Venöse Thromboembolie – Tumor als Risikofaktor

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Praktische Dermatologie
Venöse Thromboembolie – Tumor als Risikofaktor
H. Kiesewetter, H. Radtke,
F.-P. Schmidt, Kristina Körber
Summary
Venous thromboembolisms (VTE) are
frequent complications in tumor patients and the second most common
cause of death. They are especially frequent in patients with pancreatic, gastric, renal cell, brain, bronchial and
ovarian carcinoma as well as lymphomas. This is why anticoagulation
should be considerated besides tumor
treatment and supportive therapy. According to present knowledge heparin
is best suited. Before starting the anticoagulation, in addition to tumor diagnostics, a standardized history of coagulation is mandatory and, if necessary, an analysis of coagulation, in order to make a better assessment of the
risk of thrombosis. The risk of thrombosis is especially high in people with
thrombophilia or with a previously suffered thrombosis. Comorbidities such
as congenital heart failure, chronical
obstructive lung diseases, an acute or
chronical infection such as Crohn’s disease or ulcerative colitis, as well as infections in the head region (sinusitis,
jaw abscesses or a pronounced parodontitis) do favour a thrombosis as
well. A hypercoagulability occurs in an
average of 50% of patients with primary tumors and in 90% in the advanced state of metastatic spread. The risk
of VTE in tumor patients after surgery
or during a chemotherapy is 3–6.5
times higher than in non-tumor patients. If the score in the standardized
history sheet is 3 or more an evaluation
of thrombophilia should follow.
If the risk of thrombosis is high an anticoagulation with heparin should be applied. The dosis depends on the comor340
bidities and the extent of the hypercoagulation. Heparin has an immunologic effect as well and is possibly able
to prolong the survival time of tumor
patients. The intravenous administration of gluthathione and the subcutaneous administration of mistletoe extract should be considered as supportive therapy. Both schemes, as well as alkaline diet, which is optimal when the
pH of the urine is 7, support the immune system.
Keywords
Thromboembolism, cancer, heparintherapy, anticoagulation.
Zusammenfassung
Venöse Thromboembolien (VTE) sind
häufige Komplikationen bei Tumorpatienten und die zweithäufigste Todesursache. Besonders häufig treten sie
bei Pankreas-, Magen-, Nieren-, Gehirn-, Lungen-, Ovarialkarzinomen
sowie Lymphomen auf. Deshalb sollte
neben der Tumortherapie und der supportiven Therapie auch eine Antikoagulation erwogen werden. Nach den
bisherigen Erkenntnissen ist Heparin
am besten geeignet. Vor der Antikoagulation sollte neben der Tumordiagnostik auch eine standardisierte
Gerinnungsanamnese und gegebenenfalls eine Gerinnungsanalyse erfolgen,
um das Thromboserisiko besser abschätzen zu können.
So ist das Thromboserisiko besonders
hoch, wenn eine Thrombophilie vorliegt oder eine Thrombose in der Anamnese bekannt ist. Aber auch Komorbiditäten wie Herzinsuffizienz, chronisch obstruktive Lungenerkrankung,
eine akute oder chronische Entzündung, wie zum Beispiel Morbus Crohn
© Omnimed Verlag
oder Colitis ulcerosa, aber auch Entzündungen im Kopfbereich (Sinusitis, Kieferabszesse oder eine ausgeprägte Parodontitis) begünstigen eine Thrombose. Eine Übergerinnbarkeit tritt im Mittel bei 50% der Patienten mit Primärtumoren und bei 90 % im fortgeschrittenen Stadium der Metastasierung auf.
Das VTE-Risiko ist bei Tumorpatienten
nach einer Operation oder während einer Chemotherapie 3- bis 6,5-mal höher
als bei Nicht-Tumorpatienten. Sollte der
Score aus dem standardisierten Anamnesebogen (Tab. 1) drei und mehr betragen, so sollte eine Thrombophilieabklärung erfolgen.
Ist das Thromboserisiko hoch, sollte eine Antikoagulation mit Heparin vorgenommen werden. Die Dosierung richtet
sich nach der Komorbidität und dem
Ausmaß der Übergerinnbarkeit. Heparin wirkt auch immunologisch und
kann möglicherweise die Überlebenszeit bei Tumorpatienten verlängern. Als
supportive Therapie sollte auch die intravenöse oder orale Gabe von Glutathion und die subkutane Gabe von Mistelextrakt erwogen werden. Beide Maßnahmen unterstützen das Immunsystem, wie auch eine basische Ernährung,
die optimal ist, wenn der Urin-pH auf 7
eingestellt ist. Als Antioxidantien sind
neben Glutathion, Holundersaft, grüner Tee und Cystustee zu empfehlen.
Schlüsselwörter
Lungenembolie, thrombembolische
Komplikationen, Tumorpatienten, Heparin-Therapie, Antikoagulation.
Einleitung
Erstmals hat der französische Arzt
Armand Trousseau den Zusammenhang zwischen einer VTE und einer
derm (19) 2013
Praktische Dermatologie
TF
PC/AT
PAI-1
PAI-1
uPA/tPA
Modulation der
Gerinnung
IL-1/TNF-α
VEGF
Tumor Zytokine
Tumorzelle
Prokoagulatorische Faktoren
TF
Zellinteraktion
Adhäsionsmoleküle
Tumorprokoagulantien
Endothelaktivierung
Thrombozytenaktivierung/PMN/
Makrophagen
Abb. 1: Pathophysiologische thrombosefördernde Mechanismen (nach 26). TF = »tissue
factor«; PC = Protein C; AT = Antithrombin; PA = Plasmonigen-Aktivator; PAI = Plasminogen-Aktivator-Inhibitor; uPA = Urokinase-Typ Plasmonigen-Aktivator; tPA = gewebespezifischer Plasminogen-Aktivator; TNF = Tumornekrosefaktor; IL = Interleukin; VEGF
= »Vascular Endothelial Growth Factor«; PMN = »polymorphonuclear Leucocytes«
Abb. 2: Tumorzell-Wechselwirkung mit der Gefäßwand (nach 26)
Tumorerkrankung erkannt. Virchow
hat seine Trias als Folge von Thrombosen und Embolien verstanden (Gefäßwandveränderungen, reduzierte Blutströmung, veränderte Zusammensetzung des Bluts) (27). Mit zunehmendem Lebensalter nimmt das Risiko
immer mehr zu, an Krebs zu erkranken
(36). Obwohl die Tumortherapie zunehmend Fortschritte macht, treten
bei bis zu 10% der Patienten mit Karzinomen VTEs und Lungenarterienembolien (LAE) auf (27, 31, 36). Klinisch
können sich neben Bein- oder Armvenenthrombosen auch eine Thrombophlebitis migrans oder saltans, eine
derm (19) 2013
nicht-bakterielle thrombotische Endokarditis, eine arterielle digitale oder
zerebrale mikrovaskuläre Thrombose,
eine Lebervenen-, Portal- oder Mesenterialvenenthrombose zeigen. Nicht
selten treten rezidivierende thrombembolische Komplikationen unter oraler Antikoagulanzientherapie auf (18).
Eine VTE erhöht die Mortalität eines
Tumorpatienten um das Dreifache und
ist die zweithäufigste Todesursache
(20). Zirka 20% aller diagnostizierten
VTE-Patienten sind Tumorpatienten (19). Ein maligner Tumor ist der
wichtigste erworbene Risikofaktor für
eine VTE (19). Nach einer Tumorope© Omnimed Verlag
ration oder während einer Chemotherapie ist das VTE Risiko 3- bis 6,5-mal
höher als bei Patienten, die nicht an
malignen Tumoren erkrankt sind (20).
Auch Rezidive von VTE treten bei
Tumorpatienten 2- bis 5-mal häufiger
auf als bei anderen Patienten (32). Zudem ist das Rezidivrisiko in den ersten
Monaten nach der Diagnosestellung
einer Tumorerkrankung am größten
(20). Besonders häufig treten VTE und
LAE sowie deren Rezidive bei Pankreas-, Magen-, Nieren-, Gehirn-, Lungen-, Ovarialkarzinomen sowie Lymphomen auf (19, 23, 25). Aber auch
Komorbiditäten wie Herzinsuffizienz,
chronisch obstruktive Lungenerkrankung, eine akute oder chronische Entzündung, wie zum Beispiel Morbus
Crohn oder Colitis ulcerosa, aber auch
Entzündungen im Kopfbereich (Sinusitis, Kieferabzesse oder eine ausgeprägte Parodontitis) begünstigen eine
Thrombose (1, 2, 8, 10, 12–15, 29–31).
Bei 10–15% der Patienten mit der Erstdiagnose VTE wird bis zu 12 Monaten
nach dieser Diagnose ein Tumor gefunden (20, 31). 6–53% der Patienten mit
Thrombophlebitis entwickeln eine
VTE und bis zu 10% eine LAE bis zu
drei Monaten nach dem entzündlichen
Ereignis. Zirka 13% der Patienten mit
Thrombophlebitis leiden auch an
einem Karzinom (7, 28, 31).
Pathophysiologische
Veränderungen
Bei Tumorpatienten finden sich häufig
Verringerungen des Blutflusses, erhöhte Spiegel und eine Aktivierung von
Monozyten, eine Aktivierung der »prokoagulatorischen Faktoren«, eine Verminderung des Inhibitorpotenzials mit
verminderter Aktivierbarkeit des Protein-C- und Antithrombin-Systems,
zum Beispiel bei reduzierter Leberfunktion bei Lebermetastasen. Zudem
nimmt die Aktivität des fibrinolytischen Systems ab und Zellinteraktionen über Adhäsionsmoleküle nehmen
zu (4, 6, 24, 26).
50% der Karzinompatienten mit Primärtumor und 90% mit Metasta341
Praktische Dermatologie
Tabel le 1
Patienten-Fragebogen zur Thrombophilieabklärung
1. Haben Sie früher eine Thrombose (in den Beinen, Armen, im Bauch oder im Kopf) und/oder eine Lungenembolie
erlitten?
2. Haben Sie mehr als eine Thrombose oder Lungenembolie erlitten?
3. Haben nahe Familienangehörige Thrombosen oder Lungenembolien erlitten?
4. Ist die Neigung Ihres Bluts zur übermäßigen Gerinnung (z.B. Faktor-V-Leiden) bekannt?
5. Leiden Sie an einem bösartigen Tumor (Krebs)?
6. Leiden Sie an einer chronischen Entzündung (z.B. Rheuma mit Gelenk- oder Muskelentzündung, Knochenentzündung, Colitis ulcerosa, M. Crohn)?
7. Haben Sie ein Venenleiden (Krampfadern, Venenentzündung: akut oder in der Vorgeschichte)?
8. Nehmen Sie Medikamente, die eine Thrombose begünstigen können, wie zum Beispiel östrogenhaltige
Medikamente (Pille, Hormonersatztherapie) oder Zytostatika ein?
9. Ist eine größere Operation geplant, zum Beispiel an Bauch, Herz, Wirbelsäule oder Gelenken?
10. Waren Sie in den letzten 12 Wochen in Ihrer Beweglichkeit eingeschränkt (z.B. bettlägerig, Gipsschiene)?
11. Haben Sie schon einmal einen Schlaganfall erlitten?
12. Leiden Sie an einem klassischen Risikofaktor für Herzinfarkt oder Hirnschlag (z.B. Bluthochdruck, Diabetes
mellitus, Fettstoffwechsel, Rauchen)?
13. Haben Sie Herzfehler, die mit »Blutverdünner« behandelt werden?
sen zeigen eine erhöhte Gerinnungsaktivität, zum Beispiel durch Steigerung der Aktivität von Faktor Xa,
Faktor VIII, »tissue factor«, Thrombin, Fibrin, D-Dimere sowie eine Aktivitätszunahme von Plasminogen-Aktivator-Inhibitor 1, um die wichtigsten
Veränderungen zu nennen (4, 6, 24, 26,
27).
Die wichtigsten pathophysiologischen
Veränderungen sind in der Abbildung
1 zusammengestellt und nachfolgend
detailliert aufgeführt.
1. Erhöhung prokoagulatorischer Faktoren:
– Tumorprokoagulantien, wie Faktor
Xa, Faktor VIIIa, IIa, Ia,
– »tissue factor« (TF).
342
2. Modulation der Gerinnung:
– Plasminogenaktivator-Inhibitor-Aktivitäts-Erhöhung (PAI-1),
– Urokinase-Typ-Plasminogen-Aktivator-Senkung, Tissue-Typ-Plasminogen-Aktivator-Senkung,
– Protein-C-Aktivitäts-Senkung, Antithrombin-Aktivitäts-Senkung bei
der disseminierten intravasalen
Koagulation (DIC) oder Hepathopathie.
3. Stimulation von Tumor-Zytokinen
(Entzündungsmedikatoren):
– Interleukin 1,
– Tumor Nekrosefaktor 2,
– PAI-1,
– vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor (»grow factor« [VEGF]),
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– Stimulation von Gewebefaktor (»tissue factor« [TF]).
4. Zellinteraktion:
– Stimulation von Adhäsionsmolekülen,
– Aktivierung der Endothelzellen,
– Plättchenaktivierung,
– Aktivierung polymorphkerniger Leukozyten.
In Abbildung 2 ist die TumorzellWechselwirkung im Gefäßbett dargestellt. Sie zeigt, dass Tumorzellen am
Gefäßendothel kleben, auch sind
Thrombozyten aktiviert sowie polymorphkernige Leukozyten und das
Endothel selbst. Aktivierte Thrombozyten und polymorphkernige Leukozyten setzen Wachstumsfaktoren frei
derm (19) 2013
Praktische Dermatologie
Ta belle 2
Risiken der Übergerinnbarkeit
Risikofaktor
Häufigkeit
Thromboserisiko
Protein-S-Mangel
0,2%
5- bis 10-fach
Protein-C-Mangel
0,2%
5- bis 10-fach
Antithrombinmangel
0,1%
15-fach
Hyperhomozysteinämie
10%
2- bis 3-fach
APA-Syndrom
3%
Persistierende Faktor-VIII-Erhöhung
25%
4- bis 6-fach
Persistierende Faktor-XI-Erhöhung
20%
2-fach
Homozystein µmol-Schritte (> 10)
1,5-fach
Heterozygote PAI-1-Mutation
48%
1,2-fach
Homozygote PAI-1-Mutation
29%
1,6-fach
Heterozygote FSP-Mutation
3%
3-fach
Homozygote FSP-Mutation
0,2%
12-fach
Heterozygote ProthrombinMutation 19911
50%
1,2-fach
Homozygote ProthrombinMutation 19911
25%
1,5-fach
Heterozygote Faktor-VLeiden-Mutation
7%
8-fach
Homozygote Faktor-VLeiden-Mutation
0,2%
50-fach
Heterozygote Prothrombin20210-Mutation
1,5%
4-fach
Homozygote Prothrombin20210-Mutation
0,005%
20-fach
Heterozygote V-HR2-Mutation
16%
1,2-fach
Homozygote V-HR2-Mutation
1%
1,6-fach
APA = Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom; PAI = Plasminogen-AktivatorInhibitor; FSP = »familial spactic paraplegia«
derm (19) 2013
© Omnimed Verlag
und ermöglichen die Wanderung der
Tumorzellen durch das Endothel. Die
Endothelzellaktivität löst die Gerinnungskaskade aus. Die Hyperkoagulabilität, die Thrombozytose und die
Leukozytose (polymorphkernige) stimulieren somit eine Thrombose (4, 6,
24, 26, 27).
Thrombin stimuliert die Angiogenese,
direkt durch »Protease aktivierter Rezeptor 2« (PAR-2), indirekt durch Fibrin. Fibrin induziert »Vascular Endothelial Growth Factor« (VEGF) im
Endothel und in den Tumorzellen und
die Freisetzung von Interleukin-8 aus
den Endothelzellen (4, 6, 24, 26, 27).
»Tissue factor« (TF), Tumor-Zytokine
(TNF-α, TNF-β) oder VEGF selbst
(positive Rückkopplung) exprimieren
VEGF in den Tumorzellen (4, 6, 24, 26,
27).
Eine ähnliche Situation tritt bei akuten
Schüben von chronisch entzündlichen
Erkrankungen auf, wie zum Beispiel
beim Morbus Crohn oder der Colitis
ulcerosa. Aber auch Entzündungen im
Kopfbereich (Sinusitis, Kieferabszesse,
ausgeprägte Parodontitis) können zum
Beispiel Ursachen einer Sinusvenenthrombose sein (1, 2, 8, 10, 12–15,
29–31). Auch die Thrombophlebitis
begünstigt die LAE (7, 28, 31).
Diagnostik
Zunächst sollte die Abschätzung des
VTE- beziehungsweise LAE-Risikos
anamnetisch erfasst werden. Hier eignet sich der Fragebogen von Kucher
(21) oder dessen Weiterentwicklung
durch die Ärzte des Hämostaseologicums MVZ Berlin, die auch Autoren
dieses Artikels sind. Der Fragebogen ist
in der Tabelle 1 zusammengestellt. Jede
Frage muss mit ja oder nein beantwortet werden.
Die Beurteilung durch den Arzt führt
zu einem Score-Wert. Die Fragen 1–5
werden jeweils mit drei Score-Punkten
bewertet (auch idiopathische VTE und
LAE). Nicht idiopathische VTE oder
343
Praktische Dermatologie
LAE werden mit zwei Score-Punkten
bewertet. Eine akute Thrombophlebitis oder der Schub einer chronischen
Entzündungserkrankung werden ebenfalls mit drei Score-Punkten bewertet
(Frage 6 u. 7). Ansonsten werden die
positiv beantworteten Fragen 6–10 mit
zwei Punkten bewertet, die Fragen
11–13 mit einem Score-Punkt. Sollten
mindestens drei Score-Punkte erreicht
werden, sollte eine Thrombophilieabklärung erfolgen. Es werden ein Gerinnungsstatus (»International Normalized Ratio« [INR], Quick, »partial
thromboplastin time« [PTT], Lupus
sensitive PTT, Lupusantikoagulanz,
Fibrinogen, D-Dimere, PAI-1-Aktivität,
tPA-Aktivität, Plasmaviskosität, Faktor
VIII, Faktor XI, Antithrombin, Protein
C, aktivierte Protein C [APC]-Resistenz, Protein S, Protein Z und Homozystein), ein Blutbild, die Phospholipid-Antikörper, das C-reaktive Protein
und die drei wichtigsten Genpolymorphismen der Gerinnung (Faktor-V-Leiden, Prothrombin 20210, FSAP 1601)
gemessen.
Bei Patienten, die 50 Jahre oder jünger
sind, sollten auch die PAI-1-, FaktorVHR2- und Prothrombin-19911-Mutationen bestimmt werden. Aus den
erhobenen Daten wird das Thromboserisiko abgeschätzt.
In der Tabelle 2 sind die VTE- beziehungsweise LAE-Risiken zusammengestellt.
Ist das Risiko um den Faktor 5 oder
mehr erhöht, sollte eine prophylaktische Antikoagulation erwogen werden.
Besteht der klinische Verdacht auf VTE
sollte der Wells-Score (Tab. 3) zur Ermittlung der klinischen Wahrscheinlichkeit ermittelt werden.
Das diagnostische Vorgehen bei Tumorpatienten unterscheidet sich nicht
vom Vorgehen bei Nicht-Tumorpatienten. Mit Hilfe der D-Dimere und dem
Kompressionsultraschall wird ein VTE
der Beinvenen diagnostiziert oder ausgeschlossen (31). Für andere Lokalisationen kann eine Sonografie, Phlebo344
Ta belle 3
Wells-Score zur Abschätzung der klinischen Wahrscheinlichkeit einer VTE
Parameter
Variable
Punkte
– Aktive Krebserkrankung
– Lähmung oder kürzlich Immobilisierung
der Beine
– Bettruhe (> 3 Tage); große Chirurgie
(< 12 Wochen)
– Schmerz/Induration entlang der tiefen Venen
– Schwellung gesamtes Bein
– Schwellung des Unterschenkels
< 3 cm gegenüber Gegenseite
– Eindrückbares Ödem am symptomatischen Bein
– Kollateralvenen
– Frühere, dokumentierte
tiefe Venenthrombose (TVT)
– Alternative Diagnose mindestens
ebenso wahrscheinlich wie eine TVT
Klinische Wahrscheinlichkeit
– Hoch
– Nicht hoch
grafie, Computertomografie (CT) oder
Magnetresonanztomografie (MRT) erforderlich sein (31). Auch beim klinischen Verdacht einer Lungenembolie
wird die Diagnostik wie beim NichtTumorpatienten durchgeführt. Die
Abschätzung der Wahrscheinlichkeit
wird mit dem dichtomisierten WellsScore oder dem revidierten GenferScore vorgenommen. Es werden Bluthochdruck, die Herzfrequenz, eine
Echokardiografie, Troponin, N-terminales »pro brain natriuretic peptide«,
D-Dimere und zur Sicherung ein
Mehrschicht-Spiral-CT oder eine Angiografie durchgeführt (Tab. 4) (31).
Wird eine VTE oder LAE diagnostiziert, sollte eine Heparinisierung mit
einem niedermolekularen Heparin in
therapeutischer Dosis begonnen werden. Bei Tumorpatienten sollte auch
das Blutungsrisiko mit einem standardisierten Anamnesebogen abgeschätzt
werden. Die Fragen müssen mit ja oder
nein beantwortet werden (Tab. 5).
Die Fragen 1–6 werden mit einem
Score-Wert von drei, die Fragen 7–12
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1
1
1
1
1
1
1
1
1
–2
Größer als 2
<2
mit zwei versehen. Sollte der ScoreWert über drei oder mehr betragen,
sollte ein Blutbild, der Gerinnungsstatus mit von Willebrand-Parametern,
ein Thrombozytenfunktionstest und
eine In-vivo-Blutungszeit (z.B. Surgicutt bestimmt werden) liegt ein erhöhtes Blutungsrisiko vor, sollte nur mit
Heparin antikoaguliert werden.
Therapie
Eine Thromboseprophylaxe sollte für
alle Tumorpatienten nach dem chirurgischen Eingriff, der im Allgemeinen
länger als 30 Minuten dauert, mit einem niedermolekularen Heparin für
den Hochrisikobereich für mindestens
sechs Wochen, besser noch für drei
Monate, in Abhängigkeit des Ausmaßes der Akute-Phase-Reaktion vorgenommen werden (31).
Auch während einer Chemotherapie ist
im Allgemeinen das Thromboserisiko
erhöht, sodass auch in dieser Phase ein
niedermolekulares Heparin für den
Hochrisikobereich verabreicht werden
derm (19) 2013
Praktische Dermatologie
Ta belle 4
Dichtomisierter Wells-Score oder revidierter Genfer-Score zur
Abschätzung der klinischen Wahrscheinlichkeit einer Lungenembolie
Wells-Score
Variable
Punkte
– Frühere Bein-oder Beckenvenenthrombose oder Lungenembolie
– Frische Operationen oder Immobilisation
– Krebserkrankung
– Hämoptyse
– Herzfrequenz > 100 Schläge/Minute
– Klinische Zeichen einer TVT
– Alternative Diagnose unwahrscheinlicher
als Lungenembolie
Klinische Wahrscheinlichkeit
– Niedrig
– Hoch
Variable
– Alter > 65
– Frühere Bein-oder Beckenvenenthrombose oder Lungenembolie
– Operationen oder Knochenfrakturen
innerhalb des letzten Monats
– Aktive Krebserkrankung
– Einseitiger Beinschmerz
– Hämoptyse
– Herzfrequenz 75–94 Schläge/Minute
– Herzfrequenz > 95 Schläge/Minute
– Schmerzen bei Palpation einer tiefen
Beinvene und einseitiges Ödem
Klinische Wahrscheinlichkeit
– Niedrig
– Mittel
– Hoch
sollte. Prinzipiell sollten stationär
untergebrachte Tumorpatienten eine
Thromboseprophylaxe mit einem niedermolekularen Heparin für den
Hochrisikobereich (NMH, HR) erhalten (11, 17, 21, 27, 31).
Ambulante Tumorpatienten sollten
während einer Chemotherapie mit
Substanzen, die ein erhöhtes Thromboserisiko als unerwünschte Wirkung
besitzen, ebenfalls mit einem NMH,
HR behandelt werden. Auch während
einer Strahlentherapie sollte Patienten mit einem erhöhten Thromboserisiko (Score-Wert 5 und mehr) NMH,
HR verabreicht werden (11, 17). Die
Dauer der Therapie ist unklar, sollte im
derm (19) 2013
(26). So wird die Bildung eines Thrombozyten-Fibrin-Gerinnsels durch Heparin geschwächt oder sogar verhindert.
Die Barriere gegen die Abwehrzellen
wird ebenfalls durch Heparin reduziert. Somit hemmt Heparin die Metastasierung (16, 26).
1,5
1,5
1
1
1,5
3
3
0–4
>4
1
3
2
2
1
2
3
5
4
0–3
4–10
> 10
Heparine binden Integrine und Selektine durch Zell-Aktivierung, die die Haftung zwischen den Zellen erleichtern
und somit die metastatische Ausbreitung fördern. Heparine hemmen somit
die Bindung zwischen Tumorzellen,
Thrombozyten, Endothelzellen und
polymorphkernige Leukozyten (16, 26).
Heparanasen (Enzyme) werden durch
den Tumor freigesetzt. Sie begünstigen
den Einbruch ins Gewebe durch Zerstörung der Extrazellulärmatrix. Sie
geben Wachstumsfaktoren frei, die an
Proteoglykane gebunden werden. Heparine hindern auch diesen Pathomechanismus, sodass ein Tumorwachstum und die Angiogenese durch Hemmung der Freisetzung von Wachstumsfaktoren und Hemmung der Bindung
dieser Faktoren an Rezeptoren reduziert oder verhindert werden (16, 26).
Der Einsatz von Vitamin-K-Antagonisten zur Thromboseprophylaxe ist weniger ratsam, da diese keine multifaktoriellen Eigenschaften besitzen.
Bei akuter VTE und/oder Lungenembolie sollte NMH in therapeutischer
Dosis, ebenfalls 6–12 Monate verabreicht werden (11, 17, 27, 31). Bei allergischer lokaler oder systemischer Hautreaktion oder Thrombozytenabfall
um mehr als 30% sollte für Prophylaxe
und Therapie Fondaparinux zum Einsatz kommen (5).
Die »Randomized Comparison of Low
Molecular Weight Heparin versus Oral
Anticoagulant Therapy for Long Term
Anticoagulation in Cancer Patients with
Venous Thromboembolism« (CLOT)Studie vergleicht Dalteparin und Warfarin bei der rezidivierenden Prophylaxe von Thromboembolien bei Tumorpatienten. Es zeigt sich eine um 50% signifikant geringere Rate thromboembolischer Ereignisse in der DalteparinGruppe im Vergleich zur WarfarinGruppe. Das Blutungsrisiko war in der
Dalteparin-Gruppe nicht erhöht (22).
Heparin ist deshalb so gut für die antikoagulatorische Behandlung geeignet,
da ein Teil der pathophysiologischen
thrombophilen Tumorreaktionen abgeschwächt oder eliminiert werden
Neben der Heparintherapie bei Tumorpatienten zur Tumorprophylaxe wird
auch eine immunologische Wirkung
diskutiert. So konnten erstmals in der
»Fragmin Advanced Malignancy Out-
Allgemeinen aber 6–12 Monate betragen.
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345
Praktische Dermatologie
Tabel le 5
Patienten-Fragebogen zur Abklärung eines erhöhten Blutungsrisikos (Arztmuster)
1. Tritt häufig Nasenbluten ohne erkennbaren Grund auf?
2. Treten oder traten vermehrt »blaue Flecken« ohne Auslöser auf?
3. Bluten Schürf- und Schnittwunden länger als gewöhnlich nach?
4. Traten bereits längere und verstärkte Nachblutungen während oder nach Operationen (z.B. nach Mandeloder Blinddarmoperationen) auf?
5. Traten längere und verstärkte Nachblutungen nach dem Ziehen von Zähnen auf?
6. Wurden im Rahmen einer Operation Blutprodukte (Konserven) oder Plasmaprodukte (Blutplasma, Faktorenkonzentrate) gegeben?
7. Tritt Zahnfleischbluten ohne erkennbaren Grund auf?
8. Neigen Familienangehörige zu verstärkten Blutungen (siehe Frage 1–6)?
9. Werden aktuell Medikamente gegen Schmerzen, Rheuma oder Fieber eingenommen?
10. Werden weitere Medikamente eingenommen (z.B. Blutverdünner wie ASS, Marcumar/Falithrom oder Psychopharmaka, Antiepileptika, Antibiotika oder Vitamin C)?
Nur von Frauen zu beantworten
11. Besteht der Eindruck, dass die Monatsblutung verlängert (> 7 Tage) und/oder verstärkt auftritt?
12. Hat es nach der Geburt eines Kindes verstärkt nachgeblutet?
come Study« (FAMOUS)-Studie eine
längere Überlebenszeit durch den Einsatz von Dalteparin gezeigt werden
(16).
Für Certoparin konnte eine Mortalitätsreduktion um 63,5% bei Patientinnen mit Mamma-, Ovarial- beziehungsweise Endometriumkarzinom
gefunden werden (37).
Ob neuere Antikoagulation bei Tumorpatienten zum Einsatz kommen sollten, muss noch systematisch untersucht werden (3). Zur weiteren Stimulation des Immunstatus bei Tumorpatienten kann Glutathion als Tationil®
600 mg/4 ml 1 x wöchentlich intravenös verabreicht (9) oder oral als
Duramental 300 mg 2 x 1 Tablette eingenommen werden, zudem sollte eine
basische Ernährung angestrebt wer346
den, der Urin-pH sollte im Morgenurin
auf Werte um 7 eingestellt werden
(33).
Zumindest für die Besserung der Lebensqualität, aber möglicherweise
auch zur weiteren Stimulierung des
Immunsystems, kann eine Misteltherapie erwogen werden (34, 35).
parin, gerade in frühen Stadien der
Tumorerkrankung, kann das Tumorleiden lindern. Es sollten deshalb niedermolekulare Heparine anstelle von
Vitamin-K-Antagonisten zur Prophylaxe von VTE und LAE verwendet werden.
Literatur
Glutathion hat auch eine starke antioxidative Wirkung. Zur Unterstützung
sollten 20 mg Zink, 300 g Magnesium
und 100 µg Selen täglich eingenommen werden sowie drei Tassen grüner
Tee und Cystustee getrunken werden.
Fazit
Viele Tumorpatienten haben eine
Thrombophilie. Der Einsatz von He© Omnimed Verlag
Beim Verlag abrufbar
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Dr.-Ing.
Holger Kiesewetter
Haemostaseologicum MVZ GbR
Mohrenstraße 6
10117 Berlin
E-Mail kiesewetter@
haemostaseologicum.com
Praktische Dermatologie
derm (19) 2013
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