Christian Schilcher Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur

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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
Dezember 2005
Sic et Non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz.
Rubrik Soziologie
[www.sicetnon.org]
Christian Schilcher
Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur
Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen
Gesellschaften
Diplomarbeit im Fach Soziologie
Am Institut für Soziologie
FB 2, TU-Darmstadt
Vorgelegt im Januar 2001
Abstract
Als ein Kernstück der Bourdieuschen Theorie kann die Analyse der Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und Kultur angesehen werden. Kultur ist
für Bourdieu keine unschuldige Sphäre, sondern das entscheidende Medium
zur Reproduktion von Klassenstrukturen. Bourdieus Argumentation mündet in
der zentralen These, dass Klassenzugehörigkeit am deutlichsten in differenziellen Lebensstilen zum Ausdruck kommt.
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
Dezember 2005
Inhaltsverzeichnis
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
4
1. EINLEITUNG
5
2. PIERRE BOURDIEUS SOZIOKULTURELLE
KLASSENTHEORIE
9
2.1 Grundkategorien der Bour dieuschen Theorie
10
2.1.1 Sozialer Raum
10
2.1.2 Klasse
12
2.1.3 Habitus
16
2.1.4 Feld
21
2.2 Die praxeologische Vorgehensweise Bourdieus
25
2.3 Zusammenfassung und Bewertung
30
3. PIERRE BOURDIEU VOR DEM HINTERGRUND VON
KARL MARX
34
3.1 Klassenanalyse bei Marx
35
3.1.1 Eine kurze Einführung in die Klassentheorie
36
3.1.2 Einige der am häufigsten vorgebrachten Kritiken der
Marxschen Klassentheorie
43
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3.2 Bourdieu und Marx: Gegenüberstellung zweier Klassentheorien
49
3.2.1 Kapitalbegriff und Kapitalarten
49
3.2.2 Die Beziehung zwischen ökonomischer Basis, Individuen
und Kultur
56
3.2.3 Klassenbewußtsein und Klassenkampf
59
3.3 Zusammenfassung und Bewertung
65
4. PIERRE BOURDIEU UND NEUERE ANSÄTZE ZUR
SOZIALSTRUKTURANALYSE
69
4.1 Theorien von der Auflösung von Klassen und Schichten
71
4.1.1 Dimensionen des sozialen Wandels in Deutschland
72
4.1.2 „Neue“ Ungleichheiten
77
4.1.3 Das Individualisierungstheorem
79
4.1.4 Milieu- und Lebensstilforschung
82
4.2 Bourdieus Lebensstilanalysen im Vergleich zu den neueren
Milieu- und Lebensstilansätzen
87
4.2.1 Zum Streit um das Objektive und Subjektive
87
4.2.2 Erweiterte Handlungsspielräume und die Stabilität sozialer
Ungleichheit
90
4.2.3 Beschreibung und Erklärung von Lebensstilen
92
4.3 Zusammenfassung und Bewertung
94
5. FAZIT UND AUSBLICK
97
LITERATURVERZEICHNIS
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103
3
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Der soziale Raum
11
Abbildung 2: Drei Erscheinungsformen des kulturellen Kapitals
51
Abbildung 3: Einkommensrelationen zwischen
1950 und 1980 nach Fünfteln
74
Abbildung 4: Milieubeschreibungen bei Gerhard Schulze
85
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1. Einleitung
„Man muß die Autoren auf eine bestimmte Fragestellung hin lesen, um ihnen das beste abzufordern,
das sie geben können.“ (Pierre Bourdieu 1982b:
45)
Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Bourdieus Ausführungen zur Sozialstruktur der gegenwärtigen Gesellschaften. Als ein Kernstück der Bourdieuschen
Theorie kann die Analyse der Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und
Kultur angesehen werden. Seine Gesellschaftstheorie hat die Beziehungen zwischen Klassenzugehörigkeit, Bildungspartizipation, kultureller Kompetenz,
kultureller Praxis und Lebensstilen zum Gegenstand und ist daher als soziokulturelle Klassentheorie angelegt. Kultur ist dabei für ihn keine unschuldige
Sphäre, sondern stellt das entscheidende Medium zur Reproduktion der Klassenstrukturen in kapitalistischen Gesellschaften dar. Bourdieus Argumentation
mündet in der zentralen These, daß Klassenzugehörigkeit am deutlichsten in
differenziellen Lebensstilen zum Ausdruck kommt.
„Deshalb auch bietet sich Geschmack als bevorzugtes Merkmal von
´Klasse´ an.“ (Bourdieu 1982a: 18)
Um Bourdieus Überlegungen zur Sozialstrukturanalyse diskutieren zu können,
bedarf es zunächst einer Vorstellung seines Klassenkonzepts. Eine einfache
Definition des Begriffs Klasse ist im Werk Bourdieus indes nicht zu finden.
Vielmehr verknüpft Bourdieu die Frage der sozialen Ungleichheit mit der Analyse von Lebensstilen und verankert diese Zusammenhänge systematisch in
einem großen theoretischen Rahmen. Um einen Einstieg für das Verständnis zu
gewinnen, wie Bourdieu sein Konzept einer Klassengesellschaft entfaltet, werden im Kapitel 2 Pierre Bourdieus soziokulturelle Klassentheorie zunächst
grundlegende Argumentationen Bourdieus vorgestellt.
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Das Ziel dieser Arbeit ist zu verstehen, welchen Beitrag Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften leisten kann. Um zu zeigen,
welche Relevanz Bourdieu für die gegenwärtige Sozialstrukturanalyse hat,
wird Bourdieu in das Verhältnis zu zwei wichtigen, sehr gegensätzlichen Strömungen der Sozialstrukturanalyse gesetzt: In Kapitel 3 Pierre Bourdieu vor
dem Hintergrund von Karl Marx wird Bourdieu die Klassentheorie von Marx
gegenübergestellt, in Kapitel 4 Pierre Bourdieu und neuere Ansätze zur Sozialstrukturanalyse wird Bourdieu mit den neueren Theorien der Auflösung von
Klassen und Schichten konfrontiert.
Daß Bourdieu eine Klassentheorie entfaltet, legt die Frage nahe, in welchem
Verhältnis diese zu dem klassischen Klassenkonzept von Marx steht. Dem
Verhältnis von Bourdieus und Marx´ Klassenbegriff wird nachgegangen um
herauszufinden, an welchen Punkten die Konzepte Parallelen und Unterschiede
aufweisen. Die wichtige Frage dabei ist, an welchen Punkten Bourdieu für die
Analyse gegenwärtiger Gesellschaften angemessener ist, aber auch, wo sich
wichtige Marxsche Erkenntnisse verlieren. Es gilt also letztlich zu zeigen, welche Stärken und Schwächen die Bourdieusche Theorie gegenüber der Marxschen besitzt.
Die neueren Theorien zur Sozialstrukturanalyse haben in den letzten 20 Jahren
großen Einfluß auf den deutschen Sozialstrukturdiskurs ausgeübt. Ihre Grundlage finden diese Theorien in einer radikalen Kritik an Marx und seiner Klassentheorie. Es wird davon ausgegangen, daß sich mit der Pluralisierung von
sozialen Milieus sozialstrukturelle Großgruppen aufgelöst haben und daß es
durch einen Prozeß der Individualisierung zu einer Zunahme autonomer Verhaltensweisen der Individuen gekommen ist, so daß das Bewußtsein von Ind ividuen nicht mehr aus ihrer objektiven Lage abgeleitet werden kann. Der Ausgangspunkt der vergleichenden Gegenüberstellung dieser Theorien mit dem
Bourdieuschen Entwurf besteht zum einen in der Gemeinsamkeit, daß die kultursoziologische Milieu- und Lebensstilforschung in allen Entwürfen ins Zentrum der Betrachtung rückt, zum anderen aber im Unterschied, daß Bourdieu an
der Vorstellung einer klassenstrukturierten Gesellschaft festhält.
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Marx sowie die Milieu- und Lebensstiltheorien werden in die Arbeit einbezogen, um das Verständnis des Bourdieuschen Klassenkonzepts zu befördern.
Dazu sind sie geeignet, weil sie mit dem Begriff Klasse bzw. Lebensstil unmittelbar Anknüpfungspunkte an Bourdieu aufweisen. Die beiden Strömungen
sind aber zusätzlich für diese Arbeit interessant, da sie Gegenstand eines theoretischen Richtungsstreits sind. Die Sozialstrukturanalyseforschung befindet
sich seit ungefähr Mitte der 80er Jahre in einer heftigen und problematischen
Auseinandersetzung um die Fruchtbarkeit von traditionellen vertikal und neueren horizontal orientierten Modellen. In einer stark polarisierten Diskussion
soll durch Milieu- und Lebensstilkonzepte nachgewiesen werden, daß Klassenkonzepte für die Sozialstrukturanalyse unbrauchbar geworden sind.
Ich hingegen werde zeigen, daß dem mit Blick auf die Bourdieusche soziokulturelle Klassentheorie nicht zuzustimmen ist. Ich werde mit Bourdieu verdeutlichen, daß es nicht nur ein „entweder - oder“ gibt, sondern daß eine vertikal
orientierte Klassentheorie mit kultursoziologischen Analysen von Lebensstilen
verbunden werden kann. Ich werde erklären, wie Bourdieu Fruchtbares beider
Traditionen in seinem Konzept zusammenführt, einige Problematiken und Reduktionismen der anderen Konzepte überwindet und damit einen wertvollen
Beitrag zur Sozialstrukturanalyse moderner Gesellschaften bietet. Gleichwohl
wird durch die Diskussion Bourdieus deutlich, daß sein Konzept selbst nicht
frei von Ungenauigkeiten, Vernachlässigungen und Problemen ist. Ich werde
auch darlegen, daß Bourdieus Konzept nicht als eine Art Patentrezept für die
Sozialstrukturanalyse gegenwärtiger Gesellschaften aufzufassen ist, sondern
daß es trotz seiner Stärken einer Weiterentwicklung bedarf. Es wird auch das
Ergebnis dieser Arbeit sein, daß sich bei Bourdieu einige (wichtige) Elemente
der Marxschen Klassentheorie wie auch der neueren Milieu- und Lebensstilforschung verlieren.
Die drei Hauptschritte dieser Arbeit – erstens, die theorieimmanente Diskussion Bourdieus, zweitens, die Diskussion Bourdieus vor dem Hintergrund der
Klassentheorie von Marx und drittens, die Diskussion Bourdieus durch eine
Auseinandersetzung mit Milieu- und Lebensstilkonzepten – dienen als Mittel
zur Herausarbeitung des Bourdieuschen Beitrags zur Sozialstrukturanalyse. Die
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Gegenüberstellungen sollen zu einem besseren Verständnis der Vorzüge und
Probleme des Bourdieuschen Konzept führen. Es gilt zu betonen, daß dabei
nicht Marx oder die Milieu- und Lebensstiltheorien im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Ziel kann es daher nicht sein, die Bourdieu gegenübergestellten
Theorien so lückenlos wie möglich wiederzugeben. Daß die anderen Konzepte
nur in Grundzügen und deshalb verkürzt vorgestellt werden, liegt im Entwurf
dieser Arbeit begründet. Nicht nur, daß der rote Faden dieser Arbeit leicht verloren ginge, es würde auch den Rahmen einer Diplomarbeit sprengen, würde
eine umfassende Beschäftigung mit allen thematisierten Theorien und Entwürfen versucht. Jedes einzelne Kapitel beinhaltet sicher genügend Aspekte, um
Stoff für eine eigene Diplomarbeit zu bieten.
Und noch ein weiterer Punkt dessen, was diese Arbeit nicht leisten kann, soll
erwähnt werden. Sicherlich wäre eine über Marx und die Protagonisten der
neueren Sozialstrukturtheorien hinausgehende theoriegeschichtliche Einordnung Bourdieus interessant. Es wird im folgenden weitestgehend darauf verzichtet, Bezüge zu weiteren Autoren herzustellen. Um den Gang der Untersuchung nicht ausufern zu lassen, wurde darauf verzichtet, übernommene Denkfiguren anderen Theorien zu thematisieren. Es soll lediglich angemerkt werden,
daß Bourdieus Arbeiten durch zahlreiche Theoretiker geprägt sind. Zu nennen
sind hier z.B. Einflüsse von Weber, Durkheim oder Lévi-Strauss, die durch
eine Thematisierung für das Verständnis der Bourdieuschen Theorie hilfreich
wären. Einer Fragestellung möglichst stringent nachzugehen, bedeutet im
Rahmen einer hundertseitigen Arbeit jedoch, andere Fragestellungen zu vernachlässigen, was letztlich das Gefühl der Lücke hinterläßt.
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2. Pierre Bourdieus soziokulturelle
Klassentheorie
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den grundlegenden Argumentationen Bourdieus zur sozialen Gliederung gegenwärtiger Gesellschaften. Im folgenden
wird ein Einstieg in Bourdieus Überlegungen geleistet und damit die Basis
geschaffen, von der aus Bourdieu in den weiteren Kapiteln diskutiert wird.
Bourdieus Interesse gilt dem Verhältnis von Herrschaft, Kultur und sozialer
Ungleichheit. Die Auseinandersetzung mit Herrschaft bzw. Reproduktion von
Herrschaft stellt den Hintergrund für seine Untersuchungen dar. Kultur ist für
Bourdieu wichtiger Ansatzpunkt zur Erklärung einer vertikal gegliederten Gesellschaft. Eine separate Klassentheorie hat Bourdieu nicht entworfen. Die
Theorie der Klassen findet sich eingebettet in seine soziokulturellen Gesellschaftsstudien. Für die Wiedergabe dessen, was Bourdie u unter Klassen versteht, bedeutet das, diesen inhaltlichen Zusammenhängen zu folgen. So sind
mit dem Begriff Klasse die Begriffe sozialer Raum, Habitus und Feld eng verknüpft. Im Abschnitt 2.1 sollen diese Begriffe vorgestellt und ihr Verhältnis
zueinander verdeutlicht werden. Im Abschnitt 2.2 wird näher auf Bourdieus
Versuch eingegangen, Objektivismus und Subjektivismus zusammenzuführen.
Dieser Versuch bildet die wissenschaftstheoretische Grundlage, die sich durch
die gesamte Arbeit Bourdieus zieht und maßgeblich sein Klassenkonzept prägt.
Im folgenden soll verdeutlicht werden, wie Bourdieu die Klassenstruktur der
Gesellschaft und ihre Reproduktion erklärt. Da dieses Kapitel Bourdieu weitestgehend theorieimmanent behandelt und zunächst die wichtigsten Grundzüge thematisiert, werden einige interessante Aspekte aufgeworfen, die erst später in den folgenden Kapitel erneut aufgegriffen werden.
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2.1 Grundkategorien der Bourdieuschen Theorie
2.1.1 Sozialer Raum
Für die Darstellung der Sozialstruktur benutzt Bourdieu das Konstrukt des sozialen Raums. Der soziale Raum bildet die Grundlage, auf der sich der Raum
der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile abzeichnet. Oder, in anderen Worten: Der soziale Raum ist der Rahmen, in dem erstens gesellschaftliche Positionen der Individuen und zweitens ihre Lebensstile verortet werden.
Doch genaugenommen ist der soziale Raum kein Rahmen, da er nicht geschlossen, sondern offen ist. Er ist nicht zwei-, sondern dreidimensional und
hebt sich so von anderen Modellen ab, die Gesellschaft z.B. mit Hilfe des Bildes einer Pyramide, einer Zwiebel (vgl. Bolte, Kappe, Neidhardt 1967: 316)
oder eines Hauses fassen wollen (vgl. Dahrendorf 1965: 105, aktuellerer Versuch bei Geißler 1996: 84).
Für die Konstruktion des sozialen Raums sind zwei Kapitalarten, das ökonomische und das kulturelle Kapital, von entscheidender Bedeutung.
"Der soziale Raum ist so konstruiert, daß die Verteilung der Akteure oder
Gruppen in ihm der Position entspricht, die sich aus ihrer statistischen
Verteilung nach zwei Unterscheidungsprinzipien ergibt, (...), nämlich das
ökonomische Kapital und das kulturelle Kapital.“ (Bourdieu 1998: 18)
In der vertikalen Dimension ist der soziale Raum durch das Gesamtvolumen an
kulturellem und ökonomischem Kapital bestimmt. In der horizontalen Dimension wird eine Differenzierung nach der Zusammensetzung des Kapitals vorgenommen, was einen intellektuellen und einen ökonomischen Pol des sozialen
Raums nach sich zieht. Mit einer dritten Dimension berücksichtigt Bourdieu
eine zeitliche Komponente, die in der folgenden Abbildung vernachlässigt
wird, auf die aber im nächsten Abschnitt zurückgekommen wird.
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Abbildung 1: Der soziale Raum
Raum der sozialen Positionen
Raum der Lebensstile
Kapitalvolumen +
Hochschullehrer
Bach
Schach
Segeln
Kulturelles Kapital +
Industrieunternehmer
Warhol
Gemäldesammlung
Ökonomisches Kapital +
Ökonomisches Kapital −
Kulturelles Kapital −
Kapitalvolumen −
Quelle: Vereinfachtes und verkürztes Schema aus Bourdieu 1982a: 212 f.
In seinen Ausführungen zum sozialen Raum hebt Bourdieu immer wieder die
Bedeutung des Begriffs der Relation hervor. Eine Position ist durch ihr Verhältnis zu allen anderen, d.h. durch Relationen von Nähe bzw. Entfernung bestimmt 1 . Individuen mit räumlicher Nähe haben mehr Umgang miteinander,
1
Bourdieu verdeutlicht seine Idee des sozialen Raums mitunter durch einen Vergleich zur
Geographie (vgl. z.B. Bourdieu 1982b: 35 f.). Deutschland kann in einen Norden und einen
Süden eingeteilt werden, der Süden kann wiederum weiter in Regionen aufgeteilt werden. Aus
dieser geographischen Struktur ergeben sich räumliche Nähen, Nachbarschaftsverhältnisse, die
entscheidenden Einfluß auf soziale Interaktionsprozesse haben.
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haben ähnliche Vorlieben und ähnliche Sozialisationsverläufe aufzuweisen und
sind sich demnach vertrauter. Deshalb ist für Bourdieu eine Annäherung oder
ein Zusammenschluß der Individuen mit geringer räumlicher Entfernung am
wahrscheinlichsten, jedoch nicht zwingend notwendig, da die Annäherung der
Fernsten nicht unmöglich ist. Zwingend sind Koalitionen gesellschaftlicher
Gruppen für Bourdieu nie.
Durch die quantitative wie qualitative Kapitalbestimmung lassen sich die Positionen der Individuen im sozialen Raum bestimmen. In einem weiteren, für die
Bourdieusche Theorie sehr wichtigen Schritt werden soziale Positionen in Beziehung zu sozialen Praxen gesetzt: Dem Raum der sozialen Positionen entspricht ein Raum von Lebensstilen.
„Der soziale Raum und die in ihm sich ´spontan´ abzeichnenden Differenzen funktionieren auf der symbolischen Ebene als Raum von Lebensstilen.“ (Bourdieu 1985: 21)
Es sollte aber nicht von einem mechanis tischen Verhältnis von Position und
Lebensstil ausgegangen werden, etwa nach der Art: „Kenne ich die soziale
Position einer Person, dann kenne ich sein Hobby, seinen Speiseplan usw.“ Die
Vermittlung von sozialer Position und Praxis übernimmt in der Theorie Bourdieus der Habitus.
2.1.2 Klasse
Jede soziale Position verfügt über einen spezifischen Lebensstil, und tendenziell verbindet die Art der Lebensführung durch ihre Ähnlichkeit benachbarte
Akteure und grenzt gleichzeitig andere aus. Je näher sich die Ind ividuen in den
Dimensionen Gesamtkapital und Zusammensetzung des Kapitals sind, um so
mehr Gemeinsamkeiten werden sie aufweisen, was letztlich zur Konstruktion
einer Klasse führt.
Die Grundstruktur der Klassenbildung sieht Bourdieu in der vertikalen Dimension begründet, in der unterschiedlichen Quantität von Kapital.
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„Das Prinzip der primären, die Hauptklassen der Lebensbedingungen
konstituierenden Unterschiede liegt im Gesamtvolumen des Kapitals als
Summe aller effektiv aufwendbaren Ressourcen und Machtpotentiale,
(...).“ (Bourdieu 1982a: 196)
Bourdieu sieht diese Hauptklassen jedoch nicht als in sich homogene gesellschaftliche Gruppen an. Neben den Diskrepanzen zwischen den Klassen aufgrund ungleicher Verteilung von Gesamtkapital unterscheidet Bourdieu Fraktionen innerhalb der Klassen, die sich durch einen ähnlichen oder unterschiedlichen Umfang der einzelnen Kapitalsorten innerhalb des Gesamtkapitals konstituieren (vgl. Bourdieu 1982a: 197).
Wie schon im vorangegangenen Abschnitt erwähnt, macht Bourdieu darauf
aufmerksam, daß Koalitionen der Nächsten im Sozialraum nicht zwingend
sind. Grundlage für diese Aussage ist Bourdieus Verständnis vom sozialen
Raum als der Stätte permanenter Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Eine Fraktion der herrschenden Klasse kann z.B. anstreben,
die direkt über sie angesiedelte Fraktion zu erreichen. Als eine mögliche Strategie kann versucht werden, die vorherrschende Kapitalart der anderen Fraktion durch Aneignung zu entwerten. Nicht Zusammenschluß, sondern Kampf ist
in dieser Situation das vorherrschende Motiv.
„Die objektiv geringste Distanz im sozialen Raum kann mit der subjektiv
größten Distanz zusammenfallen: dies unter anderem deshalb, weil der
´Nächststehende´ genau der ist, der die soziale Identität, d.h. den Unterschied, am stärksten bedroht (...).“ (Bourdieu 1987: 251)
Bourdieu gibt allerdings in letzter Instanz trotz der Konfliktpotentiale innerhalb
der Klassen den Zusammenschlüssen der räumlich Fernstehenden wenig Cha ncen2 .
2
Bourdieu erwähnt das Beispiel einer großen Sammlungspartei für Arbeitnehmer und Arbeit-
geber, die aufgrund ihrer Entfernung im sozialen Raum wenig Aussicht auf Erfolg hätte, lediglich auf der Basis einer Krise oder eines Nationalismus oberflächlich und kurzfristig einen
Zusammenschluß bilden könnten (vgl. Bourdieu 1998: 24).
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Mit der Frage nach Zusammenschlüssen gesellschaftlicher Gruppen sind wir an
einem wichtigen Punkt bei Bourdieu angelangt. Eine Klasse kann als eine
„Klasse auf dem Papier“ über die Nähe der Positionen im sozialen Raum objektivistisch konstruiert werden, geschaffen wird sie jedoch erst durch die klassifikatorische Praxis der Subjekte. Wie ist diese klassifikatorische Praxis der
Subjekte zu charakterisieren?
Lebensstile faßt Bourdieu als strukturierte Zeichensysteme auf, als eine Art
Sprache, die eine soziale Kategorisierung durch Klassifikation erlauben.
„Das Wesentliche aber ist, daß diese unterschiedlichen Praktiken, Besitztümer, Meinungsäußerungen, sobald sie mit Hilfe der entsprechenden sozialen Wahrnehmungskategorien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien wahrgenommen werden, zu symbolischen Unterschieden werden
und eine regelrechte Sprache bilden.“ (Bourdieu 1998: 21 f.)
Die Praxisformen der Individuen können als distinktive, Unterschiede scha ffende, oder als integrative Zeichen fungieren. In diesem Sinne sind Lebensstile
als Kampfinstrumente aufzufassen. Zu den Auseinandersetzungen um ökonomische Ressourcen tritt damit ein symbolischer Kampf. Denn es wird nicht nur
um die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen gerungen, sondern auch
um die richtigen Werte, die legitimen Standards und die distinktiven Lebensstile. In Anlehnung an den Gedanken, daß die herrschenden Gedanken auch die
Gedanken der (innerhalb der ökonomischen Verhältnisse) Herrschenden repräsentieren, fließen die durch die sozialen Positionen bedingten Unterschiede in
symbolische Auseinandersetzungen mit ein. Die zu gesamtgesellschaftlicher
Anerkennung gelangten Klassifikationsurteile lassen sich aus den Vorgaben
eines Lebensstils ableiten, dem es gelungen ist, den Kampf der Klassen für sich
zu entscheiden3 .
3
Der Aspekt der symbolischen Auseinandersetzungen und der ungleichen Verteilung von
symbolischer Macht stellt einen wichtigen Bestandteil der Bourdieuschen Argumentation dar.
Dieses Thema wird später im Abschnitt 3.2.1 Kapitalbegriff und Kapitalarten erneut aufgenommen und eingehender diskutiert werden.
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Bourdieus Klassentheorie, die auf den Zusammenhang zwischen Klasse und
Klassifikation gerichtet ist, umfaßt, kurz zusammengefaßt, folgende Kernelemente:
1. Das Volumen bzw. den Umfang des Kapitals
2. Die Struktur bzw. die Zusammensetzung des Kapitals
3. Die soziale Konstruktion von Klassen durch symbolische Auseinandersetzungen zwischen Subjekten und Gruppen
4. Hinzu kommen die von Bourdieu für das Klassenkonzept berücksichtigten
Laufbahneffekte, die im Konzept des sozialen Raums neben dem Volumen
und der Zusammensetzung des Kapitals die dritte, zeitliche Dimension darstellen. Als Ausdruck kollektiver Laufbahnen sind an den Positionen im
sozialen Raum „Neigungswinkel“ angelegt, die tendenziell den Aufstieg
oder Abstieg sozialer Karrieren aufzeigen. Damit wird dem zu erwartenden
Werdegang einzelner Berufsgruppen und damit zusammenhängend der
Entwicklung des einzelnen Rechnung getragen4 . Dazu treten individuelle
Laufbahnen, die von den kollektiven abweichen können und so diese in ihrer Tendenz verstärken oder abschwächen (vgl. Bourdieu 1982a: 187 ff.).
Bis zu diesem Punkt der Ausführungen ist auf den Zusammenhang von kapitalbedingter Position und Lebensstil hingewiesen worden. Es wurde von Gemeinsamkeiten in Lebensstilen zwischen ähnlichen sozialen Positionen gesprochen. Bourdieus Vorstellung von Klassen wird jedoch erst deutlich, wenn der
Begriff des Habitus eingeführt und in das Konzept der Klasse integriert wird.
Denn nach Bourdieu entspricht jeder Positionsklasse eine Habitusklasse (vgl.
Bourdieu 1998: 20 f.). Die Lebensstile, die Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten der Individuen sind nur die äußere Erscheinung, letztlich gründen sie auf
dem Habituskonzept.
„Als Klasse von identischen oder ähnlichen Existenzbedingungen und
Konditionierungen ist die gesellschaftliche Klasse (an sich) untrennbar
4
So bescheinigt Bourdieu z.B. den Landarbeitern eine tendenzielle Verschlechterung ihrer
Position im sozialen Raum.
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zugleich eine Klasse von biologischen Individuen mit demselben Habitus
als einem System von Dispositionen, das alle miteinander gemein haben,
die dieselben Erfahrungen gemacht haben, und dazu noch in derselben
Reihenfolge, (...).“ (Bourdieu 1987: 111 f.)
2.1.3 Habitus
Der Habitus umfaßt Dimensionen wie die äußere Erscheinung oder das Verha lten und Auftreten eines Menschen. Der Habitus zeigt sich z.B. in der Körpersprache, in der Kleidung, in Eß- und Trinkgewohnheiten oder in der Ausübung
spezieller Hobbys. Doch dies ist nur eine äußere Beschreibung des Habitus, das
Verständnis des Habitus´ erschließt sich über eine abstraktere Ebene der Beschreibung.
Der Habitus ist ein System von dauerhaften Dispositionen, welches alle historischen Erfahrungen integrierend, als Denk-, Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und
Handlungsmatrix im Alltagsleben fungiert (vgl. Bourdieu 1976: 169). Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen liegen in den historischen
und sozialen Grenzen, die im Habitus veranlagt sind.
Der Habitus ist inkorporierte Kultur, geronnene Erfahrung, Produkt der Geschichte eines Individuums.
„Im Habitus eines Menschen kommt das zum Vorschein, was ihn zum
gesellschaftlichen Wesen macht: seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Klasse und die ´Prägung´, die er durch diese Zugehörigkeit erfahren hat.“ (Treibel 1995: 210)
Bourdieu widerspricht mit diesem Konzept der Ideologie, die Geschmack zu
einer Naturgabe stilisiert (vgl. Bourdieu 1982a: 17). Der Habitus wird durchweg sozial konstituiert und nicht durch biologische Voraussetzungen bestimmt.
Als Speicher sozialer Verhältnisse ist er ein gesellschaftliches Produkt.
In der Bourdieuschen Theorie stellt der Habitus die Vermittlungsinstanz zwischen Struktur und Praxis dar. In dieser Rolle fällt dem Habitus eine Doppelfunktion zu. Zum einen ist der Habitus selbst etwas Hervorgebrachtes, ein
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strukturiertes Produkt (opus operatum). Der Habitus ist jedoch nicht nur vermittelndes Anhängsel von sozioökonomischen Strukturen, sondern auch strukturierende Struktur (modus operandi). Der Habitus ist zum einen Erzeugungsprinzip von Praxisformen und gleichzeitig ein Klassifikationssystem, welches
die Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte leistet. Durch die
einverleibten Dispositionsmuster können Deutungs- und Interpretationsschemata ausgebildet werden, mit deren Hilfe das Individuum sich erst die Wirklichkeit aneignet sowie Situationen und das Verhalten anderer Akteure bewerten kann (vgl. Bourdieu 1982a: 277 f.).
Der Habitus basiert auf der Klassenzugehörigkeit und der damit verbundenen
kollektiven Geschichte und kann dann aufgrund individueller Erfahrung in
diesem Rahmen ausgestaltet werden. In der Familie wird ein Grundhabitus
erzeugt 5 , der durch alle späteren Erziehungsmaßnahmen nurmehr modifiziert
wird, denn er enthält zugleich die „Regeln“ für mögliche Veränderungen. Der
Habitus entwickelt sich demnach gemäß einer systematischen Biographie. Da
aber keine Individualgeschichte einer anderen völlig gleicht, unterscheiden sich
die Habitus auch innerhalb einer Klasse. Jedoch stellen sie lediglich geregelte
Abweichungen vom typischen kollektiven Habitus dar (vgl. Steinrücke 1988).
Der Habitus kann folglich als stabil bezeichnet werden. Es herrscht die „Dominanz der Vergangenheit über die Gegenwart“ (vgl. Krais 1989: 53).
Die Beschreibung der doppelten Inkorporierung des Habitus gehört bei Bourdieu zu einem zentralen Bestandteil seines Konzepts. Zum einen werden die
mit dem Habitus vermittelten (Geschmacks-) Vorstellungen von dem Individuum in seiner psychischen Struktur internalisiert, zum anderen geht der Habitus auch in die physische Struktur des einzelnen ein 6 .
5
Der Aspekt der sozialen Herkunft ist bei Bourdieu zentraler Bestandteil seiner Überlegungen.
Wenn die Familie für das Habituskonzept eine so maßgebliche Rolle spielt, dann ist es verwunderlich, daß Bourdieu über sein ganzes Werk hinweg familiale Sozialisationsprozesse nicht
genauer untersucht hat.
6
So zeigt zum Beispiel Bourdieu anhand seiner empirischen Untersuchungen, daß in Frank-
reich der 60er Jahre die unteren Klassen stärker auf die Kraft des (männlichen) Körpers als auf
Gestalt und Aussehen achteten, weshalb sie billige, aber nahrhafte und kalorienreiche Produkte
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„Der Geschmack als Natur gewordene, d.h. inkorporierte Kultur, Körper
gewordene Klasse, trägt er bei zur Erstellung des ´Klassenkörpers´.“
(Bourdieu 1982a: 307)
Als Folge der Inkorporation des Habitus in die psychischen wie physischen
Strukturen haftet er dem Individuum als Scheinnatur an und bewegt sich daher
auf einer vorbewußten Ebene. Der Habitus und die eigene Identität fallen zusammen, so daß der gesellschaftliche Charakter der eigenen Person nicht mehr
identifizierbar ist. Bourdieu bezeichnet in seinen Ausführungen den Habitus
auch als „sozialisierte Subjektivität“ (vgl. Bourdieu 1996: 159), um auf dem
gesellschaftlichen Moment des Persönlichen zu insistieren7 .
Bourdieu interpretiert Praxis, auch und gerade auf dem Feld der symbolischen
Formen als Praxis, die strategisch auf den Aufstieg beziehungsweise die Erha ltung der Position im sozialen Raum bezogen ist, die unter dem Druck eines
Klassenkampfes beständig neue Differenzierungen, Abgrenzungen, soziale
Schließungen gegenüber benachbarten Klassen und Klassenfraktionen hervorbringt. Praktisch alle Lebensäußerungen der Individuen erhalten von dieser
Situation des niemals aussetzenden Kampfes um die soziale Position her ihre
soziale Bedeutung, ihren objektiven Sinn. Dem Habitus liegt somit eine Strategieannahme zugrunde (vgl. Krais 1989: 52).
Doch die Vorstellung, daß der Habitus eine strategisch orientierte Praxis anleitet, ist nicht unproblematisch. Wenn Bildung angeeignet wird, so Bourdieus
Argumentation, dann als Kapitalart und somit als Instrument zum Bestehen im
sozialen Raum. Bourdieu vernachlässigt damit das Emanzipationspotential von
Bildung, das den einzelnen befähigt, sich selbst, andere und gesellschaftliche
Prozesse zu verstehen, sich gegenüber diesen in ein Distanzverhältnis zu setzen, um Genese und Zusammenhänge von Gesellschaft reflektieren zu können.
auswählten, während die oberen Klassen Nahrung den Vorzug gaben, die leicht ist und nicht
dick macht.
7
Den Persönlichkeitsmodellen von Freud mit der Konzeption „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“, von
Mead mit „I“ und „Me“ oder von Rollentheoretikern liegt die Vorstellung einer „menschlichen
Natur“ zugrunde. Solch eine Differenz von Individuum und Gesellschaft wird bei Bourdieu
zugunsten der gesellschaftlichen Prägung des Subjekts aufgegeben.
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Daraus resultiert ein Aspekt von Bildung, der die Grenzen des einzelnen überschreitet und sich Kategorien wie der des persönlichen Nutzens entzieht.
Am Beispiel des ästhetischen Geschmacks soll abschließend kurz gezeigt werden, wovon das ästhetische Urteil als Teil des Habitus im spezielleren abhängt
und welche Ausprägungen es annehmen kann.
Bourdieu nennt in diesem Zusammenhang zwei wichtige Dimensionen:
„Zum einen die sehr enge Beziehung zwischen den kulturellen Praktiken
(sowie den entsprechenden Meinungen) und dem schulischen oder Bildungskapital (gemessen am Schul- und Hochschulabschluß) sowie sekundär der sozialen Herkunft (erfaßt anhand des Berufs des Vaters).“
(Bourdieu 1982a: 34)
In diese zwei Dimensionen, Bildungskapital und soziale Herkunft, die Bourdieu im Zusammenhang mit dem Geschmack nennt, unterscheiden sich gesellschaftliche Gruppen quantitativ wie qualitativ. So kommt dann Bourdieu bei
der Systematisierung von Geschmack zu der Aussage:
„Dementsprechend lassen sich im Universum der individuellen Geschmacksrichtungen (...) drei Geschmacksdimensionen unterscheiden,
denen wiederum im großen ganzen drei Bildungsniveaus sowie drei gesellschaftliche Klassen korrespondieren.“ (Bourdieu 1982a: 36)
Die drei großen Geschmacksdimensionen leiten sich aus der Differenz ab, die
zwischen den drei großen Klassen im sozialen Raum bestehen. Die Habitus,
und damit die Geschmäcker, sind nicht einfach nur unterschiedlich, in der
Form, daß sie Ausdruck eines wertfreien Pluralismus von Lebensstilen sind.
Die Habitus machen Unterschiede, entweder, indem sie unterschiedliche Unterscheidungsprinzipien anwenden oder indem sie gewöhnliche Untersche idungsprinzipien unterschiedlich anwenden (vgl. Bourdieu 1998: 21).
Die drei Dimensionen, durch die Bourdieu stilistische Einheitlichkeiten als
verbindendes Moment innerhalb der Klassen aufzeigt, lauten:
-
Der legitime Geschmack
-
Der mittlere Geschmack
-
Der populäre Geschmack
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Der „legitime Geschmack“ ist am ehesten bei Menschen mit großem Kapitalbestand und somit am häufigsten in den Kreisen der herrschenden Klasse mit
hohem ökonomischen und kulturellen Kapital wiederzufinden. Der herrsche nden Klasse als ganzer – in Relation zu den unteren Klassen – attestiert Bourdieu einen Sinn für Distinktion (vgl. Bourdieu 1982a: 405). Innerhalb der herrschenden Klasse macht Bourdieu eine Differenzierung zwischen zwei Lebensstilen, denen er die Prädikate des „asketischen Aristokratismus“ und des „Sinns
für Luxus“ zuordnet (vgl. Bourdieu 1982a: 447). Zeichnet sich der Habitus der
herrschenden Klasse durch die Leichtigkeit, das Selbstbewußtsein und die Natürlichkeit aus, über die nur diejenigen verfügen, die symbolische Definitionsmacht besitzen und mit den selbst definierten Normen spielerisch umgehen
können, so haftet dem Kleinbürgertum die Schwerfälligkeit, Zwanghaftigkeit
und das permanente Gefühl des Entlarvtwerdens an, das sich aus dem Bemühen speist, die fremden Geschmacksnormen der herrschenden Klasse zu kopieren. Daraus resultiert der „mittlere Geschmack“ als Geschmacksform der Mittelklasse, der nach Bourdieu durch minderbewertete Werke der legitimen
Künste und durch die „legitimsten“ Werke der minderbewerteten Künste repräsentiert wird. Der „populäre Geschmack“ ist im Unterschied zu den beiden
anderen Geschmacksdimensionen am häufigsten in den unteren Schichten mit
niedrigem Bildungskapital zu finden. Der Lebensstil der unteren Klasse wird
von Bourdieu zuweilen auch durch den Begriff des „Notwendigkeitsgeschmacks“ gekennzeichnet (vgl. Bourdieu 1982a: 585 ff.). Bedürfnis und Möglichkeit sind in solchem Maße miteinander verwoben, daß nur gewünscht wird,
was auch erfüllbar ist. Die durchgängige alltagsästhetische Entscheidung für
das Praktische reflektiert in diesem Rahmen nur die Tatsache, daß Investitionen in eine elaborierte Stilisierung kaum symbolischen Gewinn erwarten lassen.
Am Beispiel des Lebensstils der Arbeiterklasse wird jedoch eine durch die zeitliche Perspektive (60er Jahre) gegebene Begrenztheit des Bourdieuschen Ansatzes deutlich. Während die Schilderung der Lebensstile der herrschenden
Klasse und des Kleinbürgertums sich durch interpretative Dichte auszeichnet,
erscheint der Lebensstil der Arbeiterklasse seltsam blaß und holzschnittartig.
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Die bloße Reduktion auf strukturellen Zwang und Notwendigkeit bestimmt,
wie anhand der Einkommensentwicklung von Arbeiterhaushalten gezeigt werden kann, nicht mehr die Situation der Arbeiterklasse als ganzer.
Als Beispiele für den legitimen Geschmack nennt Bourdieu „Das wohltemperierte Klavier“ und „Die Kunst der Fuge“ aus dem musikalischen Bereich,
Brueghel oder Goya auf dem Gebiet der Malerei. Für den mittleren Geschmack
werden aus der Malerei Utrillo und Buffet, aus der Musik „Die Rhapsodie in
blue“ oder aus dem Chansonbereich Jacques Brel genannt. Dem populären
Geschmack rechnet Bourdieu Werke der sogenannten „leichten“ Musik zu, die
durch ihre weite Verbreitung „entwertet“ wurden, wie „An der schönen blauen
Donau“ oder „La Traviata“. Dem hinzuzugerechnet wird nicht zuletzt der
Schlager (vgl. Bourdieu 1982a: 37 ff.). Auch hierbei gilt es zu bedenken, daß
Bourdieu die Beispiele für legitimen, mittleren und populären Geschmack aus
empirischem Material ableitet, das Ende der 60er Jahre in Frankreich erhoben
worden ist. Bourdieu geht davon aus, daß die meisten Produkte erst über den
von ihnen gemachten sozialen Gebrauch ihren gesellschaftlichen Wert gewinnen (vgl. Bourdieu 1982a: 45). Es liegt nach Bourdieu nicht in der Charakteristik eines Musikstückes begründet, ob es z.B. dem legitimen Geschmack zuzuordnen ist. Durch diesen sozialen Gebrauch von Kunst durch die Klassen kann
sich die Hierarchie der genannten Werke verschieben. Um die Bourdieuschen
Einteilungen zu überprüfen, wäre eine erneute Erhebung notwendig. So wie
sich die drei Geschmacksdimensionen in dem Buch Die feinen Unterschiede
darstellen, sind sie eher Idealtypen als feststehende Kategorien, denen Einzelfälle zugeordnet werden sollten.
2.1.4 Feld
Die drei großen Klassen sieht Bourdieu nur als Grobgliederung an und nicht als
homogene gesellschaftliche Gruppen. Die Klassen sind in sich differenziert,
und auch innerhalb der Klassenfraktio nen existieren Machtverhältnisse und
Kämpfe um Erhalt oder Veränderung von Positionen. Um diesen Differenzie-
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rungen Rechnung zu tragen, entwickelt Bourdieu das Konzept des sozialen
Feldes.
Zum Einstieg soll eine Allegorie dargestellt werden, derer Bourdieu sich zur
Verdeutlichung der Theorie der Felder immer wieder gerne bedient, nämlich
die des Spiels (z.B. vgl. Bourdieu 1996: 127 ff.). Die Individuen im Feld, also
die Spieler, sind zunächst einmal durch ihren Glauben an das Spiel gekennzeichnet. Sie erkennen das Spiel an und treten so scheinbar selbstverständlich
gegeneinander an. Jeder Spieler besitzt in diesem Spiel verschiedenartige Jetons, die er während des Spiels einsetzen kann. Die Jetons untereinander besitzen wiederum eine Hierarchie. Manche Jetons sind in dem Spiel wirksamer als
andere, und manche besitzen gar die Bedeutung eines Trumpfs. Wie die
Bedeutung der Jetons für das Spiel aussieht, hängt maßgeblich von dem Spiel
ab, das gespielt wird. Die Stärke, die ein Spieler in einem Spiel besitzt, hä ngt
von dem Umfang und der Zusammensetzung seiner Jetons ab. Die Strategie
eines Spielers kann durch verschiedene Dinge bestimmt werden. Zunächst ist
für den Spieler seine voraussichtliche Entwicklung im Spiel wichtig. Gemessen
an den Chancen, die er für sich in diesem Spiel sieht, kann er seine Ziele
abstecken. Er kann danach streben, seinen Jetonbestand zu erhalten oder zu
vermehren. Eine andere Taktik, die verfolgt werden kann, besteht darin, Aboder Aufwertungen von bestimmten Jetonarten anzustreben. So kann die
eigene Situation im Spiel verbessert werden, ohne einen realen Zuwachs der
eigenen Jetons erreicht zu haben. Das Feld ist demnach die „Kampfarena“, in
der die Spielteilnehmer durch Einsatz ihrer Kapitalarten um günstige
Positionen
Soweit die kämpfen.
Allegorie Bourdieus. Aber was wird mit dieser Allegorie erklärt?
Zunächst ist festzuhalten, daß die Akzeptanz bzw. Internalisierung der feldinternen Normen vom Individuum als Grundvoraussetzung für seine Position in
einem Feld abverlangt wird. Jedes einzelne Individuum kann sich nur in einem
Feld profilieren und von den anderen „Feldteilnehmer“ akzeptiert werden,
wenn der „Sinn des Spiels“ (vgl. Bourdieu 1987: 122) verstanden und als sinnvoll akzeptiert wurde. Das eigene Universum aus Regeln und Normen (Spielregeln, Spieleinsatz, Spielvoraussetzungen, etc.), das ein solches Spiel um sich
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aufbaut, wird nicht in Frage gestellt. Dieser Reflexionsleistung sind entsche idende Grenzen gesetzt. Für das Individuum ist das Spiel eben kein Spiel, sondern etwas Selbstverständliches, das zum eigenen Leben und zur Identität dazugehört. Der Glaube an eine Feldzugehörigkeit ist wie der Habitus inkorporiert. Daher ist es mißverständlich, von der Akzeptanz feldinterner Normen zu
sprechen, da diese Akzeptanz nicht auf der Ebene einer bewußten Willensentscheidung erfolgt.
"Der Glaube ist daher entscheidend dafür, ob man zu einem Feld gehört.“
(Bourdieu 1987: 124)
Dieser Glaube ist nicht zu verstehen als die kognitive Anerkennung der Spielregeln, er ist auch nicht die Überzeugung, daß dieses Spiel, in das man involviert ist, das richtige ist, sondern er ist ein Zustand des Leibes (vgl. Bourdieu
1987: 126)8 .
Vielmehr ist das „Mitspielen“ im Feld nur dann möglich und auch erfolgreich,
wenn diese scheinbar natürliche Zugehörigkeit zum Spiel gewährleistet ist. Die
Selbstverständlichkeit, mit der ein Individuum handelt, wenn Feld und Habitus
zusammenfallen, besitzt den Anschein von „instinktivem“ Verhalten.
„Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun
mehr Sinn, als sie selbst wissen.“ (Bourdieu 1987: 127)
Für die Position des Individuums im Feld ist nun der Kapitalbestand und die
Zusammensetzung des Kapitals (im Bild des Spiels wird von Jetons gesprochen) von entscheidender Bedeutung:
„So wie der Wert der Karten je nach Spiel ein anderer ist, so variiert auch
die Hierarchie der verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisch, kulturell,
sozial, symbolisch) in den verschiedenen Feldern.“ (Bourdieu 1996: 128)
8
Der Fisch im Wasser schwimmt deshalb so geschickt, weil er nicht darüber nachdenken muß,
wie er zu schwimmen hat, wie auch ein Mensch sich beim Laufen keine Rechenschaft von
seinem Bewegungsablauf ablegt. Und ein Mann aus den sogenannten „besseren Kreisen“ wird
sich erst dann jederzeit angemessen im Clubheim eines exklusiven Golfclubs verhalten können, wenn er dafür nicht eine Lektüre der Verhaltensregeln der „Upperclass“ benötigt.
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Um nun ein Feld genauer zu charakterisieren, müssen die in dem Feld jeweils
wirksamen Kapitalarten bestimmt werden. Damit hängt zusammen, daß, um
die Position des einzelnen in einem Feld zu analysieren, der Kapitalbestand des
einzelnen bestimmt werden muß.
„Zwischen den Begriffen Kapital und Feld besteht, wie man sieht, eine
wechselseitige Abhängigkeit.“ (Bourdieu 1996: 128)
Mit dem Konzept des Habitus hat Bourdieu das Eingehen des Sozialen in das
Individuum aufgezeigt. Mit dem Konzept des Feldes wird dieser Gedanke ausgedehnt. Denn die soziale Welt existiert nicht nur in Form des Habitus in den
einzelnen Individuen, sondern auch in Form des Feldes in physischen Objekten
außerhalb des Individuums.
„Die soziale Welt existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den
Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der
Akteure.“ (Bourdieu 1996: 161)
Wichtig ist nun, daß Habitus und Feld in einem Doppelverhältnis zueinander
stehen. Verkürzt ließe sich dieses Verhältnis folgendermaßen charakterisieren:
Das Feld beeinflußt den Habitus, der Habitus beeinflußt das Feld. Die Individuen werden zwar durch die verschiedensten gesellschaftlichen Institutionen
geprägt, doch sie prägen und verändern ihrerseits auch die Strukturen. Die Beziehung von Habitus und Feld, im weitesten Sinne also die Beziehung von Individuum und Gesellschaft, muß als ein reziprokes Verhältnis gesehen werden.
„Das Feld strukturiert den Habitus (...). Der Habitus trägt dazu bei, das
Feld als eine signifikante, sinn- und werthaltige Welt zu schaffen.“
(Bourdieu 1996: 160f)
Die spezifischen Logiken einzelner Felder hat Bourdieu in seinen empirischen
Untersuchungen zu ausgewählten Fraktionen der herrschenden Klasse herausgearbeitet. Die Untersuchungen beschäftigen sich unter anderem mit Unternehmern, Bischöfen der französischen Kirche und Hochschullehrern (vgl. dazu
Krais 1989: 59 ff.). Alle drei Untersuchungen gelten der herrschenden Klasse.
Dazu wurden die Inhaber von Machtpositionen, ihre Merkmale und ihre Beziehungen untereinander betrachtet. So macht Bourdieu deutlich, daß das Feld der
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Macht nicht homogen ist, sondern daß z.B. Felder wie das künstlerische am
beherrschten Pol des Feldes der Macht angesiedelt sind.
Mit der Theorie der Felder beschreibt Bourdieu die hochdifferenzierte Gesellschaft als einen Kosmos, der aus der Gesamtheit der relativ autonomen Felder
besteht. An dieser Stelle stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang diese
Mikrokosmen zueinander stehen. Oder um die Frage spieltheoretisch zu formulieren: Welche Auswirkungen hat die Dynamik eines Spiels auf das am Nebentisch stattfindende Spiel? Einzelne Felder und ihre habitusspezifischen Lebensstile analysiert Bourdieu mit faszinierender Genauigkeit. Warum die einzelnen
Felder jedoch zusammengefaßt im sozialen Raum die spezifische (hierarchische) Struktur der Gesamtgesellschaft ergeben, bleibt infolge der Vernachlässigung dieser Problematik eher im Dunkeln 9 .
2.2 Die praxeologische Vorgehensweise Bourdieus
Die Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar Objektivismus und Subjektivismus gehört zu einem durchgängigen Motiv der Bourdieuschen Argumentation. Es existiert kaum ein Aufsatz oder Vortrag, der nicht auf diese Thematik
eingeht.
Zunächst soll kurz aufgezeigt werden, was Bourdieu unter Objektivismus und
Subjektivismus, bzw. Strukturalismus und Konstruktivismus 10 versteht. Vom
9
Ein Grund für die Problematik ist darin zu sehen, daß der Feldbegriff zu der Zeit des Erschei-
nens wichtiger Publikationen wie „Die feinen Unterschiede“ oder „Der soziale Sinn“ noch
relativ jung ist. Noch im Jahre 1989 bemerkte Beate Krais, daß eine ausgearbeitete theoretische
Formulierung, ähnlich etwa der des Habitus, bislang nicht vorliegt (vgl. Krais 1989: 56).
10
Die Gleichsetzung von Objektivismus – Subjektivismus mit dem Begriffspaar Strukturalis-
mus und Konstruktivismus wird von Bourdieu z.B. im Aufsatz Wie eine soziale Klasse entsteht
(vgl. Bourdieu 1997: 102) vorgenommen. In der Sekundärliteratur finden sich viele andere
Lesarten des Gegensatzpaares, z.B. Systemtheorie – Handlungstheorie, Strukturalismus – Existenzialismus, etc.
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objektivistischen Standpunkt aus werden soziale Akteure wie Gegenstände
klassifiziert, sie werden wie Dinge behandelt. Vom subjektivistischen Standpunkt aus konstruieren die Akteure die soziale Realität, die ihrerseits als das
Produkt der Akkumulation der individuellen Konstruktionsakte verstanden
wird (vgl. Bourdieu 1987c oder Bourdieu 1982a: 378 f.). Beide Entwürfe verkürzen die gesellschaftliche Realität. Für Bourdieu ist das Denken in diesen
Gegensätzen falsch, denn die Akteure sind beides: Klassifizierende und Klassifizierte (vgl. Bourdieu 1997b: 103).
Bourdieu strebt die Aufhebung der Antinomie zwischen der objektivistischen
Reduktion sozialer Prozesse auf Effekte subjektloser Strukturen und der subjektivistischen Vernachlässigung der Verselbständigung gesellschaftlicher
Verhältnisse gegenüber dem Willen und Bewußtsein der Individuen an. Bourdieu betont die Wechselbeziehung zwischen dem Objektiven und der sozialen
Praxis. Das Objektive ist zugleich immer auch das Subjektive und umgekehrt.
In der Kritik der subjektivistischen und objektivistischen Betrachtungsweisen
bedient sich Bourdieu der Argumente des jeweiligen Gegenentwurfs, was darauf hinweist, daß Bourdieu keine der beiden komplementären Extrempositionen vollständig negieren kann. Vielmehr kommt es zu einer die nützlichen Elemente von strukturalistischer und konstruktivistischer Soziologie vereinigenden Zusammenführung in Form eines dritten Ansatzes, die die praxeologische
Erkenntnisweise genannt werden kann (vgl. Janning 1991: 26).
Diese praxeologische Erkenntnisweise ist um die Begriffstriade StrukturHabitus-Praxis aufgebaut. Dieses dreifache Fundament sichert mit dem Begriff
der Struktur gegen den Subjektivismus ab, mit dem Praxisbegriff gegen den
Objektivismus und mit dem Habitusbegriff gegen jeglichen einfach mechanischen Determinismus. Denn mit dem Habitusbegriff versucht Bourdieu
zugleich die Reduktionismen des Objektivismus, der das Handeln unmittelbar
aus materiellen Bedingungen, und des Subjektivismus, der es aus dem Bewußtsein, einer Idee oder Absicht ableitet, zu vermeiden (vgl. Steinrücke 1988: 93,
Burkart 1984: 10).
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Eine Bestimmung seiner Vorgehensweise bietet Bourdieu bereits in seinen
früheren Schriften an:
„Gegenstand der Erkenntnisweise, die wir praxeologische nennen wollen,
ist nicht allein das von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene
System der objektiven Relationen, sondern des weiteren die dialektischen
Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturie rten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und zu reproduzieren trachten.“ (Bourdieu 1976: 147)
Wie erwähnt, ist es angemessener, bei Bourdieu von einem Zusammenführen
der Antinomie von Objektivismus und Subjektivismus als von einer Auflösung
der Gegensätze zu sprechen. Bourdieu bedient sich in seinen Arbeiten gleichermaßen strukturalistischer als auch konstruktivistischer Ansätze. Die Frage
dabei ist, ob Bourdieu beide Konzepte zu gleichen Anteilen einbezieht oder ob
auf einem ein Schwergewicht liegt. Einige Autoren argumentieren, daß Bourdieus wissenschaftliche Verankerung im Strukturalismus 11 bei aller relativierenden Distanzierung unübersehbar sei, was in Stichworten wie Symbolische
Realität, Struktur als soziales Unbewußtes oder Denken in Relationen Ausdruck finde (vgl. z.B. Burkart 1984).
Die Fragestellungen des praxeologischen Ansatzes münden in dem erkenntnisund wissenschaftstheoretischen Problem der Wertgebundenheit sozialwissenschaftlicher Aussagen und in der Frage nach der Position der Sozialwissenschaften in gesamtgesellscha ftlichen Prozessen. Bourdieu insistiert auf der
Notwendigkeit, die soziale Position derjenigen zu bestimmen, die Gesellschaft
beschreiben. Denn das Deutungsmonopol gesellschaftlicher Zusammenhänge
liegt bei einer kleinen, der herrschenden Klasse zuzurechne nden Gruppe, den
Intellektuellen. Die Frage, die sich daraus ableitet, lautet: Wie entkommt die
Klassenanalyse dem Problem, selbst einem Klassenhabitus entsprungen zu
sein. Die Lösung dieses Problems rückt in weite Ferne, wenn sich Intellektuelle
11
Bourdieu begann seine ethnologischen Studien auf der Basis des Strukturalismus von Lévi-
Strauss, ehe er erst nach und nach mit dem Auftreten von Schwierigkeiten sein eigenes Konzept entwickelte (zu Bourdieus biographischen Hintergrund und wissenschaftlichen Weg vgl.
Bourdieu 1986, Schmeiser 1986).
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ihrer eigenen Position nicht bewußt sind und dem Mythos des freien Intellektuellen anhängen, der über jedweder Form von Macht und Herrschaft steht.
„Sehr oft werden die Kämpfe innerhalb dieses Mikrokosmos [gemeint:
der Mikrokosmos der Intellektuellen, C.S.] von den Intellektuellen mit
den Kämpfen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene verwechselt, wird
der Glaube genährt, als stünden die Auseinandersetzungen zwischen intellektuellen Außenseitern und bürgerlichen Intellektuellen zwangsläufig
in engstem Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen Proletariat und Bourgeoisie.“ (Bourdieu 1982b: 41)
Sozialwissenschaftliches Wissen ist immer Teil einer intellektuellen Kultur, es
ist selbst ein Mechanismus der Reproduktion der Klassenstruktur moderner
Gesellschaften geworden. Die Bewußtwerdung dieses Sachverhalts ist für
Bourdieu dabei der einzige Schritt, um auf diesen Mechanismus einwirken zu
können. Dem Ziel der relativen Freiheit in der wissenschaftlichen Arbeit wird
sich angenähert, indem sich die Sozialwissenschaft eine Doppelfunktion zur
Aufgabe macht: Wissenschaft liefert Wissen und analysiert sich selbst dabei
mit.
Mit seiner Vorgehensweise stellt Bourdieu an die Stelle der philosophischen
Begründung die soziologische Entzauberung. Demnach betreibt Bourdieu Soziologie gleichzeitig als Beschreibung der sozialen Realität und als Aufdeckung von Illusionen über die Realität. In dieser Kritik der gesellschaftlichen
Illusionen sieht Bourdieu einen Grund für Kritik an seinem Werk, die seines
Erachtens jedoch nicht mehr als einen Abwehrmechanismus darstellt.
„Die beharrlich wiederkehrenden, durch kein Dementi und keine Widerlegung zu brechenden Mißverständnisse, denen mein Werk ausgesetzt ist,
die konstanten, in einem banalen Sinn repetitiven und bisweilen auch ad
hominem geführten Attacken, die es auf mich zieht, und dies zu einer
Zeit, da die ´kritischsten´ Denker gewogene Kommentare erfahren – dies
alles muß einen Grund haben. Einen möchte ich mit Verlaub anführen:
Die philosophische Tradition und ihren Anspruch, den Common sense in
Frage zu stellen, bis in ihre letzten logischen Konsequenzen treibend, habe ich die wissenschaftlich erworbenen Objektivierungsinstrumente gegen den wissenschaftlichen Common sense, die intellektuelle Doxa und
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die Welt der Intellektuellen selbst gerichtet, eine Welt, die noch die kr itischsten Kritiker gemeinhin unangetastet lassen, mit Ausnahme vie lleicht eines Karl Kraus, dessen Provokationen teilweise regelrechten soziologischen Experimenten entsprachen, mit denen sich die scheinbar evidenteste Interesselosigkeit und Uneigennützigkeit demaskieren ließ.“
(Bourdieu 1993: 7)
Bourdieus Soziologie selbst ist als größtenteils analytisch beschreibend zu charakterisieren und durch das Bemühen um größtmögliche Wertfreiheit geprägt.
Kritisch ist seine Arbeit durch die Aufdeckung von wertgebundenen Illusionen
bei der Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse. Gleichzeitig resultiert aus
der Kritik klassenspezifischer Sichtweisen auf die soziale Welt eine Vorsicht
Bourdieus gegenüber eigenen Bewertungen. Damit hängt das Fehlen von näheren Ausführungen zu der Frage, worin sein eigenes Erkenntnisinteresse eigentlich besteht, zusammen. Einer Bewertung gesellschaftlicher Verhältnisse wird
sich entzogen, was zur Folge hat, daß z.B. die Trägheit sozialen Wandels ohne
die durchaus interessante Frage nach Möglichkeiten der Auflösung der tendenziell immer gleichen Reproduktion der Klassenstruktur thematisiert wird. Seine
Vorstellung von Gesellschaftskritik deutet Bourdieu in einem Interview an.
Darin ordnet sich Bourdieu selbst der kritischen Philosophie zu, fügt jedoch
differenzierend hinzu:
„Zu ihrer wirklichen Stärke gelangt Kritik meiner Überzeugung nach
nicht durch eine ´Kritik der Waffen´, sondern durch die ´Waffen der Kritik´ (...).“ (Bourdieu 1982b: 42)
Bourdieus Verständnis von Kritik lehnt eine allgemeine, abstrakt philosophische Gesellschaftskritik ab und macht eine gründliche, auf alle Instrumentarien
der Sozialwissenschaften zurückgreifende Soziologie stark. So entstehen Bourdieus theoretische Konzepte in der empirischen Arbeit und werden dort modifiziert, revidiert und weiterentwickelt. Erst im nachhinein lassen sich dann systematische Ausführungen etwa zum Habitus oder zum Klassenbegriff finden.
Bourdieu geht nicht mit einem ausgearbeiteten theoretischen Konzept an die
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Realität heran, um dann in einer empirischen Untersuchung seine Stimmigkeit
und Gültigkeit zu prüfen.
„Meine originellsten theoretischen Gedanken (...) sind mir in der Praxis
gekommen, beim Codieren eines Fragebogens etwa.“ (Bourdie u 1882a:
44)
So fruchtbar diese Vorgehensweise auch ist, warum Bourdieu eine Dualität von
Arten der Kritik aufmacht, ist schwer verständlich. Können doch die „Waffen
der Kritik“, was hier als „Macht der Kritik“ interpretiert wird, in eine „Kritik
der Waffe n“, d.h. „Kritik der Macht (-verhältnisse)“, münden.
2.3 Zusammenfassung und Bewertung
Scheinbar trivial, doch gleichzeitig von großer Wichtigkeit ist die Feststellung,
daß sich gesellschaftliche Institutionen nicht von allein reproduzieren. Dazu
bedarf es der Menschen, die durch ihre Praxis die Institutionen am Leben
erhalten oder verändern.
Das Konzept Bourdieus sieht sich regelmäßig dem Vorwurf des Determinismus ausgesetzt. Es wird kritisiert, daß der durch gesellschaftliche Verhältnisse
geprägte Habitus nicht über seine eigene Genese hinausgehen kann und deshalb nur die ihm zugrunde liegende Struktur reproduzieren wird, was den sozialen Wandel von Gesellschaften nahezu ausschließt.
Diese Kritik kommt nicht von ungefähr. Bourdieu zeigt, daß sich ein Mensch
mit dem durch ein bestimmtes Feld geprägten Habitus in diesem Feld, welches
ihn geprägt hat, in einer für ihn selbstverständlichen Weise bewegt. Bewegt
sich das Individuum in dieser Welt, dann tut es dies wie ein „Fisch im Wasser“
(vgl. Bourdieu 1996: 161) und wird dementsprechend tendenziell das Feld in
der Weise reproduzieren, wie es sich ihm während der Zeit seiner Prägung präsentierte.
Vereinfacht ist der Reproduktionsprozeß bei Bourdieu in der Begriffstriade
Struktur-Habitus-Praxis zu fassen. Eine Struktur prägt bestimmte Dispositionen
(Habitus) aus, die zu praktischen Handlungen und einer strategischen Praxis
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führen, die dazu neigen, die ursprüngliche Struktur wiederherzustellen. Von
daher ist Hans-Peter Müller durchaus zuzustimmen, wenn er sagt, daß Prozesse
der Neuschöpfung von Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen in wie
immer gearteten Formen intersubjektiver Kommunikation, Prozesse der bewußt-willentlichen Entgegensetzung und Nonkonformität, weitgehend außerhalb der theoretischen Reichweite dieses Konzepts liegen (vgl. Müller 1986:
163).
In diesem Zusammenhang sollte jedoch kein ewiger Kreislauf erkannt werden,
der quasi automatisch gesellschaftliche Verhältnisse reproduziert. Der Mechanismus gesellschaftlicher Reproduktion darf nicht als ein mechanischer verstanden werden.
„Da er [gemeint: der Habitus, C.S.] ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die
innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen. Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt
hat, die Praxis und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Dete rminismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen
Erfindungen von vornherein gesetzt sind.“ (Bourdieu 1987: 102 f.)
Der Habitus als ein System von Dispositionen gibt zwar den Horizont von
Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata vor, doch innerhalb dieser
Grenzen kann der Habitus durch eigene Erfahrungen ausgestaltet werden. Es
herrscht also eine „relative Freiheit“. Würde diese „relative Freiheit“ des Ind ividuums nicht mitgedacht, so wäre die ungestörte Reproduktion des Sozialen
tatsächlich realisiert. Bourdieu betrachtet zwar die Möglichkeiten für soziale
Umbrüche skeptisch und gibt tendenziell der Trägheit sozialer Strukturen den
Vorzug12 , von einer bruchlosen Identität von Habitus und Struktur kann bei
Bourdieu jedoch nicht ausgegangen werden (vgl. Raphael 1987: 158). Die Frage des sozialen Wandels, aber auch die der revolutionären Umwälzung gesell-
12
Die Trägheit und das Beharrungsvermögen, welches im Habituskonzept enthalten ist, be-
zeichnet Bourdieu als „Hysteresis -Effekt“ (vgl. Bourdieu 1982a: 238).
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schaftlicher Verhältnisse wird im folgenden Kapitel im Abschnitt 3.2.3 Klassenbewußtsein und Klassenkampf erneut aufgegriffen und näher thematisiert.
Gegen eine einfache Determinismuskritik steht Bourdie us Theorem der ständ igen Auseinandersetzungen im sozialen Raum. Die den sozialen Raum präge nden Aktionen der Individuen sind auf den ständigen Kampf um die Positionen
im Feld ausgerichtet. Menschen setzen sich so immer wieder neu mit dem status quo auseinander. Im Abschnitt 3.2.2 Die ökonomische Basis und ihre Wirkungen auf Individuen und Kultur wird das Verhältnis von Struktur und Praxis
bei Bourdieu und damit im weitesten Sinne das Verhältnis von Gesellschaft
und Individuum mit dem Marxschen Basis-Überbau-Schema in Verbindung
gebracht und eingehender betrachtet werden.
Durch die Betonung der zentralen Bedeutung von Auseinandersetzung für die
Struktur der Gesellschaft legt Bourdieu seine Theorie als eine Konflikttheorie
an. Dabei sind die Kämpfe im sozialen Raum nicht vollständig auf ökonomische Klassenkämpfe reduzierbar. Neben dem Kampf um die Verteilung von
Gütern existieren Auseinandersetzungen um die Wertigkeit der einzelnen Kapitalarten, die ihren Ausdruck in symbolischen Kämpfen um „richtige“ Werte
und Lebensstile finden.
Aus den Konstruktionsleistungen der Individuen ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Sozialstrukturanalyse. Der Ausgangspunkt für eine Klassenkonstitution nach Bourdieu sind objektive Strukturen, die sich aus der ungleichen Verteilung der verschiedenen Kapitalarten ergeben. Ausgehend von den
daraus resultierenden Positionen der Individuen im sozialen Raum lassen sich
Klassen konstruieren. Doch diese sind für Bourdieu nur „Klassen auf dem Papier“, die lediglich ein Produkt von Theorie sind. Sie sind für Bourdieu strenggenommen nur wahrscheinliche Klassen (Vgl. Bourdieu 1985: 12, Eder 1989a:
20). Der analytische Status des Begriffs Klasse besteht darin, ein „Modell“
sozialer Realität zu sein. Die soziale Welt erhält jedoch ihr spezifisches Gesicht
durch die soziale Praxis. Und das Klassenverhältnis entsteht dementsprechend
erst durch die klassifikatorische Praxis der Individuen oder Gruppen. Zu erkennen, wie eine theoretisch konstruierte Klassenstruktur reproduziert wird,
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erfordert deshalb einen Schritt über die bloße sozialstrukturelle Analyse hinaus.
Zu klären ist, wie die verschiedenen Merkmale in der sozialen Praxis miteina nder verbunden werden. Die Vorstellung, eine theoretisch konstruierte Klasse
müsse einer realen Gruppe entsprechen, wird damit beseitigt.
Die Ausweitung der für das Klassenverhältnis relevanten Kapitalarten und das
Konzept des Feldes machen es Bourdieu möglich, verschiedene Fraktionen der
herrschenden Klassen mit jeweils feldimmanenten Logiken zu konstruieren.
Die einzelnen Untersuchungen Bourdieus zu den Fraktionen der herrschenden
Klasse bedürfen jedoch der Konkretisierungen zur Frage der Macht und der
Herrschaft. Wenn Bourdieu z.B. Kunstproduzenten, Bischöfe oder Hochschullehrer zur herrschenden Klasse zählt, so ist diese Zuweisung keinesfalls selbsterklärend. Es stellt sich die Frage, welche Mechanismen bewirken, daß diese
Gruppen zur herrschenden Klasse zu zählen sind. Näherzukommen ist dieser
Fragestellung durch das Konzept der symbolischen Macht. Bourdieu zeigt die
symbolische Macht dieser Gruppen auf, er zeigt ihren Sinn für Distinktion und
ihre Nähe zu der ökonomisch starken Fraktion der herrschenden Klasse. Es
bleibt jedoch die Frage, worauf sich diese Macht begründet und in welchem
Verhältnis sie zum ökonomischen Kapital steht. Eine Auseinandersetzung mit
diesem wichtigen Aspekt der Bourdieuschen Theorie wird im folgenden Kapitel stattfinden, nämlich im Abschnitt 3.2.1 Kapitalbegriff und Kapitalarten.
Auffällig in Bourdieus Texten ist die nicht immer eindeutige Verwendung der
Terminologien. Nicht nur, daß „Gruppe“, „Fraktion“ und „Feld“ immer wieder
als Synonyme verwendet werden (z.B. vgl. Bourdieu 1982a: 216), zudem hinterläßt auch der Gebrauch des Begriffs „Klasse“ Irritationen. Bourdieu spricht
z.B. in einem Modell, welches von drei Hauptklassen ausgeht, von höheren
Klassen, aber nur von einer herrschenden Klasse. Eine daraus resultierende
Unklarheit besteht in der Frage, von wievielen Klassen Bourdieu überhaupt
ausgeht 13 . So schreibt dann auch Krais:
13
Aus dieser Unklarheit resultiert dann z.B. der unglückliche Versuch von Martin Herz, eine
Quantifizierung von Klassen bei Bourdieu vorzunehmen. In Bezug auf eine Tabelle aus den
Feinen Unterschieden (vgl. Bourdieu 1982a: 788 f.) vertritt er in seiner Dissertation die Auf-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
Dezember 2005
„Er [gemeint: Bourdieu, C.S.] spricht vom Kleinbürgertum als einer
Klasse, von den Bauern, von den ´classes populaires´, von der herrschenden Klasse und der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse, ohne
diese vorgängig gegeneinander abzugrenzen.“ (Krais 1983: 215)
3. Pierre Bourdieu vor dem Hintergrund
von Karl Marx
Bis heute übt der „klassische“ Klassenbegriff von Marx prägende Kraft auf die
Diskussion um die Frage der Klassengesellschaft aus. Immer noch knüpfen
zahlreiche Autoren für das Verständnis über Klassen an die Ausführungen von
Marx an. Wer vom Klassenbegriff spricht, der kann auch heute nur schwerlich
von Marx schweigen. Und so drängt sich mit der Verwendung des Klassenbegriffs durch Bourdieu auch eine Verhältnisbestimmung der Bourdie uschen und
der Marxschen Klassentheorie auf.
Der Abschnitt 3.1 Klassenanalyse bei Marx soll die Grundlage schaffen, von
der aus ein Vergleich mit Bourdieu möglich wird. Unter 3.1.1 Eine kurze Einführung in die Klassentheorie werden einige wichtige Grundzüge dargestellt,
die später für die Gegenüberstellung mit Bourdieu wichtig werden. Der ungeheuren Komplexität des Marxschen Werkes kann mit der Ausführung auf wenigen Seiten nicht Rechnung getragen werden, was einige Verkürzungen der
Marxschen Argumentation nach sich zieht. Mit Punkt 3.1.2 Einige der häufigsten Kritikpunkte an der Marxschen Klassentheorie wird zum einen durch die
Konfrontation mit Kritik das Verständnis für Marx geschärft. Zum anderen
fassung, daß das Bourdieusche Drei-Klassen-Schema sich in weitere 28 statistische Klassen
differenziere (vgl. Herz 1994: 103). Unglücklich ist dieser Versuch einer Quantifizierung deshalb, da die genannte Tabelle über die Hauptmerkmale der Stichprobe Auskunft gibt und somit
eine Operationalisierung für die empirischen Untersuchungen darstellt. In Bourdieus Texten
selbst lassen sich jedoch keine Hinweise finden, daß er genau von 28 Klassen ausgeht.
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
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werden Problematiken des Marxschen Konzepts aufgeworfen, die für die Gegenüberstellung wichtig werden, wenn überprüft wird, ob berechtigte Kritiken
an Marx auch auf das Bourdieusche Klassenmodell zutreffend sind.
Marx und Bourdieu werden verglichen, um herauszufinden, wo Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede, aber vor allem, wo Vorzüge und Schwächen der
beiden Konzepte liegen. Um die Gegenüberstellung zu begrenzen, konzentriert
sich die Beschäftigung mit den Klassenbegriffen von Bourdieu und Marx auf
drei Dimensionen. Zum einen werden die unterschiedlichen Auffassungen von
Kapital, zum anderen das Verhältnis von (marxistisch gesprochen) Basis und
Überbau und die Frage nach Klassenbewußtsein und Klassenkampf diskutiert.
Es wird dargelegt, daß Bourdieu zum einen einige Gemeinsamkeiten aufweist
und damit durchaus in der Tradition des Klassenbegriffs steht, er gleichzeitig
Grundlagen von Marx nicht übernimmt und dem Begriff eine neue Wendung
verleiht, so daß ein großer Teil der Kritik an Marx für Bourdieu nicht mehr
zutreffend ist. Die Veränderung des Marxschen Klassenbegriffs kann dabei
nicht einseitig als Erweiterung interpretiert werden, weil zugleich zentrale
Marxsche Elemente bei Bourdieu verloren gehen.
3.1 Klassenanalyse bei Marx
Der Versuch der bloßen Wiedergabe der Marxschen Klassenanalyse ist nicht
unproblema tisch. Ritsert vertritt die Auffassung, den Marxschen Klassenbegriff gebe es nicht, lediglich zahllose über sein Werk verstreute Textstellen, in
denen Marx den Klassenbegriff verwende (vgl. Ritsert 1998: 58). In der Tat hat
Marx eine ausgearbeitete Klassentheorie nicht hinterlassen. Er widmete erst
das 52. Kapitel im dritten Band des „Kapitals“ explizit den Klassen, vollenden
konnte Marx indes dieses Kapitel nicht mehr. Jedoch wurde die Klassenanalyse
von Marx nicht als ein isoliertes Thema behandelt, sondern wurde in seine Kapitalismusanalyse eingebettet. Demnach hat ein Großteil der Marxschen Schriften Relevanz für die Klassenanalyse, auch wenn nicht explizit von Klassen die
Rede ist. Die Verwendung des Klassenbegriffes durch Marx bezeichnet Gid-
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dens als „einfach nachlässig“ (vgl. Giddens 1979: 31). So verweist Giddens auf
synonyme Verwendungen der Begriffe Klasse, Schicht oder Stand. Marx bezeichnet als eine Klasse die Gruppe, die im gleichen Verhältnis zu den Produktionsmitteln steht, weist aber auf der anderen Seite darauf hin, daß sich eine
Klasse erst im gemeinschaftlichen Handeln realisiert. Hinzu kommt, daß Marx
im „Kommunistischen Manifest“ ein dichotomes Zwei-Klassen-Modell entwirft (vgl. Marx/Engels 1972), während z.B. im „18. Brumaire“ eine Vielfalt
von Klassen beschrieben wird (vgl. Marx 1973b). Aus dieser Problematik resultiert die sinnvolle Unterscheidung zwischen einem abstrakten (reinen), alle
Typen von Klassensystemen umfassenden und einem konkreten (politischen),
die Klassenmerkmale bestimmter Gesellschaften beschreibenden Modell der
Klassen.
Die Diskussionsgrundlage dieses Kapitels besteht im abstrakten Modell der
Klassen, weshalb zunächst das Kunststück versucht wird, Marx dichotomes
Zwei-Klassen-Modell auf wenigen Seiten in seinen Grundzügen vorzustellen.
3.1.1 Eine kurze Einführung in die Klassentheorie
Marx betrachtet die bisherige Menschheitsgeschichte als Abfolge von Klassengesellschaften14, in denen sich jeweils eine Minderheit Reichtum aneignen
konnte, während die Mehrheit nur über die zu ihrer Reproduktion nötigen Mittel verfügte, also mehr oder minder in Armut lebte. Jede geschichtliche Epoche
war nach seiner Auffassung durch eine spezifische Produktionsweise gekennzeichnet, der ihrerseits eine jeweils spezifische Machtkonstellation zugrunde
lag. Diese Machtkonstellation wiederum zeichnete sich dadurch aus, daß sich
eine ökonomisch herrschende Klasse in ständigem, offenem oder verborgenem
Konflikt mit einer anderen, unterdrückten Klasse befand. Beide Klassen stell14
Marx geht allerdings davon aus, daß menschliche Gesellschaften in ihrer primitiven Form
klassenlos waren. „In den ursprünglichen Gemeinwesen, wo naturwüchsiger Kommunismus
herrscht“ (Marx 1973c, MEW 25: 839), war das vorhandene Eigentum noch vergesellschaftet,
die Produktionsweise war charakterisiert durch eine sehr geringe Arbeitsteilung.
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ten somit komplementäre Seiten eines Produktionsverhältnisses dar, welches
den Reichtum weniger auf Kosten der Mehrheit erzeugt (vgl. Marx/Engels
1972).
Sein Interesse richtet Marx vor allem auf die moderne kapitalistische Gesellschaft, die mit der industriellen Revolution im Entstehen war. Marx macht es
sich zur Aufgabe, die der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise
innewohnenden Gesetzmäßigkeiten aufzudecken.
Marx erkennt durchaus die Differenziertheit der modernen Gesellschaft, postuliert jedoch in ökonomischer Hinsicht zwei Hauptklassen. Auf der einen Seite
gibt es Menschen, die weder über die Produktionsmittel, noch über das von
ihnen geschaffene Produkt verfügen können, sondern mangels Handlungsalternativen darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen.
Entscheidend ist hierbei, daß die von den Arbeitern erzeugten Produkte nicht
diesen gehören, sondern den Arbeitgebern. Auf der anderen Seite steht eine
Gruppe von Menschen, die über Eigentum an Produktionsmitteln verfügen und
deshalb in der Lage sind, arbeiten zu lassen und sich Mehrwert anzueignen. Im
Ergebnis bewirkt dies eine Vermehrung von Eigentum, d.h. Eigentum fungiert
als Kapital. Die Kapitalisten üben eine Kommandogewalt über die Arbeit(er)
aus, können also bestimmen, wie gearbeitet wird oder welche Produkte hergestellt werden. Die Grundbeziehung zwischen diesen beiden Klassen basiert in
der kapitalistischen Gesellschaftsformation auf dem Gegensatz von Kapital und
Arbeit. Die Besitzer des Kapitals bezahlen den Arbeitern Löhne für eine vereinbarte Zahl von Arbeitsstunden, nicht für die erstellten Produkte. Die Arbeitsprodukte der Arbeiter eignen sich in diesem Prozeß die Kapitalisten an
(vgl. Marx 1973a, Herz 1983: 20 f.).
Der Arbeitswertlehre zufolge ist der Wert einer Ware durch die für deren Erzeugung aufgewendete Menge an Arbeit bestimmt. Oder genauer gesagt, der
Wert von Waren ist durch die zu ihrer Produktion notwendige gesellschaftliche
Durchschnittsarbeitszeit bestimmt, die ihrerseits vom Grad der Produktivität
der Arbeit abhängt. Arbeit ist demnach Quelle des Werts, die Arbeitszeit Maß
des Werts. Das Gemeinsame der vielen verschiedenen Waren, die Resultat ei-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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nes Arbeitsprozesses sind, ist abstrakte Arbeit. Beim Austausch von Waren
werden die jeweiligen Arbeitsquanten verglichen, die in den Waren vergegenständlicht sind. Die Waren werden auf dem Markt einem gesellschaftlichen
Vergleich unterzogen, nämlich inwiefern der Produktionsaufwand gesellschaftlich notwendige Arbeit darstellt. Die Frage, wie es um die Austauschbarkeit
der Ware gegen Geld steht, erfährt dort eine praktische Antwort. Der
Tauschwert (nicht der Gebrauchswert) wird also per Konkurrenz ermittelt und
ist damit eine gesellschaftliche Größe (vgl. Marx 1973a).
Das Verhältnis von Arbeit und Wert läßt sich nach Marx folgendermaßen zusammenfassen: Geldbesitzer kaufen die Quelle des Werts, nämlich lebendige
Arbeit, organisieren eine Mehrwertproduktion und vermehren dadurch ihr Eigentum. Ihr investiertes Geld fungiert somit als Kapital, aus Geld wird mehr
Geld. Die Vermehrung von abstraktem Reichtum ist Inhalt und Zweck des
ganzen wirtschaftlichen Prozesses, die Herstellung von Gebrauchswerten spielt
dabei nur die Rolle eines Mittels. Für die Arbeiter ergibt sich folgende Situation: Ihre Arbeit schafft zwar Wert, aber nicht für sie, vermehrt wird fremdes
Eigentum. Mit dem Begriff der Entfremdung deutet Marx auf den Umstand
hin, daß im Kapitalismus die Arbeitnehmer keine Kontrolle über Ziele und
Methoden des Arbeitsprozesses haben, weil sie durch das Eigentum von den
Produktions mitteln getrennt sind.
Grundlegend und von wesentlicher Bedeutung bei der Konstitution von Klassen ist die Eigentumsfrage. Es geht aber nicht um den Besitz von passivem
Eigentum in Form privaten Vermögens, sondern um den Besitz von fungierendem Privateigentum. Es zählen auch nicht die Einkommensquellen der Individuen15 , sondern die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel. Die Stellung
des einzelnen zum fungierenden Privateigentum konstituiert seine Stellung in
den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Das Eigentum an Produktionsmitteln schafft wirtschaftliche Macht, und diese wirtschaftliche Macht ist
gleichbedeutend mit politischer Macht, weshalb für Marx die Herrschaftsver15
Marx weist auf die unzähligen Klassen hin, würde man Einkommen als klassenkonstituie-
rend annehmen (vgl. Marx 1973c, MEW 25: 893).
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hältnisse innerhalb der Produktion über Herrschaftsverhältnisse innerhalb der
Gesellschaft Auskunft geben. Der Antagonismus „Ausbeuter versus Ausgebeutete“ in der ökonomischen Sphäre ist folglich identisch mit dem Antagonismus
„Unterdrücker versus Unterdrückte“ in der politischen Sphäre. Aus der Position des einzelnen in diesen Produktions- und Herrschaftsverhältnissen bildet
sich die sozio-ökonomische Situation oder auch Klassenlage heraus. Der Be griff der Klassenlage meint die materielle Lebenssituation des Individuums, sei
es auf der einen Seite die des Herrn, des Kapitalisten, der reich und gesichert
lebt, oder auf der anderen Seite die des Knechts, des Proletariers, der in
schlechten Lebensverhältnissen kaum genug zum Leben besitzt (vgl. Mauke
1970: 14, Dahrendorf 1957: 10 f.).
Zentral für die Marxsche Klassentheorie ist der Umstand, daß die Arbeiter in
der Produktion einen Wert schaffen, der ihren Lohn übersteigt, den so genannten Mehrwert. Der Mehrwert wird auf der Basis der Tatsache erklärt, daß, da
die Arbeitskraft des Arbeiters eine Ware ist, ihre „Produktionskosten“ wie die
jeder anderen Ware berechnet werden können. Diese Produktionskosten errechnen sich aus dem, was es kostet, den Arbeiter mit ausreichend Einkommen
auszustatten, das ihm erlaubt, zu produzieren und sich zu reproduzieren.
„Die Differenz zwischen diesen Kosten und dem von dem Arbeiter geschaffenen Gesamtwert ist die Quelle des Mehrwerts.“ (Giddens 1979:
38)
Demnach ist der Arbeitstag eines Lohnarbeiters logisch in zwei Teile zu unterscheiden. Im ersten Teil erarbeitet der Arbeiter den Wert seines eigenen Lo hnes, im zweiten Teil leistet der Arbeiter Mehrarbeit und produziert den Mehrwert, d.h. den Gewinn, der später durch den Verkauf der Waren auf dem Markt
realisiert wird 16 . Dieser Mehrwert, d.h. die im Mehrprodukt vergegenständlichte Mehrarbeit des Lohnarbeiters, bildet die Quelle des Reichtums der bürgerli16
Zur Steigerung des Mehrwerts kommen zwei Methoden in Betracht: Einmal die Verlänge-
rung des Arbeitstages und damit die Verlängerung der Mehrarbeitszeit (absoluter Mehrwert),
zum anderen die Verausgabung von mehr Arbeit bei gegebenem Arbeitstag (relativer Mehrwert), z.B. durch Erhöhung der Produktivität (Verkürzung von Leerzeiten, technische Innovationen, usw.).
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chen Klasse, da der Mehrwert durch die Eigentümer der Produktionsmittel angeeignet wird.
Seine Bedeutung für die Klassenanalyse erhält das Mehrprodukt aufgrund seiner ungleichen Verteilung. Die Aneignung unbezahlter fremder Arbeit wird
durch den Begriff der Ausbeutung erfaßt.
„Ausbeutung heißt (...), daß sich eine Klasse durch verschiedene Mechanismen die Mehrarbeit einer anderen Klasse aneignet.“ (Wright 1985: 39)
Die Industriearbeiter sind gezwungen, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen. Die Kapitalisten zahlen nur existenzerhaltende Löhne und akkumulieren
den Mehrwert. Der unterdrückten Klasse wird das Mehrprodukt, je nach Macht
der herrschenden Klasse, vom Arbeitsergebnis abgezogen. Ausbeutung impliziert damit eine Kausalität zwischen dem Reichtum der einen Klasse und der
Armut der anderen, worauf Marx schließlich einen Interessenwiderspruch der
Akteure zurückführt (vgl. Marx 1973a: 415).
Das Verhältnis von Ausbeutung und Herrschaft ist verkürzt auf die Formel zu
bringen: Ausbeutung läßt sich nicht ohne Herrschaftsverhältnisse denken,
Herrschaft kann jedoch ohne den Sachverhalt der Ausbeutung auftreten. Max
Weber sieht Herrschaft als die Chance, für einen Befehl bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden (vgl. Weber 1976: 28). Diese Form der Herrschaft ist
z.B. beim Umgang mit Schutzbefohlenen zu finden, ein Ausbeutungsverhältnis
liegt in diesen Fällen jedoch nicht vor. Die Ausbeutung innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses ist dagegen verknüpft mit einem Herrschaftsverhältnis der ausbeutenden Klasse gegenüber der ausgebeuteten. Denn wenn
Klassen in bezug auf die Formen der Kontrolle über die privilegierte Aneignung und Verwendung des Mehrprodukts bzw. der Mehrarbeit zu charakterisieren sind (vgl. Teschner 1989: 2), dann ist klar, daß diese Kontrolle über die
Aneignung des Mehrprodukts über Macht- und Herrschaftsverhältnisse abgesichert werden muß.
Neben dem Verhältnis von Ausbeutung und Herrschaft ist ein weiterer erklärungsbedürftiger Punkt das Verhältnis von Ausbeutung und dem Privateige ntum an Produktionsmitteln. Auch wenn die Wichtigkeit des Ausbeutungsbeg-
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riffs für das Klassenverhältnis hervorzuheben ist, gilt es zu benennen, wodurch
Ausbeutung möglich wird. An diesem Punkt sind wir bei der Aussage, daß
Verfügungsgewalt über bzw. Eigentum an Produktionsmitteln als konstituierendes Moment für Klassenbildung wirkt.
„Der Hebel, um die Verfügung über Mehrarbeit und ihr Resultat, das
Mehrprodukt, zu erhalten, ist die Kontrolle über die Produktionsmittel
(Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände). Inbegriff dieser Kontrolle ist das
Eigentum.“ (Mauke 1970: 12)
Oder um Marx selbst zu Wort kommen zu lassen:
„Aber das moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und volle ndetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf
Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die anderen beruht.“ (Marx/Engels 1972: 475)
Während sich der Reichtum der besitzenden Klasse durch das rasche Wachstum des Kapitals beständig vermehrt, wächst auf seiten der Arbeiter Leistungsdruck, Arbeitshetze, Verschleiß von Gesundheit und Existenzunsicherheit. Mit
dem wachsenden Eigentum auf der einen Seite entstehen auf der anderen Seite,
gemessen an dem produzierten Reichtum, anhaltend schlechte Lebensbedingungen. Der Lohn zwingt die Arbeiter, lebenslänglich für die Kapitaleigent ümer verfügbar zu sein, wobei allerdings weder der Lohn, noch der Arbeitsplatz
garantiert sind. Aus diesen beiden Klassenlagen, so Marx, entstehen gemeinsame Klasseninteressen, nämlich das konservative Interesse der Kapitalisten,
das auf die Bewahrung der bestehenden Produktionsverhältnisse zielt, und das
revolutionäre Interesse der Proletarier, das sich auf die Änderung der bestehe nden Produktionsverhältnisse richtet. Wichtig zu bemerken ist, daß für Marx das
Klasseninteresse nicht lediglich nur ein psychologisches, privat eingebildetes
ist, sondern ein objektives, das für alle gilt, die von der Verteilung des fungierenden Privateigentums betroffen sind. Wird das Klasseninteresse von den
Menschen erkannt und entsteht unter den Individuen ein Gemeinschafts-, ein
Wir-Gefühl, so kann von einem entwickelten Klassenbewußtsein gesprochen
werden. Dies ist der Moment, den Marx als den Übergang von der „Klasse an
sich“ zur „Klasse für sich“ bezeichnet, welcher wiederum die Klassenorganisa-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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tion oder auch Klassenbildung bewirkt. Mit Klassenbildung ist die Organisation des Klasseninteresses auf einer politischen Ebene gemeint, denn eine Klasse
ist erst dann konstituiert, wenn sie in Form einer politischen Organisation in
die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eingreift (vgl. Dahrendorf 1957:
12 f.).
„Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von
denen der anderen Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstehen,
bilden sie eine Klasse. Insofern (...) die Dieselbigkeit ihrer Interessen
keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische
Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher
unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen (...) geltend zu machen.“
(Marx 1973b, MEW 8: 198)
Eine wichtige Bedingung für eine organisierte, sich ihrer selbst bewußte Arbeiterklasse, die im revolutionären Klassenkampf die Strukturen der bürgerlichen
Gesellschaft überwindet, besteht für Marx in den aus ökonomischer Notwendigkeit zyklisch wiederkehrenden ökonomischen und politischen Krisen. Diese
Krisen forcieren die Widersprüche der kapitalistischen Produktion. Die Organisation des Proletariats entsteht in und durch den Prozeß der Ausbeutung und
Verelendung (vgl. Marx/Engels 1972: 467 f., Marx 1964: 9, Teschner 1987:
1790). Karl Korsch betont in diesem Zusammenhang, daß Marx und Engels
nicht von einem blind wirkenden ökonomischen Mechanismus ausgehen, sondern den Bezug zu der Aktion der Arbeiterklasse aufrecht erhalten (vgl. Korsch
1967: 183). Denn die Produktionsverhältnisse, die auf einer bestimmten Stufe
die Entwicklung der Produktivkräfte fesseln, sind auch die Fesseln der Arbeiter. Folglich werden mit der Selbstbefreiung der Arbeiter aus der Unterdrückung gleichzeitig die Produktionsverhältnisse umgewälzt (vgl. Korsch 1967:
137).
Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß aus der Krise des Kapitalismus nicht
automatisch der (erfolgreiche) revolutionäre Klassenkampf der Arbeiterklasse
entsteht. Die Entwicklung von der Weltwirtschaftskrise bis zum Faschismus ist
dafür ein trauriges Beispiel. Die Krisen des Kapitalismus besitzen vielmehr
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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einen Doppelcharakter. Sie bieten die Möglichkeit für den Aufbau eines organisierten Klassenbewußtseins, auf der anderen Seite kann der Kapitalismus aus
der Krise gestärkt und die Arbeiterklasse geschwächt hervorgehen (vgl.
Schmiede 1973: 207 ff.).
Nach Marx markiert die Diktatur des Proletariats im Verlauf der historischen
Entwicklung nur eine Übergangsphase. Eigentliches Ziel ist die Überführung
der Produktionsmittel in die Hände der unmittelbaren Produzenten. Der als
Konsequenz aus der Bildung von Klassen folgende Klassenkampf hat die Umwälzung der bestehenden Produktionsverhältnisse und somit der bestehenden
Machtverhältnisse zur Folge und mündet in eine klassenlose, d.h. kommunistische Gesellschaft.
3.1.2 Einige der am häufigsten vorgebrachten Kritiken der
Marxschen Klassentheorie
Johannes Berger unterscheidet die für die Marxsche Klassentheorie typischen
Aussagen in drei große Gruppen (vgl. Berger 1998: 31):
1. Die Klassentheorie entwirft mit der Aufstellung eines Klassenschemas ein
Gesamtbild der sozialen Gliederung der Bevölkerung,
2. dieses Schema besitzt erklärende Kraft für die ungleiche Verteilung von
Gütern aller Art. Das heißt, daß Lebenslagen, Lebenschancen und Lebensstile klassentheoretisch aufgeschlüsselt werden können,
3. es wird beansprucht, nicht nur die Statik, sondern auch die Dynamik industrieller Gesellschaften erklären zu können.
Einen großen Teil des Streits um die Klassentheorie sieht Berger in der dritten
Aussagengruppe begründet, nämlich daß Marx sagt, weil die soziale Ungleic hheit in der modernen Gesellschaft durch und durch klassenförmig ist, ist diese
Gesellschaft instabil und wird von einer kommunistischen Gesellschaftsformation abgelöst (vgl. Berger 1998: 49). Der dynamische Aspekt der Klassentheorie wird von Berger folgendermaßen zusammengefaßt: Erklärungsziel ist der
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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gesamtgesellschaftliche soziale Wandel. Die notwendige Bedingung für den
gesamtgesellschaftlichen Wandel ist ein zentraler, die Gesellschaft kennzeic hnender Konflikt, der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Eine Lösung des
Konflikts ist jedoch nur jenseits der kapitalistischen Ordnung denkbar. Während die Klasse der Kapitalisten an der Aufrechterhaltung der sozialen Verhältnisse interessiert ist, wird die Arbeiterklasse Träger des sozialen Wandels sein
(vgl. Berger 1998: 54).
Zu dem Aspekt des sozialen Wandels ist es wichtig festzustellen, daß die gleiche Klassenlage von Menschen nicht automatisch ein gemeinsames Klassenhandeln nach sich zieht. Wichtige Marxsche Annahmen, die dem gemeinsamen
Klassenhandeln und der daraus resultierenden Überwindung des Kapitalismus
zugrunde liegen, haben sich nicht bewahrheitet: Klassenlagen haben sich nicht
vereinheitlicht, die Klassenstruktur hat sich nicht vereinfacht und der Klassengegensatz hat sich nicht vertieft. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein.
Die Klassenstruktur ist "pluraler" geworden, von Verelendung im Marxschen
Sinne kann nicht die Rede sein und wenn eine Besserstellung der Arbeiter in
der herrschenden Gesellschaftsordnung möglich ist, dann sind Arbeiter auch
nicht notwendigerweise revolutionär17 .
Wie steht es nun mit dem von Berger identifizierten ersten Aussagenkomplex
der Klassentheorie, dem Klassenschema als einem Gesamtbild der sozialen
Gliederung?
Die Unterscheidung zwischen Eigentum und Nicht-Eigentum an Produktionsmitteln und dementsprechend die zwischen Käufern und Verkäufern der Ware
Arbeitskraft läßt in Marx´ abstraktem Klassenmodell nur die Bildung zweier
großer Klassen zu. Es ist zu fragen, ob die in der Gesellschaft vorfindbaren
Lebenslagen durch dieses dichotome Schema angemessen zu fassen sind.
Schließlich sind im Jahr 1998 ca. 90% der Erwerbstätigen entweder Beamte,
Angestellte oder Arbeiter und damit nicht im Besitz von Produktionsmitteln
(vgl. BMBF 2000: 366).
17
Auf diesen Themenkomplex wird weiter unten im Abschnitt 3.2.3 Klassenbewußtsein und
Klassenkampf ausführlicher eingegangen.
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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Die Frage der Undifferenziertheit des Klassenschemas beschäftigt(e) Anhänger
wie Kritiker von Marx. In diesem Zusammenhang kommt der Problematik von
„Mittelklassen“ eine zentrale Bedeutung zu. Eine neu entstandene Mittelklasse
wie die Angestellten sei ein Zeichen dafür, daß das Zweiklassenmodell nicht
haltbar ist. Im Gegensatz zu Marx´ These, die Klassenverhältnisse würden sich
in zwei Lager polarisieren, sei heute die kapitalistische Gesellschaft stark differenziert. Vor diesem Hintergrund kamen Stimmen auf, die mit der Identifikation einer großen „neuen Mittelklasse“ den Marxsche n Ansatz der Klassengesellschaft als widerlegt betrachten. Auf der anderen Seite stehen Theoretiker,
welche die Frage nach Mittelklassen zum Anlaß genommen haben, die Klassentheorie zu erweitern. Theoretiker wie z.B. Wright betrachten die Mittelklasse als ein Sammelbecken widersprüchlicher Klassenlagen (vgl. Wright 1985:
36). Für Wright besteht die „neue Mittelklasse“ aus Klassenelementen, die
gleichzeitig Ausbeuter und Ausgebeutete sind. Da in Wrights erweitertem
Klassenmodell neben der Hauptressource Besitz von Produktionsmitteln weitere Ausbeutungsdimensionen existieren, kann ein hochqualifizierter Lohnempfänger zwar durch die Besitzer von Produktionsmitteln ausgebeutet werden,
doch kann er gleichzeitig durch den Rückgriff auf seine große Qualifikationsressource andere Lohnabhängige ausbeuten (vgl. Wright 1985: 53). Wright
führt weiter aus, daß widersprüchliche Klassenlagen, wie dies bei der „neuen
Mittelklasse“ der Fall ist, gar nicht so neu sind. Auch zur Zeit des Feudalismus
gab es eine widersprüchliche Klassenlage, nämlich die der Bourgeoisie. Dieses
Beispiel zeigt, daß nicht nur die Polarität der beiden Hauptklassen, sondern
auch die „widersprüchliche Klasse“ für die gesellschaftliche Entwicklung von
Bedeutung ist.
Bei der Diskussion um Mittelklassen ist die Problematik zu berücksichtigen,
die in der Anwendung des abstrakten Klassenmodells auf spezifische Gesellschaftsformen begründet liegt. Für eine Bewertung des dichotomischen Klassenschemas ist die Frage von Relevanz, was das abstrakte Klassenmodell leisten will und kann. Es gilt bei dem Vorwurf der Grobheit des Zweiklassenmodells zu berücksichtigen, daß die abstrakte Marxsche Klassentheorie nicht den
Anspruch auf eine photografische Momentaufnahme einer Gesellschaft erhebt.
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Marx legt vielmehr Wert auf die Erklärung der zentralen Kräfte innerhalb der
Gesellschaft. Die Klassentheorie ist also kein deskriptives, sondern ein analytisches Modell, weshalb die Vielzahl von Differenzierungen innerhalb der Sozialstruktur vernachlässigt wird. Giddens kommt deshalb zu dem Schluß, daß die
Mittelklassen im Verhältnis zu den beiden Hauptklassen stehend als Übergangsklassen oder Segmente der Hauptklassen existieren, Abstriche am abstrakten Konzept des dichotomischen Klassenschemas jedoch nicht erforderlich
machen (vgl. Giddens 1979: 35)18 .
Dahrendorf richtet seine Kritik gegen Marx´ Auffassung, das fungierende Eigentum als den grundlegenden Anstoß für die Klassenbildung anzusehen (vgl.
Dahrendorf 1957: 18 ff.). Er gibt zu bedenken, daß Herrschaftsverhältnisse
nicht ausschließlich ein Sonderfall von Privateigentumsverhältnissen sind. In
Marx´ Theorie folgen die Herrschaftsverhältnisse aus der An- oder Abwesenheit des fungierenden Privateigentums. Da Herrschaft auch ohne Besitz an
Produktionsmitteln ausgeübt werden kann, fallen wirtschaftliche und politische
Konflikte nicht notwendigerweise zusammen. Dahrendorf formuliert die These, daß die Sozialverhältnisse der Industrie nicht mehr die gesamte Gesellschaft
beherrschen, sondern in ihrem Einfluß größtenteils auf den Bereich der Industrie beschränkt bleiben (vgl. Dahrendorf 1957: 234 f.). Bottomore stellt gegen
dieses Argument Befunde verschiedener empirischer Arbeiten. Demnach hä ngen die bedeutenderen politischen Auseinandersetzungen durchaus noch eng
mit industriellen Konflikten zusammen (vgl. Bottomore 1967: 32).
Die Ausführungen Daniel Bells besitzen eine andere theoretische Ausrichtung,
implizieren allerdings auch eine Kritik an der Zentralität der Eigentumsverhältnisse. Ein Ausgangspunkt der Bellschen Überlegungen ist die Ausdehnung
des Angestelltensektors bei gleichzeitiger Schrumpfung des „traditionellen“
Arbeitersektors. Zu dieser Entwicklung treten Informations- und Kommunikationstechnologien hinzu, die Produktionsweisen und somit Gesellschaft im
Vergleich zur Marxschen Zeit verändert haben. Vor diesem Hintergrund argu18
Für eine ähnlich Erwiderungen auf die Kritik gegen das Zweiklassenmodell siehe auch Ge i-
ger 1949: 42 ff.
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mentiert Bell, daß das Primat der Ökonomie und des Privateigentums in der
nachindustriellen Gesellschaft, in welche wir eintreten, durch das Primat des
Wissens ersetzt werde. Diese These mündet in dem Konzept der postindustriellen Gesellschaft, in der Wissen das neue axiale Prinzip darstellt (vgl. Bell
1975: 36 ff.). Unbestreitbar reicht die Frage nach der Veränderung von Arbeit
in die Diskussion um die Klassengesellschaft hinein. Die Frage lautet jedoch,
ob durch diese gesellschaftliche Entwicklung der Antagonismus von Arbeit
und Kapital tatsächlich aufgehoben und durch ein neues axiales Prinzip ersetzt
wurde, oder ob der Gegensatz Wissen - Nichtwissen neben den Antagonismus
von Arbeit und Kapital getreten ist und damit das Klassenverhältnis weiter
verkompliziert hat.
Wenden wir uns abschließend dem zweiten Punkt der Bergerschen Gliederung
zu. Es handelt sich hierbei um die Frage, welche erklärende Kraft die Klassentheorie für den Zusammenhang von Klasse, Lebenschancen und Lebensstile
besitzt.
Mit den erweiterten Klassenkonzepten von Wright nahmen Erbslöh et al. eine
empirische Untersuchung vor, um die Klassentheorie an diesem Punkt zu überprüfen. Wird Einkommen als ein Indikator für Lebenslagen gewählt, so zeigt
sich, daß Einkommen unterschiedlich auf soziale Gruppen verteilt sind (vgl.
Erbslöh et al. 1990: 46 ff.). Die Frage ist nun, ob durch Klassenmodelle mehr
Einkommensvarianz erklärt werden kann als durch andere Modelle. Erbslöh et
al. berichten, daß die Variablen Alter, Schulabschluß, Geschlecht etc. weniger
Einkommensvarianz erklären als die Wrightschen Klassenmodelle. Sie räumen
gleichzeitig ein, daß die Variable „Stellung im Beruf“ ebenfalls sehr geeignet
ist (vgl. Erbslöh et al. 1990: 63). Die Klassentheorie geht aber über die Erklärung einer ungleichen Einkommensverteilung hinaus. Es wird angenommen,
daß homogene Lebenslagen ähnliche Interessen nach sich ziehen und daß diese
sich in einem entsprechenden individuellen und kollektiven Handeln niederschlagen. Hierfür bilden Erbslöh et al. einen sog. Bewußtseinsindex. Zwar
bündeln sich die Einstellungen „Pro Kapital“ und „Pro Arbeit“ an den Polen
der benannten Klassenlagen und bestätigen so das Wrightsche Modell in der
Tendenz, die modellgemäße Monotonie des Verlaufs bei der Beziehung Klas-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
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senlage – Einkommen ist beim Verhältnis Klassenlage – Bewußtsein so schon
nicht mehr zu finden. Die Experten ohne Management-Ressourcen rangieren
näher an dem Pol „Pro Arbeit“ als die teilweise qualifizierten Nicht-Manager,
ebenso haben die qualifizierten Aufsichtspersonen stärkeren Bezug zu Arbeiterinteressen als die teilweise qualifizierten Aufsichtspersonen (vgl. Erbslöh et
al. 1990: 59).
Die Bergersche Differenzierung der Marxschen Aussagen in drei Gruppen
macht deutlich, daß die verschiedenen Abstraktionsebenen der Klassentheorie
verschiedene Stärken und Schwächen besitzen. Es wird damit auch klar, daß
berechtigte Kritik an Marx´ dynamischem Konzept nicht automatisch Marx´
ökonomische Analysen in Frage stellt, die dem abstrakten Klassenmodell
zugrunde liegen19.
Bergers Resümee läuft darauf hinaus, daß die Relevanz der Klassentheorie für
die Beantwortung von Fragen von Punkt 1. zu Punkt 3. abnimmt (vgl. Berger
1998: 31). Für ihn macht die Verwendung des Begriffs Klasse empirisch Sinn,
sind die gegenwärtigen Gesellschaften doch weit davon entfernt, durch den
Einfluß von Klassenzugehörigkeit neutralisiert zu sein. Als Theorie des Untergangs des Kapitalismus sei die Marxsche Analyse dagegen wenig fruchtbar.
Auch wenn der große Zusammenbruch des Kapitalismus nicht stattgefunden
hat, so muß dennoch konstatiert werden, daß Marx die Entwicklungs-, Konflikt- und Zerstörungspotentiale, die Chancen und Gefahren, die ökonomischen
Tendenzen und sozialen Folgen der kapitalistische n Produktionsweise analysiert und belegt hat. Und diese Grundlinien seiner ökonomischen Analyse sind
bis heute von größter Relevanz für das Verständnis einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft (vgl. z.B. Sichtermann 1990).
19
Dahrendorf kritisierte z.B., daß Marx immer wieder Soziologie und Philosophie durchmenge
und sich so einer empirischen Überprüfung entziehe (z.B.: Kapitalismus ist die letzte Klassengesellschaft, das Proletariat führt den letzten Klassenkampf, der darauffolgende Kommunismus
verwirklicht die menschliche Freiheit) (vgl. Dahrendorf 1957: 25 ff.). Diese Kritik bezieht sich
lediglich auf den dritten Aussagekomplex, über die Qualität der anderen Ebenen sagt dies noch
wenig aus.
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
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3.2 Bourdieu und Marx: Gegenüberstellung zweier
Klassentheorien
3.2.1 Kapitalbegriff und Kapitalarten
Bei der Beschreibung kultureller Phänomene greift Bourdieu auf Begriffe der
Wirtschaftswissenschaften zurück und lehnt seine Begriffssprache an Marx an,
plädiert dabei gleichzeitig für eine soziologische Erweiterung wirtschaftswissenschaftlicher Studien (vgl. Raphael 1987: 161). Die zugrunde liegende Annahme Bourdieus lautet, daß die Sphäre der Ökonomie mit den dort verfolgten
Interessen mit Praxisformen wie Kunst, Kultur und Bildung zu einer "Ökonomie der Praxisformen" zusammenfließen muß. Denn die Analyse des Wirtschaftssystems, so die These, kann für die anderen Praxisformen handlungstheoretisch nicht ausreichend erklärend sein. Bourdieus Aufmerksamkeit ric htet sich auf die Aspekte der sozialen Praxis, die nach streng ökonomischen Gesichtspunkten leicht aus dem Blickfeld geraten. Er geht davon aus, daß Handlungen, die auf den ersten Blick interessenlos und zweckfrei und damit getrennt
von der Ökonomie scheinen, als auf die Maximierung materieller oder symbolischer Gewinne zielende Handlungen zu verstehen sind (vgl. Bourdieu 1976:
357). Diese Ausdehnung der Sphäre der Ökonomie auf "Nicht-ökonomische
Bereiche" bildet die Grundlage für die Ausdehnung des Begriffs Kapital bei
Bourdieu.
„Es ist nur möglich, der Struktur und dem Funktionieren der gesellschaftlichen Realität gerecht zu werden, wenn man den Begriff des Kapitals in
allen seinen Erscheinungsformen einführt, nicht nur in der aus der Wirtschaftstheorie bekannten Form.“ (Bourdieu 1983: 184)
Kapital wie auch Profit haben bei Bourdieu verschiedene Erscheinungsformen.
Kapital nach Bourdieu meint nicht nur Geld- und Produktionsmittelvermögen,
es meint zudem Kompetenzen, Fähig- und Fertigkeiten, die von Personen in
Erziehungs- und Bildungsprozessen erworben werden. Die Grundlage des ausgeweiteten Kapitalbegriffs bei Bourdieu ist nicht die Vorstellung eines spezi-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
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fisch ökonomischen Faktors. Kapital wird verstanden als Wirkung gesellschaftlicher Beziehungsstrukturen, deren allgemeinste Formulierung für Bourdieu
das Konzept der Macht ist. Wie oben ausgeführt, gehören die Begriffe "soziales Feld" und "Kapital" in Bourdieus Theorie notwendig zusammen. In den
verschiedenen Felder besitzen die verschiedenen Kapitalformen verschiedene
Wertigkeiten und entscheiden so über die dortigen Profitchancen. In den Feldern sind für Bourdieu ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches
Kapital von Relevanz.
•
Ökonomisches Kapital
Zum ökonomischen Kapital rechnet Bourdieu alle mehr oder weniger direkt in
Geldform umsetzbaren Güter, die durch das Eigentumsrecht institutionalisiert
sind. Er zählt also die verschiedensten Formen des materiellen Reichtums zum
ökonomischen Kapital, ohne dabei zwischen produktivem und unproduktivem
Vermögen zu unterscheiden. Trotz der Berücksichtigung weiterer Kapitalarten
weist Bourdieu dem ökonomischen Kapital eine zentrale Stellung zu, was sich
in der "tendenziellen Dominanz" des ökonomischen Feldes auswirkt (vgl.
Bourdieu 1985: 11).
•
Kulturelles Kapital
Obwohl kulturelles Kapital unter bestimmten Bedingungen in ökonomisches
Kapital transformierbar ist, besitzt diese Kapitalform für Bourdieu eine Eige nlogik, die sie vom ökonomischen Kapital unterscheidet. Bourdieu unterscheidet
drei Erscheinungsformen des kulturellen Kapitals: Inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes Kulturkapital (vgl. Bourdieu 1983: 185 ff.).
Inkorporiertes Kulturkapital meint sämtliche kulturellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen, die durch den Prozeß der Sozialisation in der Familie
und durch Bildung in und außerhalb von Bildungsinstitutionen erworben werden können. Das inkorporierte Kulturkapital ist zu einem festen Bestandteil der
Person, des Habitus geworden. Bourdieu spricht deshalb davon, daß aus „Haben“ „Sein“ geworden ist (vgl. Bourdieu 1983: 187). Die Eigenständigkeit des
inkorporierten Kulturkapitals gegenüber dem ökonomischen Kapital ist hier
klar erkennbar. So ist z.B. das Delegationsprinzip ausgeschlossen, die Kultur-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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kapitalinkorporation muß jeder einzelne selbst leisten (vgl. Bourdieu 1983:
186).
Objektiviertes Kulturkapital umfaßt das Wissen und die Kulturgüter, es findet
seine Form z.B. in Büchern, Kunstwerken, Maschinen, usw. Zwei wichtige
Bedingungen für die Aneignung von objektiviertem Kulturkapital sind Geld
und Zeit. Die Differenz zum ökonomischen Kapital ist beim objektivierten
Kulturkapital damit nicht deutlich ausgeprägt.
Institutionalisiertes Kulturkapital verweist auf verbriefte Nachweise von Kultur, die ihre Institutionalisierung in Form von Bildungstiteln finden. Mit dem
Besitz eines Titels fügt eine Person dem inkorporierten das institutionalisierte
Kulturkapital hinzu und unterscheidet sich so vom Autodidakten, der unter
Umständen über ähnliche inkorporierte Kompetenzen verfügt. Wichtig ist diese
Kapitalform z.B. für die Zulassung zu bestimmten Berufen, die nur nach
Nachweis von Zeugnissen und Zertifikaten ausgeübt werden dürfen.
Abbildung 2: Drei Erscheinungsformen des kulturellen Kapitals
Formen
Inkorporiert
Objektiviert
Institutionalisiert
Substrat
Kogn.: Kompetenz
Wissen
Bildung
Ästh.: Geschmack
Modalität
Kulturpräferenzen
Kulturgüter
Kulturinstitutionen
Eigenart
Körpergebunden-
Materielle Über-
heit
tragbarkeit von
Regelgebundene
Kompetenzallokation: Titelvergabe
Kulturgütern
Prozeß
Verinnerlichung
Veräußerlichung
Verrechtlichung
bzw. VergegenSozialisation
ständlichung
Reproduktion
Produktion
Quelle: Müller 1986: 168
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•
Soziales Kapital
Das soziale Kapital besteht für Bourdieu aus den aktuellen und potentiellen
Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Soziales Kapital realisiert sich in der Ausnutzung eines Netzwerkes von Beziehungen (vgl.
Bourdieu 1983: 190 ff.). Bourdieu zeigt, daß soziales Kapital bei der Aneignung von ökonomischem oder kulturellem Kapital wie ein Multiplikator wirkt.
Soziales Kapital besitzt aber auch ein relativ hohes Maß an Fragilität, ist direkt
nicht in Geld zu transformieren, bedarf der Pflege und kann juristisch nicht
abgesichert werden. Daher spielt nicht das soziale, sondern das kulturelle Kapital neben dem ökonomischen Kapital die zweite wichtige Rolle. Es ist zu konstatieren, daß jenseits der Typologie von Kapitalarten, die Bourdieu in seinem
Aufsatz aufstellt, die Dimension des sozialen Kapitals tendenziell vernachlässigt wird. Weder in seiner durch das Struktur-Habitus-Praxis Konzept gefaßten
Reproduktionslogik, noch im sozialen Raum spielt diese Kapitalart eine entscheidende Rolle. Dabei sind z.B. in Frankreich neben dem Abschluß an bestimmten höheren Schulen auch die dort geknüpften Netzwerke für eine Karriere sehr wichtig (vgl. Hartmann 1998). Es ist deshalb dafür zu plädieren, das
soziale Kapital in das Konzept der sozialen Ungleichheit verstärkter einzubinden als dies Bourdieu tut.
•
Symbolisches Kapital
Die symbolische Macht schafft es, Beeindruckung und Einschüchterung zu
erzeugen (vgl. Bourdieu 1982c: 86). Mit symbolischem Kapital ist die Möglichkeit der Anerkennung der drei erstgenannten Kapitalarten gemeint, die der
einzelne oder eine Gruppe durch geschickte Verwendung des gesellschaftlichen Symbolsystems gewinnen kann (vgl. Bourdieu 1985: 11). Die Wirkung
der symbolischen Macht ist die Legitimierung jedweder Macht. Die durch das
symbolische Kapital erzielten sozialen Anerkennungen und Wertschätzungen
können sich in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen realisieren. Es
gibt eine alltägliche symbolische Hervorhebung durch die Verwendung von
Statussymbolen und Distinktionsmerkmalen. Anerkennung kann aber auch
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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durch massenmediale Präsenz von Sportlern, Politikern usw. zustande kommen. In den meisten Fällen ist symbolisches Kapital eng mit anderen Kapitalformen verknüpft. So wird symbolisches Kapital durch höhere Bildungstitel
generiert, aber auch durch die inkorporierte Distinktionsfähigkeit. Oder ein
Akteur mit viel ökonomischem Kapital verschafft sich Anerkennung durch
gemeinnützige (bzw. eigennützige) Spenden. Aus der Bündelung des symbolischen Kapitals bei den kapitalreichen Akteuren und Gruppen resultiert die
wichtige gesellschaftliche Funktion des symbolischen Kapitals. Denn aus der
Anerkennung dieser speziellen Akteure und Gruppen folgt die Anerkennung
und Legitimation des gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses. Dem ökonomischen Klassenkampf und den direkten auf ökonomischem Kapital beruhenden Machtmitteln scha ltet Bourdieu damit einen symbolischen Klassenkampf vor.
„Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es
ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen;
d.h. eine (ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die
Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen.“ (Bourdieu 1982c: 82)
Eine wichtige Frage ist, wie sich die unterschiedlichen Kapitaltypen zueinander
verhalten. Bourdieus Antwort erinnert zunächst an die Marxsche These vom
Primat der Ökonomie. Das ökonomische Kapital wird ausdrücklich als die dominierende Kapitalform bezeichnet (vgl. Bourdieu 1983: 189), die allen anderen Kapitalformen zugrunde liegt. Er setzt sich aber gleichzeitig von einem
strengen Ökonomismus mit dem Hinweis ab, daß das ökonomische Kapital
zwar eine basale Rolle spielt, die anderen Kapitalformen jedoch niemals ganz
darauf reduzierbar sind. Es ist schwierig zu bestimmen, welche Struktur Bourdieu für diese Verhältnisbestimmung im Auge hat. Deutlich ist jedenfalls, daß
Bourdieus Konzept, welches im Spannungsverhältnis von "Ökonomismus" und
"Semiologismus" steht (vgl. Bourdieu 1983: 196), nicht einseitig zu einem der
beiden Pole hin aufzulösen ist.
Wie ausgeführt bleibt Kapital in der Bourdieuschen Theorie nicht auf ein ökonomisches Feld beschränkt, es expandiert auch in die Bereiche der öffentlichen
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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Meinung und des „individuellen“ Bewußtseins. Und damit, daß Kapital nicht
nur als ökonomische Kategorie gedacht wird, rücken neben direkten Herrschaftsverhältnissen auch Formen des Einflusses in den Gegenstandsbereich
der Betrachtung. An diesem Punkt ist man bei gesellschaftlichen Gruppen wie
den Bischöfen oder Wissenschaftlern angelangt, die von Bourdieu als Fraktionen der herrschenden Klasse gesehen werden. Ihren Stellenwert gewinnen die
Hochschullehrer wie die Bischöfe in der Regel nicht über ihr ökonomisches,
sondern über hohes kulturelles, soziales und symbolisches Kapital. Diese Kapitalarten können z.B. dazu dienen, entscheidend auf kulturelle Paradigmen
Einfluß zu nehmen und somit „Macht über Köpfe“ auszuüben. Bischöfe oder
Wissenschaftler haben schon allein deshalb Einfluß auf die öffentliche Meinung, weil sie die Macht haben, ihre Standpunkte öffentlich zu machen. Hinzu
kommt, daß ihr Wort qua ihrer (angesehenen) Position mehr Gewicht in der
öffentlichen Diskussion besitzt.
Aus dem Marxschen Blickwinkel ergeben sich bei Bourdieus Kapitaltheorie
einige Probleme. Mit dem Bourdieuschen Konzept verliert zum einen der
Kapitalbegriff seine ökonomische Schlüsselstellung und zum anderen wird die
Marxsche Werttheorie revidiert (vgl. Raphael 1987: 163). Krais argumentiert
in diesem Kontext, daß das Spezifikum des Marxschen Kapitalbegriffs verloren
geht, nämlich der Zusammenhang von Akkumulation, Mehrwertproduktion
und Ausbeutung (vgl. Krais 1983: 219 f.). Bourdieus Intention, Marx´ ökonomischen Kapitalbegriff auf die gesamte Sozialwelt auszudehnen, ist zwar einsichtig, der gemeinsame Kern des Begriffs - die objektivierte Machtausübung ist jedoch fraglich. Sozial- und Kulturkapital funktionieren nicht nach derselben Logik wie das ökonomische Kapital. So basiert z.B. Kapital bei Marx nicht
auf einer sozialen Lebensweltlogik und demnach auf personal- interaktiven Mechanismen, wie dies beim sozialen Kapital der Fall ist.
Bourdieus Theorie sollte deshalb auch nicht die Vorstellung aufkommen lassen, die soziale Anerkennung eines Lebensstils sei auf demselben Weg wie ein
ökonomisches Gut zu erwerben. Durch seine Termini ökonomisches und kulturelles Kapital nimmt Bourdieu zwar eine Angleichung des ökonomischen und
des kulturellen Feldes vor, es ist aber zweifelhaft, ob die herrschaftsgenerie-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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renden Mechanismen der beiden Felder vergleichbar sind. Giegel zeigt, daß
eine Reihe von Merkmalen der Herrschaft, die sich auf ökonomisches Kapital
stützt, bei Bourdieus anderen Kapitalarten fehlen (vgl. Giegel 1989: 150 ff.).
So ist es für kulturelles oder soziales Kapital schwer zu bestimmen, wie sich
die Gewinne der Kapitalbesitzer aus den Verlusten von Nicht-Kapitalbesitzern
ableiten lassen. Die Machtmittel, die sich aus ökonomischem Kapital ergeben
und mit denen Gewalt auf die Nicht-Besitzer von Kapital zur Hinnahme ihrer
Lage ausgeübt werden kann, unterscheiden sich von den Machtmitteln der anderen Kapitala rten. Die Möglichkeit der Anerkennung, die symbolisches Kapital schafft, ist eine andere als die Möglichkeit einer ökonomisch basierten Repression. Durch die eher als metaphorisch zu bezeichnende Angleichung der
kulturellen an die ökonomische Sphäre stößt man beim kulturellen Kapital,
welches z.B. Fähigkeiten beim Umgang mit Informationen, ästhetischen Genüssen oder alltäglichen Vergnügungen beinhaltet, schon allein bei der Frage
nach der quantitativen Meßbarkeit auf schwerwiegende Probleme (vgl. Ho nneth 1984: 153).
Mit dieser Problematisierung soll dem kulturellen, sozialen und symbolischen
Kapital keineswegs die Relevanz für gesellschaftliche Herrschafts- und Klassenstrukturen abgesprochen werden. Dennoch soll die These formuliert werden, daß sich aus diesen Kapitalarten für sich selbst noch keine dauerhaften
Herrschaftsbeziehungen ergeben. Erst in der Relation zum ökonomischen Kapital entfalten sie ihre Kraft und können Herrschaftsbeziehungen absichern
oder verstärken. Würde die Macht der herrschenden Gruppen lediglich durch
die Anerkennung der Untenstehenden gesichert, wäre sie fragil. Zu wenig Substanz steht hinter der symbolischen Macht. Herrschaft ist in diesen Fällen nur
eine Konstruktion der Individuen.
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3.2.2 Die Beziehung zwischen ökonomischer Basis,
Individuen und Kultur
Marx bindet den Klassenbegriff eng an die Ökonomie. Ritsert hält das Theorem vom Primat der Ökonomie für ein, wenn nicht das Markenzeichen der
marxistischen Klassentheorie (vgl. Ritsert 1998: 73). Die zentrale Bedeutung
der produzierenden Tätigkeit schlägt sich auch auf die Individuen und ihre
Dispositionen nieder.
„Was die Individuen (...) sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion.“ (Marx/Engels 1973, MEW 3: 21)
Marx stützt seine Theorien auf die Annahme, so Herbert Marcuse, daß der Arbeitsprozeß die Totalität des menschlichen Seins bestimmt und daher der Gesellschaft ihre Grundstruktur verleiht (vgl. Marcuse 1970: 260). Menschen
werden dabei als von ihren eigenen Verhältnissen beherrscht darge stellt.
„Die Menschen treten lediglich als Personifikationen ökonomischer Kräfte und Kategorien auf. Die Produzenten figuieren als ´Ware Arbeitskraft´,
ihre sachlichen Produktionsmittel als ´Kapital´, ihre Austauschrelationen
sind beherrscht vom ´Wertgesetz´ und ihr Schicksal wird bestimmt vom
´tendenziellen Fall der Profitrate´.“ (Dahmer/Fleischer 1973: 76)
Für Marcuse widerspricht die Tatsache der Klassen der Freiheit bzw. verwandelt sie in eine abstrakte Idee. Die Freiheit und Entwicklung des Individuums
ist auf die Grenzen seiner Klasse beschränkt. Der einzelne kann sich lediglich
als ein “Klassenindividuum“ entfalten (vgl. Marcuse 1970: 255).
Diese These vom Primat der Ökonomie ist in Marx´ Gesamtwerk eine seiner
zentralsten und gleichzeitig auch problematischsten. Diese Problematik schlägt
sich in einem zentralen Theorem des historischen Materialismus, der Lehre von
Basis und Überbau, nieder. Die Art und Weise, in der die Menschen ihre materielle Produktion organisieren, bildet die Grundlage der gesellschaftlichen Institutionen. Unter der Organisation der materiellen Produktion ist jedoch nicht
allein die Produktionstätigkeit zu verstehen, sondern entscheidend sind die ge-
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der gegenwärtigen Gesellschaften
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sellschaftlichen Beziehungen, die Menschen bei der Produktion ihres materiellen Lebens herausbilden (vgl. Marx/Engels 1973: 25 ff., Mandel 1979: 204 f.).
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen
bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein,
Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer
materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und
welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.
Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches
Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Marx 1964, MEW 13: 8 f.)
Ein strenger Ökonomismus sieht den Zusammenhang von Basis und Überbau
als einen rein kausalen an. Der gesamte Überbau ist in seiner Struktur und seiner Handlungsweise ausschließlich auf die Basis zurückzuführen. Trotz der
These vom Primat der Ökonomie wird von Marx und Engels die einseitig kausale Interpretation des Basis-Überbau-Schemas als eine verkürzte angesehen.
Engels z.B. räumte komplexe Wechselwirkungen zwischen Basis und Überbau
ein, d.h. er gestand einigen Überbauphänomenen eigenständige Einwirkungsmöglichkeiten auf Tatsachen und Vorgänge der Basis ein. Um die These vom
Primat der Ökonomie nicht aufzuweichen, sah er das Wirkungsverhältnis zwischen Basis und Überbau nicht als gleichrangig an, sondern erklärte die Basis
als in letzter Instanz bestimmend (vgl. Engels, 1894: MEW 39, 98). Man stößt
hier auf das, was Jürgen Ritsert als das „Relationierungsproblem von Basis und
Überbau“ bezeichnet (vgl. Ritsert 1988: 75). Die Frage ist nämlich, wie diese
Wechselwirkungen, in denen sich das ökonomisch Notwendige schließlich
immer durchsetzt, näher zu verstehen sind (vgl. auch Tomberg 1974: 43). Der
Begriff der Wechselwirkung hat ein unbestimmtes Moment. Um einer Beliebigkeit zu entgehe n, muß bestimmt werden, was „in letzter Instanz“ eigentlich
heißt.
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Das Basis-Überbau-Schema ist ein wissenschaftliches Konstrukt. Althusser
nennt es eine „räumliche Metapher“ (vgl. Althusser 1973: 120). Die Begriffe
Basis und Überbau sind bildliche Veranschaulichungen, um das Verhältnis von
Materie und Denken, von Ökonomie und gesellschaftlichen Institutionen, von
Herrschaft und Ideologie zu thematisieren. Bei Bourdieu tauchen diese Thematiken in den Begriffen Struktur und Praxis wieder auf. Bourdieu grenzt sich
immer wieder von den deterministischen Grundvorstellungen eines strengen
Ökonomismus ab. Dabei gerät Bourdieu bei der Beschreibung, wie bestimmte
Existenzbedingungen den Individuen einen bestimmten Habitus einprägen,
zunächst in den Verdacht, die Ind ividuen als ein Abbild ihrer Positionen im
sozialen Raum zu sehen. Mit dem letzten Schritt in seinem Reproduktionsmodells Struktur-Habitus-Praxis setzt sich Bourdieu von diesen Deutungen jedoch
wieder ab. Die konkreten Lebensäußerungen der Menschen reproduzieren
Struktur nicht einfach, sondern mit den alltagsweltlichen Praxen ist die Struktur immer auch Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und wird
dadurch verändert.
Philosophie, Recht, Politik, Moral sind für Marx Überbauphänomene, die sich
auf der Grundlage kapitalistischer Produktionsweise erheben.
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle
Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.
Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung
hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so
daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die
Mittel
zur
geistigen
Produktion
abgehen,
unterworfen
sind.“
(Marx/Engels 1973, MEW 3: 46)
In diesem Sinne werden Ideologien hervorgebracht, um die bestehende Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren, zu stabilisieren und der untergeordneten
Klasse rationalisiert zu erklärt. An diesem Punkt ist die Parallele zwischen
Marx und Bourdieu unübersehbar. Beide identifizieren Denken, Wahrnehmen,
Bewußtsein als gesellschaftliches Produkt, beide betonen den geschichtlichen
Charakter (herrschender) kultureller Phänomene. Marx wie Bourdieu versu-
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chen sich an der Entzauberung von Dingen, denen ein pseudonatürlicher
Schein anhaftet. Aufgedeckt wird dieser Schein, indem beide die Bedeutung
kultureller Prozesse in den Kontext von Herrschaftsbeziehungen stellen.
Die Analyse kultureller Praktiken als Theorie klassenspezifischen Handelns
stellt ein zentrales Motiv der Bourdieuschen Theorie dar. Dementsprechend
nehmen die Formen der Kämpfe um Deutungen und Ideologien, die der Herrschaftssicherung dienen, einen wichtigen Platz in den Arbeiten Bourdieus ein.
Auch Marx thematisiert die Frage nach kulturellen hegemonialen Strategien.
So identifiziert er z.B. in der herrschenden Klasse eine Arbeitsteilung, spricht
von Ideologen, den Denkern der herrschenden Klasse und von Kapitalisten, die
weniger Zeit haben, sich Gedanken über die Klassenstruktur zu machen (vgl.
Marx/Engels 1973: 46 f.). Der Unterschied zwischen Marx und Bourdieu besteht darin, daß Bourdieu den Mechanismus der Herrschaftserzeugung ausdehnt. Herrschaft wird nicht nur durch Aneignung von Reichtum erzeugt. Kultur ist bei Bourdieu nicht bloß Abbild der Verhältnisse der Basis, sie ist selbst
herrschaftsgenerierend. Bourdieus Ergänzung des ökonomischen Klassenkampfes durch den symbolischen entspricht dieser Erweiterung. An diesem
Umgang Bourdieus mit dem Basis-Überbau-Schema identifiziert Eder eine
wichtige Brechung mit der Marxschen Theorie. Die dieser Brechung zugrunde
liegende Annahme lautet, daß Kultur als Kapital zunehmend die Arbeitskraft
und damit die objektive Klassenlage bestimmt und daraus resultierend gege nüber ökonomischem Kapital an Bedeutung gewinnt. Folglich wird der Begriff
der Klassenlage weiter gefaßt als der bei Marx, weil er nicht nur auf die Stellung im ökonomischen Reproduktionsprozeß abzielt, sondern mit dem kulturellen Kapital einen Überbaufaktor in die Analyse einbezieht (vgl. Eder 1989a: 15
f.).
3.2.3 Klassenbewußtsein und Klassenkampf
Bei Marx ist die historisch notwendige Umwälzung der bestehenden Produktionsverhältnisse, die Verlagerung der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel
von einer sozialen Klasse auf eine andere, eng an die wissenschaftlich-
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technische Verbesserung der Produktivkräfte geknüpft. In der Marxschen Geschichtsauffassung führt die aus immanenter Gesetzlichkeit ableitbare, notwendige Entfaltung der Ökonomie schließlich zum Aufbrechen der an den
Produktionsprozeß gebundenen Klassendichotomie von Herr und Knecht, von
Kapitalist und Arbeiter.
„Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre
Produktionsweise und mit der Veränderung der Produktionsweise, der
Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Marx/Engels 1972, MEW 4: 130)
Bourdieu bezeichnet den von der marxistischen Theorie anvisierten Übergang
von der Existenz von Klassen in der Theorie zur Existenz von Klassen in der
Praxis als einen „Salto mortale“ (vgl. Bourdieu 1998: 25). Bourdieu möchte
damit auf eine grundlegende Problematik der Marxschen Theorie hinweisen:
Zum Übergang von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ ist es trotz ständiger Entwicklung des Kapitalismus nicht gekommen, von der Existenz eines
einheitlichen proletarischen Klassenbewußtseins kann gegenwärtig nicht die
Rede sein. Aus dem fehlenden Klassenbewußtsein sollte auf der anderen Seite
nicht der vorschnelle Schluß gezogen werden, daß die Beschäftigung mit Klassentheorie obsolet geworden ist, daß ein Klassenantagonismus nicht existiere
oder daß Marx „veraltet“ sei. Wenn ein Arbeiter sich nicht ausgebeutet fühlt,
bedeutet das noch nicht, daß er nicht ausgebeutet wird.
„Daß von einem proletarischen Klassenbewußtsein in den maßgebenden
kapitalistischen Ländern nicht kann gesprochen werden, widerlegt nicht
an sich, im Gegensatz zur communis opinio, die Existenz von Klassen:
Klasse war durch die Stellung zu den Produktionsmitteln bestimmt, nicht
durchs Bewußtsein ihrer Angehörigen.“ (Adorno 1997b: 358)
Im folgenden soll der Frage ein wenig nachgegangen werden, welche gesellschaftlichen Bedingungen den Übergang von der „Klasse an sich“ zur „Klasse
für sich“ begünstigen bzw. behindern. Ausgangspunkt zur Bearbeitung dieser
Frage ist, daß ein Klassenbewußtsein nicht mechanisch mit der Existenz von
Klassen verbunden, sondern erst herzustellen ist. Das Sein schafft nicht automatisch ein Klassenbewußtsein. Klassenbewußtsein kann nicht allein durch
Sic et Non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz.
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eine ökonomische Konstellation entstehen, Individuen müßten so etwas wie ein
Klassenbewußtsein durch ihre soziale Praxis generieren. Klassenbewußtsein ist
also keine Idee, die über den Menschen schwebt und herunterfällt, wenn sich
der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen verschärft hat. Die Frage ist nun, wie solch ein Klassenbewußtsein in der gege nwärtigen historischen Situation entstehen soll.
Wie sich Ausgebeutete heute nicht mehr als Proletarier fühlen, so tritt auch der
Unternehmer den Arbeitern nicht mehr als blanke Verkörperung der Kapitalinteressen entgegen. Mit dem Verschwinden des zigarrenqualmenden Fabrikanten und dem Aufkommen komplexer Kapitalgesellschaften fehlt zunehmend
ein greifbarer Gegner. Das Erkennen eines Klassengegensatzes wurde schon
mit der Loslösung des Individuums aus feudalen Fesseln erschwert. War das
Ausbeutungsverhältnis im Feudalismus noch in einem direkten persönlichen
Verhältnis eingebettet, so ist das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus in
den Produktionsprozeß eingelagert. Es ist somit von der historischen Tendenz
von der unmittelbaren zur mittelbaren Herrschaft zu sprechen.
„Tatsächlich sind die Manifestationen des Klassenverhältnisses in weitem
Maß in den Funktionszusammenhang der Gesellschaft eingebaut worden,
ja als Teil ihres Funktionierens bestimmt.“ (Adorno 1997c: 183)
Das Klassenverhältnis ist integraler Bestandteil des Funktionierens der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Und dieses Funktionieren des kapitalistischen
Systems kann auf Dauer nicht nur von der herrschenden Klasse gewährleistet
werden. Denn nicht nur, daß sich ein Großteil der Arbeiter nicht als Proletarier
fühlt, die Arbeiterklasse sieht sich als weitgehend in die Prozesse der Gesellschaft integriert. Die Beherrschten identifizieren sich mit ihren Herrschern und
orientieren sich an ihnen, ganz nach der liberalen Maxime, jeder könne es nach
oben schaffen. Die Mitglieder der herrschenden Klasse samt ihren Vorlieben
werden gesellschaftliche Vorbilder. Nicht umsonst nennt Bourdieu den Geschmack der herrschenden Klasse den "legitimen Geschmack“. So grenzen sich
Schwache eher nach „unten“ als nach „oben“ ab. Soziale Ungleichheiten, auch
wenn sie einen selbst negativ berühren, werden nicht hinterfragt, denn das Ziel,
selbst zu den Gewinnern aufzusteigen, bleibt als Traum gegenwärtig.
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Diese „Loyalität nach oben“ besitzt zudem einen weiteren Aspekt: Nach der
ersten Phase der industriellen Revolution haben die Ausbeuter zunehmend die
Reproduktion der Ausgebeuteten gesichert.
„Nach Lebensstandard und Bewußtsein werden (...) Klassendifferenzen
weit weniger sichtbar als in den Dezennien während und kurz nach der
industriellen Revolution.“ (Adorno 1997b: 355)
Mit der Armut breiter Massen und der wachsenden Popularität sozialistischer
Ideen20 breitete sich im Bürgertum Angst vor Aufständen und Revolution aus
(vgl. Tennstedt 1981: 139ff.). Der Reichskanzler Bismarck reagierte mit Gesetzen zur Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und zu Invaliditäts- und Alterssicherung (1889). Mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung
sollte den Sozialdemokraten Wind aus den Segeln genommen und sozialer
Frieden gefestigt werden. Die Arbeiter sollten als Objekt sozialstaatlicher Fürsorge durch die Hilfe von oben stärker an den Staat gebunden werden. Nachdem sich die sozialen Verhältnisse der Arbeitnehmer im Laufe der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung spürbar verbessert haben, wird es immer deutlicher, daß die Proletarier mehr zu verlieren haben als ihre Ketten (vgl. Adorno
1997a: 384). In dieser gesellschaftlichen Situation wird Konformität naheliegender als das Aufbegehren gegen bestehende Verhältnisse.
„Die herrschende Klasse wird so gründlich von fremder Arbeit ernährt,
daß sie ihr Schicksal, die Arbeiter ernähren zu müssen, entschlossen zur
eigenen Sache macht und dem ´Sklaven die Existenz innerhalb seiner
Sklaverei´ sichert, um die eigene zu befestigen.“ (Adorno 1997a: 386)
Ohne große Zweifel läßt sich sagen, daß die in den Ausmaßen von Marx vorausgesagte Verelendung des Proletariats nicht eingetroffen ist.
20
In Form politischer Organisationen wurden Arbeiterinteressen ab der Mitte des 19. Jahrhun-
derts verstärkt institutionalisiert. 1863 gründete Ferdinand Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, 1869 gründeten August Bebel und Wilhelm Liebknecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Die beiden Parteien wurden 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands verschmolzen. Ab 1891 hieß die Partei Sozialdemokratische Partei
Deutschlands.
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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„Wäre der Liberalismus wirklich der Liberalismus, als den Marx ihn
beim Wort nimmt, so bestünde schon in der friedlichen Welt der Pauperismus, (...). Aber die herrschende Klasse wird nicht nur vom System beherrscht, sie herrscht durchs System und beherrscht es schließlich selber.“
(Adorno 1997a: 385)
Diese Aussage Adornos macht deutlich, daß sich der Kapitalismus durch die
von Marx festgestellte Pauperisierungstendenz nicht zwangsläufig selbst beseitigt. Denn das System wird in dem Maße beherrscht, daß die Herrschenden
Strategien zur Elendsbekämpfung institutionalisieren können, was z.B. in Form
der Sozialgesetzgebung geschehen ist. Die Dialektik der Sozialpolitik besteht
darin, daß sie gegen die kapitalistische Ordnung wirkt und gleichzeitig notwendig für die Erhaltung dieser ist. Sozialpolitik „stört“ das freie Spiel der
Kräfte, Alte, Schwache oder Kranke würde ein unregulierter Markt nicht versorgen. Doch gleichzeitig sind Eingriffe in ein klassisch liberales Wirtschaftssystem notwendig, um das kapitalistische System aufrecht erhalten zu können.
Denn die Gefahr ist nicht auszuschließen, daß sich verelendete Bevölkerungsschichten erheben.
Ein gewichtiges Problem für die Realisierung eines Klassenbewußtseins besteht darin, daß das Klassenverhältnis nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Individuums besteht. Der Habitus, der klassenspezifischen Charakter
besitzt, lagert das Klassenverhältnis direkt in das Individuum ein. Der (Klassen-) Habitus ist ein Zustand des Leibes, durch die Generierung eines „Klassenkörpers“ wird der Habitus zur Pseudonatur des Individuums. Der eigene
Habitus erscheint als eine Selbstverständlichkeit, existiert in einem vorbewußten Zustand und entzieht sich so der Reflexion. Und wenn der eigene Lebensstil nicht reflektiert, sondern als quasi- natürlich angenommen wird, dann bleibt
auch die eigene Klassenzugehörigkeit im Dunkeln. Der Habitus ist eher ein
kollektives Klassen-Unbewußtsein als ein reflexives Bewußtsein über das
Klassendasein. Es sind die eingeübten Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodi,
die die kulturelle Reproduktion sozialer Klassen bestimmen. Die Marxsche
Klassenanalyse bindet das Problem der Reproduktion an das Problem der Konstitution eines Klassenbewußtseins. Der Schlüssel zur Revision der traditione l-
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len Vorstellung des subjektiven Faktors in der Klassenanalyse ist der Begriff
des Klassenhabitus. Bourdieu ersetzt in diesem Sinne den Begriff „Klassenbewußtsein“ durch „Klassenhabitus“.
Die Erörterung der Aufhebung der Klassengegensätze als eine geschichtliche
Notwendigkeit ist für Bourdieu kein Thema. Überhaupt beurteilt Bourdieu die
Chancen einer revolutionären Umwälzung, z.B. durch den Hysteresis-Effekt
des Habitus, eher pessimistisch. Aufbegehrende Entladungen haben für Bourdieu zumeist nur eine Neuordnung des Wertverhältnisses zwischen den Kapitalsorten, z.B. eine angemessenere Entlohnung von intellektuellen Fähigkeiten
im Vergleich zum Lohnniveau in Berufszweigen der Wirtschaft oder eine Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Achtung der intellektuellen Elite, zum Ziel.
Deutlich wird dies anhand eines Zitats, in dem Bourdieu erneut auf die Allegorie des Spiels zurückgreift.
„Gibt es Leute, die daran Interesse haben, den Tisch umzuwerfen und
damit dem Spiel ein Ende zu machen? (...) In meinen Augen sind viele
Revolutionen innerhalb der herrschenden Klasse, d.h. in jenen Kreisen,
die Chips besitzen und die auch mal auf die Barrikaden steigen, damit ihre Chips an Wert gewinnen.“ (Bourdieu1982a: 38)
Wenn überhaupt eine Revolution der bestehenden Ordnung geleistet werden
soll, dann müssen, und das ist eine Gemeinsamkeit zu Marx, ein kritischer Diskurs und eine objektive Krise zusammentreffen (vgl. Bourdieu 1990: 104).
Diesem Gedanken liegt Bourdieus Annahme zugrunde, daß die Stabilität der
Ordnung wesentlich durch die Übereinstimmungen zwischen den Strukturen
der sozialen Welt und den Dispositionen der Akteure geleistet wird. In diesem
Sinne können die daraus folgenden Reproduktionsmechanismen am ehesten
durch eine Beeinträchtigung dieser Übereinstimmung infolge einer objektiven
strukturellen Krise durchbrochen werden (vgl. Schwingel 1993: 162 f.).
Die bis dahin aufgezeigten Gründe für ein fehlendes Klassenbewußtsein lassen
auf fehlende gesellschaftliche Voraussetzungen für eine Mobilisation der Arbeiterklasse und eine daraus folgende offene Austragung des Konflikts Arbeit –
Kapital schließen. Es darf gleichwohl nicht vergessen werden, daß die von
Marx analysierten Mechanismen kapitalistischer Produktionsweise fortbeste-
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hen, da eine die ökonomischen Basisinstitute (Privateigentum, Kapital, Lohnarbeit, Markt, Mehrwert, etc.) umwälzende Revolution nicht stattfand. Produziert wird, wie Adorno sagt, heute wie früher um des Profits willen (vgl. Adorno 1997b: 361). Was bedeutet dies für die Existenz von Klassen, wenn die ökonomischen Grundprozesse als Grundlage für Klassenbildung objektiv vorhanden sind, jedoch Klassenbewußtsein als Klassenhandeln der Individuen
kaum zu erkennen ist? Für Bourdieu existieren Klassen im sozialen Ra um gewissermaßen virtuell (Vgl. Bourdieu 1998: 26). Die aus der Theorie heraus
konstruierten Klassen sind für Bourdieu nicht gleichzusetzen mit real existierenden Klassen, da Klassen immer erst durch die soziale Praxis der Individuen
entstehen und nicht durch die theoretische Arbeit von Soziologen. Ein objektives Klasseninteresse ist Bourdieu deshalb auch unbekannt.
3.3 Zusammenfassung und Bewertung
Die Verhältnisbestimmung zwischen Bourdieus Theorie und der Marxschen
ergibt ein sehr indifferentes Bild. Dies beginnt schon bei der Selbsteinschätzung Bourdieus bezüglich seiner Beziehung zum Marxschen Werk. Auf der
einen Seite betont Bourdieu, daß er für seine Theorie mit einer Reihe von Momenten der Marxschen Theorie brechen mußte (vgl. Bourdieu 1985: 9). Auf
der anderen Seite sagt er, daß seine Konstruktion von theoretischen Klassen
stärker als jede andere Gliederung dazu prädisponiert sei, zu Klassen im Sinne
des Marxismus zu werden (vgl. Bourdieu 1998: 24). Die vorangegangenen
Abschnitte haben Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden
Autoren zum Gegenstand gehabt. Einiges davon soll im folgenden für eine
abschließende Bewertung kurz zusammengefaßt wieder aufgegriffen werden.
In Marx´ Theorie prägen Eigentumsverhältnisse soziale und politische Strukturen. Marx bemüht sich damit um eine Verbindung zwischen objektiver Situation, subjektiver Beurteilung dieser Situation und (politischem) Handeln. Dieser
Anspruch wird von Bourdieu aufgegriffen und zum Erklärungsziel seiner Theorie gemacht. Marx und Bourdieu haben gemeinsam, die Gesellschaft nicht als
ein Reich der Freiheit zu betrachten, sondern den Zusammenhang von objekti-
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ver Lage und Lebenschancen deutlich hervorzuheben. In beiden Konzepten
sind die Klassen relativ geschlossen. Die privilegierten Gruppen verfügen über
Ressourcen, von denen andere ausgeschlossen sind. Eine übermäßige Mobilität
kann für die Klassenmitglieder demnach nicht existieren.
Allerdings beginnen die Unterschiede zwischen den beiden Entwürfen schon
an dem Punkt, der bei Marx klassenkonstituierend wirkt, dem Eigentum an
Produktionsmitteln. Das Verfügen über Produktionsmittel, das in der marxistischen Theorie zentral für die Konstitution von Klassen ist und einen Erklärungsversuch für soziale Ungleichheit darstellt, wird von Bourdieu nicht aufgegriffen bzw. näher kommentiert. Ähnlich verhält es sich bei dem für die
Marxsche Analyse so wichtigen Begriff der Ausbeutung. Bourdieu identifiziert
zwar vereinzelt auch Klassenverhältnisse als Ausbeutungsverhältnisse, dies
geschieht jedoch nicht selten in einem Nebensatz, ohne diesen Gedanken weiter zu erläutern (vgl. z.B. Bourdieu 1987: 249). Diese Vernachlässigungen sind
Symptome dafür, daß Bourdieus Theorie nicht auf einer eingehenderen Kapitalismusanalyse basiert.
Auch die Frage nach dem Antagonismus von Arbeit und Kapital verliert sich
bei Bourdieu. Sind die beiden Klassen bei Marx durch ihre antagonistische
Beziehung gekennzeichnet, sind bei Bourdieu Klassen im sozialen Raum überund nebeneinander und damit hierarchisch angeordnet. Klar ist, daß Bourdieu
die herrschende Klasse nicht ausschließlich über Privateigentum an Produktionsmitteln definiert, was die Fraktionen mit hohem kulturellen und relativ geringem ökonomischen Kapital zeigen. Für Bourdieu ergeben sich gesellschaftliche Klassen zum einen durch ihren nahezu identischen Besitz an kulturellem
und ökonomischem Kapital und zum anderen durch die klassifikatorische Praxis der Individuen. Bourdieu geht damit über einen Ökonomismus hinaus, der
den sozialen Raum tendenziell auf ökonomische Produktionsverhältnisse reduziert und die Sozialstruktur der Gesellschaft in ihrer Wirtschaft verankert.
Bourdieu hat sein Hauptaugenmerk auf die kulturellen Ausdrucksformen und
den damit verbundenen symbolischen Gebilden gerichtet. Seine Klassentheorie
ist eng verbunden mit Kultursoziologie. Damit gilt sein Interesse einem Punkt,
der bei Marx weniger konzentriert bearbeitet wurde und der aus vulgärmarxis-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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tischer Betrachtung nur als Beiwerk der ökonomischen Reproduktion abgetan
wird (vgl. Honneth 1984: 147).
Mit dieser Ausrichtung löst sich Bourdieu gleichzeitig vom relativ strengen
Objektivismus innerhalb der marxistischen Theorie. Der Klassenbegriff bei
Marx soll, so Bourdieu, objektiv-ökonomisch erklärt werden und unabhängig
von subjektiven Indizes der Individuen sein. Bourdieus Klassentheorie baut
dagegen nicht nur auf objektiven Kapitalausstattungen der Individuen auf. Von
entscheidender Bedeutung ist das Handeln der Akteure, welches in eine Theorie klassenspezifischer kultureller Praktiken integriert wird. Bourdieus Klassentheorie ist damit auch eine Klassifizierungstheorie.
Um einen Ökonomismus zu erweitern, dehnt Bourdieu den Kapitalbegriff aus.
Damit rücken weitere Praxisformen in den Blick, denen Relevanz für soziale
Ungleichheit zukommt. Problematisch ist, daß diese Ausweitung, wie oben
gezeigt, eher einen metaphorischen Charakter besitzt, den Bourdieu nicht konsequent aufzuklären vermag.
„Eine ausgeführte Surplus- oder Kapitaltheorie – mit oder gegen Marx –
findet sich trotz Bourdieus durchgängigen Hinweisen auf Kapital, Gewinn oder Profit so gut wie nicht.“ (Ritsert 1998: 112)
Das zentrale Paradigma, welches den Analysen Bourdieus zugrunde liegt, ist
das des sozialen Kampfes. Im Unterschied zu Marx liegt Bourdieus Aufmerksamkeit eher bei den Konkurrenzkämpfen als bei dem die gesellschaftliche
Ordnung gefährdenden Klassenkampf (vgl. Schwingel 1993: 86 f.). Bourdieu
analysiert unterschiedliche (Kampf-) Felder, in denen Akteure um Bewahrung
bzw. Vermehrung von Kapitalbeständen ringen und sich in symbolischen
Kämpfen um die Durchsetzung von Bedeutungen auseinandersetzen.
Es wäre verkürzt zu behaupten, Bourdieu beschäftige sich nicht mit der Frage
des Klassenkampfs. Er besitzt jedoch ein anderes Verständnis von Klassenkampf als Marx. Sein Begriff beinhaltet weniger den Klassenkampf in öffentlich ausgetragener Form durch politisch organisierten Großgruppen. Bei ihm
herrscht eher ein latenter Klassenkampf, in den die Konkurrenzkämpfe fließend
übergehen (vgl. Schwingel 1993: 142). Bourdieu zählt zum Klassenkampf all-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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tägliche Formen des interaktiven Ausdrucks, wie z.B. Arroganz, Beleidigungen, Gleichgültigkeit, Prahlereien mit Prestigobjekten oder Fähigkeiten usw.
Während Marx seine Klassentheorie aus einer Geschichtsbetrachtung entwickelt, die sich auf das Fortschreiten der Produktivkräfte und auf die damit verbundene Ausgestaltung von Arbeits- und Lebensformen stützt, und somit das
Prophezeien der Auflösung der Klassenantagonismen ein wichtiger Bestandteil
darstellt, fehlt bei Bourdieu solch eine historische Dimension. Ein direkter politischer Bezug wie bei Marx ist nicht angelegt. Bourdieus Konzept ist nicht auf
soziale und ökonomische Bewegungen einer bestimmten Gesellschaftsform
ausgerichtet. Bourdieu versucht dagegen eher, Reproduktionsformen und –
mechanismen der ausdifferenzierten Gesellschaften zu beschreiben (vgl. Janning 1991: 39 f.).
Bourdieus Klassenbegriff entsteht zu einem guten Teil auf der Grundlage des
Marxschen Klassenbegriffs. Gleichzeitig verändert er entscheidende Dimensionen des Marxschen Klassenbegriffs, mit allen geschilderten Vor- und
Nachteilen. Es wäre mißverständlich zu behaupten, Bourdieu erweitere den
klassischen Klassenbegriff oder versuche Marx zu „retten“. Ein großer Teil der
Kritik am Marxschen Klassenbegriff wird durch Bourdieus verändertes Klassenkonzept unterlaufen. Mit der kulturtheoretischen Wendung des Klassenbegriffs unterläuft Bourdieu z.B. Dahrendorfs Kritik am Primat des Eigentums an
Produktionsmitteln und berücksichtigt in Form des kulturellen Kapitals die von
Bell betonte zunehmende Wichtigkeit von Wissen.
Eine Marx-Kritik, die um einiges weiter geht als die Bourdieus, wird von den
neueren Konzepten zur Sozialstrukturanalyse formuliert. Die Kritik an einem
Marxschen Ökonomismus und Objektivismus führt diese Theorien zu einer
vollständigen Abkehr von der Marxschen Theorie. Vertreter der Milieu- und
Lebensstilkonzepte betrachten Klassen und Schichten als aufgelöst, gehen von
einer Entkopplung von objektiven Strukturen und subjektiven Handeln aus und
konzentrieren sich weitestgehend auf die soziokulturelle Erforschung der Lebensstile verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen. Diese neuere Theorie-
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strömung bildet damit den krassen Kontrast zur Marxschen Theorie. Im folgenden Kapitel wird nun Bourdieus Theorie den Konzepten von der Auflösung
von Klassen und Schichten gegenübergestellt und im Licht dieses Gegenpols
betrachtet.
4. Pierre Bourdieu und neuere Ansätze zur
Sozialstrukturanalyse
Kernpunkte der neueren Ansätze zur Sozialstrukturanalyse sind die Vorstellung
von der Pluralisierung von Milieus, d.h. Zerfall von alten sozialstrukturellen
Großgruppen, der Individualisierung, d.h. Zunahme autonomer Verhaltensweisen der Individuen, die der Ablösung von Fremdbestimmung durch Selbstbestimmung entsprechen und der Entkoppelung, d.h., daß das Bewußtsein sozialer Gruppen sich nicht mehr aus ihrer sozialen Lage ableiten läßt. Diese Argumentationsgrundlagen deuten schon den Perspektivenwechsel der Sozialstrukturanalyse an. Die kultursoziologische Erforschung von Lebensstilen ist deutlich ins Zentrum der soziologischen Diskussion gerückt. Im Abschnitt 4.1 Theorien von der Auflösung von Klassen und Schichten sollen zunächst einige dieser Theorien vorgestellt werden. Um die neueren Ansätze verstehen zu können,
bedarf es einer Erläuterung ihrer basalen Annahmen. Was als Grundlagen für
die These der Auflösung von Klassen dient, wird in den Abschnitten 4.1.1 Dimensionen des sozialen Wandels in Deutschland, 4.1.2 „Neue“ Ungleichheiten
und 4.1.3 Das Individualisierungstheorem kurz zusammengefaßt. Einige ausgewählte Konzepte, die auf diesen Argumentationen aufbauen, werden schließlich unter 4.1.4 Milieu- und Lebensstilforschung vorgestellt.
Interessant ist die Gegenüberstellung Bourdieus mit neueren Ansätzen zur Sozialstrukturanalyse, weil bei allen Konzepten die Lebensstilforschung als ein
Kernstück anzusehen ist, Bourdieu aber gleichzeitig an einem Klassenmodell
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
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festhält, welches von anderen Lebensstiltheoretikern als überholt betrachtet
wird. Und nicht zuletzt ist die Gegenüberstellung deshalb interessant, weil es
sich bei den Milieu- und Lebensstilkonzepten um die gegenwärtig einflußreichste Strömung in der deutschen Sozialstrukturdiskussion handelt.
Die Frage nach grundlegenden Unterschieden und Parallelen von Bourdieu und
den neueren Ansätzen konzentriert sich auf drei ausgewählte Dimensionen. Im
Abschnitt 4.2.1 Zum Streit um das Objektive und Subjektive wird die Auseinandersetzung um die Fruchtbarkeit von vertikalen und horizontalen Modellen,
die in die Frage nach dem Ende vo n Klassen- und Schichtkonzepten mündet,
zum Thema. Der Abschnitt 4.2.2 Erweiterte Handlungsspielräume und Stabilität von sozialer Ungleichheit baut auf dem vorangegangenen auf, indem sich
mit dem Verhältnis von Pluralisierung, Individualisierung und vertikalen Ungleichheiten beschäftigt wird. Unter 4.2.3 Beschreibung und Erklärung von
Lebensstilen werden die unterschiedlichen Herangehensweisen der verschiedenen Konzepte an die Frage der Lebensstile beleuchtet.
Der Schwerpunkt der Gegenüberstellung liegt darauf zu zeigen, daß sich Bourdieu dem radikalen Perspektivenwechsel der neueren Sozialstrukturforschung
nicht zurechnen läßt, weniger subjektivistisch ausgerichtet ist und sich im Gegensatz zu den Milieu- und Lebensstilkonzepten um ein Zusammendenken von
vertikalen und horizontalen Strukturen bemüht. Bourdieu zeichnet nicht das
Bild eines bunten Pluralismus, sondern ist stärker an Fragen der Macht und
Herrschaft interessiert ist und löst sich damit nicht vollständig von der traditionellen Sozialstrukturanalyse. Es wird aber auch deutlich, daß in den neueren
Konzepten zur Sozialstrukturanalyse einige wichtige Aspekte thematisiert werden, die sich durch ihre Relevanz für das Verständnis gegenwärtiger Gesellschaften hervortun, von Bourdieu jedoch nicht in erschöpfender Weise in die
Analyse einbezogen werden.
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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4.1 Theorien von der Auflösung von Klassen und
Schichten
Die deutsche Sozialstrukturforschung nach dem 2. Weltkrieg hat sich in ihrer
theoretischen Ausrichtung mehrfach gewandelt. Geißler unterteilt diese Entwicklung der Sozialstrukturanalyse grob in drei Phasen21 (vgl. Geißler 1996b).
Etwa von Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre ist die Diskussion durch die
heftige und hoch politisierte Auseinandersetzung zwischen marxistischen Klassentheoretikern und nichtmarxistischen Schichttheoretikern geprägt. Mit dem
Abflauen des Streits werden die Perspektiven der beiden Konzepte in einer
zweiten Phase allmählich erweitert. Neben die Analyse von vertikalen Strukturen tritt die Erforschung von horizontalen Ungleichheiten. Die Klassen- und
Schichtanalyse erweitert sich in Richtung Ungleichheitsforschung22 . Seit Anfang der 80er Jahre verstärkt sich unter deutschen Sozialstrukturforschern zunehmend die Vorstellung von der Auflösung von Klassen und Schichten. Ausgangspunkt für diese dritte Phase ist eine Kritik an der Klassen- und Schichttheorie, welche in ihrer Konsequenz die Konzepte „Klasse“ und „Schicht“ als
zentrale Instrumente der Sozialstrukturanalyse in Frage stellt. In dieser Phase
geht es nun nicht mehr um eine Erweiterung der Klassen- und Schichtanalyse
und damit um eine Perspektivenerweiterung, sondern um ihre Ablösung durch
angeblich bessere Alternativen, also um einen Perspektiven- oder Paradig21
Die Vorstellung von drei voneinander getrennten und nacheinander folgenden Entwick-
lungsphasen wird der deutschen Sozialstrukturforschung sicher nicht gerecht. Durch Geißlers
Vereinfachung wird die Entwicklung nicht exakt beschrieben, für eine Tendenzbeschreibung
ist die Unterteilung jedoch durchaus nützlich.
22
Schon 1969 wurde im Text von Bergmann et al. auf die Notwendigkeit einer Erweiterung
vertikaler Strukturanalysen durch Einbezug horizontaler Disparitäten hingewiesen (vgl. Bergmann et al. 1969). Zu dieser Zeit veränderte dies jedoch den herrschenden Sozialstrukturdiskurs nicht nachhaltig. Als eine Bilanzierung dieser zweiten Phase sieht Geißler das 1983 erschienene Sonderheft der Sozialen Welt „Soziale Ungleichheiten“ (vgl. Kreckel 1983), welches
allerdings mit dem Beitrag Becks „Jenseits von Klasse und Stand?“ schon die Richtung für die
nächste Phase aufzeigt.
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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menwechsel. Klassen- und Schichttheoretiker als Vertreter vertikal orientierter
Modelle sind in dieser Entwicklung enger zusammengerückt und verteidigen
sich gegen die Kritik von Milieu- und Lebensstiltheoretikern. Die Konfliktlinie
verläuft nun zwischen Sozialwissenschaftlern, die von existierenden Großgruppen ausgehen und denen, die Großgruppen als aufgelöst betrachten. Zentrale Bausteine für die Lebensstil- und Milieutheorien, die von der Ablösung
vertikaler durch horizontale Ungleichheiten ausgehen, sind der gesellschaftliche Wandel in der Bundesrepublik, sogenannte „neue“ Ungleichheiten und die
These der Individualisierung der Gesellschaft.
4.1.1 Dimensionen des sozialen Wandels in Deutschland
Ein wichtiger Ausgangspunkt für den oben beschriebenen Perspektivenwechsel
der Sozialstrukturanalyse ist die Annahme, daß sich die Lebensbedingungen
der Menschen in Deutschland besonders in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg radikal verändert haben.
In der Tat erhöhte sich der Lebensstandard der Bevölkerung, was z.B. an einer
Niveauerhöhung bei Einkommen und Vermögen, beim Konsum von Gütern
oder an einer Verbesserung von Wohnverhältnissen abzulesen ist. Aufgrund
einer größeren Expansionsphase des Bildungssektors wurde für immer mehr
Menschen ein höherer Bildungsabschluß möglich. Die Lebensqualität fast aller
Menschen in der BRD hat sich im Zuge dieser Entwicklung nach 1945 verbessert.
Im folgenden sollen nun ausgewählte Dimensionen des sozialen Wandels in
Deutschland betrachtet werden. Es handelt sich hierbei um Einkommensentwicklung, Bildungsexpansion und soziale Mobilität 23 .
23
Aufgrund der Konzeption dieser Arbeit kann dem Themenkomplex des sozialen Wandels
nur selektiv und in einem begrenzten Raum nachgegangen werden. Mehr als eine hier geleistete Tendenzbeschreibung bietet die angegebene Literatur.
Sic et Non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz.
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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•
Einkommensentwicklung
Die Bruttoreallöhne von Industriearbeitern stiegen zwischen 1950 und 1994
um das 3,9- fache (vgl. Geißler 1996a: 46). Einige andere Daten sind im Zuge
dieser Einkommensentwicklung zu lesen: Der Autobesitz von Arbeitern hat
sich zwischen 1962 und 1988 nahezu vervierfacht. Ähnliche Entwicklungen
lassen sich für die Versorgung mit Tiefkühlgeräten, Geschirrspülmaschinen
und Videorecordern feststellen. Während 1962 lediglich 2,2% aller Arbeiterhaushalte über Telefon verfügen, sind 1988 bereits 93,7% damit ausgestattet
(vgl. Noll 1993: 112 ff.). Der Anteil des Monatsbudgets, der für Nahrung,
Kleidung und Wohnung verbraucht wird, nimmt von 75% (1950) über 60%
(1970) auf 46% (1983) ab 24 (vgl. Georg 1998: 19).
Beim Blick auf die Gesamtgesellschaft ist diese Wachstumstendenz noch verstärkt zu beobachten. So steigt von 1950 bis Ende der 80er Jahre das durchschnittliche reale (inflationsbereinigte) Volkseinkommen um den Faktor 6 (vgl.
Zapf 1991: 135).
Aus diesen Zahlen kann jedoch nicht geschlossen werden, daß sich die relative
Einkommensverteilung grundlegend verändert hätte. Der Anteil der Haushalte
mit 10.000 DM pro Monat und mehr Einkommen hat sich von 1972 (1,2%) auf
1992 (5,9%) fast verfünffacht. 1992 verdient das reichste Zehntel 23% des Gesamteinkommens und besitzt 50% des Vermögens. Dagegen ist das ärmste
Zehntel der Bevölkerung verschuldet (Vgl. Geißler 1996a: 55ff). 1995 müssen
11,9% der Bevölkerung mit weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens auskommen (Hradil 1999: 221).
Zwischen 1874 und 1974 haben mit geringen Schwankungen die unteren 50%
aller Einkommensbezieher jeweils um die 20% des Gesamteinkommens privater Haushalte verdient (vgl. Berger 1986: 133 ff.). Folgende Tabelle zeigt bei
der Bildung von Einkommensquintilen die Konstanz der Einkommensrelationen in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs.
24
Eine umfassende Darstellung der Veränderung von Lebensbedingungen von Arbeitern bietet
die Arbeit von Mooser (1983).
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Abbildung 3: Einkommensrelationen zwischen 1950 und 1980 nach Fünfteln
Anteil am gesamten
Nettoeinkommen in
%
50
40
30
20
10
0
1.
2.
3.
4.
5.
min.
5,4
10,7
15,6
22,8
43,3
max.
6,9
11,2
16,2
23,1
45,6
Einkommensquintile
Quelle: Daten nach Berger 1986: 133
•
Bildungsexpansion
Die Jugend, die in den 50er Jahren zum großen Teil durch Berufstätigkeit gekennzeichnet war, ist drei Jahrzehnte später weitestgehend an die Bildungsinstitutionen gekoppelt. 1953 sind 69% der 15-17jährigen berufstätig, 1984 sind
es noch 19% (vgl. Zinnecker 1987: 313). Die Hauptschule, die 1952 80% eines
Jahrgangs aufnahm, verlor in den folgenden Jahrzehnten immer stärker ihren
Status als Regelschule. Im Gegenzug stieg die Abiturientenquote von 6% im
Jahre 1960 auf 26% im Jahre 1993 (vgl. Geißler 1996a: 254).
Im Laufe der Jahre verweilen immer mehr Menschen immer länger im Bildungssystem, immer mehr Menschen erwerben mittlere bzw. höhere Abschlüsse. Diese Entwicklung ließe sich mit weiteren Daten belegen, die Frage nach
der Fortdauer von Zugangsbarrieren im Bildungssystem bliebe damit noch unbeantwortet. Denn trotz der Bildungsexpansion haben sich z.B. Zugangsbarrieren zu Hochschulen für Arbeiterkinder nur geringfügig gelockert. 1969 liegt
die Studienanfängerquote für diese Gruppe bei 3%, 1990 bei 7% (vgl. Geißler
1996a: 260). Im Studienjahr 87/88 studieren 81,7% aller Kinder von Selbständigen mit Hochschulabschluß, während dies nur bei 4,5% aller Kinder von
Arbeitern der Fall ist (vgl. Köhler 1992: 91).
Von der oben erwähnten gymnasialen Expansion profitierten am stärksten
Kinder aus mittleren Schichten. Die Arbeiterkinder haben trotz Chancenver-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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besserungen gegenüber mittleren Schichten weiter an Boden verloren (z.B. vgl.
Geißler 1996a: 260). Die Bildungsexpansion hat zwar die Beteiligung unterer
Schichten erhöht, die soziale Selektivität des Bildungssystems wurde allerdings
nicht grundlegend verändert, weshalb Köhler zu dem Schluß kommt:
„Die differenzielle Weitergabe kulturellen Kapitals funktioniert ungebrochen und die Vererbung von Bildung ist eine der wichtigsten Komponenten zur Reproduktion sozialer Gruppen geblieben.“ (Köhler 1992: 124)
•
Soziale Mobilität
Vertreter der Individualisierungsthese argumentieren, daß eine zunehmende
soziale Mobilität zu einer Auflösung traditioneller, berufsgruppenbezogener
Milieus beitrage (vgl. z.B. Beck 1986: 125).
Wie schon bei der Einkommensentwicklung und der Bildungsexpansion läßt
sich auch für die Soziale Mobilität keine allgemeingültige Aussage für die Gesamtgesellschaft treffen. Für die un- und angelernten Arbeiter in den 70er Jahren ist z.B. eine hohe Stabilität der Berufspositionen zu verzeichnen, während
bei den Facharbeitern die Wahrscheinlichkeit zu dieser Zeit gestiegen ist, in
eine Angestellten- oder Beamtenposition aufzusteigen. Die Distanz dieser beiden Gruppen zu den oberen Bereichen der Statusgliederung ist dagegen durch
verstärkte Zugangsbarrieren gewachsen (vgl. Berger 1986: 236 f.). Aufgrund
der Mobilitätsentwicklung allein scheint es daher überzogen, von einer Entstrukturierung der Gesellschaft zu sprechen.
"Allen Anschein nach hat nun intergenerationale Mobilität vom späten
Kaiserreich bis in die Bundesrepublik etwas zugenommen, wobei die
Aufstiegsmobilität häufiger, Abstiege seltener wurden. Da diese leichte
Erhöhung von Mobilitätschancen im wesentlichen ein Resultat des berufsstrukturellen Wandels, der einen ´Sog´ in ´white-collar´ Positionen
erzeugte, gewesen sein dürfte, stellt sich dies aber nur in engen Grenzen
als Abnahme von Chancenungleichheiten dar." (Berger 1986: 243)
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
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Insgesamt erbringt die Betrachtung der drei ausgewählten Dimensionen des
sozialen Wandels durchaus widersprüchliche Ergebnisse.
Zwar haben sich die Einkommensrelationen nur geringfügig verschoben, der
Ausdehnung der höheren Bildung steht das Fortbestehen von Zugangsbarrieren
gegenüber, und soziale Mobilitätsprozesse erfahren nur eine leichte Verstärkung in den mittleren Schichten bei gleichzeitigen Schließungsprozessen im
obersten und untersten Bereich.
Jedoch ist gleichzeitig darauf hinzuweisen, daß sich trotz dieser größtenteils
unveränderten Ungleichheitsrelationen eine Veränderung der Wahrnehmung
von Ungleichheit vollzogen haben kann. Die Daten zu den oben vorgestellten
Dimensionen lassen noch keine Rückschlüsse zu, wie die Dimensionen aus der
lebensweltlichen Perspektive der Individuen wahrge nommen werden. Auch
wenn sich gesellschaftliche Schichten unterschiedlich große Stücke vom „K uchen“ abschneiden, so gibt es doch für große Teile der Gesellschaft ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung und sozialer Mobilität. Dieses kollektive
Mehr, so die Argumentation von Vertretern der „neuen“ Ausrichtung der Sozialstrukturanalyse, wird von breiten Bevölkerungsteilen als eine Zunahme der
Freiheitsgrade von Entscheidungen und Wahloptionen wahrgenommen. In diesem Sinne können z.B. die objektiv recht unscheinbaren Mobilitätsprozesse,
die, wie Berger andeutet, auch ein Resultat eines berufsstrukturellen Wandels
sind 25 , aus der Perspektive des Akteurs von einschneidender Bedeutung sein.
25
Die Diskussion um den Wandel von der „Industrie-“ zur „Dienstleistungs-“, „Informations-“
oder „Wissensgesellschaft“ kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Es soll jedoch angemerkt
werden: Mit der Expansion der Dienstleistungsberufe, der höheren Qualifikationsanforderungen in der Arbeitswelt und der Verlagerung des Gewichts von körperlicher auf geistige Arbeit
kommt es zu einer Schrumpfung der Schichten der manuell Arbeitenden und einer Ausdehnung des tertiären Sektors. Es wäre daher zu diskutieren, in welchem Maße diese gesellschaftliche Dynamik von strukturierender Bedeutung für das Selbstkonzept einer Person und seiner
Entwicklung ist.
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4.1.2 „Neue“ Ungleichheiten
Seit Beginn der 80er Jahre sind verstärkt Ungleichheitsrelationen in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt, die von Klassen- und Schichtmodellen nicht
oder nur in einem geringen Maße in die Analyse einbezogen werden. Es wird
darauf hingewiesen, daß neben Privateigentum, Einkommen, Bildung oder
Berufsprestige noch weitere ungleichheitsrelevante Dimensionen für die Sozialstrukturforschung von Bedeutung sind (vgl. z.B. Müller 1992, Kreckel 1992,
Hörning/Michailow 1990, Hradil 1987). Die Kritik an Klassen- und Schichtmodellen zielt auf ihre mangelnde Auseinandersetzung mit diesen „neuen“
Aspekten26 sozialer Ungleichheit. So werden z.B. sämtliche Benachteiligungen
von Frauen durch Schichtmodelle verschleiert, wenn Schichtungsindizes nicht
für Männer und Frauen getrennt berechnet werden. Im folgenden werden einige wichtige dieser „neuen“ Dimensionen kurz und exemplarisch vorgestellt.
•
Regionale Disparitäten:
Es ist festzustellen, daß Unterschiede zwischen Stadt und Land, z.B. hinsichtlich weiterführender Bildung, nach wie vor existieren. Zudem hat das Thema
der Disparität von Regionen mit der deutschen Vereinigung eine neue Aktualität und Brisanz erhalten.
•
Ethnische Herkunft:
Tendenziell vernachlässigt wurde auch der Aspekt der ethnischen Herkunft,
obwohl dieser Aspekt mit anderen Dimensionen sozialer Ungle ichheit in Zusammenhang steht. So verdienen ausländische Arbeitnehmer in der Regel weniger als ihre deutschen Kollegen, sind häufiger belastender Arbeit ausgesetzt
und konzentrieren sich auf Berufe mit besonders geringem Sozialprestige. Zudem ist bei Ausländern eine besonders hohe Arbeitslosenquote zu konstatieren.
26
Hradil weist darauf hin, daß die „neuen“ Ungleichheiten zu einem großen Teil schon recht
alt sind und nur deshalb als neu bezeichnet werden können, weil diese Dimensionen erst in der
neueren Sozialstrukturdiskussion verstärkt Aufmerksamkeit erfahren haben (vgl. Hradil 1987:
29).
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
der gegenwärtigen Gesellschaften
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•
Geschlecht:
Zwischen Männern und Frauen herrschen Ungleichheiten in der Arbeitswelt,
im Bildungssystem, in der Politik oder in der Familie. Arbeiterinnen und weibliche Angestellte verdienen weniger als ihre männlichen Kollegen in ähnlichen
Positionen. In Elitepositionen der unterschiedlichen Funktionsbereiche (Wirtschaft, Hochschule, Politik, Gesundheitswesen etc.) sind Frauen in drastischer
Weise unterrepräsentiert.
•
Alter:
Ausgangspunkt der Überlegung für das Einbeziehen des Alters in die Ungleichheitsforschung ist das Schwanken der zur Verfügung stehenden Ressourcen im Lebenslauf. Bei Klassentheorien wird das Problem der Klassenzuordnung in der Nacherwerbsphase wenig konzentriert bearbeitet, was vor dem
Hintergrund der Änderung von Ressourcen (z.B. Einkommen) und des Wegfalls von lebensweltlicher Statuserfahrung problematisch erscheint.
•
Kohortenzugehörigkeit:
Lebensbedingungen sind, so die Kernaussage, auch abhängig von Kohortenzugehörigkeit. Zeiten der Über- und Unterbevölkerung üben Einfluß auf die
Handlungsspielräume des einzelnen aus. Denn Knappheit oder Überfluß an
Arbeitskräften behindert oder fördert soziale Mobilität und wirkt damit auf
individuelle Lebenschancen ein.
•
Staatliche Transferzahlungen:
Lebensphasen wie die der Ausbildung oder des Ruhestands, in denen das
Schwergewicht des Einkommens auf staatlicher Alimentierung beruht, haben
in ihrer Dauer zugenommen. Mit dem Ausbau des Sozialstaates in den 70er
Jahren wurden staatliche Transferzahlungen zu einem größer werdenden Faktor. Der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung hat zugenommen wie
auch der Anteil der Familien, die einen Teil ihres Einkommens aus Unterstützungsleistungen finanzieren. Gesetzliche Rahmenbedingungen berühren heute
Bereiche wie das Wohnen oder die Arbeit und beeinflussen die Kosten im Gesundheitsbereich oder die Belastung der Umwelt. Der Staat reguliert wichtige
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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gesellschaftliche Institutionen wie soziale Sicherungssysteme, das Bildungssystem oder die Infrastruktur von Städten und Regionen und nimmt damit
Einfluß auf gesellschaftliche Entwicklungen und individuelle Lebensumstände.
Das staatliche Handeln müßte daher im Hinblick auf ungleichheitsrelevante
Faktoren verstärkt analysiert werden und dabei die Bevorzugung oder Benachteiligung verschiedener Gruppen berücksichtigen (vgl. Hradil 1987: 47 f.).
4.1.3 Das Individualisierungstheorem
Als sehr bedeutsam für die Neuorientierung der deutschen Sozialstrukturanalyse ist Ulrich Becks These der Individualisierung zu bezeichnen.
Beck sieht durch die oben vorgestellten Aspekte des sozialen Wandels, aber
auch durch Konkurrenzbeziehungen, die länger und früher und in mehr sozialen Beziehungen erfahren werden27 , durch neue urbane Großstadtsiedlungen,
die alte Wohngebiete und damit alte Nachbarschaften ersetzen und durch das
Sinken der Erwerbsarbeitszeit, wodurch sich zusätzliche Entfaltungschancen
ergeben, einen Prozeß der Individualisierung in Gang gesetzt (vgl. Beck 1983:
38 ff.).
Mit dem Begriff der Individualisierung meint Beck im wesentlichen die Herauslösung von Biographien aus vorgegebenen Fixierungen. Lebenswege werden persönlich entscheidungsabhängig und fallen damit in den Verantwortungsbereich des einzelnen (vgl. Beck 1983: 58). Individualisierung wird von
Beck nicht als sozialphilosophische Kategorie gedacht, die auf die Entwicklung
von freien, vernünftigen Persönlichkeiten abzielt (vgl. Neckel 1989: 52), sondern als ein historisch spezifischer, widersprüchlicher Prozeß der Vergesellschaftung gefaßt (vgl. Beck 1983: 42). In diesem Sinne meint Individualisierung die Freisetzung der Menschen aus den selbst schon wieder zur Tradition
27
Beck argumentiert, daß durch wachsenden Konkurrenzdruck die Gleichheit der Gleichen
zerstört wird, ohne sie jedoch aufzuheben. Der Druck auf dem Arbeitsmarkt veranlasse Menschen mit ähnlichen Voraussetzungen dazu, ihre Besonderheit und Einmaligkeit zu unterstreichen (vgl. Beck 1983: 46).
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der kapitalistischen Gesellschaft gewordenen Bezügen (z.B. Klassen, Familienformen, Berufsbindungen), die erweiterte Handlungsmöglichk eiten für den
einzelnen ermöglichen. Als Ergebnis der Loslösung von gesellschaftlichen
Traditionen, Institutionen und Großgruppen wird auf eine größere Vielfalt an
Einstellungen, Lebensstilen und Verhaltensweisen geschlossen.
Beck macht darauf aufmerksam, daß die Herauslösung aus traditionellen Bindungen und Versorgungsbezügen für die Menschen nicht nur erweiterte Handlungsoptionen bedeuten, sondern daß die Menschen auch auf sich selbst und ihr
individuelles Schicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen werden. Der einzelne findet jene nun erodierenden soziokulturellen Bindungen nicht mehr vor, die in der Geschichte des Kapitalismus Rückschläge,
Scheitern und Not immer auch abgefedert haben.
Beck erkennt zudem, daß soziale Ungleichheit in Dimensionen wie Einkommen, Vermögen oder Bildung große Stabilität aufweist. Die Einkommensentwicklung hat für Beck dennoch eine erodierende Wirkung auf klassenbezogene
Milieus. Denn entscheidend ist für Beck nicht die Stabilität von Ungleichheit,
sondern die Annahme, daß objektive Gegebenheiten weder Bewußtsein noch
Handeln der Individuen entscheidend beeinflussen (vgl. Beck 1986: 124).
Seine Argumentation kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Die Verteilungsrelationen sind konstant geblieben, geändert haben sich die Lebensbedingungen durch eine (einkommens- und bildungsbezogene) Niveauverschiebung. Durch diese Niveauverschiebung verschwinden Klassenidentitäten. Ausgelöst werden Prozesse einer Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen, die das Hierarchiemodell der sozialen Klassen und der Schichten in
Frage stellen.
„In diesem Sinne soll im folgenden gezeigt werden, daß durch Niveauverschiebungen (Wirtschaftsaufschwung, Bildungsexpansion usw.) subkulturelle Klasssenidentitäten zunehmend wegschmolzen, ´ständisch´
eingefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse einer Diversif izierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen aus-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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gelöst wurden, die das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten
unterlaufen und in seinem Realitätsgehalt zunehmend in Frage stellen.“
(Beck 1983: 36)
Die Entwicklung der deutschen Sozialstruktur charakterisiert Beck durch den
„Fahrstuhl- Effekt“ (vgl. Beck 1996: 122 ff.). Damit ist gemeint, daß Ungleic hheiten bestehen bleiben, durch ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung,
Konsum, etc. die Klassengesellschaft jedoch insgesamt eine Stufe hochgefa hren wird und dabei ihren Klassencharakter verliert.
Doch die Befunde bei Dimensionen wie Bildungschancen oder Einkommensentwicklung machen den ideologischen und irreführenden Charakter der Fahrstuhl-Metapher deutlich. Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit wurde nicht insgesamt eine Etage höher gefahren. Manche gesellschaftlichen Gruppen wurden
nur eine Etage höher gefahren, wogegen andere erst viel später zum Stehen
gekommen sind. So verschleiert die Fahrstuhlmetapher z.B., daß der Abstand
im Lebensstandard zwischen Sozialhilfeempfängern und dem Bevölkerungsdurchschnitt in den Jahren zwischen 1962 und 1988 kontinuierlich größer geworden ist (vgl. Geißler 1996: 327).
In den Rezensionen zur „Risikogesellschaft“ werden neben der Würdigung des
Konzepts die mangelnde Präzisierung der Individualisierungsthese wie die fe hlenden historischen Analysen28 und empirischen Belege kritisiert (vgl. Esser
1987, Mackensen 1988, Joas 1989). In früheren Jahrzehnten wurden keine systematischen, methodisch mit den heutigen Untersuchungen vergleichbaren Lebensstilanalysen betrieben. Es gibt kaum Vergleichsstudien, die Gewißheit
über Pluralisierungstendenzen verschaffen könnten. Wenn heute mit differenzierten Untersuchungsansätzen gerade auch soziokulturelle Strukturen analysiert werden, dann ergeben sich zwangsläufig differenziertere Resultate als
28
Es ist die Frage, ob die Individualisierung im Nachkriegs(west)deutschland, wie von Beck
angedeutet (vgl. Beck 1983: 45), eine historische Besonderheit darstellt und weshalb sich diese
Entwicklung von vorangegangenen „Individualisierungsschüben“ grundlegend abhebt.
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früher. Diese methodisch erzeugte „Differenzierungstendenz“ ist dabei nicht zu
verwechseln mit realen Ausdifferenzierungstendenzen (vgl. Vester 1998: 112).
Die Individualisierungsthese hat sich jedoch auch ohne strenge Explikationen
als eine einflußreiche Diagnose der Gesellschaft durchgesetzt. Die Vertreter
der These scheinen sich größtenteils auf die Plausibilität der These zu stützen,
weil sie im Alltag mehr Differenzierung und weniger normengeleitetes Verha lten zu sehen glauben (vgl. Friedrichs 1998: 7). Oft genug durch verschiedene
Autoren wiederholt, hat die These einen immer größeren Stellenwert in der
Soziologie erlangt. Über die Fachgrenze hinaus hat das Individualisierungstheorem ein Eigenleben angenommen und übt prägende Kraft auf den Zeitgeist
aus.
4.1.4 Milieu- und Lebensstilforschung
Die Grundlage für die Milieu- und Lebensstilkonzepte bildet die Argumentation, daß der Anstieg des Wohlstandes, die Sicherung des einzelnen durch den
ausgebauten Sozialstaat, die Bildungsexpansion und die Veränderung von Arbeit, um nur einige Dimensionen zu nennen, eine Enttraditionalisierung bei
gleichzeitiger Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensstilen nach sich gezogen hat, die durch das Klassen- und Schichtenmodell nicht mehr zu fassen
ist.
In Stefan Hradils Buch Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft (1987) fließen die wichtigsten Argumente für diese Neuorientierung
zusammen. Hradil geht davon aus, daß neben dem beruflichen Höher und Tiefer für den einzelnen in „postindustriellen Gesellschaften“ auch die Vor- und
Nachteile viel bedeuten, die aufgrund des Geschlechts, Alters, ihrer Wohnregion oder ethnischen Zugehörigkeiten erwachsen. Es sind demnach für die Menschen mehr Determinanten sozialer Ungleichheit wichtig als selbst in komplexen Klassen- und mehrdimensionalen Schichtkonzepten berücksichtigt werden
können. Basierend auf diesen „neuen Ungleichheiten“ und der Theorie der Individualisierung wird vorgeschlagen, komplexe Konstellationen sozialer Un-
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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gleichheit mit dem Lagenbegriff zu erfassen. So können bestimmte Bevölkerungsgruppen hinsichtlich statusbildender Variablen wie Einkommen, Bildung
und Berufsprestige zwar weitgehend übereinstimmen, sich hinsichtlich weiterer
Dimensionen sozialer Ungleichheit wie z.B. Arbeitsplatzsicherheit oder sozialer Integration deutlich unterscheiden: Gleiche soziale Schicht, aber unterschiedliche soziale Lage. Als soziale Lage identifiziert Hradil unter anderem
Macht-Elite, Bildungselite, Manager, Studenten, „Normalverdiener“ mit mittleren Risiken, Rentner, Arbeitslose, etc. (1987: 154 ff.) 29 .
Die neuere Milieu- und Lebensstilforschung entstand ganz wesentlich aufgrund
des Eindrucks, daß Lebensweisen heute weit weniger von äußeren Lebensbedingungen wie Klassen- oder Schichtzugehörigkeit abhängig seien. Unter Berufung auf das Individualisierungstheorem, auf „neue“ Ungleichheiten und als
Antwort auf die Herausforderungen durch den sozialen Wandel im Nachkriegsdeutschland kam es ab den 80er Jahren zu einem regelrechten Boom der
Milieu- und Lebensstilforschung30 . Anzahl, Art und Umfang dieser Konzepte
gehen dabei ebenso auseinander wie die benutzten Definitionen und Methoden.
So kamen Zapf et al. auf 25 sogenannte Lebensformen, die vor allem auf den
Familien- und Haushaltsstrukturen und dem Alter basieren. Die Lebensformen
reichen von 18-24jährigen, die bei den Eltern lebend, ledig und erwerbstätig
sind, bis zu 75jährigen und älteren alleinlebenden Witwern (vgl. Zapf et al.
1987: 32). Das Sinus-Institut ermittelte im Rahmen qualitativer Sozialforschung jeweils 9 Milieus für West- und Ostdeutschland. Die Sinus-Milieus
stellen typische Syndrome von Werthaltungen zwischen den Polen Materialismus und Postmaterialismus dar, sind aber auch schichtabhängig, weshalb die
Milieus nicht nur nebeneinander, sondern auch übereinander angeordnet sind
29
Zum Konzept der Sozialen Lagen siehe auch Schwenk 1999.
30
An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, daß die „neuen“ Konzepte der Milieu- und
Lebensstilforschung historische Wurzeln besitzen. Die Grundlagen der Lebensstiltheorie wurden schon bei Max Weber, Thorstein Veblen und Georg Simmel gelegt (vgl. Flaig et al. 1997,
Georg 1998, Klocke 1993, Hradil 1992). Müller weist darauf hin, daß in den Arbeiten dieser
Klassiker bereits alle theoretischen und analytischen Elemente moderner sozialwissenschaftlicher Lebensstilforschung angelegt sind (vgl. Müller 1992: 373).
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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(vgl. Flaig et al. 1997, Becker et al. 1992). Hradil unterscheidet sieben soziale
Makromilieus für die Bundesrepublik (vgl. Hradil 1987: 169). Lüdtke, der das
Handeln der Individuen als sinnvolles, nutzenmaximierendes und informiertes
Agieren betrachtet, kam auf 12 Lebensstile, die Produkte von Versuch und
Irrtum und des Vergleichs mit anderen sind und sich in Symbolen und Verha ltensmustern äußern (vgl. Lüdtke 1990: 439, 1989) 31 .
Mit seiner groß angelegten Studie Die Erlebnisgesellschaft hat Gerhard Schulze einen umfassenden Beitrag zur Frage der gesamtgesellschaftlichen Milieustruktur vorgelegt. Für ihn bilden sich soziale Milieus 32 nicht durch soziale
Lagebedingungen oder schichtbezogene Vorgaben (vgl. Schulze 1992: 175).
Ausgehend von der Theorie einer Erlebnisgesellschaft, in der das Kernproblem
nicht darin besteht, physisch oder sozial zu überleben, sondern ein schönes
Leben zu führen (vgl. Schulze 1992: 39, 1990: 414), bilden sich soziale Milieus vielmehr durch die Beziehungswahl und Wahl eines persönlichen Stils, der
soziale Zugehörigkeit oder Abgrenzung deutlich macht.
„Milieus werden den Menschen in einer gesellschaftlichen Situation, wie
sie für Nationen mit einem hohen Lebensstandard charakteristisch ist,
nicht einfach vom Schicksal verordnet. Man kann wählen, mehr noch:
Man muß wählen, wenn man überhaupt noch irgendwo dazugehören
möchte.“ (Schulze 1992: 177)
Ästhetische Beziehungswahlen erfolgen jedoch nicht beliebig, sondern werden
von physischen und psychischen Dispositionen beeinflußt, wie sie, so Schulze,
vornehmlich in Lebensalter, Bildung und alltagsästhetischem Stil zum Ausdruck kommen. Die Präferenzstrukturen werden in Schulzes Ansatz auf der
Ebene der Tiefenstruktur von Zeichen organisiert und über bedeutungsäquivalente Zeichengruppen, sog. „alltagsästhetische Schemata“ zusammengefaßt
(vgl. Schulze 1992: 163). Der Raum der Alltagsästhetik stellt den Menschen
31
Kurze Überblicke über diese und andere Konzepte der Lebensstilforschung bieten z.B. Hra-
dil 1992, Fla ig et al. 1997, Georg 1998, Klocke 1993.
32
Schulze bemerkt: „Statt von Milieus zu sprechen, könnte man auch andere Ausdrücke ver-
wenden, etwa Lebensstilgruppen, Subkulturen, ständische Gemeinschaften, soziokulturelle
Segmente, erlebbare gesellschaftliche Großgruppen.“ (Schulze 1992: 174)
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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eine „Sprache“ zur Verfügung, in welcher sie ihre unterschiedlichen Grundorientierungen zum Ausdruck bringen. Diese Grundorientierungen, so Schulze,
manifestieren sich als milieuspezifische Grundorientierungen, führen also zu
den einzelnen Milieus.
„Genau hier sind wir am Übergang von einer Theorie gegenwärtiger Alltagsästhetik zu einer Theorie der gegenwärtigen Großgruppenstruktur angelangt. Bildung und Lebensalter disponieren psychisch und physisch für
bestimmte Positionen in der fundamentalen Semantik und damit auch im
dimensionalen Raum der Alltagsästhetik. Zusammen mit dem Stiltypus
(...) verbinden sich Bildung und Alter zu einer signifikanten und evidenten Zeichenkonfiguration, an der sich die Menschen bei der Konstitution
sozialer Milieus orientieren.“ (Schulze 1992: 166)
Für die Bundesrepublik werden fünf soziale Milieus genannt, die wesentlich
durch eine Altersgrenze und durch eine Bildungsgrenze strukturiert sind (vgl.
Schulze 1992: 279).
Abbildung 4: Milieubeschreibungen bei Gerhard Schulze
Milieu
Bildung
Alter
Harmoniemilieu
Niedrige Bildungsgrade bis Hauptschulabschluß, einschl. Abschluß
einer berufsbildenden Schule
Verschiedene Abstufungen der mittleren Reife
Alle Bildungsgrade vom Fachabitur
aufwärts bis zur abgeschlossenen
Universitätsausbildung
Alle niedrigen Bildungsgrade bis hin
zum Niveau von mittlerer Reife und
Lehre
Mindestens mittlere Reife und berufsbildende Schule
Älter als 40 Jahre
Integrationsmilieu
Niveaumilieu
Unterhaltungsmilieu
Selbstverwirklichungsmilieu
Älter als 40 Jahre
Älter als 40 Jahre
Jünger als 40 Jahre
Jünger als 40 Jahre
Quelle: Schulze 1992: 277 ff.
Bei der Heterogenität der verschiedenen vorgestellten Milieu- und Lebensstilkonzepte stellt sich die Frage nach dem Erkenntniswert dieser Ansätze für die
Analyse der Sozialstruktur. Hradil argumentiert, daß die Vielgestaltigkeit der
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Befunde die Vielgestaltigkeit der gesellschaftlichen Realität widerspiegele und
damit die These von der Pluralität der Milieus und Lebensstile bestätige.
„Pluralität heißt aber auch, daß die Synopse der empirischen Befunde
kaum ´natürliche´ Gruppierungen mit hinreichend festen Abgrenzungen
und innerer Konsistenz erkennen läßt. Wir finden vielmehr vieldimensionale, unstete Syndrome mit vagen Kernen, fließenden Übergängen, jeweils eigenen Ineinanderschachtelungen und weiten Mischzonen. Aus der
Perspektive der einzelnen heißt das, daß Lebensformen vielfach mult izentriert und alternierend sind: Je nach Situation (z.B. bei der Kindererziehung oder beim Wählen) und je nach Periode werden andere Facetten
des eigenen Lebensstils und der Milieuzugehörigkeit aktiviert.“ (Hradil
1992: 26)
Unterschiede zwischen den Milieu- und Lebensstilmodellen sind maßgeblich
bedingt durch unterschiedliche Auffassungen, in welchem Maße Lebensstile
von äußeren Lebensbedingungen abhängen. So gehen die Sinus-Studien noch
von einer stärkeren Prägung durch objektive Bedingungen aus, wogegen Lüdtke zum Ergebnis kommt, daß Lebensstile mehr oder minder frei ge wählt werden (vgl. Lüdtke 1989: 124).
Den oben vorgestellten Konzepten ist gemeinsam, daß sie an der Erstellung
eines gesamtgesellschaftlichen Modells von Makromilieus interessiert sind.
Wird nun der Blick auf die Untersuchung von sozio-kulturellen Phänomen auf
einer „Mikroebene“ gerichtet, so wird wieder eine Vielzahl von speziellen Lebensstilgruppierungen identifiziert. Für Berlin-Schöneberg sprechen Berking
und Neckel z.B. von „der Drogenszene“, „dem aufgestylten Schicki-Micki aus
dem City-Bereich“, „existenziell radikalisierten Jugendlichen“, „dem Lebensstil des neoexistentialistischen Post-Punk“, „der ersten New-Wave-Generation“
usw. (vgl. Berking/Neckel 1990).
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4.2 Bourdieus Lebensstilanalysen im Vergleich zu
den neueren Milieu- und Lebensstilansätzen
4.2.1 Zum Streit um das Objektive und Subjektive
Die Sozialstrukturanalyse und die Kultursoziologie waren noch in den 70er
Jahren zwei soziologische Subdisziplinen, die nicht allzuviel Anknüpfungspunkte zueinander aufzuweisen hatten (vgl. Hradil 1996: 13). Mit den neueren
Ansätzen zur Lebensstilanalyse ist dies anders geworden. In der Sozialstrukturanalyse und in der Kultursoziologie werden zum Teil ganz ähnliche Themen
miteinander weit überschneidenden Methoden und Erklärungsansätzen beha ndelt. Soweit die begrüßenswerte Annäherung zweier Forschungsgebiete.
Dieser Prozeß der Annäherung birgt jedoch Konfliktpotential. Denn die Frage
nach dem Gewicht soziokultureller Phänomene wird als eine Grundsatzdebatte
um Stellenwert und Vorrang des „Objektiven“ oder des „Subjektiven“ in der
Sozialstrukturanalyse geführt. Auf der einen Seite wird die Meinung vertreten,
daß Einkommen, Bildungsabschlüsse und andere Ressourcen für das Leben der
Menschen letztlich wesentlich wichtiger seien als kulturelle Phänomene wie
Einstellungen, Meinungen und Verhaltensformen. Objektive Umstände seien
verhaltensprägender als soziokulturelle Phänomene. Soziokulturelle Ersche inungen seien eher Abbilder der Wirklichkeit als die Wirklichkeit selbst. Auf
der anderen Seite wird gesagt, daß soziokulturelle Tatbestände in fortgeschrittenen Gesellschaften immer wichtiger würden. Sie seien nicht nur Bestandteile
der Wirklichkeit. Sie wiesen zudem wirklichkeitserzeugenden Charakter auf.
Denn bessere Lebensbedingungen und vermehrte Ressourcen hätten es möglich
und erforderlich gemacht, daß Menschen ihr Leben in immer höherem Maße
eigenständig wahrnehmen, interpretieren und gestalten. Letztlich geht es in
dieser Auseinandersetzung um die Frage nach Grad und Art der Differenziertheit moderner Gesellschaften und deren strukturbildenden Prinzipien ebenso
wie nach dem Ausmaß der Freiheit des Individuums, seinen Lebensstil selbst
zu bestimmen. Sind ästhetische Urteile und Wahlen tatsächlich in die Beliebig-
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keit des einzelnen gestellt, unabhängig von Schichtzugehörigkeit oder Klassenschicksal, oder ist unsere Freiheit und Individualität nur Resultat eines realitätsfernen wissenschaftlichen Konstrukts?
Zunächst einmal zeigt diese Debatte, daß Bourdieus Versuch, objektive und
subjektive Sichtweisen zu verschmelzen, kaum in den neueren deutschen Sozialstrukturdiskurs eingeflossen ist. Aus Bourdieuscher Sicht scheint diese
Grundsatzdebatte eigentümlich falsch, ist das Objektive zugleich auch das Subjektive und umgekehrt und somit die Polarisierung der Diskussion nicht haltbar. In das Zentrum der Argumentation Schulzes z.B. rückt nicht - wie bei
Bourdieu - die Verknüpfung von Struktur und Praxis, sondern entsprechend der
individualisierten Perspektive, eine konstruktivistische Perspektive, die soziale
Milieus als gewählte Wissens- und Zeichensysteme faßt. Zwar existieren soziale Milieus als Großgruppen und Platz der Sozialintegration weiterhin, jedoch
haben sich die Mitgliedschaftsregeln von einer Beziehungsvorgabe zu einer
Beziehungswahl verändert. Die Frage nach einer Verknüpfung von Lebensstil,
sozialer Ungleichheit und Gesellschaftstheorie fällt damit unter den Tisch.
Die These vom Ende der Klassen- und Schichttheorie wurde, wie eben angedeutet, in Deutschland heftig und hoch kontrovers diskutiert. Die ne ue Sichtweise der Milieu- und Lebensstilforschung erhob den Anspruch, die bestehe nde, vornehmlich vertikal orientierte Sichtweise abzulösen. Dieser Paradigmenstreit nahm schnell einen problematischen Verlauf. Um den eigenen Standpunkt durchzusetzen, wurde versucht, das andere Konzept durch den Vorwurf
der Unbrauchbarkeit zu diskreditieren. Die gegensätzlichen Entwürfe wurden
kritisiert, dabei jedoch in der Regel vereinfacht und verkürzt. Als Resultat fielen die jeweiligen Vorzüge des anderen Konzepts unter den Tisch. In dieser
polarisierten Auseinandersetzung schien nur noch ein „entweder - oder“, nicht
mehr ein „sowohl als auch“ möglich.
Hinter der Veränderung des Blickwinkels der neueren deutschen Sozialstrukturforschung manifestiert sich ein verändertes Erkenntnisinteresse. Hinter der
„traditionellen“ Sozialstrukturanalyse steckt (mal mehr, mal weniger) eine
wertbesetzte Grundhaltung. Vor allem Klassentheoretiker hatten und haben ein
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Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse
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sozialkritisches Anliegen. Soziale Ungleichheiten wurden auch analysiert, um
auf soziale Mißstände hinzuweisen. Soziale Ungleichheiten wurden in diesem
Sinne teilweise als soziale Ungerechtigkeit angesehen (vgl. Geißler 1996b).
Die Milieu- und Lebensstilforschung hat sich von diesem Blickwinkel gelöst.
Die vielfältigen Lebensstile stehen nebeneinander. Es wird das Bild der bunten
und dynamischen Vielfalt der Lebensbedingungen gezeichnet. Der gesellschaftskritische Gehalt ist den Konzepten verlorengegangen.
An mehreren Stellen wurde gezeigt, daß Bourdieu in seinen Ausführungen das
sozialkritische Temperament nahezu vollständig abgeht. Seine Arbeiten sind
nicht durch einen direkten politischen Bezug gekennzeichnet. Gleichzeitig
wurde gezeigt, daß Bourdieus Theorie durchaus als kritisch zu bezeichnen ist.
In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt hervorzuheben, daß Bourdieu die
Gegenwartsgesellschaft überhaupt als eine Klassengesellschaft sieht, ist die
Verwendung des Begriffs Klasse zum gegenwärtigen Stand der soziologischen
Diskussion keineswegs selbstverständlich. Bourdieu spricht von Klassen, da er
die hierarchische Struktur der Gesellschaft nicht nivelliert, sondern auf der
Beschreibung und Erklärung von Ungleichheitsstrukturen besteht. Folgendes
Zitat läßt sich in bezug auf die neuere Milieu- und Lebensstilforschung lesen:
„Leugnet man die Existenz der Klassen, (...), leugnet man letzten Endes
die Existenz von Unterschieden und Unterscheidungsprinzipien überhaupt.“ (Bourdieu 1998: 25)
Zu einer umfassenderen Beurteilung der Auseinandersetzung um das Ende der
Klassengesellschaft müßte die Dynamik des Paradigmenstreits selbst zu einem
Untersuchungsgegenstand gemacht werden. Denn ob wir in einer hierarchischen, nach Klassen segmentierten und in Homologie zu diesen Klassen subjektiv wahrgenommenen und reproduzierten Gesellschaft leben oder ob Vergesellschaftung sich primär über subjektive Anpassungsleistungen und Präferenzen vollzieht: Der Streit um soziologische Konzepte ist nicht nur ein akademischer Streit, sondern bezieht sich auch auf die Frage wissenschaftlicher Definitionsmacht und der Konstruktion sozialer Wirklichkeit.
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Den Überlegungen Bourdieus zu den Feldern folgend ist Wissenschaft nicht
die reine Suche nach Wahrheit, sondern ein Feld, in dem es um Auseinandersetzungen geht, z.B. um Ressourcenverteilungen, die manche stärker, manche
weniger in der Lage sind zu dominieren. Wenn nun eine wissenschaftliche
Strömung hegemonialen Charakter im Feld annimmt, dann kann dieser main
stream sehr ertragreich für den einzelnen sein, auch wenn inhaltlich dabei ma nche Fragezeichen übrig bleiben. Es bedarf deshalb z.B. der Klärung, inwieweit
persönliche Sozialisationsverläufe, politische Biographien, individuelle Strategieüberlegungen, Kräfteverhältnisse und Einflußmöglichkeiten unter den beteiligten Wissenschaftlern Einfluß auf die Theoriebildung nehmen33 . Die zu untersuchende Problematik bezieht sich damit auf die Frage, in welchem Maße
die „wissenschaftliche“ Debatte von „nichtwissenschaftlichen“ Faktoren
beeinflußt wird.
4.2.2 Erweiterte Handlungsspielräume und die Stabilität
sozialer Ungleichheit
Für die Vertreter einer neueren, horizontal orientierten Sozialstrukturanalyse
resultiert aus dem Mehr an Wohlstand, Bildung und ungleichheitsrelevanten
Dimensionen, daß Soziallagen und damit Lebensformen vielfältiger geworden
sind und daß Menschen letztlich aus sozialen und kulturellen Bindungen herausgelöst worden sind. Vester bemerkt, daß die kausale Schlußfolgerung, das
eine (Mehr an Lebensformen, etc.) resultiere aus dem anderen (Mehr an
Wohlstand, etc.), an „eine Umkehrung der vulgärmarxistischen Theorie der
Verelendung und der Polarisierung des Klassengegensatzes“ erinnere (vgl.
Vester 1998: 120).
Auch wenn die Argumentation, daß sich die Struktur der Gesellschaft in den
letzten Jahrzehnten differenziert und pluralisiert hat, als plausibel anerkannt
33
Ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist z.B. der Hinweis von Dangschat, daß
die Protagonisten des geforderten Paradigmenwechsels im wesentlichen ehemalige Schüler von
Karl-Martin Bolte und Schüler der Schüler Boltes sind (vgl. Dangschat 1998: 50).
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und übernommen wird, bleibt damit eine wichtige Frage noch unthematisiert.
Denn mit der Frage nach dem Entstehen von neuen Freiheiten muß die Frage
nach dem qualitativen Ausmaß dieser Freiheiten geklärt werden. Es ist abermals ein problematischer Schluß, als resultierende Konsequenz aus zunehme nder Vielfalt das Verschwinden von vertikaler sozialer Ungleichheit zu postulieren.
Eine zentrale Kritik an den neueren Sozialstrukturtheorien zielt daher nicht
vornehmlich auf die diagnostizierten Pluralisierungstendenzen der Gesellschaft, sondern auf die Überbewertung einer Entstrukturierungstendenz, die im
Resultat eine Ungleichheitsforschung zu einer Vielfaltsforschung verkommen
läßt.
„Mit der unkritischen Fokussierung auf die dynamische Vielfalt der Lagen, Milieus und Lebensstile wird der kritische Blick für weiterhin bestehende vertikale Ungleichheitsstrukturen getrübt. Es besteht die Tendenz,
daß vertikale Strukturen wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividualisiert und wegdynamisiert werden. Sie werden mit einem Schleier von
Prozessen der Individualisierung, Pluralisierung, Differenzierung und
Dynamisierung verhüllt und unkenntlich gemacht.“ (Geißler 1996: 323)
Wenn sich hauptsächlich auf Lebensstilforschung konzentriert wird und strukturelle Grundvoraussetzungen vernachlässigt werden, besteht die Gefahr, „den
Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen“. Es muß die Frage gestellt werden, wie weit Sozialstrukturanalyse zerfleddert werden kann. Denn ob durch
eine Atomisierungsperspektive auch das Wichtige und Grundlegende des Gesellschaftsaufbaus in den Blick gerät, kann bezweifelt werden (vgl. Kreckel
1998, Geißler 1996b).
In diesem Sinne sind die Milieu- und Lebensstilkonzepte mit der Frage nach
einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenha ng zu konfrontieren. Nicht nur,
daß die verschiedenen Modelle der verschiedenen Autoren wenig Anknüpfungspunkte untereinander aufzuweisen haben. Die diagnostizierten Lebensstile und Milieus stehen auch in den einzelnen Konzepten selbst meist unvergleichbar nebeneinander. Sozialstrukturanalyse scheint mit dieser Vorgehens-
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weise bei der bloßen Ermittlung heterogener kultureller Gruppierungen zu enden.
Bourdieu dagegen schafft es, vertikale und horizontale Strukturen in seinem
Konzept zu berücksichtigen. Auf konzeptueller Ebene läßt sich Bourdieus Ansatz bei der Untersuchung von Lebensstilen dazu verwenden, sowohl eine ressourcenbezogene Ebene der sozialen Lage, die Vertikalität nicht mit Horizontalität, also Ungleichheit nicht mit Verschiedenartigkeit vermischt, mit einer Ebene der subjektiven Sinnkonstruktion zu integrieren, aus denen schließlich ein
spezifischer Lebensstil resultiert. Da Bourdieu Lebensstilanalyse mit Klassenanalyse verknüpft, bleibt er der Tradition der klassischen Sozialstrukturanalyse
verpflichtet. Kann neueren deutschen Theorien vorgeworfen werden, ihre Perspektive sei kultursoziologisch verengt, so schafft es Bourdieu, seine Analysen
um die Aspekte der Kultursoziologie zu erweitern.
Mit der angenommenen Entwicklung der Individualisierung der Gesellschaft
erweitern sich die Handlungsoptionen des einzelnen und damit auch die potentiellen Möglichkeiten für eine Reduzierung von sozialen Ausschlußmechanismen. Nun ist zu konstatieren, daß sich trotz Auflösung rigider gesellschaftlicher Strukturen und Normen sowie den neuen Freiheiten für das Individuum
vertikale Ungleichheiten reproduzieren und verfestigen. Bourdieu erklärt vertikale Ungleichheiten trotz individueller Handlungsspielräume durch den klassenspezifischen Habitus, der über Generatione n reproduziert Ungleichheiten in
Realität umsetzt. Durch das auf dem Habituskonzept basierende Persönlichkeitsmodell trägt Bourdieu zu der Frage bei, was die Individuen dazu bringt,
„freiwillig“ zur Aufrechterhaltung der für sie repressiven Verhältnisse beizutragen. Gleichzeitig greift er damit die Frage nach der Verankerung von Ideologien im Denken und Handeln der Menschen auf.
4.2.3 Beschreibung und Erklärung von Lebensstilen
Der Vorwurf an Klassen- und Schichtkonzepte einer Fixierung auf objektive
Dimensionen kehrt sich in der Lebensstilforschung mit der Betonung subjekti-
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ver Handlungsdimensionen tendenziell in ihr Gegenteil um. Sozialstrukturelle
Analysen von Lebenschancen weichen den kultursoziologischen Erforschungen von verschiedenen Lebensstilen. Mit dieser Umorientierung geht der Sozialstrukturanalyse theoretischer Gehalt verloren. Durch die Deskription der Erscheinungsformen von Lebensstilen und die Vernachlässigung von materiellstrukturellen Ursachen wird die oberflächliche Ebene der Handlungen und Einstellungen kaum durchstoßen, was die Ursachen von Ungleichheit im Dunkeln
läßt. Diese Ausrichtung der Sozialstrukturanalyse ist rein deskriptiver Art. Der
Anspruch, soziale Ungleichheiten und deren Reproduktion zu erklären, wird
fallengelassen.
Auffallend ist, daß die überwiegende Zahl der Milieu- und Lebensstilkonzepte
weniger um eine explizite theoretische Herleitung und Begründung bemüht
sind, als vielmehr auf der Ebene von Plausibilitäten ihre Kraft entfalten. Eine
gesellschaftstheoretische Begründung und Herleitung des Lebensstilbegriffs ist
aber verlangt, wenn der Lebensstilansatz sich in der sozialen Ungleichheitsund Sozialstrukturforschung behaupten soll. Hier haben die vorgestellten Konzepte ihre Schwäche, und an diesem Punkt drängen sich die Vorzüge von
Bourdieu auf. Der Lebensstilbegriff zeigt sich hier in einem Theoriegebäude
theoretisch und systematisch verankert. Die Grundannahme Bourdieus ist, daß
Lebensstile sich als Optimierung von Handlungsressourcen ökonomischer,
sozialer und kultureller Art mit dem Ziel eines symbolischen Distinktionsgewinns darstellen lassen. In seiner weiteren Analyse geht es um die Darstellung
spezifischer Lebensstile der einzelnen Kapitalfraktionen und ihrer Homologie
zu Umfang und Struktur der jeweils verfügbaren Kapitalien.
Was auf den ersten Blick als Ungleichartigkeit erscheint, schlägt bei Bourdieu
mit der Betrachtung von ökonomischen, politischen und soziokulturellen Funktionen der Lebensstile in Ungleichartigkeit um. Durch das Konstrukt des Habitus werden Erscheinungsformen des Lebensstils als Ausdrucksmittel eines Habitus und damit als Klassenkultur gedeutet und verstanden. Lebensstile werden
so nicht nur in ihrer unterschiedlichen vielfältigen Erscheinung beschrieben,
sondern nach ihrer Funktion bezüglich vertikaler oder horizontaler Abgrenzung
strukturiert. Eder expliziert das problematische Umgehen mit subjektiven Fak-
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toren in der Sozialstrukturanalyse am Beispiel von Homogenitätsprüfungen,
die das Zusammenfallen von objektiven Merkmalen und subjektiven Merkmalen prüfen sollen (vgl. Eder 1989a: 25 f.). Durch subjektive Selbsteinschätzungen wird gezeigt, daß es keine gemeinsamen Wertorientierungen oder Handlungsweisen und damit keine sozialen Klassen gibt. Diese Überprüfungen
scheitern, weil sie in den „sub jektiven“ Variablen die bereits enthaltene soziale
Klassifikation übersehen. Das Aufstellen eines Zusammenhangs z.B. von Klassenlage und Interesse an Fußball würde noch wenig erklären. Entscheidender
ist die Frage, wie „habituell“ mit Fußball umgegangen wird, d.h. welche Bedeutung er für unterschiedlichen Klassen hat, wie er wahrgenommen und erfahren wird.
„Es interessieren nicht die Meinungen, ihre Inhalte, sondern die Struktur,
die der Selektion von möglichen Meinungen, die man haben kann,
zugrunde liegt.“ (Eder, 1989: 28)
4.3 Zusammenfassung und Bewertung
Ohne Zweifel stellen die Dimensionen des sozialen Wandels, „neuer“ Ungleichheiten und Fragen nach einer Individualisierung der Gesellschaft eine
Herausforderung für die Analyse der Sozialstruktur dar. Für die Fruchtbarkeit
der Sozialstrukturanalyse gilt es zu prüfen, welche gesellschaftlichen Auswirkungen z.B. der Anstieg von Wohlstand und die Expansion des Bildungssektors haben oder in welchem Ausmaß Aspekte wie Geschlecht und ethnische
Zugehörigkeit theoretisch und empirisch zu berücksichtigen sind. Einige Milieu- und Lebensstilkonzepte richten ihr Augenmerk im Gegensatz zu Klassenund Schichtkonzepten auf die Sphären der Freizeit und der Nicht-Arbeitszeit.
Die zugrunde liegende These lautet, daß Beruf und Erwerbseinkommen ihre
Zentralität verloren haben34 . Auch hier gilt es zu prüfen, inwieweit Lebensstile
aus Strukturen der Erwerbsarbeit herrühren und auf diese wieder zurückwirken.
34
Die relevanten Fragen zu diesem Punkt wurden schon in der Debatte um die „Krise der Ar-
beitsgesellschaft“ 1982 auf dem 21. Deutschen Soziologentag zum Thema (vgl. Matthes 1983).
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Bedingen sich diese beiden Bereiche oder klaffen sie tatsächlich auseinander
und markieren so eine reale Kluft in unserer Gesellschaft?
Aus den vorangegangenen Ausführungen könnte man vereinfacht gesehen
schließen, im Versuch der Korrektur vom Extrem der Strukturdeterminiertheit
schlüge die Ausrichtung der Sozialstrukturanalyse zum anderen Extrem des
subjektiven Voluntarismus um. Als Tendenzbeschreibung ist es korrekt, eine
Verlagerung von der Reduktion sozialer Ungleichheit auf großräumige statistische Ressourcenverteilungen auf fragmentierte und subjektbezogene Wahrnehmung und Produktion von Ungleichheit zu identifizieren. Diese Sichtweise
greift jedoch durch ihre Grobheit zu kurz und entspricht nur zum Teil der tatsächlichen Lage, weshalb sie an dieser Stelle relativiert werden soll. Inzwischen werden von einigen Lebensstilforschern vertikale Schranken der Pluralität beachtet und analysiert. Es ist darauf hinzuweisen, daß die neuere Theorieentwicklung durchaus über Ansätze einer Integration von objektiver Strukturiertheit und subjektiver Produktion sozialer Ungleichheit verfügt. Dieser integrative Ansatz wird z.B. in den Arbeiten von Vester et al. (1993, 1995), Müller
(1992) oder dem SINUS-Institut (vgl. Becker et al. 1992, Flaig et al. 1997)
verfolgt. Die formulierte Kritik ist demnach nicht für alle Milieu- und Lebensstilmodelle im gleichen Maße zutreffend. Bourdieus klassenanalytische Lebensstilanalyse wurde in Deutschland diskutiert, kritisiert und gewürdigt, dem
eigentlichen Spezifikum seines Ansatzes wurde jedoch nur selten gefolgt 35 . Mit
einer starken theoretischen Anbindung an Bourdieu bilden die Untersuchungen
der „Forschungsgruppe Sozialstrukturwandel“ der Universität Hannover (vgl.
Vester et al. 1993 und 1995) eine Ausnahme. Eingedenk der Leistung Bourdieus ist dies unbefriedigend, schließlich eröffnet Bourdieu die Perspektive, wie
ein Schritt weiter in die Richtung einer Analyse sozialer Ungleichheit zu kommen ist, welche die soziale Lage und Lebensstil in einer fruchtbaren Weise
miteinander verknüpft.
35
Mörth und Fröhlich belegen diese Diskrepanz für das Jahr 1993: 22 empirischen For-
schungsprojekten stehen 138 theoretisch orientierte Publikationen gegenüber (vgl.
Mörth/Fröhlich 1994: 26).
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Trotz der Würdigung der Bourdieuschen Theorie wurde gezeigt, daß Bourdieu
an verschiedenen Stellen überdacht, korrigiert und erweitert werden müßte. Im
Kontext der Gegenüberstellung Bourdieus mit den neueren Theorien der Sozialstrukturforschung ist auf eine notwendige Erweiterung Bourdieus durch eine
explizite Integration von Merkmalen sogenannter „neuer“ sozialer Ungleic hheiten hinzuweisen. Aufgegriffen, jedoch nicht ausführlicher entfaltet werden
von Bourdieu Ungleichheiten, die z.B. durch das Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder regionale Disparitäten resultieren. Bourdieu macht in seiner Arbeit deutlich, daß die moderne Klassenstruktur von einem vieldimensionalen
Gefüge von Faktoren bestimmt wird. Diese multidimensionale Sichtweise von
Bourdieu kommt im folgenden Zitat zum Ausdruck:
„Eine soziale Klasse ist definiert weder durch ein Merkmal (nicht einmal
das am stärksten determinierende wie Umfang und Struktur des Kapitals),
noch durch eine Summe von Merkmalen (Geschlecht, Alter, soziale und
ethnische Herkunft – (...) – Einkommen, Ausbildungsniveau, etc.), noch
auch durch eine Kette von Merkmalen, welche von einem Hauptmerkmal
(der Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse) kausal abgeleitet
sind. Eine soziale Klasse ist vielmehr definiert durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie
den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezif ischen Wert verleiht.“ (Bourdieu 1982a: 182)
Bourdieu bringt damit seine Vorstellung eines relationalen Klassenbegriffs auf
den Punkt. Erst das Zusammenwirken von Merkmalen und auch erst durch ihre
Beziehungen mit den anderen Akteursgruppen charakterisiert eine Klasse.
Bourdieu bemerkt dazu, daß nicht alle konstitutiven Faktoren einer konstruierten Klasse im gleichen Grad voneinander abhängig sind (vgl. Bourdieu 1982a:
184).
„Umfang und Struktur des Kapitals verleihen in diesem Sinne den von
den übrigen Faktoren (Alter, Geschlecht, Wohnort etc.) abhängigen Praktiken erst ihre spezifische Form und Geltung.“ (Bourdieu 1982a: 185)
Bourdieu geht, wie gezeigt, von einer tendenziellen Dominanz des ökonomischen Kapitals aus und betont danach gleich die Wichtigkeit des kulturellen
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Kapitals für die Klassenstruktur. Gleichzeitig hält er daran fest, daß eine Klasse
nicht nur über die beiden Kapitalarten zu bestimmen sei, sondern durch die
Struktur vieler Merkmale, in der Alter, Geschlecht, Ethnie, Region, Religion
usw. mehr als nur Sekundärmerkmale darstellen. Bei der Frage nach dem genaueren Zusammenhang zwischen dem am stärksten determinierenden Faktor
Umfang und Struktur des Kapitals und anderen Merkmalen sozialer Ungleic hheit hinterläßt Bourdieu jedoch Unklarheiten, was erklärbar ist, operiert Bourdieu hier vor dem Hintergrund einer schwerwiegenden erkenntnistheoretischen
Problematik. Mit der Betonung der Komplexität der sozialen Realität wird die
positive Bestimmung dieser nahezu unmöglich. Für Bourdieu greift eine objektive Bestimmung der Sozialstruktur zu kurz, weil die klassifizierenden Handlungen der Individuen maßgeblich Einfluß auf die Struktur der Gesellschaft
haben. Da die Praxen der Individuen Regelmäßigkeiten, aber keine Gesetzmäßigkeiten aufweisen, werden Klassen letztlich als „Klassen auf dem Papier“
verstanden. Der Gegenstand ist in diesem Sinne dem Begriff stets voraus. Diese Problematik spiegelt sich auch in Bourdieus Aussage, daß eine Klasse durch
die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen zu definieren ist. In seinem vieldimensionalen Ansatz kann so kein Merkmal sozialer
Ungleichheit einfach ausgeklammert werden. Bei der Entwicklung seines Konzepts fällt Bourdieu aber (notwendigerweise) hinter seinen eigenen Anspruch
zurück. So ist z.B. der soziale Raum lediglich dreidimensional und das auch
nur, weil Bourdieu das mathematische Kunststück vollbringt und zwei Variablen (ökonomisches und kulturelles Kapital) auf die Abszissenachse legt.
5. Fazit und Ausblick
Auch wenn die lange vorherrschenden Klassen- und Schichttheorien mit den
neueren deutschen Sozialstrukturströmungen ihren Stellenwert eingebüßt haben und heute nahezu als unbrauchbar angesehen werden, mit Bourdieu wird
deutlich, daß ihr Gegenstand, eine Gesellschaft mit ungleichen sozialen Großgruppen, nicht verschwunden ist. Denn nicht die Auflösung der Klassen und
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Schichten ist ein Ergebnis des Modernisierungsprozesses, sondern die Herausbildung einer dynamischeren und pluraleren Klassenstruktur.
Der Klassenbegriff wird in der soziologischen Diskussion bereitwillig für die
Zeit verwendet, in der er von Marx entwickelt wurde, nämlich für die frühindustriellen Gesellschaften am Ende des 19. Jahrhunderts. Aus heutiger Sicht
wird diese Gesellschaft ohne größere Einwände „Klassengesellschaft“ genannt,
weil die neuen Klassen der Industriearbeiter einerseits und die Kapital- bzw.
Fabrikeigentümer andererseits in den Vordergrund traten und die alte Ständegliederung in den Hintergrund drängten. Das Eigentum löste die familiale Herkunft als vorherrschende Statusdeterminante ab, obgleich gerade in Deutschland die Vorrangstellung des Adels in vielen Bereichen lange erhalten blieb.
Die besondere Angemessenheit für frühe Entwicklungsstadien der Industriegesellschaft schließt indes nicht aus, daß Klassenbegriffe für die Strukturbeschreibung fortgeschrittener Industriegesellschaften sinnvoll anwendbar sind.
Vester ist der Auffassung, daß die industrielle Klassengesellschaft zu Marx´
Zeiten nur einen historischen Sonderfall darstellt und keinen Anspruch auf Universalität für das Verständnis von Klassen erheben kann. Daraus leitet sich
die Forderung nach einer Entzauberung des Klassenbegriffs ab, der auf einer
historisch spezifischen Situation zur Zeit der industriellen Revolution beruht.
Vester mündet in der These, daß in gesellschaftlichen „Ruhelagen“ die Heterogenität von Klassengesellschaften eher der Normalfall ist, wogegen sich Klassenkonfrontationen erst durch Konflikte und verstärkte Verteilungskämpfe
strukturieren (vgl. Vester 1998: 109 f.).
Angebracht ist der Klassenbegriff, wenn davon ausgegangen wird, daß ökonomische Reproduktionsbedingungen für die Erforschung vertikaler Ungleichhe iten wichtig sind. Innerhalb des Kapitalismus ist das Ziel der Kapitalakkumulation, die Rendite des eingesetzten Kapitals durch eine spezifische Ordnung des
Verhältnisses von Kapital und Arbeit zu optimieren. Dazu eignen sich die Kapitaleigentümer die Mehrarbeit und den Mehrwert derer an, die ihre Arbeitskraft gegen Geld tauschen. Je intensiver die Ausbeutungsverhältnisse gestaltet
werden, desto höher sind die Erträge. Die Möglichkeit zur Ausbeutung ist besonders günstig, wenn das Angebot an Arbeit deutlich hinter der Nachfrage
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zurückbleibt, d.h. wenn es eine große Anzahl an Arbeitslosen gibt, wie dies zur
Zeit der Fall ist. Wenn sich eine Sozialstrukturanalyse zur Aufgabe macht, die
Wechselbeziehungen und Wirkungszusammenhänge relevanter Elemente einer
Gesellschaft zu erkennen und zu erklären, dann bilden die Marxschen Analysen hierfür eine wichtige Erkenntnisgrundlage. Meines Erachtens kann die Analyse von struktureller Ungleichheit und Unterdrückung in kapitalistischen
Gesellschaften ohne den Rückgriff auf das Konzept des abstrakten Klassenverhältnisses von Kapital und Arbeit nicht gelingen.
Es muß aber auch konstatiert werden, daß in gegenwärtigen Gesellschaften der
Einfluß des Verhältnisses von Kapital und Arbeit nicht in allen Bereichen der
Ungleichheitsstruktur in gleic her Weise spürbar ist. Zu den Bedingungen der
Kapitalakkumulation im Arbeitsprozeß und dem antagonistischen Verhältnis
von Kapital und Arbeit treten noch andere Reproduktionsformen der gege nwärtigen Gesellschaft. Zum einen ist auf die Relevanz von neuen sozialen Ungleichheiten hinzuweisen. Und nicht zuletzt, anknüpfend an Bourdieus Gedanken zum distinktiven Charakter des Geschmacks, werden Klassen durch die
Art des Konsums reproduziert.
Die Klassenstruktur ist Alltagsbeobachtungen immer weniger zugänglich. Die
Kritik der Lebensstilforscher, die Klassen seien nicht mehr alltagsweltlich zu
erfahren, zeigt sich durch den Verzicht auf Erklären und Verstehen als theoretisch verkürzt. Mit Bourdieu wird deutlich, daß Klassen unter der lebensweltlichen Oberfläche weiter existieren. Das Bourdieusche Konzept bewahrt davor,
die von vielen Autoren vollzogene Ausschließung der Klassenhypothese mitzuvollziehen. Kultursoziologie, wie sie von Bourdieu vertreten wird, ist immer
zugleich eine Soziologie der alltäglichen Manifestation und Legitimierung von
Macht und Herrschaft. Manifestiert man das Ende der Klassengesellschaft an
dem Fehlen einer Arbeiterklasse mit einheitlichen Lebensstilen oder an der
öffentlichen Rhetorik, in der die Vorstellung einer Klassengesellschaft keine
oder eine untergeordnete Rolle spielt, übersieht man die Klassenformierung am
oberen Ende der Statusgliederung. Die Personen, die mit diesen Argumenten
und ihrer Deutungsmacht die Klassengesellschaft verabschieden, betreiben
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symbolischen Klassenkampf im Bourdieuschen Sinne, der als Verhinderung
der Klassenformierung am unteren Ende interpretierbar ist.
Der angemessene Weg zur realitätsnäheren Analyse der gegenwärtigen Sozialstruktur kann meines Erachtens nicht in der vollständigen Abkehr von der
Marxschen Klassentheorie, jedoch auch nicht im orthodoxen Festhalten an ihr
bestehen. Vielmehr bedarf es der Ergänzung des Alten durch das Neue. Eine
polarisierte Debatte wie die um den Stellenwert des Objektiven und Subjektiven ist für die Modernisierung der Sozialstrukturanalyse dabei wenig fruchtbar.
Es ist daher kaum verwunderlich, daß der Versuch der neueren Konzepte, das
alte Paradigma durch ein neues zu ersetzen und damit einen soziologischen
Grundbegriff vollständig in Frage zu stellen, größere Probleme nach sich gezogen hat. Ein erfolgversprechender theoretischer Ansatz für die Erforschung
sozialer Ungleichheit ist dann zu finden, wenn eine Art Mittelweg zwischen
den beiden extremen Gesellschaftsinterpretationen, der These von der unverminderten Fortexistenz einer Klassengesellschaft und der These einer hochdifferenzierten und individualisierten „Risikogesellschaft“, eröffnet wird. Diese
Arbeit hat gezeigt, daß Bourdieus soziokulturelle Klassentheorie einen möglichen Mittelweg zwischen den vorgestellten Extrempositionen beschreitet.
Was mit Bourdieu auch klar wird: Klassen sind in der Realität der modernen
Sozialstruktur keine sozialen Gruppierungen mit klaren Grenzen. In diesem
Sinne sind Klassen nicht als „Realtypen“ aufzufassen, sondern als heuristische
Instrumente. Es sei daran erinnert, daß der Zusammenhang einer bestimmten
Ressourcenausstattung und eines bestimmten Sozialisationsverlaufes mit einem
bestimmten Habitus nicht als mechanistischer verstanden werden kann. Habitus, Lebensstile und Lebenschancen können untypisch sein, was klare Klassengrenzen verschwimmen läßt. Bourdieu bezeichnet die theoretisch konstruierten
Klassen deshalb selbst als „wahrscheinliche Klassen“. Die darin liegende erkenntnistheoretische Problematik, in der die Unmöglichkeit der positiven Bestimmung mitschwingt, legt eine heuristische Nutzung der Bourdieuschen
Theorie nahe. Konzepte wie das des sozialen Raums oder des Habitus können
als Grundlage eines Untersuchungsparadigmas für die Sozialstrukturanalyse
herangezogen werden. Sie bieten eine wertvolle Grundlage zum Zweck eines
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besseren Verständnisses der Gestalt der gegenwärtigen Gesellschaften. Werden
Bourdieus Ansätze als Arbeitshypothesen gesehen, können auch andere Theoreme und Untersuchungsinstrumente in Bourdieus Theorie eingefügt werden.
Einige Anstöße hierfür wurden durch die Gegenüberstellung mit Marx und
neueren Theorien sozialer Ungleichheit herausgearbeitet.
Es soll erwähnt werden, daß für das Zusammenbringen und Weiterentwickeln
einer Analyse gesellschaftlicher Strukturen nicht nur diese beiden Forschungstraditionen Gehalt besitzen. Darüber hinaus ist die Arbeit von Max Weber zu
nennen, wie auch die Beiträge zur Mentalitätssoziologie von Durkheim und
Geiger. Die Analyse politischer Öffentlichkeiten und Persönlichkeitstypen, zu
denen die Kritische Theorie wesentliche Beiträge geleistet hat, wäre einzubeziehen, wie auch der historisch- lebensweltliche Klassenbegriff der englischen
Kulturalisten (z.B. Edward Thompson und Stuart Hall) fruchtbar wäre.
Es ist davor zu warne n, Bourdieus Arbeiten leichtfertig auf die gegenwärtige
Gesellschaft übertragen zu wollen. So kann z.B. der soziale Raum mit dem
Raum der sozialen Positionen und dem Raum der Lebensstile aus dem Buch
Die Feinen Unterschiede keine festen Ergebnisse für die Gesellschaft des 21.
Jahrhunderts liefern. Schließlich wurde der soziale Raum mit Erkenntnissen
auf der Grundlage empirischer Untersuchungen der 60er Jahre in Frankreich
angereichert. Bedeutsamer für die Sozialstrukturanalyse sind die vielen Fragestellungen und theoretischen und konzeptionellen Zugänge aus dem Werk
Bourdieus. An diesem Punkt kann nicht alles an Vorzügen Bourdieus wiederholt werden. Erneut erwähnt soll sein objektive wie subjektive Aspekte einbeziehender Lebensstilbegriff und sein Konzept der Darstellung, Wahrnehmung
und Anerkennung ökonomischer, sozialer und kultureller Ressourcen, Praktiken und Produkte als symbolisches Kapital.
Ohne Übertreibung, so läßt sich abschließend feststellen, kann Bourdieus Ansatz als größte kultursoziologische Herausforderung in der gesellschaftstheore-
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tischen Diskussion der letzten Jahre bezeichnet werden, trägt seine Arbeit doch
wie kaum eine andere zur Reorientierung der Ungleichheitsforschung, der Kultursoziologie wie auch der Freizeit-, Konsum- und Lebensstilforschung bei.
„Im Bereich der Klassen-, Schichtungs- und Mobilitätsforschung gibt es
kaum ein Pendant zu seinen [gemeint: Bourdieus, C.S.] Untersuchungen,
die ebenso theoretisch diszipliniert, methodisch kontrolliert und empirisch kreativ in Form von Global- und Detailanalysen dem Zusammenhang von ´Klasse´ und ´Stand´ und damit der Bedeutung sozialer Ungleichheit in fortgeschrittenen Konsumgesellschaften nachgehen. Bourdieus Ansatz ist daher in besonderer Weise zur theoretischen Reorientierung der Ungleic hheitsforschung geeignet.“ (Müller 1992: 365)
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