Sommer 2016 GRUNDLAGEN DES VERSICHERUNGSMANAGEMENTS Prof. Dr. Jörg Schiller [email protected] Weitere Informationen auf unserer Lehrstuhl-Homepage http://www.insurance.uni-hohenheim.de sowie auf https://ilias.uni-hohenheim.de Inhalt 1. Risiko und Risikomanagement 2. Risikotheorie und Risikoausgleich im Kollektiv 3. Kapitalmarkttheorie 4. Risikomanagement und Versicherungsnachfrage 5. Finanzintermediation 6. Grundlagen der Versicherungsmärkte 7. Risikomanagement im Versicherungsunternehmen SoSe 2016 Versicherungsmanagement 2 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Definition des Risikos Individuen besitzen grundsätzlich drei Aktiva (Assets): – Gesundheitskapital – Fähigkeitskapital – Finanzkapital (Vermögen) Diese Aktiva erlauben es dem Individuen z. B. – Konsumgüter zu kaufen und diese zu genießen – Arbeits- und Kapitaleinkommen zu erzielen Aktiva sind zufälligen Störungen unterworfen, die zu Wertschwankungen führen → Abweichung zwischen geplanten und realisierten Werten SoSe 2016 Versicherungsmanagement 3 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Definition des Risikos Umgangssprachlich werden Abweichungen realisierter von geplanten Werten in Risiken und Chancen eingeteilt: – Risiko (Verlustgefahr): negative Abweichung des realisierten vom geplanten Wert, d.h. Eintritt eines unerwünschten Falles – Chance (Gewinn): positive Abweichung des realisierten vom geplanten Wert, d.h. Eintritt eines positiven Falles Welche Probleme ergeben sich aus einer solchen Kategorisierung von Abweichungen? SoSe 2016 Versicherungsmanagement 4 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Definition des Risikos Das Risiko einer Handlung oder eines Vorganges lässt sich durch die Wahrscheinlichkeiten (𝑝) der möglichen Konsequenzen bzw. Ergebnisse (𝑥) beschreiben. Wahrscheinlichkeiten – Die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses liegt immer zwischen 0 und 1: 0 ≤ 𝑝(𝑥) ≤ 1 • 𝑝(𝑥) = 0: Ergebnis tritt mit Sicherheit nicht ein • 𝑝(𝑥) = 1: Ergebnis tritt mit Sicherheit ein – Die Summe einer Wahrscheinlichkeiten aller Ergebnisse ist 1: σ 𝑝 𝑥 = 1 Beispiel: Risiko eines Würfelwurfes SoSe 2016 Versicherungsmanagement 5 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Wahrscheinlichkeitskonzepte Logische (bzw. objektive a priori) Wahrscheinlichkeiten – Ausnahmefall – Fairer Würfel: Die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Augenzahl (z. B. „5“) ist nicht höher als die einer anderen Augenzahl (z. B. „4“). → Alle Augenzahlen treten mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf (Prinzip des unzureichenden Grundes; Laplace-Wahrscheinlichkeiten). Frequentistische (bzw. objektive a posteriori) Wahrscheinlichkeiten → Wahrscheinlichkeit als Grenzwert relativer Häufigkeiten Subjektive Wahrscheinlichkeiten → Wahrscheinlichkeiten als subjektive Glaubwürdigkeitsziffern SoSe 2016 Versicherungsmanagement 6 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Wahrscheinlichkeitskonzepte Frequentistische Wahrscheinlichkeiten (Entwicklung der Lebenserwartung, Deutschland) Quelle: Schmidt et al. (2005) SoSe 2016 Versicherungsmanagement 7 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Wahrscheinlichkeitskonzepte Frequentistische Wahrscheinlichkeiten (Entwicklung der Lebenserwartung, Deutschland) Geburt/im Alter 60 [in Jahren], Frauen in schwarz 90 79,29 80 64,56 50 20 43,97 77,72 30 67,41 25,03 25 22,36 55,97 38,45 35,58 12,71 12,11 19,12 40,56 21,28 17,46 15,51 13,60 17,96 16,20 14,60 10 0 72,90 58,82 60 30 35 73,83 68,48 70 40 82,80 12,82 15,31 20 15 10 Quelle: Statistisches Bundesamt (2015) SoSe 2016 Versicherungsmanagement 8 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Wahrscheinlichkeitskonzepte Frequentistische Wahrscheinlichkeiten (Entwicklung der Lebenserwartung, weltweit) Quelle: Christensen et al. (2009), Oeppen und Vaupel (2002) SoSe 2016 Versicherungsmanagement 9 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Wahrscheinlichkeitskonzepte Subjektive Wahrscheinlichkeiten Quelle: Slovic et al. (1979) SoSe 2016 Versicherungsmanagement 10 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Zufallsvariablen Das Risiko kann durch eine sogenannte Zufallsvariable 𝑋 beschrieben werden: – Fall 1: Diskrete Zufallsvariable 𝑋= 𝑥1 , 𝑝1 , 𝑥2 , 𝑝2 , … , 𝑥𝑖 , 𝑝𝑖 , … , 𝑥𝑛 , 𝑝𝑛 = {𝑥1 , 𝑥2 , … , 𝑥𝑖 , … , 𝑥𝑛 , 𝑝1 , 𝑝2 , … , 𝑝𝑖 , … , 𝑝𝑛 } – Fall 2: Stetige Zufallsvariable: f(x) Dichtefunktion F(x) Verteilungsfunktion 1 x 0 SoSe 2016 x 0 Versicherungsmanagement 11 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Risikomaße Im Folgenden werden einige Risikomaße jeweils für diskrete und stetigen Zufallsvariablen 𝑋 definiert. Dabei sind – 𝑥𝑗 die möglichen Ausprägungen von 𝑋, – 𝑝𝑗 die zugehörigen Punktwahrscheinlichkeiten und – 𝑓(𝑥) die Dichtefunktion in Abhängigkeit von den stetig zu variierenden Ausprägungsmöglichkeiten. 1. Erwartungswert: a) Diskrete Zufallsvariable: 𝐸[𝑋] ≔ 𝜇 = σ𝑗 𝑝𝑗 · 𝑥𝑗 b) Stetige Zufallsvariable: SoSe 2016 ∞ 𝐸 𝑋 ≔ 𝜇 = −∞ 𝑥 · 𝑓 𝑥 𝑑𝑥 Versicherungsmanagement 12 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Risikomaße 2. Streuungsmaße Varianz (absolutes Maß) a) 𝑉𝑎𝑟 𝑋 = 𝜎 2 ≔ 𝐸 𝑋 − 𝜇 2 = σ𝑗 𝑥𝑗 − 𝜇 b) 𝑉𝑎𝑟 𝑋 = 𝜎 2 ≔ 𝐸 𝑋 − 𝜇 2 = −∞ 𝑥 − 𝜇 ∞ 2 · 𝑝𝑗 = σ𝑗 𝑥𝑗2 · 𝑝𝑗 − 𝜇 2 2 · 𝑓 𝑥 𝑑𝑥 Variationskoeffizient (relatives Maß) 𝑣𝑋 = SoSe 2016 𝜎 𝜇 Versicherungsmanagement 13 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Risikomaße 3. Schiefe Die Schiefe beschreibt die „Neigungsstärke“ einer Verteilung. Sie zeigt an, ob und wie stark die Verteilung nach rechts (positive Schiefe) oder nach links (negative Schiefe) geneigt ist. 𝐸 𝑋 −𝜇 𝑦 𝑋 =: 𝜎3 3 f(x) f(x) x x Linksschief y(x)<0 Rechtsschief y(x)>0 SoSe 2016 Versicherungsmanagement 14 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Warum sind Risiken mit Kosten verbunden? Betrachten wir zwei identische Häuser, die einen Wert von 300.000 € haben. – Ein Haus steht in einem Überflutungsgebiet, sodass mit der Wahrscheinlichkeit von 𝑝 = 0,1 ein Schaden von 100.000 € entsteht. – Ein Haus steht in einem Gebiet ohne Überflutungsrisiko. Was wäre Sie bereit, für das Haus im Überflutungsgebiet zu bezahlen? Quelle: Harrington und Niehaus (2003) SoSe 2016 Versicherungsmanagement 15 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Direkte vs. indirekte Risikokosten Im Zusammenhang mit dem möglichen Schäden müssen sowohl direkte als auch indirekte Kosten berücksichtigt werden: – Direkte Kosten: Schadenkosten – Indirekte Kosten: Für Unternehmen sind indirekten Risikokosten von besonderer Bedeutung: Quelle: Harrington und Niehaus (2003) SoSe 2016 Versicherungsmanagement 16 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Kosten des VW-Abgasskandals? Quelle: Volkswagen, Präsentation Ergebnisse 3. Quartal 2015 SoSe 2016 Versicherungsmanagement 17 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Kosten des VW-Abgasskandals? Was kostet der Skandal? „Die gesamten finanziellen Folgen des Dieselgates sind noch nicht absehbar. Im dritten Quartal hat der Autobauer bereits 6,5 Milliarden Euro zurückgestellt. Doch Experten sind sich einig, dass diese Summe bei weitem nicht ausreichen wird. Es gibt derzeit zu viele Unwägbarkeiten, um eine belastbare Summe nennen zu können. Wie hoch wird die Strafe, die die EPA verhängt? Wie teuer werden die Schadenersatzklagen von Investoren und Kunden? Was kostet der gesamte Rückruf am Ende? Und nicht zuletzt: Wie viele Kunden – und damit Umsatz – verliert der Konzern, weil ein Teil der Autokäufer das Vertrauen verloren hat und zur Konkurrenz wechselt?“ Wirtschaftswoche vom 12. Oktober 2015 SoSe 2016 Versicherungsmanagement 18 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Kosten des VW-Abgasskandals? Abgas-Skandal zwingt VW zu Kürzungen bei Investitionen „Für das kommende Jahr will VW die Sachinvestitionen auf maximal 12 Milliarden Euro begrenzen. Das sei etwa eine Milliarde Euro weniger als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. So sollen im kommenden Jahr 100 Millionen Euro mehr als bisher geplant in alternative Antriebe gesteckt werden. Bereits vor Wochen hatte der Konzern für die Hauptmarke VW Einsparungen von einer Milliarde Euro angekündigt. Gekürzt werden soll zum Beispiel bei einem geplanten Designzentrum in Wolfsburg. Der Bau soll verschoben werden, dies führe zu Einsparungen von 100 Millionen Euro, hieß es. Außerdem solle der Bau einer Lackiererei in Mexiko überprüft werden. Bei der Modellpalette werde wie bereits bekannt der Nachfolger des Phaeton verschoben, der dann als Elektroauto auf den Markt kommen soll.“ Zeit Online vom 20. November 2015 SoSe 2016 Versicherungsmanagement 19 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Risikoquellen Persönliche Risiken Einkommen Gesundheit Haftpflicht Physisches Vermögen Finanzielles Vermögen Langlebigkeit Tod Kfz Kfz Aktien Invalidität Gebäude Gebäude Anleihen Alterung Boote Arbeitslosigkeit Quelle: Harrington und Niehaus (2003) SoSe 2016 Versicherungsmanagement 20 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Risikoquellen Unternehmensrisiken Preisrisiken Output-Preisrisiken Ausfallrisiken Input-Preisrisiken Reine Risiken Vermögensschäden Haftpflichtschäden Marktpreisrisiko Berufsunfälle Wechselkursrisiko Pensionsrisiken Zinsrisiko Quelle: Harrington und Niehaus (2003) SoSe 2016 Versicherungsmanagement 21 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Reine Risiken und ihr Management Das Risikomanagement von Unternehmen konzentriert sich traditionell auf reine Risiken. Eigenschaften reiner Risiken: – Schäden aus der Zerstörung von Vermögensgegenständen, Haftpflichtschäden sowie Schäden durch Unfälle. → Schäden können ein hohes Ausmaß erreichen, sodass die Unternehmensexistenz gefährdet sein kann. – Die zugrundeliegenden Ursachen sind in der Regel unternehmensspezifisch und abhängig von den Aktivitäten des Managements. → Produkthaftung, Zerstörung von Produktionsanlagen Unternehmen reduzieren negative Folgen von reinen Risiken durch die Versicherungsnachfrage, da … – resultierende Schäden nicht durch Gewinne anderer Geschäfte ausgeglichen werden; – handelbare Finanzderivate nicht verfügbar oder die Risiken nicht gut genug kompensieren; – Versicherungsunternehmen Vorteile bei der Einschätzung und Abwicklung haben. SoSe 2016 Versicherungsmanagement 22 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Reine Risiken und ihr Management Die Deutsche Bahn AG war bis zum Jahr 2007 gegen Überflutungsschäden versichert. – Die Verträge wurden wegen zu hoher Prämien gekündigt. – Die jährliche Deckungssumme lag bei 100 Mio. € und die Prämie bei 23 Mio. €. Im Juni 2013 entstanden durch Überflutungen Schäden durch Gleis- und Brückenschäden sowie Umsatzeinbußen von bis zu 200 Mio. €. Deutsche Bahn AG (2012) • • • • • Umsatz: Gewinn (EBIT): Eigenkapital: Fremdkapital: Reisende: 39,3 Mrd. € 2,7 Mrd. € 15,9 Mrd. € 36,6 Mrd. € 1.97 Mio. → Wie beurteilen Sie das Risikomanagement der Bahn AG? SoSe 2016 Versicherungsmanagement 23 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Der Risikomanagementprozess Der Risikomanagementprozess umfasst die Kernschritte: Risikoidentifikation Risikobewertung (Häufigkeiten und Konsequenzen) Entwicklung und Auswahl geeigneter Methoden Implementierung der gewählten Methoden Risikoüberwachung und Überprüfung der Eignung gewählter Methoden. SoSe 2016 Versicherungsmanagement 24 Kapitel 1: Risiko und Risikomanagement Methoden des Risikomanagements Schadenkontrolle Schadenfinanzierung Interne Risikoreduzierung Aktivitätsniveau Selbsttragung Diversifikation Schadenverhütung Versicherung Investition in Information Hedging Andere vertragliche Risikotransfers Quelle: Harrington und Niehaus (2003) SoSe 2016 Versicherungsmanagement 25