Referat Tumor und Thrombose REVIEW VON HILLER E Das thromboembolische Risiko liegt bei Tumorpatienten nach operativen Eingriffen etwa zweimal so hoch wie bei NichtTumorpatienten, das Risiko für postoperative Lungenembolien ist sogar etwa dreimal so hoch. Trotz des mittlerweile längst bekannten Zusammenhangs von Tumor und Thrombose werden krebsassoziierte Thrombosen derzeit oft noch zu wenig beachtet und häufig nicht adäquat behandelt. Neben dem Tumorgeschehen an sich tragen auch iatrogene Faktoren wie Chemotherapie, Strahlenbehandlung, zentrale Venenkatheter und operative Eingriffe zu einem erhöhten Thromboserisiko bei. In einem Review fasst E. HILLER die derzeitige Datenlage zur Thromboseprimär- und -sekundärprophylaxe bei Tumorpatienten zusammen. Venöse Thromboembolien (VTE) kommen bei Tumorpatienten häufig vor. Eine Thrombose kann der Vorbote einer noch undiagnostizierten Krebserkrankung sein; sie kann aber auch als lebensbedrohliche Komplikation eines frühen oder auch fortgeschrittenen Tumorgeschehens oder als Folge der Tumortherapie auftreten. In den 1980er Jahren wurde die VTE-Inzidenz bei Tumorpatienten auf etwa 15 % geschätzt. Kürzlich wurde sie mit ca. 8 % angegeben. Dies spiegelt den immer weiter verbreiteten Einsatz einer Thromboseprophylaxe bei den betroffenen Patienten wider. Das thromboembolische Risiko liegt bei Tumorpatienten nach operativen Eingriffen etwa zweimal so hoch wie bei Nicht-Tumorpatienten, das Risiko für postoperative Lungenembolien ist sogar etwa dreimal so hoch. Asymptomatische tiefe Venenthrombosen Nur wenige Studien haben sich mit der Prävalenz asymptomatischer tiefer Venenthrombosen bei Tumorpatienten befasst. In einer Studie wurde bei 52 % der untersuchten Hospiz-Patienten (n = 298) ein tiefe Venenthrombose entdeckt; betroffen waren hauptsächlich Personen mit wenig Bewegung. Klinische Relevanz haben asymptomatische Thrombosen insofern, als sie sich zu symptomatischen Thrombosen oder sogar zu lebensbedrohlichen Lungenembolien fortentwickeln können. Des Weiteren stellen venöse Thromboembolien die zweithäufigste Todesursache bei Patienten mit soliden Tumoren dar. Dies mag auch die Tatsache erklären, dass die VTE-Rate bei Autopsien etwa 50 % beträgt. Thromboseprophylaxe bei Tumorpatienten Tumorpatienten haben postoperativ ein wesentlich höheres Thromboserisiko als Nicht-Tumorpatienten. In einer ganzen Reihe von Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass durch die Gabe von unfraktionierten (UFH) oder niedermolekularen Heparinen (NMH) die Rate postoperativer VTE reduziert werden kann. Dabei waren oftmals Tumorpatienten in die Studien eingeschlossen, die Daten wurden aber nie separat in Bezug auf dieses spezielle Kollektiv analysiert. In einer großen Studie mit Patienten, die auf Grund eines Tumors im Bauch- oder Beckenbereich operiert wurden, war die Gabe von 5.000 I.E. Dalteparin wirksamer als die Niedrigdosierung mit 2.500 I.E. Die Blutungsgefahr stieg unter der hohen Dosierung nicht an. 64 VASCULAR CARE 1/2007 VOL. 12 In einer anderen großen Untersuchung konnte die Wirksamkeit von Enoxaparin (40 mg einmal täglich) im Vergleich zu UFH bei Patienten (n = 631), die nach elektiver Bauch- oder Beckentumorchirurgie venografisch untersucht wurden, bestätigt werden. Die VTE-Raten betrugen 14,7 % unter Enoxaparin bzw. 18,2 % unter UFH. Somit sind NMH zur Prävention postoperativer tiefer Venenthrombosen und Lungenembolien also mindestens ebenso effektiv wie UFH. Vorteile bringt der nur einmal tägliche Applikationsmodus der NMH mit sich. Dauer der Thromboseprophylaxe Noch diskutiert wird die optimale Dauer einer postoperativen Thromboseprophylaxe bei Tumorpatienten. Die Studien von BERGQVIST et al. sowie von RASMUSSEN et al. belegen, dass die prolongierte Thromboseprophylaxe mit Enoxaparin 40 mg bzw. mit Dalteparin 5.000 I.E. über vier Wochen postoperativ die Thromboserate signifikant senkt. Erhöhtes Risiko auch bei nicht operierten Tumorpatienten Auch die anderen, nicht chirurgischen Tumortherapien erhöhen das Thromboserisiko. In ihrem Konsensus-Bericht von 2004 gab die ACCP daher auch eine Grad-1a-Empfehlung für eine am individuellen Risiko ausgerichtete routinemäßige Thromboseprophylaxe für alle stationären, bettlägerigen Patienten mit akuter Tumorerkrankung. Katheterassoziierte Thrombosen Die berichteten Inzidenzen katheterassoziierter Thrombosen bei Tumorpatienten sind sehr unterschiedlich. In einer Studie mit 439 Tumorpatienten unter mindestens zwölfwöchiger Chemotherapie konnte die Gabe von Dalteparin die Rate katheterassoziierter Thrombosen nicht reduzieren (3,7 vs. 3,4 %). Allerdings traten in dem untersuchten Kollektiv insgesamt nur sehr wenige katheterassoziierte Thrombosen auf. Derzeit kann anhand dieser Daten eine routinemäßige Prophylaxe bei Patienten mit zentralen Venenkathetern nicht empfohlen werden. Vorgehen bei VTE-Ereignissen Hat ein Tumorpatient ein venöses thromboembolisches Ereignis erlitten, so wird derzeit in der Regel initial mit UFH i.v. oder NMH s.c. behandelt. Die Standardtherapie ist in diesem Fall für Tumorpatienten und Nicht-Tumorpatienten gleich. Allerdings haben Tumorpatienten ein drei- bis sechsfach erhöhtes Risiko für Blutungen und/oder rezidivierende thromboembolische Ereignisse unter oraler Antikoagulation im Vergleich zu Nicht-Tumorpatienten. Zudem bringt eine orale Antikoagulation bei Tumorpatienten auf Grund von Medikamentenwechselwirkungen, Mangelernährung, Übelkeit und Leberdysfunktion Probleme mit sich. All diese Faktoren behindern eine zuverlässige Vorhersagbarkeit der Wirkspiegel oraler Antikoagulanzien. Eine Standardtherapie mit oralen Antikoagulanzien, UFH oder NMH darf daher nur durchgeführt werden, wenn keine offensichtlichen Blutungen vorliegen. Die Dosierung sollte bei Patienten mit Blutungsrisiko reduziert werden. Tumorpatienten mit akuter tiefer Venenthrombose und aktiven Blutungen können nicht routinemäßig antikoagulatorisch behandelt werden. Standardisierte antithrombotische Vorgehensweisen für diese Fälle existieren derzeit nicht. In ihrem Konsensus-Bericht von 2004 gab die ACCP daher auch eine Grad-1aEmpfehlung für eine am individuellen Risiko ausgerichtete routinemäßige Thromboseprophylaxe für alle stationären, bettlägerigen Patienten mit akuter Tumorerkrankung. VASCULAR CARE 1/2007 VOL. 12 65 Referat Sekundärprophylaxe bei Tumorpatienten In der Dalteparin-Gruppe ließ sich nach der sechsmonatigen Nachbeobachtungszeit nahezu eine Halbierung des Thromboserisikos feststellen. In den ACCP-Leitlinien wird besonders betont, dass die Wirksamkeit von Dalteparin und Tinzaparin zur Prävention rezidivierender Thromboseereignisse erwiesen ist. 66 Trotz antikoagulatorischer Therapie haben Tumorpatienten im Vergleich zu Nicht-Tumorpatienten ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko für rezidivierende Thrombosen. In der CLOT-Studie wurde die Wirksamkeit von Dalteparin im Vergleich zu Coumarin zur Sekundärprophylaxe bei Tumorpatienten mit akuten symptomatischen proximalen tiefen Venenthrombosen, Lungenembolien oder beidem untersucht. Die Patienten erhielten initial Dalteparin einmal täglich (200 I.E./kg KG) für fünf bis sieben Tage und wurden anschließend in zwei Gruppen randomisiert. Die Coumarin-Gruppe erhielt Coumarin über sechs Monate. Die Dalteparin-Gruppe wurde für insgesamt einen Monat mit 200 I.E./kg KG Dalteparin und für weitere fünf Monate mit der reduzierten Dalteparin-Dosis von 150 I.E./kg KG behandelt. In der Dalteparin-Gruppe ließ sich nach der sechsmonatigen Nachbeobachtungszeit nahezu eine Halbierung des Thromboserisikos feststellen (9 % vs. 17 % in der Coumarin-Gruppe, p = 0,002). Die Wirksamkeit einer Langzeitbehandlung mit Tinzaparin wurde ebenfalls in einer Studie untersucht. Dabei ergab sich, dass Tinzaparin (175 I.E./kg KG) einmal täglich ebenso wirksam war, rezidivierende tiefe Venenthrombosen zu verhindern, wie Warfarin. Das Blutungsrisiko der Patienten war unter Tinzaparin niedriger als in der Vergleichsgruppe. In den ACCP-Leitlinien wird besonders betont, dass die Wirksamkeit von Dalteparin und Tinzaparin zur Prävention rezidivierender Thromboseereignisse erwiesen ist. VASCULAR CARE 1/2007 VOL. 12 NMH: Einfluss auf das Überleben von Tumorpatienten Erstmals wurde in der FAMOUS-Studie untersucht, inwiefern die Gabe von NMH das Überleben von Tumorpatienten beeinflusst. Tumorpatienten ohne tiefe Venenthrombosen erhielten Dalteparin (5.000 I.E. täglich) oder Plazebo über ein Jahr. Bei genauerer Analyse der Daten zeigte sich, dass insbesondere die Patienten mit guter Prognose (Überleben nach Randomisierung 17 Monate und länger) von der Dalteparin-Gabe profitierten. Ähnliche Ergebnisse lieferte auch die CLOT-Studie (Dalteparin vs. Coumarin). Die Wahrscheinlichkeit zu sterben betrug in der Subgruppe der Patienten ohne Metastasen 20 % unter Dalteparin und 36 % unter Coumarin. In der MALT-Studie profitierten Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung von einer sechswöchigen NMH-Applikation (Nadroparin) verglichen mit Plazebo. Ein Überlebensvorteil zeigte sich für die Gesamtgruppe und für die Subgruppe der Patienten mit besserer Prognose. Ähnliche Erkenntnisse lieferte auch eine frühere Untersuchung an Patienten mit kleinzelligem Bronchialkarzinom: Patienten, die für fünf Wochen mit UFH behandelt worden waren, hatten eine bessere Überlebensrate (40 %) als antikoagulatorisch unbehandelte Patienten (30 %). Eine weitere Studie an Patienten mit kleinzelligem Bronchialkarzinom verglich die Wirksamkeit einer Chemotherapie allein mit der Kombination Chemotherapie plus Dalteparin 5.000 I.E. (Behandlung über 18 Wochen). Das mediane Überleben konnte von 8,0 Monate (Chemotherapie allein) auf 13,0 Monate durch die Kombination mit Dalteparin gesteigert werden. Vergleichbare Überlebensvorteile wurden sowohl bei den Patienten mit limitierter als auch mit ausgedehnter Erkrankung beobachtet. Im Gegensatz dazu scheinen die Ergebnisse zweier kürzlich durchgeführter Studien zu stehen: Von einer Certoparin-Gabe profitierten Patienten mit fortgeschrittenem Brustkrebs oder nicht kleinzelligem Bronchialkarzinom nicht (vs. Plazebo). NMH: Einfluss auf die Tumorbiologie Insgesamt lässt sich anhand dieser Daten feststellen, dass NMH einen Einfluss auf die Tumorbiologie auszuüben scheinen, der insbesondere bei Patienten ohne Metastasen zu Tage tritt. Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Effekt nur mit einer reduzierten Rate an tödlichen Lungenembolien in Zusammenhang steht, da der Effekt auf das Überleben nicht während der aktuellen Behandlungsphasen auftrat und die Vorteile durch die NMH-Therapie noch Monate später zu beobachten waren. Es ist daher anzunehmen, dass NMH über einen Mechanismus auf den Tumor wirken, der von ihrer antithrombotischen Aktivität unabhängig ist. Untersuchungen haben gezeigt, dass NMH das Tumorwachstum über die Hemmung der Angiogenese, die Tumorwachstumsfaktoren, die Heparinase und die Thrombinbildung beeinflussen. Der Antiangiogenese-Effekt wird durch die Daten aus den Studien FAMOUS und CLOT bestätigt. Dort ergab sich ein Überlebensvorteil durch Dalteparin bei den Patienten mit limitierter Erkrankung. Dieser hielt auch über die Behandlungsperiode hinaus an. Möglicherweise haben Heparine auch direkte Effekte auf die Tumorzellaktivität, indem sie die Invasion des Tumors in die Zellen und die Metastasierung beeinflussen. Routine-Thromboseprophylaxe mit NMH? Chirurgische Eingriffe sind bei Tumorpatienten mit einem erhöhten Risiko für tiefe Venenthrombosen verbunden. Hierbei handelt es sich um eine Hochrisikosituation; dies sollte bei der Dosierung beachtet werden. Die Dosierungen der einzelnen NMH für Hochrisikopatienten sind den jeweiligen Fachinformationen zu entnehmen. Obwohl in einigen Studien der Vorteil einer prolongierten NMH-Prophylaxe belegt werden konnte, bleibt die optimale Dauer der postoperativen NMH-Gabe weiterhin unklar. Insgesamt lässt sich anhand dieser Daten feststellen, dass NMH einen Einfluss auf die Tumorbiologie auszuüben scheinen, der insbesondere bei Patienten ohne Metastasen zu Tage tritt. In den ACCP-Leitlinien wird eine Thromboseprophylaxe bei akut erkrankten internistischen Patienten, einschließlich bettlägeriger Patienten mit aktiver Tumorerkrankung, empfohlen. Die betroffenen Patienten gehören zur Hochrisikogruppe. Für diese Indikation sind in Deutschland derzeit Enoxaparin und Dalteparin zugelassen. Trotz der berichteten Studienergebnisse zur Überlebenszeitverlängerung gibt es aktuell noch keine ausreichende Evidenz, NMH routinemäßig bei Tumorpatienten zu empfehlen, um deren Überleben zu verlängern. Möglicherweise haben Heparine auch direkte Effekte auf die Tumorzellaktivität, indem sie die Invasion des Tumors in die Zellen und die Metastasierung beeinflussen. VASCULAR CARE 1/2007 VOL. 12 67 Referat Fazit Im Vergleich zu Nicht-Tumorpatienten haben Tumorpatienten ein erhöhtes Risiko für Thrombosen und Thromboserezidive. Zusätzlich ist das Blutungsrisiko unter oraler Antikoagulation bei diesem Kollektiv erhöht. Gegenüber UFH besteht in einem bestimmten Maße eine Therapieresistenz. Einige NMH haben sich im Vergleich zu UFH oder oralen Antikoagulanzien als effektiver zur Prävention von tiefen Venenthrombosen bei Tumorpatienten gezeigt, ohne dabei das Blutungsrisiko zu erhöhen. Darüber hinaus gibt es zunehmend Hinweise, dass NMH durch mögliche Antitumoreffekte die Überlebenszeit von Tumorpatienten verlängern können. Die derzeit vorliegenden Daten sprechen dafür, NMH zur Prävention von thromboembolischen Ereignissen in der Langzeitbehandlung von Krebspatienten einzusetzen. Literatur: Hiller E: Cancer and Thrombosis. Managing the Risks and Approaches to Thromboprophylaxis. Onkologie 29 (2006) 474-78 68 VASCULAR CARE 1/2007 VOL. 12