Referat Tumorassoziierte venöse Thrombosen REVIEW VON ER O, ZACHARSKI L Venöse Thromboembolien (VTE) kommen bei Tumorpatienten häufig vor. Etwa 15 bis 20 % aller auftretenden VTE stehen im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung. 36 Der Zusammenhang von Tumor und Thrombose ist seit langer Zeit bekannt. Maligne Erkrankungen bringen nicht nur einen hyperkoagulablen Zustand mit sich, vielmehr tragen verschiedene Bestandteile des Gerinnungssystems ihrerseits zu einem Tumorwachstum und zu einer Ausbreitung des Tumors bei. In den letzten Jahren sind etliche Studien durchgeführt worden, um die optimalen Behandlungsregime sowohl zur Prävention als auch zur Therapie von Thromboembolien bei Tumorpatienten zu ermitteln. Dabei ist von großem Interesse, dass die Antikoagulanzien möglicherweise nicht nur den hyperkoagulablen Zustand der betroffenen Krebspatienten beeinflussen, sondern sogar ihre Überlebenszeit verlängern können, ohne dabei die für die Antitumortherapien üblichen Nebenwirkungen hervorzurufen. In der vorliegenden Übersichtsarbeit fassen ER und ZACHARSKI zusammen, mit welcher Häufigkeit und Signifikanz tumorassoziierte venöse Thromboembolien auftreten, welche Prophylaxe- und Therapieregime geeignet sind und welcher potenzielle Antitumoreffekt von niedermolekularen Heparinen (NMH) zu erwarten ist. VASCULAR CARE 2/2007 VOL. 13 Tumor und Thrombose Venöse Thromboembolien (VTE) kommen bei Tumorpatienten häufig vor. Etwa 15 bis 20 % aller auftretenden VTE stehen im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung. Tumorpatienten haben eindeutig ein größeres Thromboserisiko als Nicht-Tumorpatienten. Die höchsten VTE-Inzidenzen sind bei Patienten mit Tumoren der Eierstöcke, des Gehirns, der Bauchspeicheldrüse und bei Patienten mit Lymphomen festzustellen. Es folgen in der Reihenfolge Tumoren im Gastrointestinaltrakt, Leukämien und Lungentumoren. Studiendaten machen deutlich, dass Patienten mit bereits länger bestehender oder erst aktuell diagnostizierter Krebserkrankung mit assoziierter Thrombose eine ungünstigere Prognose haben als ohne Thrombose. Eine aktive Krebserkrankung ist mit einem hyperkoagulablen Zustand verbunden. Bei dem Zusammenspiel von Tumor und Thrombose handelt es sich um einen komplexen multifaktoriellen Prozess. Zahlreiche Studien wurden durchgeführt, um den Mechanismus dieses Prozesses zu klären und die Möglichkeiten und Auswirkungen einer pharmakologischen Thromboseprophylaxe bei dem betroffenen Patientengut zu untersuchen. Perioperative und prolongierte Thromboseprophylaxe bei chirurgischen Tumorpatienten Das Risiko, postoperativ eine VTE zu erleiden, ist für Tumorpatienten etwa zweimal so hoch als für chirurgische Patienten ohne Tumorerkrankung. Operierte Tumorpatienten gehören hinsichtlich ihres Thromboserisikos zur Hochrisikogruppe. Studien zur Thromboseprophylaxe mit NMH bei Tumorpatienten haben ergeben, dass die hohe Prophylaxe-Dosis von Dalteparin (5.000 I.E.), verabreicht über sieben Tage, bei vergleichbarer Sicherheit signifikant wirksamer ist als die halbe Dosis von 2.500 I.E. In einer Metaanalyse wurde ermittelt, dass die einmal tägliche NMH-Gabe zur Prophylaxe postoperativer venöser Thromboembolien bei der Hochrisikogruppe der operierten Krebspatienten ebenso sicher und effektiv ist wie mehrmals tägliche UFH-Injektionen. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass die D-DimerSpiegel bei Patienten nach abdominalchirurgischen Eingriffen 14 Tage lang erhöht bleiben. Die D-Dimer-Spiegel der Tumorpatienten sind dabei signifikant höher als die der Nicht-Tumorpatienten. Die ausgedehnte Aktivierung des Gerinnungssystems bei Tumorpatienten nach abdominalchirurgischen Operationen verursacht eine Hochrisikosituation, die eine prolongierte Thromboseprophylaxe erfordert. In einer Studie von BERGQVIST et al. konnte die Inzidenz spät auftretender VTE durch die prolongierte Gabe von Enoxaparin (40 mg) um 60 % reduziert werden (VTE-Rate: 12 % unter Plazebo vs. 4,8 % unter Enoxaparin). Diese Daten werden durch Studienergebnisse von RASMUSSEN gestützt. RASMUSSEN verglich die Wirksamkeit einer einwöchigen DalteparinProphylaxe (5.000 I.E.) mit der prolongierten Dalteparin-Gabe (5.000 I.E.; über vier Wochen). Die Rate proximaler tiefer Venenthrombosen konnte durch die prolongierte Gabe auf 8,8 % gegenüber 19,6 % vermindert werden. In keiner der beiden Untersuchungen war die Blutungsrate unter der prolongierten Thromboseprophylaxe erhöht. Das Risiko, postoperativ eine VTE zu erleiden, ist für Tumorpatienten etwa zweimal so hoch als für chirurgische Patienten ohne Tumorerkrankung. Die beiden Studien von BERGQVIST und RASMUSSEN belegen, dass eine prolongierte Thromboseprophylaxe bei Tumorpatienten nach größeren Operation günstig ist. Um daraus Leitlinien abzuleiten, sind jedoch weitere Untersuchungen erforderlich, die bestätigen, dass eine Ausdehnung der Antikoagulation über den Zeitraum der Hospitalisation hinaus das VTERisiko signifikant senkt. Die ausgedehnte Aktivierung des Gerinnungssystems bei Tumorpatienten nach abdominalchirurgischen Operationen verursacht eine Hochrisikosituation, die eine prolongierte Thromboseprophylaxe erfordert. VASCULAR CARE 2/2007 VOL. 13 37 Referat Prophylaxe bei nicht operierten Tumorpatienten Die Thromboserisikofaktoren sind bei diesen Patienten vielfältig und laufenden Veränderungen unterworfen. Möglicherweise steht die Internistische Tumorpatienten, die eine Chemotherapie oder Bestrahlung erhalten, sowie solche, die über einen längeren Zeitraum bettlägerig sind, sollten hinsichtlich ihres Thromboserisikos genauer beobachtet werden. Interessanterweise ergab eine Umfrage (FRONTLINE), dass internistisch versorgte Tumorpatienten keine routinemäßige Thromboseprophylaxe erhalten. Die Thromboserisikofaktoren sind bei diesen Patienten vielfältig und laufenden Veränderungen unterworfen. So steigt beispielsweise das Thromboserisiko während einer Chemo- oder Hormonbehandlung an. Mittlerweile wurde durch Studien bestätigt, dass das VTE-Risiko in dem betreffenden Patientenkollektiv unter pharmakologischer Thromboseprophylaxe signifikant niedriger ist als ohne Prophylaxe (Warfarin vs. Plazebo); das Blutungsrisiko ist durch die Prophylaxe nicht erhöht. niedrige Thromboseinzidenz in Zusammenhang mit den heute eingesetzten modernen Kathetermodellen, einer verbesserten Katheterpflege und den kürzeren Liegezeiten der Patienten. 38 VASCULAR CARE 2/2007 VOL. 13 Thromboseprophylaxe bei Tumorpatienten mit zentralen Venenkathetern Zentrale Venenkatheter werden bei Tumorpatienten – entweder zur Infusion einer Chemotherapie, zur Gabe von Blutpräparaten oder zur parenteralen Ernährung – häufig verwendet. Die Inzidenz von katheterassoziierten Thrombosen variiert stark. In früheren Untersuchungen konnte bei hoher katheterassoziierter Thromboserate unter medikamentöser Thromboseprophylaxe eine signifikante Reduktion dieser Ereignisse erreicht werden. In neueren Untersuchungen war die Thromboserate generell sehr niedrig und folglich erreichte auch die erzielte Abnahme der Thromboseinzidenz bei den untersuchten Patienten keine Signifikanz. Möglicherweise steht die niedrige Thromboseinzidenz in Zusammenhang mit den heute eingesetzten modernen Kathetermodellen, einer verbesserten Katheterpflege und den kürzeren Liegezeiten der Patienten. Eine routinemäßige Thromboseprophylaxe für Tumorpatienten mit zentralen Venenkathetern wird daher nicht empfohlen. Dies kann sich jedoch ändern, wenn es gelingt, die Subgruppen von Tumorpatienten mit zentralen Venenkathetern zu identifizieren, die ein höheres Thromboserisiko haben. Tumorassoziierte Thrombosen – Langzeitmanagement Antitumoreffekt der Antikoagulanzien Nach Thromboseereignissen ist bei Tumorpatienten einerseits die Gefahr von VTE-Rezidiven und andererseits von Blutungen unter Antikoagulation erhöht. Dies macht das Behandlungsmanagement bei Tumorpatienten schwierig. Die Dosierung oraler Antikoagulanzien ist dabei – abhängig von einer schwankenden Nährstoffaufnahme, von Mangelernährung oder auch Leberdysfunktionen auf Grund von Metastasen und anderen Faktoren sowie von Übelkeit und Erbrechen als Nebenwirkungen der Chemotherapie – mit Problemen behaftet. Die oralen Antikoagulanzien können mit den zahlreichen anderen Substanzen, die die Patienten einnehmen müssen, interagieren; dies erschwert die richtige Dosierung weiter. All diese Schwierigkeiten scheinen mit den NMH überwunden zu sein. Der erste Bericht über einen möglichen günstigen Effekt eines Vitamin-K-Antagonisten auf eine Tumorerkrankung erschien 1964. In einer prospektiven randomisierten Studie von ZACHARSKI aus dem Jahr 1981 konnte erstmals gezeigt werden, dass die Kombination einer Chemotherapie plus Bestrahlung mit Warfarin das Überleben von Patienten mit kleinzelligem Bronchialkarzinom signifikant verlängern kann. Außerdem gelang es, in dem Kollektiv, das zusätzlich Warfarin erhielt, das weitere Fortschreiten der Erkrankung deutlich hinauszuzögern. In der CLOT-Studie wurden Wirksamkeit und Sicherheit von Dalteparin zur Sekundärprophylaxe bei Tumorpatienten gegenüber oraler Antikoagulation verglichen. Während der sechsmonatigen Studiendauer ergab sich eine Inzidenz für wiederauftretende thromboembolische Ereignisse von 9 % bei den Tumorpatienten der Dalteparin-Gruppe gegenüber 17 % in dem Kollektiv mit oraler Antikoagulation. Die Raten der Gesamtblutungsereignisse oder größeren Blutungen unterschieden sich nicht. Etliche weitere Studien sind in jüngerer Zeit durchgeführt worden, um den Effekt von NMH auf das Überleben von Krebspatienten mit und ohne VTE zu untersuchen. Alle Ergebnisse weisen auf einen günstigen Einfluss der NMH auf das Überleben dieser Patienten hin, insbesondere trifft dies für Patienten in frühen Erkrankungsstadien zu. Nur eine dieser Studien wurde kontrolliert durchgeführt und bezog sich ausschließlich auf Patienten mit kleinzelligem Bronchialkarzinom. Die anderen Studien unterschieden nicht nach Tumortypen, Tumorstadien, Performance-Status oder Standard-Tumortherapie. Es muss daher weiter untersucht werden, ob Patienten mit anderen Tumortypen als dem kleinzelligen Bronchialkarzinom ebenfalls von einer Antikoagulation mit NMH profitieren. Nach Thromboseereignissen ist bei Tumorpatienten einerseits die Gefahr von VTE-Rezidiven und andererseits von Blutungen unter Antikoagulation erhöht. Alle Ergebnisse weisen auf einen günstigen Einfluss der NMH auf das Überleben dieser Patienten hin, insbesondere trifft dies für Patienten in frühen Erkrankungsstadien zu. VASCULAR CARE 2/2007 VOL. 13 39 Referat NMH sind die Mittel der Wahl bei Tumorpatienten mit VTE. Noch wird kontrovers diskutiert, wie lange NMH zur Sekundärprophylaxe venöser Thromboembolien bei Krebspatienten gegeben werden sollen. Die Tatsache, dass Gerinnungsmechanismen in die Wundheilung, den Gewebeumbau und die Organogenese involviert sind, bildet die Basis für die Hypothese, dass das Gerinnungssystem auch das Tumorwachstum beeinflusst. Es gibt zudem zahlreiche Studien mit experimentellen Tumorsystemen. Die dort gewonnenen Daten deuten darauf hin, dass die Gerinnungsvorgänge das Tumorwachstum fördern. Obwohl zahlreiche Substanzen mit relativ geringen Nebenwirkungsprofilen zur Verfügung stehen, um diese Zusammenhänge aufzuklären, wurden bisher dahingehend wenige Untersuchungen durchgeführt. Es sind daher in Zukunft Studien erforderlich, die den möglichen Antitumoreffekt von antithrombotischen Substanzen, insbesondere der NMH, untersuchen und den heterogenen pathophysiologischen Mechanismus der unterschiedlichen Tumortypen erforschen. Wege für die Zukunft NMH sind die Mittel der Wahl bei Tumorpatienten mit VTE. Noch wird kontrovers diskutiert, wie lange NMH zur Sekundärprophylaxe venöser Thromboembolien bei Krebspatienten gegeben werden sollen. Die neueren antithrombotischen Substanzen werden die Behandlungsoptionen in diesem Bereich erweitern. Weitere Studien sind hier notwendig. Diese müssen sorgfältig angelegt werden und nicht nur auf die Wirksamkeit und Sicherheit der VTEProphylaxe abzielen; vielmehr ist dabei zu berücksichtigen, dass Substanzen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen die abhängig vom Tumortyp unterschiedlichen Tumorprozesse unterschiedlich beeinflussen können. Das optimale Antikoagulans sollte ein breites therapeutisches Fenster, ein niedriges Blutungsrisiko, keine ernsten Nebenwirkungen und keine oder zumindest wenige Medikamenteninteraktionen aufweisen. Gleichzeitig sollte die Substanz effektiv die VTE-Rate reduzieren, einfach zu verabreichen sowie zu überwachen und seine Wirkung schnell reversibel sein. Literatur: Er O, Zacharski L: Management of cancer-associated venous thrombosis. Vascular Health and Risk Management 2(4) (2006) 1 – 6 40 VASCULAR CARE 2/2007 VOL. 13