Diskriminierung | S C H W E R P U N K T Diversität und Chancengleichheit statt Rassismus Die Gefahr der Diskriminierung von MigrantInnen ist auch in der Sozialen Arbeit hoch Text: Emine Sariaslan Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Das hat Auswirkungen auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft– so auch auf das Sozialwesen. Fachpersonen in der Sozialen Arbeit haben in ihrem Berufsalltag zunehmend und teilweise sogar mehrheitlich mit MigrantInnen als KlientInnen zu tun. Dies ist kein Zufall, da das Sozialwesen für Menschen zuständig ist, die ökonomisch und gesellschaftlich benachteiligt sind. MigrantInnen gehören zu den Gruppen, die als erste von Arbeitslosigkeit und sozialem Ausschluss bedroht sind. Zudem ist ihre aufenthaltsrechtliche Perspektive oft prekär und unsicher, was ein zusätzliches Belastungsmoment darstellt und ihren Handlungs- und Bewegungsspielraum einschränkt. Im Diskurs zu Fragen der Migration wird häufig die kulturelle Dimension in den Vordergrund gerückt. Das aber bringt die Gefahr mit sich, dass strukturelle Dimensionen aus dem Blick geraten und eine sozioökonomische Benachteiligung mit Kulturdifferenz erklärt wird. Machen SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen in ihrem Berufsalltag zwei- oder dreimal mit KlientInnen derselben Nationalität eine negative Erfahrung, entwickeln sie ein vorgefertigtes Bild und stereotypisierte «kulturspezifische» Interpretationen der Angehörigen dieser Nation. Das beinhaltet die Gefahr, dass künftige KlientInnen bereits beim Erstgespräch vor allem als «AlbanerInnen» oder als «TürkInnen» gesehen werden. Diese vorgefertigten Bilder verhindern, dass man sich die Mühe nimmt, den/die KlientIn als Individuum zu sehen und nach seiner/ihrer Biografie und seinen/ihren ganz persönlichen Lebensumständen zu fragen – also auch nach strukturellen und sozialen Integrationshindernissen. «Wir» und die «anderen» Sozialarbeitende sind in einem Arbeitsfeld tätig, in dem die Gefahr der Diskriminierung besonders hoch ist. Da MigrantInnen auf verschiedenen Ebenen benachteiligt sind, sind sie auch oft KlientInnen von SozialarbeiterInnen. Die Emine Sariaslan, dipl. Sozialarbeiterin FHS, ist Präsidentin des Forums für die Integration der Mig­ rantinnen und Migranten (FIMM Schweiz). Beziehung KlientIn–SozialarbeiterIn ist in der Regel eine asymmetrische Beziehung, was sie besonders anfällig macht für Diskriminierungen verschiedener Art und für neue Formen des Rassismus. Wie Anne Kilcher schreibt, orientiert sich der «neue Rassimus» eher an den Pfeilern Kultur, Sprache, Religion denn an biologistischen Erklärungsmustern: «Die wissenschafltichen Erkenntisse sowie die Zunahme von internationalen Migrationsströmungen in wirtschaftlich florierende Länder führten auch zu einer Verschiebung innerhalb der Rassismuskonzeption. Im Zentrum steht eine Abgrenzung zwischen ‹wir› und ‹die anderen›. Dabei wird die Wir-Gruppe mit positiven und die Gruppe der anderen mit negativen Merkmalen beschrieben. Ein weiterer Aspekt des neuen Rassismuskonzeptes ist die Anerkennung der Tatsache, dass sich Rassismus nicht nur in bestimmten Einstellungen und Verhaltensweisen widerspiegelt, sondern dass er auch in gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen inhärent ist» (Kilcher 2007). Auch Alex Callinicos betont, dass die Menschen nicht nur aufgrund ihrer Hauptfarbe diskriminiert werden: «In einem gewissen Sinn sind nicht einmal Unterschiede in der Hautfarbe ausreichende Bedingung für die Existenz von Rassismus. Wo sie im Spiel sind, sind sie es als Teil eines Komplexes von Merkmalen – z.B. niedrige Intelligenz, Faulheit, übertriebene Sexualität im Falle westlicher Stereotypen […] – welche der unterdrückten Gruppe zugeschrieben werden und welche dazu dienen, ihre Unterdrückung zu rechtfertigen» (Callinicos 1994). Wie Stuart Hall schreibt, lenkt «Rassismus unsere Aufmerksamkeit auf die andere Geschichte des Kapitalismus […] den Kapitalismus der Eroberungen, des Weltmarktes, der Besetzung der Peripherien des Imperialismus. Denn genau dort, wo die expandierende Herrschaft des kapitalistischen Imperiums auf andere ‹Rassen› getroffen ist, hat sich der Rassismus als eine Form der Ausschliessungs­praxis entwickelt» (Hall 2000. Zitiert in Le Breton 2011). Verschiedene Formen der Ausgrenzung Rassismus basiert also auf Differenz und benutzt diese, um gewisse Menschengruppen auszuschliessen. Dies kann sich auf verschiedene Arten zeigen: Über die Ausgrenzung bei der politischen Beteiligung (Verweigerung des Wahlrechts u.a. des kommunalen Wahlrechts), über Benachteiligungen auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt. In der ständig geführten Debatte über Asylsuchende und AusländerInnen ist Rassismus spürbarer geworden und scheint leider auch für die Mehrheit der Gesellschaft salonfähig geworden zu sein. Durch die regelmässige Verschärfung der Asyl- und Ausländergesetzgebung sind immer mehr MigrantInnen von Nr. 6 _Juni 2012 | SozialAktuell 23 S C H W E R P U N K T | Diskriminierung der informellen und formellen Ausgrenzung betroffen. Asylwerber kommen nach Europa aus Asien, aus Afrika, von der arabischen Halbinsel, aus Osteuropa und sogar aus unseren direkten Nachbarländern. Trotzdem werden ihnen dieselben Eigenschaften zugeordnet, beispielsweise Faulheit, Kriminalität oder Verlogenheit. Dieser Diskurs findet leider auch immer mehr Eingang in die Sozialarbeit, wenn auch oft in subtiler, nicht subito sichtbarer Weise. Und leider wird nur selten eine Diskussion über den Rassismus in der Sozialen Arbeit geführt, was vor zwanzig Jahren noch anders war: «Rassismusdis- Der Beitrag von AvenirSocial Sensibilisierung der Sozialarbeitenden für das Thema Diskriminierung Diskriminierungen und Missachtungserfahrungen waren und sind der Ausgangspunkt für gesellschaftliche Forderungen nach einem möglichst effektiven Schutz der menschlichen Würde. So nimmt die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Be­ zug auf die «der menschlichen Familie innewohnende Würde und ihrer gleichen und unveräusserlichen Rechte, welche die Grund­ lage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens der Welt bil­ den» und dass die «Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit ­E mpörung erfüllen». In Anlehnung an Avishai Margalit (Politik der Würde, 1997) können Angriffe auf die menschliche Würde als «entwürdigend», «demütigend» und «diskriminierend» bezeich­ net werden. Was hat dieser Kontext nun mit der Sozialen Arbeit zu tun? Die Soziale Arbeit ist in Bezug zur Thematik der Diskriminierung in besonderer Weise gefordert, tangiert es doch die Profession auf mehreren Niveaus. Denn die Professionellen der Sozialen Arbeit müssen bei der Bearbeitung einer Fallthematik nebst der konkre­ ten Arbeit mit KlientInnen auch organisationsspezifische Fragen und den gesellschaftspolitischen Diskurs berücksichtigen. Profes­ sionelle der Sozialen Arbeit sind in der Ausübung ihrer Arbeit und über die Bearbeitung eines Einzelfalles nicht per se vor diskrimi­ nierenden Handlungen bzw. Übergriffen geschützt! Da ist jeder Professionelle wie auch die Profession als Ganzes vor besondere Herausforderungen gestellt. Die Aufgabe von AvenirSocial besteht darin, den Diskurs zur ­T hematik zu lancieren und gleichzeitig zu sensibilisieren. Die In­ ternationale Definition der Sozialen Arbeit (IFSW/IASSW, 2001) beruft sich auf der Würde aller Menschen und proklamiert, dass die «Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit fundamental» sind. Darauf aufbauend verpflich­ tet der Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz die Professionellen zur Zurückweisung jeglicher Diskriminierung (Berufskodex 9.4). Ebenso fordert er die Professionellen der Sozialen Arbeit auf, sich mit seinen staatsbürgerlichen Mitteln für eine soziale, demokrati­ sche Gesellschaft einzusetzen, die für Solidarität und die Wahrung der Menschenrechte, für Gleichberechtigung und Gleichbehand­ lung aller Menschen und gegen Diskriminierung einsteht (Berufs­ kodex 14.3). Diese Ziele werden nur erreicht, wenn sich die Pro­ fessionellen entsprechendes Wissen zu Diskriminierung, zu den entsprechenden gesetzlichen Schutzmechanismen, zu Interkultu­ ralität und nicht zuletzt zu den Menschenrechten aneignen und diese reflektiert in ihre Arbeit einbeziehen. AvenirSocial will durch seine fachpolitische Arbeit einen Beitrag zur Minderung diskriminatorischer Vorgehensweisen und Situa­ tionen beitragen. Die sich mit diesem Thema beschäftigenden Kommissionen bereiten Positionierungen vor und nehmen aktiv Einfluss auf das Verbandsgeschehen. Stéphane Beuchat Bei Interesse an der Kommissionsarbeit können Sie gerne mit Stéphane Beuchat ([email protected]) oder Olivier Grand (o.grand@ avenirsocial.ch) Kontakt aufnehmen. Mehr unter www.avenirsocial.ch. 24 SozialAktuell | Nr. 6 _Juni 2012 kurse erleben konjunkturelle Höhen und Tiefen. Es handelt sich insoweit um ein Phänomen, welches mal mehr, mal weniger öffentlich tabuisiert wird. Darüber hinaus wurde ein in den 1990er-Jahren noch wahrnehmbarer antirassistischer Diskurs von Interkulturalitäts- und Integrations­ debatten an die diskursiven Ränder verdrängt, was zur Folge hatte, dass die Thematisierbarkeit von Rassismus in der pädagogischen und psychosozialen Arbeit deutlich erschwert wurde» (Castro Varela 2007). Diversität und Chancengleichheit als Instrumente gegen Rassismus Was bedeutet Diversität und wie kam der Begriff in den Sprachgebrauch der Arbeitswelt? Rebekka Ehret fasst die Geschichte so zusammen: «Zum ersten Mal verschriftlicht findet sich der englische Begriff Diversity (ES) um 1340 und bedeutet von dort an mehrheitlich die Bedingungen und die Beschaffenheit des Andersseins. Nicht also das abstrakt andere oder einfach die Vielfalt als solche sind hier gedacht; es wird eigentlich schon hier auf die Beziehung zwischen dem einen und dem anderen sowie auf die Machtverhältnisse hingewiesen, innerhalb deren soziales Handeln passiert und sich gesellschaftliche Beziehungen positionieren. Im 15. und 16. Jahrhundert gibt es Hinweise auf eine ausschliesslich negative Bedeutung des Wortes im Sinne des Perversen, des Bösen, des Unangenehmen. Unterdessen hat sich Diversity eingedeutscht und wird als deutsches Wort verwendet. Wenn es übersetzt wird, dann mit Vielfalt, Diversität, Mannigfaltigkeit, wobei damit nicht unbedingt viel an Klärung gewonnen ist» (Ehret 2011). In der Sozialen Arbeit wird meist zwischen «diversity» (mit kleinem «d») als Verweis auf die Vielfalt und «Diversity» (mit grossem «D») als Grundlage eines Konzepts der Unternehmensführung unterschieden (Vgl. Schröer 2012). Gemäss Michael Stuber bedeutet Diversity «die bewusste Anerkennung, Berücksichtigung und konsistente Wertschätzung von Unterschiedlichkeit sowie die aktive Nut- MigrantInnen gehören zu den Gruppen, die als erste von Arbeitslosigkeit und ­sozialem Ausschluss bedroht sind zung und Förderung von Vielfalt zur Steigerung des Erfolges» (Stuber zit. in Schröer 2012). Somit wird Individualität thematisiert, und Unterschiede müssen nicht nur als trennende Eigenschaften wahrgenommen werden, sondern können auch verbinden. (ibd.) Dank der Bürgerrechtsbewegung in den USA oder auch der Frauenbewegung in der Schweiz wurde in der Arbeitswelt dieser beiden Staaten der Fokus auf die jeweiligen Ressourcen der MitarbeiterInnen gelegt und die Vielfalt dieser berücksichtigt. «Der Kampf ethnischer Minderheiten oder von Frauen um Anerkennung und Gleichberechtigung machte Benachteiligungen offenkundig, führte zur gesetzlichen Verpflichtung, niemanden wegen seiner Hautfarbe, des Geschlechtes, seiner Herkunft oder Religion zu diskriminieren, und hatte im Rahmen von ‹affirmative action› zur Folge, dass Minderheiten gezielt gefördert oder sogar bevorzugt wurden (vgl. ibd.) Der Ansatz Diversity strebt einen positiven, selbstkritischen Umgang mit den Differenzen an. Allgemeine Grund- Diskriminierung | S C H W E R P U N K T renzansätze (‹wir, die Normalen› und die, die anders sind und bleiben) durchgeführt werden.» (ibd.) Im Zusammenhang der Diversity ist Schröer der Ansicht, dass die Sozialarbeit «Machtverhältnisse und gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen zum Thema [machen muss]. Sie muss sich unter dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit professionell dafür einsetzen, Minderheiten eine strukturelle, rechtlich abgesicherte, systemische Inklusion zu ermöglichen.» (ibid.) Aus diesem Grund bin ich mit Schröer einig, dass die Aufmerksamkeit auf das Leitbild der Sozialen Arbeit gerichtet werden muss: «Das Leitbild der Sozialen Arbeit ist weiterhin die soziale Gerechtigkeit, die sich aus dem Sozialstaatsgebot der Verfassung ergibt. Das Menschenbild der Sozialen Arbeit wird geprägt von den Wertentscheidungen des Grundgesetzes, das – von der Würde des Menschen ausgehend – Grundwerte wie das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder die Gleichbehandlung und Gleichberechtigung postuliert.» (Schröer 2012) Aktionsplan gegen Rassismus Die Wirtschaftskrise führt in Europa zu einer verstärkten Arbeitslosigkeit, zu prekären Arbeitsverhältnissen sowie zu Armut trotz Arbeit, was viele Menschen in ökonomische und soziale Unsicherheit stürzt. Diese Entwicklung stärkt die Entsolidarisierung in der Gesellschaft und macht sie anfällig für rassistische Erklärungsmuster oder Antworten auf die Krise. MigrantInnen werden heute europaweit für allerlei wirtschaftliche und gesellschaftliche oder gar ökologische Probleme verantwortlich gemacht. Ein Aktionsplan gegen Rassismus und Diskriminierung dient sowohl der Politik als auch der Gesellschaft, um Benachteiligungen auf der strukturellen Ebene zu erkennen und den Handlungsbedarf zu definieren – und Menschen, die diskriminiert werden, die Möglichkeit zu bieten, sich auf rechtlicher Ebene dagegen zu wehren. lagen dafür bilden die Prinzipien von Menschenwürde und Chancengleichheit, deren Beachtung in der täglichen Arbeit von Institutionen besondere Aufmerksamkeit er­ fordert. «Diversity-Kompetenz» auch in der Sozialen Arbeit nötig Rebekka Ehret betrachtet Diversity als Chance für einen strukturellen Wandel und als Kompetenzerweiterung. Um sie umzusetzen, schlägt sie drei Leitlinien vor, die wegweisend sein mögen: «Erstens gilt es, einen klaren ressourcenorientierten Ansatz zu verfolgen. (…) Zweitens sollten in erster Linie die strukturellen Barrieren und Reglementierungen innerhalb der Institutionen identifiziert werden, die den gleichberechtigten Zugang für alle (…) zu begehrten Gütern und interessanten Positionen behindern. Da (…) viele Ausschlussmechanismen ganz subtil und unbewusst funktionieren (…). Drittens kann bei jeder einzuführenden Massnahmen überprüft werden, ob die explizit gemachten oder die implizit angenommenen Unterschiede zwischen gleich und anders aufgrund essentialistischer Diffe- Literatur Callinicos, Alex (1997): Rasse und Klasse. In «International Socialism», No. 55. ISO. London: S. 7. Castro Varella, Maria do Mar (2007): Wer bin ich? Und wer sagt das? In: Gemende Marion, Chantal Munsch, Steffi Weber –Unger Rotino (Hrsg): Migration und Geschlecht – zwischen Zuschreibung, Ausgrenzung und ­L ebensbewältigung. Juventa, Weinheim und München: S. 64. Ehret, Rebekka (2011): Diversity. Schlüsselbegriff für den kompetenten Umgang mit Vielfalt im Gesundheitsbereich? In: Zeitschrift ­S oziale Me­ dizin 38(2): S. 55, 58, 59. Schröer, Hubertus: Vielfalt gestalten. Kann Soziale Arbeit von DiversityKonzepten lernen? www.i-iqm.de/dokus/vielfalt_leben_und_gestalten. pdf. URL abgerufen am 3. 4. 2012: S. 2–6. Kilcher, Anne (2007): Rassismus und rassistische Diskriminierung. In: Domenig Dagmar (Hrsg): Transkulturelle Kompetenz. Lehrbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe. Huber, Bern: S. 107, 113. Le Breton, Maritza (2011): Sexarbeit als transnationale Zone der Prekari­ tät. Migrierende Sexarbeiterinnen im Spannungsfeld von Gewalterfah­ rungen und Handlungsoptionen. VS. Wiesbaden: S. 95. Nr. 6 _Juni 2012 | SozialAktuell 25