzung
der konfuzianischen Tradition insgesamt und der Person des Konfuzius unmittelbar verstehen: der Konfuzianismus ist in Jahrtausenden zu einer erfahrungstradition gereift, die ihre legitimation einerseits aus ihrem Alter begründet, andererseits das Alte aber nicht einfach kopiert, sondern immer neuen experimenta
unterzieht: „Unserem Philosophen gebührt dafür lob, daß er das Alte nicht verschmähte, bevor es geprüft worden war und daß er das, was sich im Versuch (experimentum) bewährt hatte, beibehielt und seinen schülern vortrug.“53
Wolff hat vollkommen richtig erkannt, dass Konfuzianer im Wesentlichen in der
Tradition und in der persönlichen erfahrung ihre legitimation finden. die persönliche erfahrung kann sich auf die Wahrnehmung und gestaltung innerer Prozesse beziehen (修身 xiushen), aber sie kann auch durch die Betrachtung der naturgesetze gewonnen werden:
„Fu-hsi, der, wie es nun klar ist, in der Astronomie erfahren ist, hatte erkannt, daß die
sterne in einer dauernden Bewegung umgewälzt werden und daß in der Bewegung Ordnung und stetigkeit zu beobachten ist. […] Weil also Fu-hsi das reich nach der richtschnur des Himmels einrichten wollte, war er darauf bedacht, daß das ganze sich zu einem harmonischen system entwickeln sollte; er vertraute darauf, das zu erreichen, wenn
überhaupt alle Handlungen aller menschen von einem festen gesetz bestimmt würden.“54
52 Hierin scheint ein Widerspruch zu liegen: einerseits betont Wolff die Wechselseitigkeit
von Vernunft und erfahrung (mit dem stichwort connubium experienitiae et rationis), andererseits spürt man jedoch in seinem Werk einen eindeutigen Hang zur Theorie- und systembildung. ich vermute, dass dieser Widerspruch Wolff selbst nicht bewusst war.
53 Albrecht, 107.
54 A. a. O., 87 ff.
22
Henrik Jäger
die konfuzianische Überlieferung war somit für Wolff von größter philosophischer Überzeugungskraft: sie bot ein beeindruckendes Bild des Wegs des moralischen experiments über eine in der geschichte einmalige Zeitspanne. Wolffs
Bewunderung für die chinesische Philosophie beschränkte sich nicht auf eine
objektiv-sachliche darstellung, sie führte zu einer identifikation mit Konfuzius:
„ich prüfe also die grundsätze der praktischen Philosophie der Chinesen nach derjenigen
richtschnur, die Konfuzius selbst empfiehlt und die er beachtet, indem er das, was von
den Alten verordnet, gesagt und getan worden ist, einer Prüfung unterzog, bevor er es in
seinen sitten auszudrücken vermochte.“55
diese identifikation lässt sich auch daran zeigen, wie Wolff selbst seine Beziehung zur philosophischen Tradition beschreibt:
„Jedenfalls gefällt mir der grundsatz des Konfuzius, das Alte genau abzuwägen, bevor
über seine geltung entschieden wird; was als richtig befunden wurde, nicht zu verwerfen, sondern vielmehr beizubehalten und einzuschärfen; und neues nur insoweit zuzulassen, wie man es als übereinstimmend mit der Wahrheit des Alten befindet. die Philosophie muß nicht beständig erneuert, sondern verbessert und weiter vervollkommnet
werden, ob man nun ihre methode oder die sache selbst betrachtet.“56
Wolff ist oft vorgeworfen worden, sein denken sei weder originell noch wirklich
neu gewesen. dabei ist weitgehend übersehen worden, dass es Wolff vielmehr
darum ging, die angesammelte Weisheit zweier Hochkulturen in einer (seiner!)
synthese zusammenzuführen und auf ihre Praktikabilität hin zu überprüfen. in
der konfuzianischen Tradition geht es weder um Originalität noch darum, neue
entwürfe zu schaffen, sondern um eine persönlich und gesellschaftlich fruchtbare Wirksamkeit aus den Quellen der Tradition. Beweise einer solchen Wirksamkeit gibt es im leben und Wirken Wolffs nicht wenige: Allein sein einsatz für
die einführung des deutschen als sprache der Philosophie hatte weitreichende
Konsequenzen, ohne die die weitere entwicklung deutscher Philosophie nicht zu
denken ist. Oder seine rege Korrespondenz mit den mächtigen seiner Zeit –
Wolff war tatsächlich „Weltweiser“ in dem sinne, dass er auf die Verhältnisse in
Politik und Bildungswesen unmittelbar einzuwirken versuchte. diese Aspekte
sind – aus konfuzianischer Perspektive – weitaus bedeutender, als eine „neue“
Philosophie zu begründen.
die Bestätigung durch die „praktischen Philosophie der Chinesen“ führt somit zu
einer Begründung der praktischen Philosophie Wolffs und zu ihren möglichkeiten, vor allem in moralischer und gesellschaftlicher Hinsicht wirksam zu werden.
das chinesische experimentierfeld ermöglichte Wolff eine neue Basis der legitimation einer ethik, die weder der natürlichen religion (wie z. B. bei leibniz)
55 A. a. O., 131.
56 A. a. O., 109.
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
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noch der geoffenbarten religion bedarf. religion als Bezugsrahmen wird somit
überflüssig, denn allein durch die cultura intellectus vermag der mensch das jeweils zeitbedingte menschenmögliche maß der Vollkommenheit zu erreichen.57
7. Wolffs philosophisch gegründete Lektüre – ein Ausblick
Wolffs ringen um Kriterien zur Beurteilung der Authentizität der noël’schen
Übersetzung und der „Taten und Aussprüche“ des Konfuzius kann nur angemessen beurteilt werden, wenn man es im Kontext seiner Zeit und seiner eigenen
Ziele versteht. Wolff vertiefte sich in die konfuzianischen Texte in einer epoche,
in der die Übersetzer faktisch bei null anfingen, sich in die grundlagen der chinesischen Tradition einzuarbeiten, und in der sie zudem unter immensem kirchlichen druck standen, die relevanz ihrer Übersetzung für die China-mission unter Beweis zu stellen. Auf der anderen seite hatten Übersetzer wie Couplet,
Bouvet und noël (aus heutiger sicht) den großen Vorteil, persönlich mit gelehrten einer interpretationskultur verkehren zu können, die zu Beginn des 18. Jh. in
größter Blüte stand. somit war die Utopie China tatsächlich real existierend:
Auch wenn China weit weg war, allein an den zahllosen erlesenen importen wie
Porzellan und seide, Tee und lackwaren konnte sich ein europäer überzeugen,
dass China nicht nur eine Fata morgana, sondern eine realität war, die zwar
phantastisch anmutete, aber gerade deswegen die Phantasie zu beflügeln vermochte wie kein anderes land.
die in Wolffs rede vielfach bekundete Wertschätzung der Übersetzung noëls
ist, wie unter 5 gezeigt wurde, vor allem darin begründet, dass noël weitgehend
auf jede christliche interpretation der chinesischen Klassiker verzichtet. Wolff
konnte in diesem Verzicht durchaus zu recht ein Bemühen sehen, die konfuzianischen Texte als Zeugnisse einer eigenständigen, nicht christlichen Kultur zu
vermitteln und damit die geistige Brücke weiter zu spannen, als es je ein Übersetzer aus dem Chinesischen bis dahin versucht hatte. Hätte Wolff sich nicht
über solch eine Übersetzung von der Andersartigkeit chinesischen denkens
überzeugen können, so wären seine Argumente für die Universalität dessen, was
ihm daran aufgegangen war, nicht sehr schlagkräftig gewesen: gerade weil in
einer so alten und weit entfernten Kultur die gleichen erfahrungen in der moralund staatsphilosophie gemacht wurden, müssen diese allgemein menschlichen
57 Albrecht bezeichnet diese Bestätigung durch die konfuzianische Philosophie zu recht als
das „neue“ der rede: „das ergebnis des experiments ist: die Wahrheit der allgemeinen
Praktischen Philosophie Wolffs wird […] durch die erprobung bestätigt. die allgemeine
praktische Philosophie wird dadurch zu einer größe sui generis: sie ist weit mehr als die
abstrakte grundlage der praktischen einzeldisziplinen, sondern selbst eine besondere,
zwar niedrige, aber in jeder Hinsicht zum Handeln ausreichende Form der ethik“ (a. a. O.,
Xliii).
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Henrik Jäger
Charakter haben und damit auch universell sein. so schreibt Wolff noch gegen
ende seines lebens, welch zentrale Bedeutung die konfuzianische Philosophie
für ihn hatte:
„es ist mir ein leichtestes zu zeigen, dass die lehren des Konfuzius, die die Chinesen so
sehr verwirklicht haben, von mir vom innersten der Philosophie aus erwiesen und auf die
richtschnur der Vernunft zurückgeführt worden sind, so dass sich ihre Wahrheit und ihre
nützlichkeit schon durchgesetzt hat. Und es wird zu seiner Zeit klar werden, auf welche
Weise die politischen Prinzipien in einem abwärtsfließenden Fluß aus diesen (lehren)
strömen. diese Prinzipien, die als eine Blüte des staates zu bewahren und zu nähren die
Chinesen gelehrt haben, sind es, die ich bis heute aufgezeigt habe.“58
Aus der Perspektive einer solchen Universalität lässt sich auch erklären, warum
Wolff (noch viel unmittelbarer als leibniz) überzeugt war, die experimenta des
Konfuzius und des menzius mit seinen Kriterien beurteilen und darüber hinaus
auch auf „allgemeine gründe“ bringen zu können, durch die er die konfuzianische Praxis bestätigen zu können glaubte. Aus konfuzianischer Perspektive verweist das Thema „Bestätigung“ auf einen zentralen Zusammenhang von Tradition und erfahrung: in allen epochen konfuzianischer Philosophiegeschichte ging
es um ein ausgewogenes gleichgewicht zwischen der Autorität der Tradition der
Klassiker und der riten einerseits und der reifung zu mündigkeit durch Verinnerlichung dieser Tradition andererseits. durch die Verinnerlichung wird der
sinn der Tradition zur eigenen erfahrung und die erfahrung vergangener generationen kann der eigenen Orientierung wichtige impulse geben. die eigene entwicklung muss jedoch durch die Tradition (in der regel durch einen meister) bestätigt werden. in der interpretation von Zhu Xi zu den Vier Büchern wird die
eigene erfahrung zudem an die erfahrung der „lebendigen Ordnung“ des Himmels – der naturgesetzlichkeit geknüpft: in der Ordnung der natur können wir
die Ordnung unseres geistes verstehen und zu unserer authentischen moralität
finden, die in dieser begründet liegt.
dieser Zusammenhang einer in Jahrtausenden gereiften Tradition mit der vom
einzelnen je neu zu leistenden Überprüfung in der eigenen erfahrung scheint
Wolff fasziniert und zu seiner rede angeregt zu haben. Hierbei war er allerdings
überzeugt, durch ein systematisch-rationales denken, wie er es auch in den naturwissenschaften vorfand, das chinesische erfahrungswissen neu zu durchdringen
und als Wissenschaft etablieren zu können. das herausragendste Beispiel dieser
Überzeugung stellt seine Arbeit an der „empirischen Psychologie“ dar, mit der die
Psychologie erstmals in der geschichte unter diesem Begriff als wissenschaftlichen disziplin thematisiert und etabliert wurde. die Beobachtung psychologischer
Beweggründe und entfaltungsmöglichkeiten war für ihn die Voraussetzung aller
58 Aus einem Brief an den grafen Cyrill razumovski aus dem Jahre 1752, in: Briefe von
Christian Wolff aus den Jahren 1719-1753. Ein Beitrag zur Geschichte der Kaiserlichen
Academie der Wissenschaften zu St. Petersburg, st. Petersburg 1860, 151.
Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung
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moralphilosophie, der es bis dahin vor allem an erfahrungsbezug gemangelt hat,
so dass nichts „so schlecht wie die sitten-lehre durchdacht ist“.59
ein weiterer wichtiger Aspekt der Konfuzianismusrezeption Wolffs ergibt sich
aus seiner weitgehenden identifikation mit Konfuzius und dessen Tradition, für
die es in der westlichen Philosophie kein Vorbild gab: nicht mehr der einzelne,
einzigartige denker des neuen, der durch seine schlagenden Argumente das Alte
ablöst, ist die Basis seines selbstbilds, sondern der Überlieferer, der einerseits
durch die Verwurzelung in seiner Tradition aus dem gesamten erfahrungswissen
seiner Vorgänger schöpft, der andererseits dieses aber in seiner lebenspraxis experimentell auf seine Praktikabilität hin prüft.
Weitere Untersuchungen zur Konfuzianismusrezeption Wolffs werden auch diesen Aspekt mitbedenken müssen. Hierbei könnte sich herausstellen, dass der
Vorwurf der mangelnden Originalität vor dem Hintergrund der konfuzianischen
Tradition neu bewertet werden muss. denn für diese war nicht die Originalität
Beweis für Authentizität, sondern die Bestätigung, dass ein Philosoph durch sein
unmittelbares Verständnis der Texte einen Zugang zu den Quellen gefunden hat
und somit selbst ein Teil des lebendigen stromes dieser Tradition geworden ist.
Dr. Henrik Jäger, Universität Hildesheim, Institut für Philosophie,
Marienburger Platz 22, 31141 Hildesheim; E-Mail: [email protected]
59 in seiner Vorlesungsschrift „Von der moralischen erfahrung“ schreibt Wolff: „obgleich
kein Theil der Philosophie dem menschlichen geschlechte mehr nutzen verspricht als die
moral-Philosophie, […] so kann man doch nicht leugnen, daß fast nichts so schlecht als
die sittenlehre durchgedacht ist. die Ursache lieget vor Augen. die Ausübung der sittenlehre beruhet auf rechtem gebrauche der gemüths-Kräfte, und muß daher aus psychologischen grundlehren erwiesen werden.“ (Christian Wolff, Gesammelte kleine philosophische Schriften VI, Halle 1740, 479).
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