Gedächtnis: Behalten und Abruf

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Gedächtnis: Behalten und Abruf
Wenn es um das Gedächtnis geht, klagen die meisten Menschen nicht darüber,
daß sie Schwierigkeiten beim Erlernen des Materials haben, sondern, daß sie
soviel vom Gelernten vergessen.
Behalten
1.Behaltensfunktion:
Die Vergessenskurve von Ebbinghaus ist wohl jedem bekannt; ebenso hat sich
Wickelgren mit der Behaltensfunktion beschäftigt.
In einem Wiedererkennungsexperiment zeigte er den Versuchspersonen eine
Folge von Wörtern, die sie sich einprägen sollten. Er untersuchte die
Wahrscheinlichkeit, die Wörter nach Verzögerungen von einer Minute bis zu 14
Tagen wiederzuerkennen.(Abb.1.1)
Das Leistungsmaß, das Wickelgren verwendete, wird d`genannt und leitet sich
von der Wahrscheinlichkeit des Wiedererkennens ab. Er interpretierte diese
Maßzahl als Maß für die Gedächtnisstärke.
Die Leistung verschlechtert sich systematisch mit zunehmender Verzögerung.
wobei diese Veränderungen negativ beschleunigt sind, d.h. das das Ausmaß der
Leistungsveränderungen wird mit zunehmender Verzögerung immer kleiner.
Ein sehr anschauliches Beispiel dazu lieferte BAHRIK (1984), der das Behalten
von spanisch-englischen Vokabeln untersuchte. Er variierte die Intervalle vom
unmittelbaren Behalten bis zum Abschluß von Kursen an der High School und
dem College.
Abbildung 1.2 zeigt die Ergebnisse der Probanden als Funktion der Zeit, die seit
dem Abschluß des Kurses vergangen ist. Die Ergebnisse zeigen einen
langsamen Zerfall des Wissens.
Bei Bahricks Daten ist die Behaltensfunktion zwischen 3 und 25 Jahren nahezu
flach mit einem weiteren Abfall zwischen 25 und 49 Jahren. Bahricks ist der
Meinung, dass der Leistungsabfall zwischen 25 und 49 in Zusammenhang mit
alterungsbedingten physiologischen Veränderungen steht.
Daß die Gedächtnisspuren einfach im Lauf der Zeit in ihrer Stärke zerfallen,
wird als Zerfallstheorie des Vergessens bezeichnet. Hauptkonkurrentin dieser
Theorie ist die Interferenztheorie.
2.Die Interferenztheorie
Ein weiterer Faktor des Verlustes von Gedächtnisinhalten, abgesehen vom
Vergehen der Zeit ist das inferierendes Material. Die Interferenz untersucht wie
sich das Lernen von Assoziationspaaren auf die Gedächtnisleistung beim
Erlernen einer weiteren Liste auswirkt.
Dazu ein Intereferenzexperiment: Es gibt zwei Experimentalgruppen, die jeweils
2 Listen von Assoziationspaaren lernen. Die Gruppe A-D lernt eine Liste, die
mit A-B und eine zweite, die mit A-D bezeichnet wird. Die Listen sind so
bezeichnet, weil sie dieselben Stimuli(A) aufweisen.
Die Probanden lernen z.B.: in der Liste A-B Katze-43 und Haus-61und in der
Liste A-D Katze-82 und Haus-73. Die Kontrollgruppe lernt dieselbe A-B Liste,
jedoch eine andere zweite Liste, nämlich Knoche-82 und Tasse-37.
Nach dem Erlernen beider Listen werden beide Gruppen auf ihre
Gedächtnisleistung bezüglich der ersten Liste nach 24 Stunden oder nach einer
Woche getestet.
Die Testleistung der Kontrollgruppe ist im allgemeinen besser als jene der
Gruppe A-D. Wichtig dabei ist die Erkenntnis, dass das Lernen der Liste A-D
mit der Liste A-B interferiert und damit deren Vergessen verursacht.
Werden zu einem Stimulus zusätzliche Assoziationen gelernt, so kann dies ein
Vergessen alter Assoziationen bewirken; dieses Phänomen bezeichnet man als
Interferenzeffekte.
3. Der Fächereffekt
Je mehr Fakten mit einem Begriff assoziiert werden ,desto länger wird die
Reaktionszeit, dies bezeichnet man als Fächereffekt.
In einem Experiment, das diesen Phänomen veranschaulicht, sollten sich die
Probanden 26 Fakten merken. Es handelte sich dabei um die Form, eine „Person
befindet sich an einem Ort.“
Folgende Sätze sollten dabei gelernt werden:
1.Der Arzt ist in der Bank.(1-1)
2.Der Feuerwehrmann ist im Park.(1-2)
3.Der Rechtsanwalt ist in der Kirche.(2-1)
4.Der Rechtsanwalt ist im Park.(2-2)
Hinter jeder Aussage stehen Zahlen, die die Anzahl von Fakten angeben, die mit
dem Subjekt oder dem Ort assoziiert sind. Die Probanden lernten das Material
bis sie es beherrschten und mussten dann in einer Wiedererkennungsaufgabe
angeben, ob die ihnen vorgegebenen Sätze im ursprünglichen Lernmaterial
enthalten waren.
Die Wiedererkennungszeit stieg sowohl mit der Anzahl von Fakten über eine
Person wie auch mit der Anzahl von Fakten über die Orte.
Stellt man sich diesen Vorgang des Wiedererkennens aufgrund folgender
propositionaler Netzwerke vor, dann sollte der Sachverhalt Rechtsanwalt und
Park langsamer erkannt werden, als der Sachverhalt Arzt und Bank, da von
diesem Paar nur ein Pfad wegführt (Abb.3).D.h. je mehr Fakten mit einem
Begriff assoziiert werden, desto länger dauert der Abruf jedes einzelnen
Faktums.
4. Interferenz und Zerfall
Es gibt 2 Mechanismen, die Vergessen produzieren, zum einen den Zerfall der
Stärke der Gedächtnisspur und zum anderen die Interferenz durch andere
Gedächtnisinhalte.
In der Psychologie wurde jetzt darüber spekuliert, ob es sich beim Zerfall nicht
eigentlich um Interferenz handle, da ja der Grund für den Zerfall in der
Interferenz durch neu hinzukommende Gedächtnisinhalte liegt.
Dies führte zur Untersuchung, ob der Verlust von Gedächtnisinhalten im Schlaf
geringer ist, da weniger interferierende Gedächtnisinhalte auftreten.
Ekstrand kam zur der Schlussfolgerung, dass während der Schlafperiode
tatsächlich weniger vergessen wird.
Wichtig ist, zu welcher Zeit das Material gelernt wurde: Der frühe Abend ist die
Periode der höchsten Aktivierung, in dieser Zeit gelerntes Material wird am
besten behalten.
Abruf
1. Abruf und Interferenzen
Wenn man sich an einem bestimmten Sachverhalt nicht mehr erinnern kann,
kommt es oft vor, dass man damit zusammenhängende Sachverhalte abruft
und mit Hilfe dieser auf den Zielsachverhalt schließt. Es werden
Schlussfolgerungen angestellt.
Experimente haben gezeigt, dass derartige Schlussfolgerungen zur
Wiedergabe falscher Inhalte führten. Den Probanden unterliefen Fehler,
wenn sie Fakten wiedergeben oder wiedererkennen sollten, die nicht explizit
dargeboten wurden.
2. Plausibilität beim Abruf
Außerhalb des Labors würde man derartige Fehler, wie sie den Probanden
unterliefen, als intelligente Schlussfolgerungen ansehen.
Reder (1982) hat die Ansicht vertreten, dass viele Gedächtnisleistungen im
täglichen Leben nicht auf genauer Reproduktion sondern auf plausiblen
Schlussfolgerungen beruhen.
Reder konnte zeigen, dass sich die Probanden ganz unterschiedlich
verhielten, je nachdem, ob sie zu einem möglichst exaktem oder plausiblen
Abruf aufgefordert wurden. Es wurde ihnen folgende Textpassage vorgelegt:
„Der Erbe einer großen Schnellimbisskette war in Schwierigkeiten. Er hatte
eine reizende junge Frau geheiratet, die ihn allem Anschein nach liebte. Nun
grübelte er darüber nach, ob sie nicht letztlich doch nur hinter seinem Geld
hergewesen war. Er spürte, dass er auf sie nicht besonders anziehend wirkte.
Vielleicht trank er zuviel Bier und aß zuviel Pommes Frites. Nein, er konnte
auf die Pommes Frites nicht verzichten. Nicht nur, dass sie so gut
schmeckten, er bekam sie auch noch umsonst.“
Anschließend sollten die Probanden folgende Sätze beurteilen:
1.Der Erbe heiratete eine reizende junge Frau, die ihn allem Abschein nach
liebte.
2.Der Erbe bekam seine Pommes Frites von den Schnellimbissrestaurants
seiner Familie.
3.Der Erbe achtete darauf, sich gesund zu ernähren.
Der erste Satz ist bereits bekannt; der zweite Satz ist zwar nicht bekannt,
erscheint jedoch plausibel.
Unter Reders Genauigkeitsbedingung sollten die Probanden möglichst
genaue Wiedererkennungsurteile fällen, so dass sie den ersten Satz
akzeptieren und die beiden letzten Sätze zurückweisen mussten.
Unter der Plausibilitätsbedingung sollten sie die ersten beiden Sätze
akzeptieren und den letzten Satz zurückweisen.
Die Probanden reagierten anfangs unter der Plausibilitätsbedingung zwar
langsamer als unter der Genauigkeitsbedingung, aber nach 2 Tagen dreht sich
das Verhältnis um. Probanden werden unter der Genauigkeitsbedingung
schlechter, da die exakten Gedächtnisspuren schwächer werden. Im
Gegensatz dazu ist das Plausibilitätsurteil nicht so abhängig von einer
Gedächtnisspur und deshalb nicht so anfällig für das Vergessen.
3. Interaktion zwischen Elaboration und schlussfolgernder
Rekonstruktion
Elaboriert man das Material, das es zu lernen gibt, dann kann man mehr von
dem gelernten Material reproduzieren. Allerdings gibt man auch auf der
Grundlage von Inferenzen Sachverhalte wieder, die nicht im ursprünglichen
Inhalten vorkamen.
4. Erinnerungsfehler
Die Schwierigkeit dabei besteht darin, unsere Inferenzen, die uns zu einem
kohärenteren und genaueren Verstehen der Welt verhelfen, von tatsächlich
Gehörtem und Gesehenen zu trennen.
Derartige Erinnerungsfehler sind besonders kritisch im Falle von
Zeugenaussagen.
Loftus (1975,1979) zeigte in einem Experiment, wie sich die
Versuchspersonen durch Folgeinformationen beeinflussen lassen.
Die Probanden waren Zeugen eines Autounfalls und wurden nach der
Fahrtgeschwindigkeit des Autos befragt, als es das Vorfahrt-GewährenSchild missachtete. Obwohl es kein solches Schild gab, erinnerten sich viele
Probanden es gesehen zu haben.
Assoziative Strukturen und der Abruf aus dem Gedächtnis
Organisation und Reproduktion
Es gibt zahlreiche Methoden, um die Gedächtnisleistung bei der
Reproduktion zu steigern. Dabei werden dem Gedächtnis Schlüsselreize zum
Auffinden der einzelnen Items in der Liste zur Verfügung gestellt. Die
Organisation des Materials sieht so aus, dass die Probanden ihr Gedächtnis
systematisch nach Items absuchen können.
Besonders gut lässt sich dies an einem Experiment von Bower, Clark,
Lesgold und Winzenz demonstrieren. Es waren Wörter zu lernen, die in 4
Hierarchienorganisiert waren. Es wurden 2 Bedingungen miteinander
verglichen: Unter der organisierten Bedingung wurden die 4 Hierarchien als
Baumdiagramme dargestellt. Unter der Zufallsbedingung gab es auch 4
Baumdiagramme, doch die Wörter wurden zufällig kombiniert.
Jedes Baumdiagramm durfte eine Minute lang betrachtet werden, dann
wurden die Probanden aufgefordert, sämtliche Wörter in beliebiger
Reihenfolge zu reproduzieren.
Die Probanden der organisierten Bedingung schnitten deutlich besser ab.
Anhand der Reihenfolge, in der die Probanden die Wörter wiedergaben,
wurde deutlich, dass sie ihre Reproduktion der Hierarchie folgend organisiert
hatten.
Die Methode der Orte
Diese Technik dient ebenfalls der besseren Organisation des Materials zum
Zwecke des Abrufs.
Dieser Methode folgend, stellt man sich im wesentlichen einen festgelegten
und gut bekannten Weg mit einer Abfolge ebenfalls festgelegter markanter
Orte vor. Das könnte z.B. der Weg von der Mensa zur Universitätsbibliothek
sein. Um sich später an eine Liste mit Gegenständen zu erinnern zu können,
geht man den Weg im Geiste entlang und assoziiert mit jedem Gegenstand
einen festgelegten Ort.
Diese Methode liefert eine feste Abfolge von Orten die Schlüsselreize für
den Abruf des einzuprägenden Materials aus dem Gedächtnis.
Der Einfluß des Enkodierkontextes
Wichtig sind auch jene Schlüsselreize des Kontexts in denen der
Gedächtnisinhalt aufgebaut wird. Diese Kontexteffekte werden häufiger als
Effekte des Enkodierkontextes bezeichnet, denn der Kontext beeinflusst, was
in der Gedächtnisspur enkodiert wird.
Ein weiterer Effekt wäre die Stimmungskongruenz: Es ist einfacher fröhliche
Gedächtnisinhalte in einem aktuell fröhlichen Zustand und traurige
Gedächtnisinhalte in einem aktuell traurigen Zustand zu erinnern.
Ein ähnliches Phänomen ist das sogenannte zustandsabhängige Lernen. Es
ist leichter Informationen zu reproduzieren, wenn man sich wieder in
denselben emotionalen und körperlichen Zustand hineinversetzt, wie er in der
Lernsituation bestand.
Hippocampus und Amnesie
Durch die Untersuchung von Patienten, die an einem Gedächtnisverlust
aufgrund einer Schädigung der neuronalen Strukturen leiden, kann man
Einblick in die Funktionsweise des Gedächtnissen erhalten.
Der Hippocampus ist zuständig für die Langzeitspeicherung von
Gedächtnisinhalten.
Eine Schädigung des hippocampalen Bereichs führt beim Menschen zu
starker Amnesie. Menschen können aus vielen Gründen an einer Schädigung
dieser Struktur leiden. Ein häufiger Grund ist ein Hirntrauma, weitere Gründe
wären Infektionen des Gehirns, chronischer Alkoholmissbrauch, was zu
einem Zustand führen kann, das Korsakoff-Syndrom genannt wird.
Es gibt 2 Arten von Amnesie:
Die retograde Amnesie, sie bezieht sich auf den Verlust von
Gedächtnisinhalten vor der Verletztung und die anterograde Amnesie,
bereitet Schwierigkeiten beim Lernen neuer Dinge.
Implizites vs. explizites Gedächtnis
Expliziter Gedächtnisinhalt ist jenes Wissen, welches wir bewusst
reproduzieren können.
Impliziter Gedächtnisinhalt beschreibt jenen Wissensstand, den wir zwar
nicht bewusst reproduzieren können, der sich aber dennoch in seiner
Leistung einer Aufgabe niederschlägt.(z.B: Schreibmaschinenschreiben)
Patienten, die an einer Amnesie leiden, verfügen über implizite
Gedächtnisinhalte in bezug auf viele Erfahrungen, die sie aber bewusst nicht
wiedergeben können.
Graf, Squire und Mandler haben Menschen mit einer Amnesie mit Menschen
ohne diese Schädigung im Hinblick auf Erinnerungsvermögen für eine Liste
von Wörtern verglichen.
Nach dem Lernen der Wörter sollten die Probanden sie wiedergeben, wobei
die Menschen mit Amnesie weitaus schlechtere Ergebnisse erzielten.
Danach mussten sie noch in einer Wortergänzungsaufgabe die ersten drei
Buchstaben des Wortes, das sie gelernt hatten, vervollständigen. Beide
Gruppen fanden das Wort in mehr als 50 Prozent der Fälle. Bei dieser
Aufgabe war kein Unterschied zwischen der Gruppe mit Amnesie und der
Gruppe ohne Amnesie festzustellen.
Das Ergebnis des Wortergänungstests zeigt, dass bei Amnesiepatienten ein
implizites Gedächtnis vorhanden sein muß.
Implizites vs. explizites Gedächtnis bei gesunden Probanden
In diesem Fall können keine so starken Dissoziationen festgestellt werden, es
ist nur so, dass bestimmte Variablen unterschiedliche Effekte beim Testen
des expliziten und impliziten Gedächtnisses hervorbringen.
Jacoby (1983) testete die Probanden so, dass einmal das explizite und einmal
das implizite Gedächtnis gefordert wurde.
Er ließ Probanden entweder ein isoliertes Wort wie etwa Frau (Kein-KontextBedingung) lernen, oder sie lernten es unter Anwesenheit eines Antonyms
Mann-Frau (Kontext-Bedingung), oder sie sollten das Wort als Antonym
selbst generieren. Unter diesen letzten Bedingung sahen die Probanden Mann
und sollten Frau sagen.
Beim Test des expliziten Gedächtnisses wurde den Probanden eine Liste von
Wörtern dargeboten, die sie zuvor gelernt hatten und nun wiedererkennen
sollten.
Beim Test des impliziten Gedächtnisses wurde den Probanden das Wort sehr
kurz ( 40 Millisek.) dargeboten und sie sollten es identifizieren.
Die Leistung ist am besten beim Test des expliziten Gedächtnisses. Im
Gegensatz dazu sinkt die Leistung beim Test der impliziten perzeptuellen
Identifikation.
Unter allen 3 Bedingungen zeigte sich, dass die perzeptuelle Identifikation
besser ausfällt, als wenn die Probanden das Wort nicht gelernt hätten.
Man nennt diese Erhöhung der perzeptuellen Wiedererkennungsleistung auch
Priming.
Das prozedurale Gedächtnis
Häufig wird in der Psychologie zwischen prozeduralen und deklarativem
Wissen unterschieden. Deklaratives Wissen ist explizites Wissen, das wir
berichten können und dessen wir uns bewusst sind. Prozedurales Wissen ist
Wissen, wie man es etwas tut, und es ist oft implizit.
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